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Nach «Wer ist eigentlich Paul?» der neue Bestseller von Anette Göttlicher Paul ist in Lesotho, und Marie ist in München. Grauenvoll, zumal seine Anrufe, E-Mails und SMS fühlbar spärlicher werden. Marie beschließt einmal mehr, unabhängiger zu sein: Sie geht für drei Monate nach Australien! In der Ferne begegnet sie dem einen oder anderen jungen Mann. Und wenn ihr treues Herz auch nur für einen schlägt: Irgendwie sind sie alle ein bisschen wie Paul ... «Und jede Frau wird ein Stück Marie in sich selbst entdecken.» (Cosmopolitan) «Auch als Bar- und Restaurantführer der bayerischen Hauptstadt geeignet.» (FHM)
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Seitenzahl: 287
Anette Göttlicher
Sind sie nicht alle ein bisschen Paul?
Maries Tagebuch
Was hätte das für ein entspannter Sonntag werden können. Bis in den Mittag hinein schlafen, dann mit Vroni im Café Neuhausen ein labbriges Croissant und eine lauwarme Latte macchiato genießen und den letzten Abend nachbesprechen. Wer mit wem, wer nicht mit wem und warum keiner mit Birgit. Später vielleicht bei Paul vorbeischauen und sich einig sein, dass man unbedingt mal wieder laufen gehen sollte. Dann statt sportlicher Betätigung doch lieber bei offener Terrassentür auf dem roten Sofa knutschen. Es nicht lange nur beim Knutschen belassen können, sondern nach einer Viertelstunde ins ungemachte, noch von vorletzter Nacht zerwühlte Bett wechseln. Hinterher im warmen Gras des Gartens liegen, in den schleierbewölkten Julihimmel blicken und über Reisen, Essen, unsere Kindheiten, Freunde, Politik und Moral reden. Über alles sprechen, nur nicht über die Zeit nach dem ersten Oktober.
Stattdessen klemme ich zwischen approximativ zweitausend Kelly-Osbourne-Klonen, die nervös herumhibbeln, sich auf ihren High-Tech-MMS-Handys die neuesten polyphonen Klingeltöne vorspielen («Guck mal, ich hab Rock DJ!») und sich gegenseitig fotografieren. Menno. Welcher Teufel hat mich geritten, im November letzten Jahres zu entscheiden, dass ich acht Monate später Lust auf ein Konzert haben würde?
Ich stupse Vroni an und flüstere ihr etwas ins Ohr. Sie grinst, nickt und gibt die Information an Marlene und deren Schwester Sandra weiter. Kurz darauf wende ich dem Eingangstor des Olympiastadions, auf dessen Öffnung die Klone und wir seit einer Stunde in dicht gedrängter Schlange warten, den Rücken zu. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, fokussiere eine Würstelbude am Horizont und kneife die Augen zusammen. Dann reiße ich die Augen wieder auf, fange wild an zu hüpfen und kreische mit sich überschlagender Stimme: «Robbie! Da drüben ist Robbiiiiiiiiiiie!» Vroni, Marlene und Sandra kieksen hysterisch mit. Die Wirkung ist famos. Die Klone beenden augenblicklich den Austausch von Handylogos, marschieren geschlossen Richtung Würstelbude und skandieren «Robbie, Robbie!». Der Würstelverkäufer zuckt zusammen wie ein Bundesliga-Stürmer, dem beim Alleingang auf das Bayern-Tor kurz hinter der Mittellinie unerwartet ein zähnefletschender Olli Kahn entgegengespurtet kommt, und lässt erschrocken die Brühpolnische fallen.
«Schnell, nach vorne!», zische ich meinen Freundinnen zu, und bevor die Meute erkannt hat, dass es sich um einen bedauerlichen Irrtum handelt und Robbie Williams was Besseres zu tun hat, als sich sechs Stunden vor seinem großen Auftritt an der Würstelbude Pommes rot-weiß zu holen, haben wir uns bis direkt ans Tor vorgemogelt. Tschakka. Wir sind hier zwar altersmäßig die absoluten Dinosaurier, dafür aber mit wesentlich mehr Erfahrung im aktiven Anstehen ausgestattet. Merke: In breiten Schlangen nie in der Mitte anstellen. Sonst wird man von den schlaueren An-der-Seite-Anstellern nach hinten rausgedrückt und tritt auf der Stelle. Außerdem erlaubt: Heftiges Drängeln, kombiniert mit empörtem Schimpfen Richtung Hintermann. So ähnlich wie beim Fußball, wenn der Spieler, der gerade ein schmutziges Foul begeht, die Hände nach oben reißt und unschuldig zum Schiedsrichter blickt, noch während die Stollen seiner Schuhe sich in die Wade seines Gegners graben.
Mir geht es jetzt ein wenig besser. Aber richtig gut ist es immer noch nicht. Immer noch würde ich mich lieber an Pauls wohlgeformten Körper schmiegen als an die harten, kalten Gitterstäbe dieses Tores, das vor allem immer noch eines ist – verdammt zu. Direkt dahinter steht ein überheblich grinsender Security-Mann mit Oberlippenbart und fiesem Rasurbrand am Hals. Macht ihm wohl Spaß, die Menge zu beherrschen. Aber wehe, wenn sie losgelassen wird. Dann muss er zusehen, dass er schnell wegkommt, wenn er keinen Wert auf den ein oder anderen Nike-Sohlenabdruck auf der Wange legt. Die meisten Mädels haben nämlich sprinttaugliches Material an den Füßen, habe ich gesehen. Na warte, du.
