Mit Liebe gemacht - Anette Göttlicher - E-Book

Mit Liebe gemacht E-Book

Anette Göttlicher

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kind oder Leben? Eva und Matthias sind verheiratet, wohnen im Grünen und haben genug Geld. Sie hatten immer vor, ein Baby zu bekommen. «Mal» ist jetzt, findet Matthias. Doch Eva bekommt Muffensausen: Sie wollte doch noch so viel ausprobieren! Eine Reise ans andere Ende der Welt. Auf einem Andalusier den Strand entlanggaloppieren. Ein Abenteuer erleben ... Die beiden schließen einen Deal ab – und Eva erkennt ziemlich schnell: Pass auf, was du dir wünschst, denn es könnte in Erfüllung gehen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 302

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anette Göttlicher

Mit Liebe gemacht

Roman

Sage nie «Dann soll’s geschehn!»

Öffne dir ein Hinterpförtchen durch «vielleicht»,

das nette Wörtchen, oder sag:

«Ich will mal sehen!»

Wilhelm Busch

DIE WEISSE CORDHOSE

Alles fing mit einer weißen Cordhose an. Beziehungsweise damit, dass ich sie nicht finden konnte. Dass ich eine besaß, dessen war ich mir ganz sicher. Ich habe nämlich die Gabe, mir dank einem fotografisch guten Gedächtnis merken zu können, zu welcher Gelegenheit ich welches Outfit getragen hatte. Wenn Matthias Dinge sagt wie: «Weißt du noch, die Isar-Fete von Markus und Ines, als uns das Gewitter überrascht hat?», kann er sich sicher sein, dass ich antworte: «Klar, da hatte ich die dunkelblaue Caprijeans und das schlammfarbene Neckholdertop an.» Er grinst dann immer, schüttelt den Kopf und brummelt etwas, das wie «…aber nicht wissen, wie unser Außenminister heißt» klingt. Ich liebe unsere Rituale.

Aber ich hasse es, wenn ich Kleidungsstücke nicht mehr finde. Das gesuchte Teil mutiert dann zum einzig tragbaren Modell unter zig Hosen, T-Shirts oder Kleidern. An diesem Samstag im September erscheint es mir unmöglich, etwas anderes als diese verdammte weiße Cordhose zu tragen.

Ich durchwühle meine Seegras-Wäschetruhe. Links habe ich die weißen Klamotten hingeknüllt, die gewaschen werden müssen. Keine Cordhose. Auch im Schrank ist sie nicht; sie ist weder nach hinten durchgerutscht (mittlerweile bin ich so weit, dass ich sie sogar zerknittert willkommen heißen würde) noch bei den T-Shirts. Ich habe sie doch wohl nicht auf einen Bügel gehängt? Die aufkeimende Hoffnung wird rasch enttäuscht.

Die weiße Cordhose bleibt verschollen. Wie kann so etwas passieren? Ich meine, dass man mal einen Ohrring verliert oder seinen Schlüssel, okay. Aber eine Hose?

Ich habe gerade innerlich kapituliert (man merkt es mir nicht an, denn ich rupfe noch immer wütend Klamotten aus dem Schrank), als mir eine beigefarbene Strickjacke in die Hand fällt. Ich erstarre. Es ist meine Gynäkologenjacke. Ich trage das knielange Teil, das durchaus mal einen Kartoffelsack in der Verwandtschaft gehabt haben könnte, nie – außer ich muss zum Frauenarzt. Was schon länger nicht mehr vorgekommen ist, denke ich, als ich an der kratzigen Jacke schnuppere. Wann war ich das letzte Mal? Ist sicher drei Jahre her. Und es war furchtbar.

«Frau Eva Wieland?»

«Äh, ja, hier.»

«Kommen S’ bitte mit!»

Mit schweißfeuchten Händen und einem unguten Gefühl in der Magengegend folgte ich der Sprechstundenhilfe in das Behandlungszimmer meiner Gynäkologin. Die Ärztin betrat den Raum.

«Grüß Gott!»

«Hallo…»

Ich wunderte mich. Hatte Frau Dr.Schmidt-Klein das letzte Mal nicht noch blonde Locken? Und größer war sie doch auch! Leicht irritiert verpasste ich den Moment, in dem ich hätte fragen können, mit wem ich es zu tun hatte.

«Machen Sie sich doch schon mal untenrum frei», schlug Frau Das-ist-nicht-Dr.-Schmidt-Klein fröhlich vor, deutete auf einen Paravent und ließ sich an ihrem Schreibtisch nieder. Wie immer, wenn ich verwirrt bin, tat ich wie geheißen. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und Socken, stieg aus meiner Jeans und streifte meinen Slip ab. Und dann machte ich einen entscheidenden Fehler. Weil ich vor Anspannung schwitzte und weil es ein heißer Sommertag war, zog ich auch meine Gynäkologenstrickjacke aus. Dann trat ich hinter dem Paravent hervor.

Die falsche Frau Doktor telefonierte.

«Ist er eher gelblich oder grünlich, Frau Kowalski?», erkundigte sie sich und winkte mit der freien Hand zum Untersuchungsstuhl hinüber. Nee, nee. Glaubte die im Ernst, ich würde es mir freiwillig schon mal auf dem Ding gemütlich machen, bis sie Frau Kowalskis Ausfluss zu Ende diskutiert hatte? Ich trat von einem nackten Fuß auf den anderen, drehte mich gen Stuhl und tat so, als würde ich mich langsam, ganz langsam in seine Richtung in Bewegung setzen. Die falsche Frau Doktor sagte gerade «Klumpig oder bröselig?», als die Tür zum Behandlungszimmer aufging und die Sprechstundenhilfe hereinkam. Ich fuhr herum. Und blickte direkt in das fassungslose Gesicht des türkischen Ehemannes, der auf dem Gang vor dem Zimmer auf einem Stuhl saß und wartete, bis der Ultraschall seiner schwangeren Gattin fertig war.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte jede normale Frau sich angezogen und empört den Ort der Schmach verlassen. Nicht so ich. «Ist schon okay» hörte ich mich piepsen und hinter Frau Dr.Wer-auch-immer, die die Ausflusssache mit Frau Kowalski geklärt zu haben schien, zum Behandlungsstuhl tapsen. Innerlich heulte ich und sehnte mich nach meiner Gynäkologenjacke. Der türkische Ehemann vermutlich auch.