Eine halbe Stunde später lässt sich die Security-Mannschaft dazu herab, die Tore zu öffnen. «Bitte nicht alle auf einmal, die Damen», sagt der Oberlippenbart mit einer erstaunlich autoritären Stimme, und brav lasse ich ihn in meine Tasche gucken und zeige meine Eintrittskarte vor. Dann trete ich zu Vroni, Marlene und Sandra und genieße den Anblick des leeren Olympiastadions in der Nachmittagssonne. Nicht lang indes.
«Marie, na endlich!», ruft Marlene aufgeregt, und hektische rote Flecken zieren ihren Schneewittchen-Teint. «Komm, los!» Und da laufen sie schon. Ich hinterher. Wir galoppieren die vielen Stufen zur Arena hinunter. Unten angekommen, schlage ich vor, erst einmal gemütlich eine Apfelschorle kaufen zu gehen und vielleicht eine Brühpolnische. Doch meine konzerterfahrenen Freundinnen haben andere Pläne. «Schnell, laufen wir nach vorne!», ruft Vroni und verfällt in einen ziemlich flotten Arbeitstrab. Mann, ist das anstrengend.
Toll, da sitzen wir nun auf grauem Plastik, das den Rasen des Olympiastadions abdeckt. Gut, wir sind wirklich fast ganz vorne an der Bühne. Aber das freut mich momentan nicht. Es ist vier Uhr nachmittags. Gegen sieben wird Kelly Osbourne auftreten und ihre Klone zum Kreischen bringen. Ab neun können wir mit Robbie rechnen. Noch fünf Stunden! Fünf Stunden, die von meinem Sommer mit Paul abgehen. 300Minuten weniger Pauls blonde Haare, Pauls grüne Augen und Pauls tiefe Stimme. Viele, viele Sekunden weniger mit Paul reden, schweigen und schlafen. Hmmmm. Mit Paul schlafen. Das könnte ich jetzt gerade tun, hätte ich nur meine Eintrittskarte bei eBay vertickt. Sicherlich hätte ich über 100Euro dafür bekommen. Davon hätten Paul und ich uns einen richtig schönen dekadenten Sonntag machen können…
«Andersrum!», sagt Vroni.
«Wie, andersrum?», frage ich und drehe mich im Schneidersitz zu ihr hin.
«Die Kippe!»
«Welche… O.Ja klar.»
Da sitzen wir nun also, rauchen, mampfen Brühpolnische mit Gummibärchen und trinken Apfelschorle aus Olympiapark-Plastikbechern. Vor mir sitzt eine Studentin und verzehrt ihre selbst mitgebrachten, vollkörnigen, vermutlich glutenfreien Reformhaus-Kekse. Sie ist ein eher natürlicher Typ. Fröhlicher Wildwuchs unter den Achseln hält sie nicht davon ab, ein ärmelloses Batiktop zu tragen und ab und zu unmotiviert die Arme gen Himmel zu strecken. Hach, ist das Leben schön. Im 4you-Rucksack befinden sich sicher noch viele leckere gluten- und zuckerfreie Kekse und vielleicht sogar eine Thermoskanne mit grünem Tee. Und das Sommersemester im Soz-Päd-Studium ist auch bald vorbei, dann bleibt mehr Zeit für Yogakurse und Ashrams im Schwarzwald oder an der Ostsee. Ich frage mich nur, wo ihre WG-Genossen stecken und was zum Teufel sie auf dem Robbie-Williams-Konzert macht. Wahrscheinlich ein bedauerlicher Irrtum. Element of Crime spielen heute in der Muffathalle, glaube ich.
Langsam wird es heiß hier unten. Um uns bei Laune zu halten, plaudern Vroni, Marlene, Sandra und ich ein wenig über das Übliche. Es geht um die neue Wimperntusche von Clinique, auf die Marlene leider total allergisch ist. Darum, ob man diesen Sommer eines der limitierten Louis-Vuitton-Handtäschchen im Pastell-Design haben muss, ob es ein Original zu sein hat oder ob es eventuell auch das Fake vom Taschen-Neger in Desenzano am «Lago». (di Garda) tut. Wir diskutieren darüber, warum Robbie Williams so sexy ist und Alexander «Superstar» so erotisch wie Pumpernickel. Irgendwie vergehen die Stunden. Und auf einmal steht ein kleines, pummeliges Mädchen in zitronengelber Regenjacke, mit einer Puck-die-Scheißhaus-Fliege-Brille und zerzauster Wischmop-Frisur auf der Bühne. Die Kelly-Osbourne-Klone kreischen ekstatisch.
Als es Stunden später endlich 21Uhr ist, ist meine Laune auf einer Skala von eins bis zehn irgendwo bei minus siebzehn. Robbie kommt bestimmt eine Stunde zu spät, schließlich ist er ein Superstar. Und auch wenn er wirklich gleich auftritt – ich überlege, ob ich nicht einfach gehe. Wäre doch irgendwie cool, oder? Stundenlanges Warten, um dann beim Haupt-Act souverän den Schauplatz zu verlassen. Robbie fände das bestimmt wahnsinnig lässig.
O mein Gott. Ich glaube, da ist er.