Seitdem habe ich kein Frauenarzt-Behandlungszimmer mehr von innen gesehen. Ich weiß bis heute nicht, was mit Frau Dr.Schmidt-Klein passiert ist und ob der türkische Ehemann sein Trauma überwunden hat. Die Pille holte ich mir alle halbe Jahr ohne Untersuchung, indem ich mir einen Frauenarzt suchte, der ständig im Urlaub war. Während er auf seiner Finca auf Mallorca weilte, lief ich mit Leidensmiene bei seiner Vertretung ein und holte mir dort von der Arzthelferin das Rezept. Und die letzte Großpackung kaufte ich am Flughafen von Bangkok. Da musste ich mich nicht ausziehen, und viel billiger war sie auch.

«Die blöde weiße Cordhose ist verschwunden», teile ich übellaunig meinem Mann mit, «und ich fürchte, ich muss mal wieder zum Frauenarzt…»

Matthias verkneift sich die Frage nach dem Zusammenhang und sagt: «Apropos Frauenarzt, Spatz…» Oha. Wenn er Spatz sagt, führt er was im Schilde.

«Ja?», frage ich alarmiert. Was geht Matthias mein Gynäkologentrauma an?

«Ich dachte, wir sollten…», beginnt er und fängt dann an, seine Bürohosen auf Spannbügel zu hängen. Ich merke mir «Ich dachte, wir sollten» und harre der Dinge, die noch kommen mögen. Mein Mann hat die gewöhnungsbedürftige Eigenart, sich zwischen seinen Satzteilen viel Zeit zu lassen. Aber er spricht immer irgendwann weiter, und sei es Tage später.

«…mal über Nachwuchs nachdenken», fährt Matthias dann aber schon vier Hosen später fort. Ich stelle fest, dass das ein wichtiger Moment in meinem Leben ist. Hätte ich mir irgendwie dramatischer vorgestellt. Aber nicht mit Matthias. Ich hätte es wissen müssen, als er mir damals den Heiratsantrag machte. Kein vollbesetztes Fußballstadion und Willst du meine Frau werden? auf der Anzeigetafel in der Halbzeit. Ich biss auch nicht auf einen Verlobungsring, als ich bei unserem Lieblingsitaliener ein Tiramisu verspeiste. Stattdessen sagte Matthias kurz nach einem unserer ersten längeren Urlaube lapidar, ich glaube, wir waren gerade bei Tengelmann: «Du, Spatz, jetzt hast du mich während der ganzen drei Wochen Irland gar nicht genervt, ich könnte dich glatt heiraten, was meinst du?» In Anbetracht der Umgebung hauchte ich nicht «O ja», sondern sagte ebenso trocken wir er: «Klar, okay!» Aber ich kann mich noch genau an sein glückliches Strahlen erinnern.

«Klar, okay», versuche ich es auch jetzt, ungefähr sechs Jahre später. Diesmal strahlt Matthias allerdings nicht.

«Nee, ich meine das ernst», sagt er und guckt mich forschend an, «ich meine, du bist 32, ich werde in zwei Jahren 40, ewig haben wir nicht mehr Zeit!» Was sind denn das für Töne?

«Eva». (oh-oh, es hat sich ausgespatzt), fährt er fort, «du möchtest doch Kinder haben?»

«Klar möchte ich mal Kinder haben!»

«Ich finde, mal ist jetzt.»

Bumm. Das sitzt. Langsam bilden die Worte in meinem Hirn Sätze, deren Bedeutung sich mir erschließt. Mein Mann möchte ein Baby. Mit mir. Er will Vater werden. Und ich soll die Mutter sein.

«Matthias, lass uns das ein andermal besprechen, okay?», sage ich und kann es nicht verhindern, dass meine Stimme ein wenig unwirsch klingt. Warum kommt er jetzt mit so etwas daher, wo ich doch noch mitten in der Wo-ist-die-Cordhose-Krise stecke?

«Das sagst du immer!», erwidert mein Mann, macht eine Pause beim Hosenfalten und sieht mich ernst an, «seit Ewigkeiten verschiebst du dieses Thema auf später.» Oh. Das ist jetzt keine liebevolle Kabbelei unter Eheleuten mehr. Auch kein Streit. Das wird eine existenzielle Grundsatzdiskussion.

«Wir wollten doch in die Stadt fahren und dir ein Trachtenhemd kaufen», starte ich einen letzten Versuch, das Unheil abzuwenden. «Schließlich geht in einer Woche das Oktoberfest los, und du willst doch kein normales Hemd zu deiner schönen neuen Lederhose anziehen, oder?» Ich lächle Matthias an. So egal ihm sonst seine Klamotten sind, mit seiner Lederhose ist er eigen. Vielleicht, weil sie so teuer war. Und weil er auf Tradition und Brauchtum steht, vor allem auf bayerisches.

«Hast recht», sagt er da auch schon und gibt mir einen Kuss, «wir sollten es packen, sonst schaffen wir das nicht mehr, bevor Bayern spielt.» Tschakka. Männer sind so simpel.

In Ermangelung der weißen Cordhose ziehe ich einen weißen Leinenrock an. Schließlich wird bald Herbst sein, und dann hängt er für Monate im Schrank. Der 10.September 2005 ist ein einigermaßen schöner, nicht zu kühler Spätsommertag. Als wir unsere Wohnung verlassen und zum Auto gehen, fällt mir wieder mal auf, wie perfekt alles ist. Der Blick vom Hügel auf das idyllische Dorf, in dem wir wohnen. Na ja, Dorf. Dreizehntausend Einwohner hat Oberhaching bei München. Und zum Glück kennt hier nicht jeder jeden. Aber wir haben drei Maibäume und sogar noch ein paar Bauernhöfe. Hier ist die Welt noch in Ordnung, so könnte eine TV-Dokumentation über diesen Ort beginnen. Gut, zum Ausgehen gibt es spannendere Orte auf dem Planeten. Außer, man empfindet einen überteuerten Mexikaner, vor dem Autos mit der Aufschrift «Abi-Tour 2005» parken, als aufregend. Aber dazu haben wir ja München. In 20Minuten ist man mit dem Auto dort, und in einer knappen halben Stunde wäre man mit der S-Bahn in der Stadt. Wenn man denn S-Bahn fahren würde. Ich persönlich bin ja kein MVV-Fan. Leider kann ich deswegen beim Weggehen nie was trinken. Aber mit 32 geht man ja sowieso nicht mehr so exzessiv in Clubs und Bars. Und wenn doch, kann ich immer noch bei Susanne in Schwabing oder bei Carla in Laim übernachten. Wobei ich eigentlich lieber in meinem eigenen Bett schlafe. Aber…

«Wie schaut’s aus, Frau Kasparow?», will Matthias wissen. Äh, ja. Da steh ich vor dem Auto und träume vor mich hin. Ich steige ein und werfe vom Beifahrersitz aus einen Blick auf meinen Ehemann. Liebe und Stolz machen sich in mir breit. In dieser Reihenfolge. Kaum zu glauben, dass wir dieses Jahr schon unser Zehnjähriges gefeiert haben. «Ich glaube, das mit uns wird etwas wirklich Ernstes», meinte er damals, als wir gerade ein paar Tage ein Paar waren. Woher er wohl damals schon wusste, dass es so lange gutgehen würde mit uns?

Wirklich, ich bin absolut glücklich mit unserem Leben, so wie es ist. Seit drei Jahren sind Matthias und ich verheiratet. Ich habe einen guten Job als Grafik-Designerin bei einer bekannten People-Zeitschrift. Klatschblatt, sagt Matthias immer, aber er hat ja keine Ahnung. Eigentlich wollte ich Fotografin werden. Manchmal denke ich, dass alle Grafik-Designer verkappte Künstler sind, im Grunde ihres Herzens überzeugt davon, zu Höherem berufen zu sein. Aber ihnen fehlt, so wie mir auch, leider dieses kleine Quäntchen, das es für den Erfolg bräuchte. Der Unterschied zwischen diesen ganzen im Körper von Grafikern gefangenen Genies und mir ist nur: Ich weiß, dass das so ist, das mit dem Quäntchen. Und trotzdem liebe ich meinen Job.

Matthias ist Redakteur bei der Music Depeche, einer Zeitschrift, bei der sich alles um CDs, Konzerte und Bands dreht, um Musik eben. Matthias lebt von der Musik und für sie. Abgesehen von mir natürlich.

«Ist unser Leben nicht wunderschön?», frage ich ihn rhetorisch und lächle ihn von der Seite an.

«Wie in der Rama-Werbung», sagt Matthias und fährt auf den Beschleunigungsstreifen der Autobahn.

«Mh-hm», erwidere ich und gucke aus dem Fenster. Lieber Gott, bitte lass ihn jetzt nicht die gleiche Assoziation haben wie mich. Sonst geht das Ganze von vorne los.

Und da kommt es auch schon: «Fehlt eigentlich nur noch ein nettes blondes Kind.»

«Du, wenn wir ein Kind hätten», sage ich und betone hätten, «wäre das sowieso nicht blond. Guck uns an! Und nett sind die auch nicht zwangsläufig.»

«Kleine Kinder sind immer erst mal blond», meint Matthias, «und nett sowieso.»

Woher weiß der so was? Verbirgt sich unter dem Umschlag von «High Fidelity», seinem Lieblingsbuch, das er derzeit zum ungefähr achten Mal liest, etwa ein Kinderwunschratgeber? Aber nein. So raffiniert ist Matthias nicht.

Und so kommt es, dass mein Leben auf der A995 zwischen den Anschlussstellen Taufkirchen und Unterhaching eine entscheidende Wendung nimmt, ausgelöst durch das Nichtfinden einer weißen Cordhose. Verdammt.

DEAL!

Heute ist wieder Samstag.

Die ganze Woche hatte ich meine Ruhe vor dem Kinderthema, weil Matthias Heftschluss-Stress hatte und jeden Tag bis spätabends in der Redaktion saß.

Es ist ja nicht so, dass ich keine Kinder mag. Mir geht es mit Kindern wie mit allen Menschen: Es gibt tolle, es gibt blöde, und es gibt viele, die mich einfach nicht interessieren.

Meine Freundin Tanja hat eine anderthalbjährige Tochter, Sophia. Sophia ist ein tolles Kind. Denn sie mag mich. Wenn ich bei Tanja sonntags zum Kaffeetrinken bin, kommt Sophia immer strahlend auf mich zugerannt, streckt mir ihre Ärmchen entgegen und fordert: «Aaaaaaaaaaam!!!», was so viel heißt, dass ich sie auf den Arm nehmen und auf meiner Hüfte sitzen lassen soll. Ich glaube, Sophia findet mich deswegen klasse, weil ich mit ihr rede wie mit einer Erwachsenen. In ganzen Sätzen und ohne duzi-duzi. Von kleinen Kindern gemocht zu werden, ist toll. Man kann sich einreden, dass die Kurzen ein untrügliches Gespür für wahrlich gute Menschen haben, und sich als solcher fühlen. Abgesehen davon ist es einfach herzerwärmend, wenn einen so ein kleines, blondgelocktes, blauäugiges Mädchen voller ungespielter Begeisterung anstrahlt, als sei man Robbie Williams und habe ihr gerade ein Angebot als Backgroundsängerin gemacht.