Sechzigtausend andere glauben das auch. Ein lustvoller Aufschrei aus unzähligen weiblichen, 16- bis 25-jährigen Kehlen wogt durch das Olympiastadion. «Let me-he-he… entertain you!», singt Robbie, und ich kreische aus voller Lunge mit. Ekstase pur. Ich bin wieder sechzehn und diesem jungen Engländer verfallen, der dort oben so wahnsinnig erotisch in schwarzer Hose und schwarzem Hemd auf der Bühne herumspringt. Vroni und die anderen habe ich bei den ersten Takten des Konzerts in der aufgeregten Menge verloren, aber das ist mir egal. Neben mir mache ich die Soz-Päd-Studentin mit dem Batiktop aus. Auch sie stiert mit glasigen Augen Richtung Bühne, Richtung Robbie, und präsentiert ihm hingebungsvoll ihren Achselhaardschungel. «Geil, oder?», frage ich sie atemlos, und sie wirft mir einen verklärten Blick zu. Ja, Schwester, wir verstehen uns. Nein, danke, ich möchte im Moment keinen glutenfreien Keks.
Zwei Stunden später treffe ich Vroni, Marlene und Sandra in der Schlange vor den Damenklos wieder. Ich stelle ihnen Svenja vor, die selbständige Immobilienmaklerin in München ist, spezialisiert auf Objekte in Bogenhausen ab einem Wert von zwei Millionen Euro. Letztes Jahr hat sie Boris’ Villa in der Lamontstraße verkauft. Amüsiert beobachte ich Marlenes Mimik, die sich von «wen schleppt denn Marie da schon wieder an?». (Batiktop und 4you-Rucksack) zu «wow, interessante Frau». (Objekte in Bogenhausen) wandelt. Ziemlich oberflächlich, vom bloßen Äußeren einer Person darauf zu schließen, was sie beruflich macht.
Auf dem Weg zurück nach Neuhausen findet die ausführliche Nachbesprechung dieses gigantischen Abends statt. Am Platz der Freiheit verabschieden wir Svenja, die nach rechts abbiegen muss, um ihre Maisonettewohnung in Nymphenburg zu erreichen. Als ich in meiner Neuhausener Wohnung im dritten Stock ankomme, die Turnschuhe abstreife und mich erschöpft aufs Sofa fallen lasse, fällt mir ein, dass ich seit Stunden nicht mehr an Paul gedacht habe. Klingt komisch, ist aber so. Ich bin noch in der Lage, einen phantastischen, wunderbaren, perfekten halben Tag ohne ihn zu verleben. Gibt es vielleicht doch ein Leben nach Paul?
Hach, ist das Leben schön. Wie nett von ihm, mir zu meinem endlich vollbrachten Studienabschluss einen Jahrhundertsommer zu schenken. Ja, richtig gelesen: Ich hab’s geschafft. Ich bin jetzt Magistra Artium der Neueren Deutschen Literatur, Germanistischen Linguistik und Kommunikationswissenschaften. Nein, ich habe noch nicht mit dem Taxischein angefangen. Jetzt wird erst einmal dieser tolle Sommer ausgelebt. Mit Paul. Es könnte mein letzter sein. Mein letzter mit Paul, meine ich. Übertriebene Dramatik wäre fehl am Platz. HEUL.
Und was macht man in einem Jahrhundertsommer wie diesem? Richtig. Schwimmen gehen. Gegen zehn erreicht mich eine SMS von Paul: «Muss heute nicht arbeiten. Hast du Lust auf Baden? 13Uhr am Kirchsee?» «Gerne», smse ich zurück, «soll ich dich abholen?» «Nicht nötig, werde radeln», schreibt Paul. Ich bin wieder mal beeindruckt. Von Haidhausen bis zum Kirchsee im hügeligen Umland südlich von München sind es mindestens 40Kilometer. Und draußen hat es schlappe 31Grad. Ich ziehe da doch mein kleines rotes Auto vor…
Mist, wo ist der türkisfarbene Fire&Ice-Bikini mit den weißen Blümchen drauf? Ich muss ihn finden. Er macht einen perfekten Busen, und die Farbe täuscht Sommerbräune vor. Eine Dreiviertelstunde später – ich habe inzwischen das Wiedersehen mit meinem längst verloren geglaubten MP3-Player, einer Wanderkarte für die oberbayerischen Hausberge sowie der Sonderprägung eines Fünfmarkstücks zum 150-jährigen Jubiläum des Deutschen Archäologischen Instituts gefeiert – fische ich den türkisfarbenen Bikini aus meiner Badetasche. Ich glaube zumindest, dass es sich um meine Badetasche handelt. In ihrem Inneren finde ich den Beweis: Einen Abriss mit der Aufschrift «Freiflächennutzungsentgelt für den Kastenseeoner See», datiert auf den 12.August 2000.Freiflächennutzungsentgelt. Das steht da wirklich, kein Witz. Nicht mal die Rechtschreibprüfung meines Word-Programms stört sich an diesem Ausdruck. Schön, in Deutschland zu leben.
Der Bikini fühlt sich klamm an und muffelt bedenklich. Igittigitt. So kann ich Paul nicht gegenübertreten. Er muss sonst denken, ich hätte das gute Stück ein paar Jahre lang in der Badetasche gelassen. Mangels Rei in der Tube wasche ich den Bikini mit kräftigendem Haar-Shampoo von Fructis. Mmmh, riecht lecker. Der Nachteil ist, dass das gute Stück jetzt nass ist.