Meine Freundin Simone hingegen hat einen Sohn, Leon Ole. Allein schon der Name! Ich frage sie immer: «Und, was macht Leonole?», aber sie merkt es gar nicht. Leon Ole ist drei und ein Tyrann. Er ist laut, komplett verzogen, jähzornig und muss ohne Unterlass bespaßt werden, sonst verfällt er in blinden Zerstörungswahn. In unserer Wohnung hat er Hausverbot, nur, dass er das nicht weiß und Simone auch nicht. Aber ich bin mittlerweile ganz geschickt darin, Ausreden zu erfinden, warum ein Besuch von Simone und Leon Ole im Moment eher ungünstig ist. «Ihr könnt gerne vorbeikommen! Zorro, die Belgische Dogge, die ich gerade für eine Kollegin in Pflege habe, beißt eigentlich nicht, und wenn, dann meint Zorro es auf keinen Fall böse.» Eine gute Wirkung, nämlich das Ausbleiben von Simone und Leon Ole, zeitigte auch der dezente Hinweis auf unseren neuen Innenanstrich in der Wohnung: «Ist wunderschön geworden! Gut, vom Formaldehyd bekommt man anfangs etwas Kopfschmerzen, aber das vergeht in vier bis sechs Wochen.»

Es ist auch nicht so, dass ich keine Kinder möchte. Ich glaube, dass ein Kind eines der größten Abenteuer ist, das einem das Leben bieten kann. Und ich liebe Abenteuer. Die Vorstellung, Matthias’ und meine Talente zu mischen und einem neuen Menschen mitzugeben, hat auch was. Vielleicht kommt ja etwas Anständiges dabei heraus. Außerdem interessiert mich dieses Phänomen Mutterliebe. «Du wirst zum Tier, wenn jemand deinem Kleinen was will», erzählte Tanja mir mal. Hat mich schwer beeindruckt. Nicht das Zum-Tier-Werden, sondern die Liebe, die dahintersteckt. Ich meine, ich kann auch unwirsch werden, wenn eine andere sich an meinen Mann ranschmeißt oder wenn jemand etwas Schlechtes über ihn sagt. Aber verprügelt habe ich deswegen noch niemanden. Nicht mal die dicke Kirsten, die es sich bei Grillfesten grundsätzlich auf Matthias’ Schoß bequem macht, selbst wenn sie eine halbe Bierbank für sich und ihren breiten Hintern alleine hätte.

Das Problem an der Kindersache ist nur, dass ich seit ungefähr zehn Jahren darauf warte, dass mein Kinderwunsch endlich so groß wird, dass er all meine Bedenken einfach wegwischt. Aber da tut sich nicht viel. Dass Carla mir kürzlich den interessanten Link www.dammschnitt.de mailte, hat die Sache nicht besser gemacht. Und selbst wenn ich versuche, mich streng emotional mit dem Thema auseinanderzusetzen, funkt mir mein Kopf dazwischen.

Da ist zunächst mal die Sache mit dem Geld. Matthias und ich führen als Doppelverdiener ein sorgenfreies Leben. Wir gehen oft essen, ich kaufe mir Klamotten und Kosmetik, wann immer mir danach ist, wir lieben weite und teure Reisen. Eigentlich sind wir richtige Yuppies. Mal schnell ein Wochenende nach Rom, weil in München Dauerregen herrscht? Kein Problem. Die antike englische «Queen Anne»-Silberkanne von 1895 hat es mir angetan auf dem Antikmarkt? Kaufe ich sie eben für 800Euro, ist schließlich eine Wertanlage.

Ein Kind würde bedeuten, dass die Hälfte unseres Einkommens für ein paar Jahre wegfallen würde. Klar könnten wir von der anderen gut leben, besser als viele andere vielleicht, und es würde schon irgendwie gehen. Bloß – will ich das? Dass es irgendwie geht? Einmal Yuppie, immer Yuppie.

Aber lassen wir das Materielle mal außen vor. Ein Baby würde mein Leben von Grund auf ändern, das ist klar. Und das macht mir Angst. Denn ich liebe mein Leben, so wie es ist. Die Zweisamkeit mit Matthias, den Job, unsere Freunde, die Reisen, die Sorglosigkeit, die Spontaneität oder zumindest die Freiheit, spontan sein zu können, wenn man es will und nicht zu viel um die Ohren hat. Mit einem Kind wäre es vorbei damit. Nie wieder zu zweit. Nie wieder spontaner Sex am offenen Küchenfenster. Hausfrau und Mutter statt Job. Babysitten statt Freunde treffen. Bibione statt Bangkok.

«Du bist neophob!», sagt Matthias. Wir sitzen am Küchentisch, trinken Apfelschorle und führen ein ernsthaftes Gespräch. Er hat das Thema nämlich nicht vergessen.

«Was bin ich?»

«Neophobie hast du. Angst vor dem Neuen, vor Veränderungen.»

«Matthias, hast du wieder heimlich meine Psychologie Heute gelesen?»

«Ist doch wahr. Klar ändert sich das Leben mit einem Baby. Aber du kannst nicht alle Veränderungen vermeiden, dann geht’s nicht weiter. Stillstand ist Rückschritt, Eva!»

«Du hast leicht reden. Für dich würde sich ja auch kaum was ändern. Du gehst weiter arbeiten, und wenn du abends nach Hause kommst, schläft der Zwerg schon. Guck dir doch die Väter in unserem Bekanntenkreis an. Sie arbeiten wie gehabt, gehen aus wie gehabt, saufen wie gehabt. Toll.»