Was schaut der Depp denn so komisch? Neben mir an der Ampel glotzt ein Mittvierziger mit erblich bedingtem Haarausfall ungeniert in mein geöffnetes Autofenster. Ich grinse ihn an, und der Fahrer hinter ihm hupt. Seine Linksabbiegerampel zeigt grün. Fahr weiter, hier gibt’s nichts zu sehen. Wie hätte ich meinen Bikini trocken bekommen sollen, wenn nicht so? BH-Teil und Höschen blähen sich fröhlich und sehr türkis über den Lüftungsschlitzen meiner Heizung, die auf Stufe 4 läuft. Gut, es ist ein bisschen warm im Auto. Aber der Vorteil ist, dass mir die 31Grad Außentemperatur kühl vorkommen werden, wenn ich aussteige.
Wo bleibt eigentlich Paul? Es ist fünf Minuten nach eins. Keine Spur von ihm. Stattdessen drängen Dutzende von Familien mit Kindern durch den Eingang. «Mamaaaaa, ich will aber sofort ins Wasser, jaaaa?!» «Darfst du gleich, Luca, aber erst einschmieren, gell?» – «Mamaaaa, die Schanett hat mir meinen Dinosaurier geklaut!» «Tizian, dann sag der Jeanette, dass sie dir den Dinosaurier sofort zurückgeben soll, weil es doch dein Dinosaurier ist!» Und so weiter. Ich glaube, ich will doch keine Kinder. Oder sie kommen ins Internat. Ich wollte immer gerne ins Internat, als ich ein Teenager war. Dolly 1 bis 20 sorgten dafür, dass ich Burg Möwenpick (oder war’s doch Möwenfels?) für das Paradies auf Erden hielt und allen möglichen Blödsinn anstellte, um von meinen Eltern strafversetzt zu werden. Hat leider nie geklappt.
Endlich sehe ich Paul auf seinem Mountainbike vorfahren. Er sieht ein wenig angestrengt aus, während ich die zehn Minuten, die ich zu früh dran war, prima genutzt habe, um mich von meiner Höllenfahrt im überhitzten Auto zu erholen und wieder eine normale Gesichtsfarbe anzunehmen. «Marie», begrüßt er mich und küsst mich, und mein Magen zieht sich wie immer freudig zusammen. Er hat einen pinkfarbenen Kopf, schwitzt und schnauft – und sieht einfach toll aus. Manchmal kann ich es kaum glauben, dass ich jetzt mit ihm zusammen bin, mit diesem gut gebauten, großen, blonden, grünäugigen, intelligenten, witzigen und einfach perfekten Paul. «Auf Zeit», mischt sich das Teufelchen auf meiner Schulter ein, «in drei Monaten ist er weg, und du bist wieder alleine!» Jaja. Danke, dass du mich daran erinnert hast. Es hätte fast einer von diesen glücklichen Momenten werden können, in denen ich vergesse, dass Paul am ersten Oktober im Flieger nach Lesotho sitzen wird.
«Du, ich will sofort ins Wasser!», sagt er, und ich unterdrücke die Bemerkung, er solle sich aber zuerst eincremen. Wir lassen unsere Handtücher unter einem etwas abseits stehenden Baum ins Gras fallen und tapsen Richtung See. Ich lasse Paul den Vortritt. Muss ja nicht sein, dass seine Lust auf mich und den Sommer durch den Anblick meines bikinibehosten Hinterteils flöten geht. Ich habe nichts gegen mein Hinterteil. Aber ich bin zu faul, es täglich mit Bürstenmassagen, Peelings und sündteuren Lotionen mit asiatischen Namen zu traktieren, um es dellenfreier zu machen. Es ist viel einfacher, sich ein bisschen geschickt anzustellen und hinter Paul zu gehen. Außerdem komme ich so in den Genuss seines nicht zu verachtenden und absolut dellenfreien Hinterteils.
«Na, bist du eine dieser Huch-das-ist-aber-kalt-ich-geh-lieber-langsam-rein-Frauen?», will Paul wissen, als wir das Wasser erreicht haben.
«Nein, ich bin eine der Mir-ist-kein-Wasser-zu-kalt-Frauen», informiere ich ihn und renne ohne schuldhaftes Zögern ins kühle Nass. Er guckt erstaunt, und ich sehe, dass er den Bauch einzieht. «Komm, Weichei!», rufe ich. Das verfehlt seine Wirkung nicht. Paul hechtet in den See, und ehe ich mich’s versehe, packen seine Hände mich an den Schultern und tauchen mich kräftig unter. Prustend und Moorwasser spuckend, soll ja sehr gesund sein, komme ich wieder an die Oberfläche, zehn Zentimeter von Pauls Gesicht entfernt. Wir küssen uns. So gut das geht, wassertretend. Ehrlich gesagt geht es nicht wirklich gut.
«Komm, wir schwimmen zu der roten Boje da rüber», schlägt Paul vor. Schade, ich hätte ihn gern weitergeküsst. «Na gut», sage ich, und wir kraulen nebeneinander auf den See hinaus. An der roten Boje machen wir Rast und halten uns an ihr fest. «Das geht viel besser mit dem Küssen, wenn man nicht Wasser treten muss», sagt Paul. Ach so. Mmmmmh. Stimmt. Das geht sogar ziemlich gut. Auch wenn ich dabei nochmal reichlich Moorwasser schlucke. Hoffentlich wirkt sich das auch innerlich angewandt positiv auf meine Gesundheit aus.