«Also, wenn es der Job ist – wer sagt, dass du aufhören musst zu arbeiten? Wir verdienen exakt gleich viel. Ich hätte kein Problem damit, eine Zeitlang zu Hause zu bleiben. Und sicher könnte ich auch von daheim aus für die Music Depeche schreiben.»

Ich weiß, viele Frauen würden spätestens jetzt gerne mit mir tauschen. Beziehungsweise mir ihren chauvinistischen Ehemann geben und mein Prachtexemplar dafür bekommen.

«Matthias, du bist echt klasse», sage ich und küsse ihn über den Tisch hinweg, «aber das ist alles nicht das Problem. Ich wollte doch noch so viel machen, bevor ich Mutter werde.»

«Was denn zum Beispiel?»

Ich gucke ihn verdutzt an. «Das weißt du doch ganz genau!»

«Sag’s mir nochmal.»

«Den Ayers Rock umwandern. Eine Fotoausstellung machen. Zentral in München wohnen. Ein ganzes Wochenende lang durchfeiern. Auf einem Andalusier den Strand entlanggaloppieren…»

«Du kannst doch gar nicht reiten!»

«Na und? Das kann man alles lernen!»

«Okay. Dann tu es.»

Ich sehe Matthias verständnislos an. «Was meinst du mit ‹tu es›?»

«Du redest seit Jahren von deinen Träumen. Kann es sein, dass das vielleicht Träume sind, die nur zum Träumen gut sind, also solche, die du dir gar nicht erfüllen willst?»

Ich verstehe, worauf er hinauswill.

«Nein. Solche Träume habe ich auch. Das Häuschen am Meer zum Beispiel, der Klassiker.»

Ein schöner Traum, wenn einem der Chef mal auf den Geist geht oder das Wetter zwei Wochen lang mies ist. So eine süße Hütte in den Dünen, in der man lebt, nachdem man im Lotto gewonnen oder die richtige Aktie erwischt hat. Wo man den ganzen Tag nichts tut, außer auf der seewärts gewandten Terrasse Obst zu essen und Milchkaffee zu trinken, lange Strandwanderungen zu unternehmen und in der Hängematte Romane von Nicholas Sparks zu lesen. Vielleicht malt man noch ein paar Aquarelle oder fotografiert die filigranen Spuren, die der Strandhafer in den Sand ritzt, wenn er sich im Wind wiegt. Ein schöner Traum – aber leider nicht realitätsecht. Spätestens nach zwei Wochen würde ich mich zu Tode langweilen. Ich würde mit Matthias streiten, keinen Strandhafer mehr sehen können und das ständige Meeresrauschen und Möwengeschrei nicht mehr als romantisch, sondern als höchst nervig empfinden. Deswegen gibt es die kleine Villa auf der Düne über dem Meer nur in meiner Vorstellung. In Gedanken kann ich so oft dorthin reisen, wie ich möchte. Und muss die dunklen Dielenböden nicht wischen.

«Okay, es sind also eher Wünsche als Träume. Sehr gut», sagt Matthias, «aber lassen sich die nicht auch mit einem Baby erfüllen?»

«Wie stellst du dir das vor?», entgegne ich, «ein Trip nach Australien mit Kleinkind? Vergiss es. Fotografieren würde ich auch nicht mehr, dazu braucht es Muße und Ruhe. Und eine Stadtwohnung mit Kind? Spätestens, wenn es laufen kann, braucht es doch einen Garten zum Spielen. Und…» «Ich hab’s kapiert», sagt Matthias und kaut nachdenklich an seinem Zeigefinger herum. «Weißt du, ich denke halt schon länger über das Thema nach.»

Und hast mir nie was davon erzählt, denke ich.

«Ich weiß, ich rufe meinen Vater zu selten an, ich streite dauernd mit meiner Mutter, und meine Schwestern sehe ich auch nur alle Jubeljahre mal. Nichtsdestotrotz bin ich schon ein Familienmensch, glaube ich.»

Matthias nimmt seinen Blick von der Tischplatte, auf die er während seiner letzten Worte gestarrt hat, und sieht mich direkt an: «Außerdem hätte ich einfach wahnsinnig gerne ein Kind mit dir, Eva. Einen kleinen Max oder eine kleine Franziska, das wäre doch wunderschön. Und ich glaube auch, dass die Zeit für eine neue Aufgabe da ist. Für uns. Als Paar. Schau dir Tom und Sabine an, wie die miteinander umgehen, seit der kleine Florian da ist. Die sind jetzt eine Familie!»

Ich schweige und warte, ob es noch weitergeht. Ich bin nicht geübt darin, meinem Mann bei längeren Monologen zuzuhören, denn das ist eigentlich gar nicht so seine Art. Außer, er hält mir einen Vortrag darüber, wie viel Schleichstrom der Fernseher verbraucht, wenn ich ihn mal wieder nur mit der Stand-by-Taste ausgeschaltet habe. Es muss ihm wirklich ernst sein mit diesem Thema.

«Siehst du das nicht ein wenig rosarot?», will ich wissen. «So ein Baby ist nicht nur Glück und Freude. Man muss es ständig füttern, wickeln, rumtragen, es schreit die ganze Zeit, und man kann es nie alleine lassen! Da ist dann erst mal nichts mehr mit Kneipe, Kino, Freunde treffen, spontan zum Inder essen gehen oder ein Wochenende in die Berge fahren.»

«Schon klar. Aber das mit dem Weggehen wird doch eh schon deutlich weniger. Und natürlich kann man noch einiges machen, Tom und Sabine nehmen Flo doch auch fast überallhin mit.»

Tom und Sabine. Daher weht also der Wind. Tom ist Matthias’ bester Freund, und er ist im Mai Vater geworden. Ziemlich überraschend für uns. Nicht die Geburt natürlich, sondern die Schwangerschaft, die ihr vorausging. Die beiden hatten damit gerechnet, ein oder zwei Jahre «üben» zu müssen, und waren etwas von den Socken, als es im ersten pillenfreien Monat schon passierte. Gut, «es» ist wirklich süß. Und Tom und Sabine sind entspannte Eltern, die den Zwack auch mal bei Oma und Opa abgeben, ohne gleich vor Sehnsucht zu vergehen, wie es Simone tut, wenn Leon Ole im Kindergarten ist. Das ist schon okay. Trotzdem. Sie haben sich verändert. Keiner, der einen Säugling zu Hause hat, ist wirklich spontan. Und ich glaube auch nicht, dass die beiden sich ihren VW-Bus gekauft haben, um in Zukunft mit uns Dschungeltouren durch Kambodscha zu unternehmen. Das riecht eher nach Urlaub an der Adria.

«Matthias, das geht mir jetzt alles zu schnell. Lass mir bitte einfach noch ein wenig Zeit», bitte ich, «ich möchte doch auch ein Kind mit dir. Aber eben noch nicht jetzt sofort.» Matthias seufzt.

«Jetzt sind wir wieder an dem Punkt, an dem wir schon mal waren. Wenn wir in einem Jahr wieder darüber reden, wirst du dasselbe sagen. Und irgendwann ist es dann zu spät…»

Ein Mann, dessen biologische Uhr tickt. Das glaubt mir keiner. Ich höre meine noch gar nicht ticken. Weiß auch nicht, warum. Da höre ich ganz andere Dinge, wenn ich in mich hineinlausche. Irgendwas mit Freiheit, Abenteuer und Andalusiern.

«Pass auf, Spatz», sagt Matthias, plötzlich fröhlich, und setzt sich gerade hin. «Wir machen einen Deal! Du darfst – und sollst – all deine Träume und Wünsche in die Tat umsetzen. Alles, was du vorhin aufgezählt hast und gerne auch noch mehr, wenn du etwas Wichtiges vergessen hast. Ich unterstütze dich dabei, so gut ich kann, und ich verspreche, ich werde dir keine Steine in den Weg legen, im Gegenteil!»

«Und dafür schenke ich dir dann ein Kind?», schließe ich messerscharf und überlege, ob ich empört oder belustigt sein soll. Der spinnt, mein Mann.

«Nein. Im Gegenzug triffst du innerhalb einer bestimmten Zeit eine Entscheidung. Pro oder contra Baby. Ich werde beides akzeptieren. Ich möchte bloß eine klare Entscheidung. Diese Ungewissheit macht mich fertig.»

«Gesetzt den Fall, ich würde mich gegen Kinder entscheiden – lässt du dich dann von mir scheiden?» Irgendetwas Kaltes kriecht in mir nach oben.

«Ach, Spatz», sagt Matthias, steht auf, geht um den Tisch herum und sagt: «Komm mal her.» Er nimmt mich fest in seine Arme, mein Kopf liegt an seiner Schulter, und ich atme seinen vertrauten Geruch ein.

«Ich will doch mit dir zusammen sein», murmelt er in meine Haare, «ob mit oder ohne Kinder.»

«Und… wie lange habe ich Zeit?», frage ich Matthias’ Schlüsselbein.

«Sagen wir: neun Monate?», sagt er, schiebt mich an den Schultern ein bisschen von sich weg und grinst mich an.

«Sehr witzig!»

«Finde ich schon», sagt er, gibt mir einen festen, warmen Kuss und setzt sich wieder an den Tisch. Er greift zu einem Kalender. «Heute ist der 17.September 2005.Geburtstermin deiner Entscheidung ist am 17.Juni 2006, okay?»

«Hmpf», entgegne ich, immer noch nicht sicher, ob er das wirklich ernst meint. «Muss ich was unterschreiben?»

«Nee, da genügt ein Handschlag», sagt Matthias und hält mir seine Rechte hin.

Ich schlage ein. Das kann ja heiter werden.

EIN GEHEIMNIS

Den Ayers Rock umwandern. Eine Fotoausstellung machen. Zentral in München wohnen. Ein ganzes Wochenende lang durchfeiern. Auf einem Andalusier den Strand entlanggaloppieren.

Das sind sie also, meine Wünsche und Träume. Gar nicht so schlecht, oder? Aber da ist noch eine Sache, die ich Matthias nicht verraten habe. Bevor ich mich endgültig für ein geregeltes Leben entscheide, möchte ich noch ein großes Abenteuer erleben. Und ich meine damit weder den Spaziergang um den australischen Felsen noch das mit dem Andalusier. Auch wenn Letzteres sicher auch abenteuerlich wird, zumal mein Hintern, wie Matthias richtig bemerkte, noch nie Kontakt mit dem Rücken eines Pferdes hatte. Nein, ich meine ein echtes Abenteuer. Irgendwas Romantisches, Aufregendes, und wenn es geht, ohne Matthias dabei zu betrügen.

Manchmal, aber das bleibt jetzt bitte unter uns, habe ich nämlich ein wenig Angst, etwas verpasst zu haben. Ich bin wie gesagt seit zehn Jahren mit diesem Mann zusammen. Zu sagen, dass ich ihn liebe wie am ersten Tag, wäre falsch. Denn lieben tue ich ihn erst seit etwa sieben Jahren. Vorher war ich verliebt in Matthias. So verliebt, dass ich ihm in Zeiten mehrstündiger Trennung Diddl-Postkarten mit der Aufschrift «I kehr for you» schrieb. Heute, im Jahr 2005, verachte ich das Viech selbstverständlich.