«Das Wasser ist nicht so kalt, wie ich dachte», tut Paul nach einer Weile Knutschen kund, grinst und führt meine Hand zum Beweis dieser Tatsache an seine Badehose. «Mach keinen Unsinn», lache ich und füge vielsagend und mich dabei ziemlich lasziv fühlend hinzu: «Ich freu mich schon auf später, wenn wir zu Hause und allein sind…» «Wieso später?», will Paul wissen, und ehe ich weiß, wie mir geschieht, ist er untergetaucht und hat mir mein türkis-weiß-geblümtes Bikinihöschen geklaut. «Nicht verlieren», meint er, wieder über Wasser, und drückt es mir feixend in die Hand. Und dann bringen wir beinahe die rote Boje zum Kentern. Zwischendurch erinnere ich Paul daran, dass ich in der Schule mal gelernt habe, dass Schall sich über dem Wasser sehr viel besser verbreitet als über Land und dass hundert Meter entfernt am Ufer des Kirchsees Kinder spielen. «Hmjaaaa, oooooooh, grmpf, uuuh», erwidert Paul ungerührt und schert sich den Teufel darum, ob die Schanett oder der Tizian eventuell ein frühkindliches Sextrauma erleiden könnten.
Nach etwa fünf Minuten ist der Spaß vorbei. Zwei ältere Hausfrauen mit genoppten Frisurschutzbadehauben nähern sich brustschwimmend und in bedrohlichem Tempo unserer Boje. «Jo mei, ham Sie scho g’hört, was der Frau Huber ihrem Mo passiert ist?», will die pinke Badehaube von der hellblauen wissen. «Naa?», antwortet Hellblau wissbegierig, «hot er’s scho wieder mim Herzn?» Bevor es in die Details dieser Krankengeschichte geht, haben Paul und ich uns widerwillig, aber recht flott voneinander gelöst und planschen scheinbar harmlos um die Boje herum. «Grüß Gott», sage ich artig zu den benoppten Schwimmerinnen, und sie erwidern den Gruß freundlich. «Jo mei, des is a schön’s Platzl zum Ausrasten, gell?», meint Frau Pink, bemüht um höflichen Kirchsee-Smalltalk. «In der Tat», sagt Paul und versucht, seinen Atem in den Griff zu bekommen. «Komm, Marie, wir überlassen den Damen den Rastplatz und schwimmen zurück ans Ufer», schlägt er dann vor. «Ich kann nicht», zische ich ihm zu und schneide Grimassen. «Was ist denn?» «Mein Höschen!», flüstere ich verzweifelt. Es ist weg. Ich muss es losgelassen haben. Gut, dass das Wasser des Kirchsees so moorig und undurchsichtig ist. Was mir jedoch auf dem Weg vom Ufer zum Handtuch relativ wenig nützen wird. Shit. Ich glaube, ich bin die Erste, die jemals beim Schwimmen in einem oberbayerischen Moorsee ihr Bikiniunterteil verloren hat. Das kann auch nur mir passieren. «Moment, das kann ja nicht weit sein», sagt Paul und taucht unter. «Hom S’ was verlorn?», erkundigt sich Hellblau interessiert und hilfsbereit. «Äähm, ja, nur… einen Haargummi», behaupte ich. Dann fällt mir ein, dass ich im Moment meinen Sommerhaarschnitt trage und meine Haare so kurz sind, dass kein Haargummi der Welt sie zusammenbinden könnte. Mist. Bevor Pink oder Hellblau dieser Ungereimtheit auf die Schliche kommen, tauche ich lieber schnell unter, nicht ohne noch schnell ein wohlerzogenes «Wiedersehen» von mir zu geben. Verdammt dunkel, der Kirchsee unter der Wasseroberfläche. Unheimlich. Auf einmal sind die Geräusche der am Ufer planschenden Kinder und der zwitschernden Vögel weg. Stattdessen gluckert es um mich herum, und von unten steigen gelbliche Luftblasen auf. Igittigitt. Ich tauche lieber wieder auf. Paul ist immer noch verschwunden. Doch plötzlich schießt er zwei Meter entfernt von mir prustend aus dem Wasser, mein Bikinihöschen über dem Kopf herumwirbelnd, und ruft triumphierend: «Ich hab es!!!» «Halt die Klappe», zische ich ihn an und entwende ihm rasch seine Trophäe. So schnell bin ich wohl noch nie in meine Bikinihose geschlüpft. Als wir uns auf den Weg zum Ufer machen, höre ich noch, wie die badebehaubten Hausfrauen sich vom Gesprächsthema «der Frau Huber ihr Mann» ab- und dem Gegenstand «neumodische Haargummis» zuwenden.
Durch die lange Zeit im Wasser ist uns kalt geworden. Gänsehäutig lassen wir uns auf unsere Handtücher fallen, und ich kuschle mich in der Löffelchen-Stellung (meine Phantasie ist immer noch beim Sex, ja, ich gebe es zu) an Pauls Körper. Jetzt könnte die Welt untergehen. Ich hätte nichts dagegen, wenn jetzt Schluss wäre, in diesem Moment. Es kann eigentlich nur schlechter werden. Alle meine Sinne sind perfekt versorgt. Ich sehe grüne Wiesen, Wald und den See. Ich höre die Vögel singen, den Wind in den Bäumen, entferntes Kinderlachen und Pauls Atem. Ich spüre Pauls Haut an meiner, wasserkühl und darunter pulsierend warm, seine Hände, die meine Arme und Hüften streicheln, seinen Atem, der mir sanft in den Nacken bläst. Ich rieche das sommerliche Gras, Sonnenmilch und diesen ganz speziellen Duft, wenn die Sonne die Haut erhitzt. Ich bin glücklich. Ich weiß nicht, ob ich jemals so glücklich war wie in diesem Moment. Ich schließe die Augen und rufe meine Assoziationen zum Thema Glück auf. Ein Potpourri aus Bildern, Tönen, Gerüchen und Gefühlen zieht vor meinem inneren Auge vorbei. Ein wirrer, vertrauter Film. Da ist ein wackliger, blau angestrichener Holzstuhl mit einer eingerollt schlafenden Katze darauf, irgendwo in Griechenland. Der Duft der Scampi, die mein Vater im offenen Kamin briet. Ein staubiger Straßenrand in Südspanien, der Teer von der Hitze aufgeweicht und halb von gelbem, verdorrtem Gras überwuchert. Das warme Fell meines Lieblings-Norwegerponys an meinen nackten Kinderbeinen. Das leuchtende Riesenrad auf dem Oktoberfest. Eine heiße Schokolade in einem Backsteincafé nach einem windig-kalten Strandspaziergang. Der Abstieg ins Tal über frisch gemähte, im Abendlicht grün leuchtende Bergwiesen. Dichter Nebel zwischen den herbstlichen Bäumen im Englischen Garten. Die Wärme des antiken Marmors im Amphitheater von Ephesos.
«Frau Sandmann», reißt Paul mich raunend aus meinen Glücksträumen, «könnten Sie bitte damit aufhören, Ihren entzückenden Hintern an meinen edlen Teilen zu reiben? Es könnte sonst passieren, dass ich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ins Gefängnis muss.» Ich – meinen Hintern an Paul reiben? «Niemals würde ich das tun», teile ich Paul überzeugt mit und springe auf. «Kommst du mit, ein Weißbier trinken?» «Haha, sehr witzig», beschwert sich mein Traummann, «ich kann im Moment unmöglich aufstehen!» «Männer», seufze ich, Unverständnis vortäuschend. Und dann sage ich etwas, von dem ich weiß, dass es Paul sehr glücklich macht.
«Bleib ruhig sitzen, Schatz – ich bringe dir ein Bier mit.»
Ich wusste, dass das nicht gut gehen kann. Der Sommer war einfach zu perfekt – bisher. Nachdem Paul und ich im Februar beschlossen hatten, einfach alles auf uns zukommen zu lassen und die Zeit bis zu seiner Abreise am ersten Oktober rückhaltlos zu genießen, folgten wundervolle Wochen. Paul stellte mich seinen Freunden vor und ich ihn meinen Mädels. Vroni mag ihn. Gott sei Dank, denn ich könnte nicht mit einem Mann zusammen sein, den Vroni nicht mag. Nur ab und zu, wenn wir alle zusammen im Biergarten sitzen und ich mich wieder mal an einem Paul-Detail nicht satt sehen kann (zum Beispiel den kleinen Fältchen, die sich um seine Augen bilden, wenn er lacht, oder seinen Augenbrauen, die so blond und buschig sind und die ich manchmal gerne mit einer Mini-Bürste in Form kämmen würde), ab und zu wirft meine liebste Freundin Vroni mir einen dieser besorgten Du-magst-diesen-Kerl-zu-sehr-und-er-wird-dich-unglücklich-machen-Blicke zu. Aber sie ist klug genug, um zu erkennen, dass ich längst verloren bin. Rettungslos. Deswegen sagt sie auch nichts. Aber ich glaube, sie bereitet sich innerlich schon auf eine lange Marie-Tröstphase mit unzähligen Pfefferminztalern, wiederholten «Ein unmoralisches Angebot»-Abenden, endlosen Diskussionen und «Weißt-du-noch-der-Abend-als-Paul…»-Gesprächen vor. Ich denke, es werden auch einige Packungen Rote Gauloises sowie nicht minder viele Flaschen kalifornischen Merlots dran glauben müssen.
Aber ich schweife ab. Was mir heute die Laune verhagelt, hat nichts mit Paul zu tun.
Es fing alles ganz harmlos an.