Heute gibt es keine sehnsüchtigen Postkarten mehr. Der Trend geht eher zum gelben Post-it an der Küchentür, auf dem Dinge stehen wie «Milch!!! Weihenstephaner! Aber die mit 1,5% Fett, nicht wieder die Vollmilch!». Ich gebe zu: Die Romantik bleibt in so einer Langzeitbeziehung ein wenig auf der Strecke. Sagen wir besser, sie verändert sich. Romantik heißt nun Ritual. Zum Beispiel das des Sonntagabends. Da wird zu zweit ferngesehen, und dazu gibt es Nr.186 vom Bring-Inder, Rindfleisch in Currysoße. Lindenstraße, Weltspiegel, Tagesschau, Tatort im Ersten. Dann Boulevard Bayern im Dritten. Abweichungen gibt es nicht. Unsere Freunde wissen mittlerweile, dass wir am Sonntagabend nicht ausgehen, und unsere guten Freunde erkennen wir daran, dass sie nicht mal versuchen, zwischen 18Uhr 50 und 23Uhr anzurufen.

Meine Männer vor Matthias sind abenteuertechnisch leider zu vernachlässigen. Meine Freundin Carla sagt immer: «Sei froh!» Aber sie hat ja keine Ahnung, wie das ist, wenn man nie eine wilde Phase hatte. Sie, die eine einzige lebende wilde Phase ist! Wir beneiden uns gegenseitig ein wenig. Carla hätte gerne meine stabile Beziehung und meine glückliche Ehe, und ich wünschte mir, mal so wild und frei gelebt zu haben wie sie. Vor 1995, als ich mit 22Jahren Matthias kennenlernte, gab es Jakob, Jens und Jonas. Nein. Ich habe sie mir nicht nach den Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen ausgesucht.

Jakob war ein typischer Vertreter der Kategorie mittelloser Künstler. Wahnsinnig sensibel, mit zerzaustem, längerem, dunklem Haar, von vornehmer Blässe, mit traurigen Augen, 12Jahre älter als ich und Besitzer einer umfangreichen Sammlung identisch aussehender schwarzer Fleece-Schals. Das hoffe ich zumindest. Denn er hatte immer einen um den Hals gewickelt. Jakob rezitierte Brecht, Heine und Hölderlin für mich, was mich dem Orgasmus weitaus näher brachte als seine Versuche, mir mit Einsatz seines Körpers einen zu verschaffen. Alles, was er im handwerklichen Bereich versuchte, misslang. Das fing beim Einparken an (natürlich fuhr er einen uralten, schwarzen und total zerbeulten Ford Taunus) und hörte beim Beischlaf auf. Ich liebte Jakob aus tiefstem Herzen, und da er mein erster Mann war, dachte ich mir nichts bei seinen ungelenken Fummelversuchen. Ich kam lediglich zu dem Schluss, dass die Sache mit dem Sex maßlos überschätzt wurde.

An meinem 20.Geburtstag trat Jens in mein Leben. Und nahm mir mit meiner Jungfräulichkeit, die durch Jakob nicht weiter gefährdet gewesen war, auch die komfortable Lebensweisheit, dass Sex nicht so wichtig sei. Mit dem großen, schwedenblonden, gutgebauten, blauäugigen, goldhäutigen Jens, der übrigens mein Männer-Beuteschema für immer nachhaltig prägen sollte, bestand das Leben aus Sex. Allerdings aus nicht viel mehr. Es ist nicht so, dass Jens dumm oder ungebildet gewesen wäre. Im Gegenteil, er studierte damals Kulturwirt und Italienisch in Passau, ging gern ins Theater, las viel, und wir konnten uns super unterhalten. Es war nur so, dass der Sex noch viel besser war als das Reden, weswegen wir es vorzogen, die Wochenenden bei heruntergelassenen Rollläden im breiten Bett meiner ersten kleinen Studentenwohnung in der Amalienstraße zu verbringen. Von Montag bis Freitag war Jens in Passau und studierte. So ging das drei Monate lang.

Bevor dieses schwindelerregende Begehren mein soziales Leben vollends ruinieren konnte, verließ Jens mich, weil er sich in eine Kommilitonin verliebt hatte. Ich sah sie einmal, als ich ihm, schwer traumatisiert, eifersüchtig bis ins Mark und sehr verletzt, nach Passau hinterherfuhr. Ich schlich über den Campus, versteckte mich hinter einem Betonpfeiler und sah die beiden zusammen in der modernen Mensa sitzen. Das dünnhaarige, bebrillte, unscheinbare und in Karohosen plus Hard-Rock-Café-T-Shirt in XL gekleidete Wesen, das ich erwartet hatte, sah ich dort nicht. Das Mädchen, von dem Jens seine Finger ganz offensichtlich nicht lassen konnte, hätte meine Schwester sein können, nur in Blond. Ein paar Wochen lang war es mir ein Rätsel, warum Jens mich gegen Sarah eingetauscht hatte. Doch als der Schmerz nachließ und ich schon nach drei Wochen sein bestes Stück mehr vermisste als ihn selbst, wurde mir klar, weshalb. Liebe machen ist eben nicht gleich Liebe.

Jonas war und ist mein bester Freund. Und eigentlich zählt er nicht als Mann in meinem Leben, weil ich nicht mit ihm geschlafen habe. Noch weniger als mit Jakob. Die Gründe waren jedoch andere. Jonas kenne ich buchstäblich aus dem Sandkasten. Um das Klischee rundzumachen: Ja, er war derjenige, der mir immer Sand in die Augen warf und mich dann ein «blödes Mädchen» schimpfte, wenn ich heulte. Später in der Schule schlug meine Antipathie gegen ihn in blanken Hass um. Bis wir mal bei den Projekttagen im Gymnasium in der gleichen Gruppe waren – mit uns nur die dauerkiffenden Protest-Luschen der Mittelstufe, die auf gar nichts Lust hatten. Ich glaube, unsere Aufgabe war es, ein Café für Schüler, Lehrer und Gäste zu managen. Der Ehrgeiz, das zu schaffen, schweißte uns zwischen Tsatsiki und Spezikästen zusammen. Nach den Projekttagen waren wir Freunde. Und diese Freundschaft wurde mit den Jahren immer enger und überlebte sogar Abi und Studienbeginn problemlos.