Ein ganz normaler Montag im August. Es wird ein heißer Tag werden, aber das ist ja in diesem Sommer nichts Besonderes. Ich beschließe, gleich morgens den Bikini (ja, den türkisfarbenen mit den weißen Blümchen) unter mein blau-weiß gestreiftes Lieblings-Sommerkleidchen zu ziehen. Ich werde nämlich nach der Arbeit (einer meiner vielen Nebenjobs, für die ich jetzt, wo ich mit dem lästigen Studium fertig bin, endlich mehr Zeit habe) im Eisbach schwimmen gehen. Das ist das neueste tägliche Freizeitvergnügen von mir und etwa siebenhundertdreißig anderen jungen Münchnern. Wie die Bekloppten stürzen wir uns jeden Tag direkt hinter der großen Welle am Haus der Kunst in den Eisbach, der seinen Namen nicht zu Unrecht trägt. Man kann in diesen kanalisierten Teil der Isar nicht steigen, man muss beherzt hineinspringen. Was mich am Anfang etwas Überwindung kostete. Ich springe nicht gern in Wasser und schon gar nicht in schnell fließendes Wasser, dessen Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt angesiedelt ist. Noch weniger gern springe ich in schnell fließendes, eiskaltes Wasser, wenn mich dabei ungefähr siebenhundertneunundzwanzig gebräunte, gut gelaunte junge Münchner von hinten beobachten. (Okay, mag sein, dass ich ein wenig übertreibe. So interessant ist eine hüpfende Marie im türkisweißen Bikini vielleicht auch wieder nicht.) Wenn man dann mal drin ist und den Kälteschock überwunden hat, treibt man haltlos weiter, um eine Kurve herum und unter zwei Brücken hindurch. Durch diese «Stromschnellen» unter den Brücken sollte man unbedingt tauchen. Außer, man möchte ungefähr drei Liter Eisbachwasser trinken, was, glaube ich, nicht uneingeschränkt zu empfehlen ist. Irgendwann nach der zweiten Brücke kommt dann die Stelle, an der man aussteigen sollte. Beim ersten Mal versuchte ich, mich an einer in den Kanal hängenden Baumwurzel festzuhalten. Es kugelte mir beinahe die Arme aus, ich musste loslassen und trieb ohne Chance auf einen Ausstieg bis zur Tivolibrücke. Von dort läuft man ungefähr vierzig Minuten bis zum Haus der Kunst zurück. Nicht zu vergessen: barfuß, nur mit einem Bikini bekleidet und tropfnass. Diese Aussicht ließ mich relativ schnell meine Abneigung gegen öffentliche Verkehrsmittel im Allgemeinen und Schwarzfahren im Besonderen überwinden und die Straßenbahn zurück zum Startpunkt erklimmen. Ich freute mich schon fast auf ein mögliches Treffen mit einem Kontrolleur. Sah mich suchend die Rückseite meines (kürzlich im Kirchsee beinahe verloren gegangenen) Bikinihöschens abklopfen und dann unschuldig den schwitzenden Herren in dunkelblauer Uniform angucken, der Mühe hätte, seine Augen von meinem Busen zu nehmen: «So ein Mist, jetzt habe ich meinen Geldbeutel vergessen…» Ob die einen wohl im Bikini mit auf die Polizeiwache nehmen dürfen? Verstößt das nicht gegen ein Menschenrecht oder ist zumindest ein Fall von sexueller Nötigung? Egal. Es kam kein schwitzender Kontrolleur, und die einzige Person, die sich an meiner klatschnassen Trambahnfahrt störte, war eine trotz dreißig Grad Außentemperatur in ein altroséfarbenes Twinset gekleidete Oma. «Mei Madl, Sie hom ja ois voidropft!»
Alles in allem war die Tour mit der Straßenbahn jedoch wenig wiederholenswert. Deswegen lernte ich, nach der zweiten Brücke aus dem Eisbach auszusteigen, indem ich mich von einer Welle auf die Betoneinfassung des Kanalufers schwemmen ließ. Beim ungefähr siebenten derartigen Ausstieg lernte ich auch, zu kontrollieren, ob sich meine beiden Brüste vorschriftsmäßig in den Cups meines Bikinis befanden. Ich hatte mich schon gewundert, warum mich alle Männer, denen ich auf dem Rückweg zur Liegewiese begegnete, so freudig angrinsten.
Heute, an diesem staubigen, drückend heißen Montag im August, mache ich etwas früher Feierabend, in freudiger Erwartung der Kühle des Eisbachwassers auf der Haut. Ich habe gerade mein Handtuch auf der Wiese am Bach platziert, alibimäßig meine Wertsachen darunter versteckt und bin auf dem Weg zum Wasser, als ich Bernd über den Weg laufe. «Hey Marie», sagt er und lockert seine Krawatte, «wartest du kurz auf mich? Dann können wir zusammen schwimmen.» «Hallo Bernd, klar, mein Handtuch ist da drüben!», antworte ich. Ich warte, während er sich seiner Versicherungskaufmannsklamotten entledigt. Aha, er trägt unter der Anzughose auch bereits die Badehose. Schlaues Kerlchen. Wir springen nebeneinander in den Bach und lassen uns bis zu einem Mäuerchen treiben, an dem man eine Pause machen kann, bevor die Brücken kommen.
«Und, was hast du heute gemacht?», will Bernd wissen, und ich erzähle ein bisschen von meinem langweiligen Tag in der Redaktion, während ich krampfhaft überlege, wie der momentane Stand der Dinge zwischen Vroni und Bernd ist. Wenn Vroni sich nämlich nicht gerade mit Männern rumschlägt, die Marc oder Chris heißen und nach einer kurzen, viel versprechenden und sexuell erfüllenden Phase stets zu der Sorte Mann mutieren, für die das Wort «Arschloch» noch zu nett gewählt ist, neigt sie dazu, mit Bernd ab und an die Grenzen zu überschreiten, die eine Freundschaft von einer Beziehung oder zumindest Affäre trennen. Nicht, dass ich was dagegen hätte. Bernd ist mehr als okay, ein cooler Typ und nett obendrein. Er wäre ein guter Kandidat für Vroni. Ich weiß nur nicht, ob daraus noch was wird. Eventuell der klassische Harry-und-Sally-Fall. Davon bin ich sogar ziemlich überzeugt. Zu viel Wir-sind-nur-Freunde-die-ab-und-zu-mal-Sex-haben-Zeit darf allerdings nicht verstreichen, wenn daraus eine richtige Beziehung werden soll. Jedenfalls wäre es jetzt, mit Bernd neben mir auf einem Mäuerchen im Eisbach, nicht schlecht zu wissen, ob die beiden gerade Freunde sind oder mehr. Aber es fällt mir nicht ein.