Entweder hatte ich damals «Harry und Sally» verpasst, oder ich war einfach naiv, denn ich dachte, es könne immer so weitergehen. Bis mir Jonas eines schönen Tages, ich hatte gerade ein paar Wochen lang nicht an Jens’ Schwanz gedacht, eine kryptische E-Mail aus Darmstadt schrieb, wo er gerade ein Praktikum machte. Er schrieb nicht explizit, dass er sich in mich verliebt habe. Aber er mailte, dass er Angst habe, unsere Freundschaft aufs Spiel zu setzen, mich zu verlieren und dass er vielleicht zu feige sei und überhaupt. Und als Attachment fand ich eine MP3-Datei: 1001Nacht (und es hat Zoom gemacht).

Ich rief Jonas sofort an. Nachdem ich ihm eine Stunde lang Hmpfs und Weißnichts aus der Nase gezogen hatte, beschloss ich, aktiv zu werden und unsere Freundschaft zu retten. Ich setzte mich in meinen Opel Corsa, ignorierte mein Logo-Design-Blockseminar und fuhr nach Darmstadt. Natürlich war das ein völlig falsches Signal. Nicht das mit dem Seminar, sondern die 400Kilometer, die ich fuhr, um dann bei Jonas zu übernachten. Typischer Fall von mangelnder Kommunikation. Ich dachte, es sei völlig klar, dass ich so weit gefahren war, weil ich unsere Freundschaft retten wollte, aber nicht mehr. Und er dachte, ich sei gekommen, weil ich mehr von ihm wollte. Als wir uns nach einem schönen, wenn auch etwas angespannten Abend in einer Lokalität, die die Darmstädter Biergarten nennen, auf Jonas’ schmalem Bett küssten, war das für mich immer noch eine freundschaftliche Aktion, die unsere tiefe Verbundenheit ausdrücken sollte. Erst als Jonas anfing, mit vor Aufregung zitternden Fingern, dadurch aber nicht weniger zielstrebig, den Verschluss meines BHs zu bearbeiten, stutzte ich. Wir klärten die Angelegenheit dann doch noch (mit BH). Und nach einer ungefähr zwei Jahre andauernden Phase, in der wir beide etwas empfindlicher waren, als es Freunde für gewöhnlich sind und beide jedes Wort des anderen auf die Goldwaage legten, normalisierte sich unsere Freundschaft und wurde enger und schöner denn je.

So viel zu meinen Männern vor Matthias. Drei Typen, viele Küsse, einmal Sex. Rekordverdächtig ist was anderes. Aber Matthias entschädigte mich für alles. Na ja, fast alles. Eine Kleinigkeit kann er mir nicht geben. Denn dafür müsste ich ihn verlieren, was ich natürlich nicht will. Ich meine so ein mit Tragik gewürztes, wahnsinnig romantisches Liebesabenteuer. Zwei Königskinder, die sich nicht kriegen. Romeo und Julia ohne Gift und Dolch. Warum lockten Filme wie Titanic die Frauen scharenweise in die Kinos? Warum sind die Konzertsäle voll, wenn Rosenstolz spielt, und weshalb werden Bücher wie P.S.Ich liebe dich Bestseller? Entweder, die Mädels finden sich darin wieder, weil sie selbst einen Jack, Romeo oder Paul haben, oder sie haben Sehnsucht danach. Mag sein, dass es mir zu gutgeht und ich deswegen unbedingt etwas will, was ich nicht haben kann. Trotzdem. Diese Sehnsucht ist da. Und wer weiß, ob sie nicht einfach verschwindet, falls ich mich wirklich für ein Kind entscheiden sollte.

Apropos Kind. Es ist acht Uhr morgens, Zeit für meine tägliche Hormondosis. Ich gehe ins Bad, fische den Pillen-Blister aus meinem Zahnputzbecher und drehe ihn in meiner Hand hin und her. Noch zwei beigefarbene Kügelchen sind drin. «Wed» und «Thu» steht dabei. Wednesday and Thursday, Mittwoch und Donnerstag. Heute ist Mittwoch. Wo habe ich eigentlich den Rest der thailändischen Valette hingepackt?

DIE PILLE

«Du hast was??» Susanne kann es nicht fassen.

«Na ja, das heißt ja nicht, dass…»

«Was denn sonst?!»

«Man kann auch ohne Hormonhammer sicher verhüten!»

«Den Hormonhammer fandest du aber bis vor kurzem noch ganz prima», erinnert Susanne mich und lässt eine aufgewickelte rote Locke vom Finger springen, «kein Stress, kein Rechnen, keine Pickel – das waren deine Worte!»

Hätte ich es ihr doch einfach nicht erzählt. Klar, das mit Matthias’ und meinem Deal musste sie erfahren, schließlich ist sie eine meiner beiden besten Freundinnen. Aber die Story wäre genug Sensation für einen Tag gewesen, selbst für Susanne.

«Also, ich versteh dich nicht», fährt sie da auch schon fort, «du willst eigentlich noch kein Kind, richtig?»

Ich nicke.

«Matthias will eine Entscheidung und schlägt dir diesen Deal vor. Finde ich ja noch ganz witzig, echt!»

Susanne mag Matthias. War mir klar, dass sie seine verrückte Idee gut findet.

«So weit komme ich auch noch mit», sagt sie. «Aber warum in Dreiteufelsnamen setzt du denn gleich die Pille ab?!»

Als sie das Wort Pille sagt, ist ihr Tonfall ganz hoch und schrill. Die Leute im Cream drehen ihre Köpfe und mustern uns interessiert. Ü30-Frauen