«Und, wie geht’s den Jungs so?», frage ich deshalb und meine die Jungs aus «meiner» WG in Schwabing, in der Bernd zusammen mit Tom und Max wohnt. Max ist mein Ex. Wir waren sechs Jahre zusammen, und ich weiß heute eigentlich nicht mehr genau, warum ich Schluss gemacht habe. Vielleicht, weil ich nicht den ersten Mann heiraten wollte, mit dem ich mehr teilte als die Begeisterung für Großbritannien, Griechenland und Jack Nicholson in «Einer flog über das Kuckucksnest». Ich weiß eigentlich auch nicht genau, warum es mir falsch erschien, beim «ersten Besten» zu bleiben. Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich mich nicht von Max getrennt hätte. Vielleicht hätte ich Paul nie kennen gelernt. Als ich mit Max Schluss machte, wusste ich allerdings noch nicht, dass ich möglicherweise ein Jahr später Paul kennen lernen würde. Kompliziert. Ich glaube, über diese Was-wäre-wenn-Sache muss ich ein andermal in Ruhe nachdenken.
«Gut geht’s den Jungs», antwortet Bernd, «auch wenn wir Max kaum noch sehen, seit er Kati hat…»
Kati? Who the fuck is Kati?
«Wer ist denn Kati?», frage ich und bemühe mich, möglichst beiläufig zu klingen. Noch bleiben mir wertvolle Sekunden, in denen ich annehmen kann, Kati sei möglicherweise ein beiger VW Käfer aus dem Jahre 1975, eine äthiopische Wüstenrennmaus oder ein Berner Sennenhund.
«Kati ist Max’ neue Freundin», zerstört Bernd erbarmungslos meine Hoffnungen. Dann referiert er ungefragt und ausführlich über dieses Wesen namens Kati, das in meiner Vorstellung die Gestalt einer Kreuzung aus Christy Turlington, Julia Roberts und Charlotte York aus Sex and the City annimmt. So viel nur zu ihrem Äußeren. Dumm kann sie auch nicht sein, denn laut Bernd hat sie gerade ihre Zeit als Ärztin im Praktikum hinter sich gebracht und arbeitet nun als Assistenzärztin in der Chirurgie des Klinikums Großhadern. Wie ätzend. Ich muss gestehen, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn Max’ neue Freundin – die ja irgendwann mal «passieren» musste – eine dralle rotblonde Metzgereifachverkäuferin oder zumindest eine unscheinbare, deutschblonde und make-up-freie Soz-Päd-Studentin mit Vorliebe für glutenfreie Roggenkekse gewesen wäre. Irgendeine Frau, mit der ich mich hätte messen und der gegenüber ich mich eventuell sogar hätte überlegen fühlen können. Das wäre doch eine feine Sache gewesen. Nicht, dass ich meinem Ex keine adäquate neue Freundin gönnen würde. Aber sie muss ja nicht gleich so toll sein, dass ich mich schlecht fühle.
Ich täusche Frösteln vor, damit Bernd aufhört, Kati zu lobpreisen, und wir passieren die zwei Brücken und lassen uns an Land schwemmen. Routiniert stopfe ich meinen Busen zurück in die Bikini-Cups, und wir balancieren barfuß über die gekiesten Wege zurück zur Wiese. Meine Sommerlaune ist dahin. Und ich weiß eigentlich gar nicht genau, warum. Weil Max eine neue Freundin hat, die mich mehr als ersetzt? Marie, du bist nicht mehr mit Max zusammen, ermahne ich mich selbst. Und vor allem: Du hast ihn verlassen, nicht er dich. Du solltest dich für ihn freuen, weil er wieder jemanden hat, statt eifersüchtig zu sein. Und außerdem – du hast Paul, oder? Deinen Traummann. Den Mann, den du immer wolltest. Deinen blonden, großen Sexgott, mit dem du nicht nur die ganze Nacht Liebe machen, sondern auch reden kannst, ohne dass euch die Themen ausgehen.
Trotzdem.
«Kommst du noch auf ein Bier mit zum Chinaturm, Marie?», erkundigt sich Bernd, als wir uns abgetrocknet und wieder angezogen haben.
«Nö, danke, würde ich gerne, aber ich muss noch einkaufen und putzen», lüge ich.
Als ich die Prinzregentenstraße entlang, über die Ludwigstraße und den immer noch staubig-heißen Odeonsplatz Richtung Neuhausen radle, kreisen meine Gedanken immer noch um Max und Kati. Was die beiden wohl gerade machen? Vielleicht sitzen sie unter dem dichten Blätterdach in der Laube des Lukullus, Max’ und meines Lieblingsgriechen in Altgiesing, trinken roten Hauswein aus Kupferkannen und teilen sich dazu den Grillteller «Akropolis». Vielleicht planen sie ihren ersten gemeinsamen Urlaub. Ob sie wohl auch nach Griechenland fliegen werden, wie wir das fast jedes Jahr taten? Stopp, Marie, befehle ich mir selbst. Hör auf damit. Das ist pure Sentimentalität, gemischt mit Selbstmitleid. Unangebrachtem Selbstmitleid.
Zu Hause hänge ich meinen Bikini auf die Wäscheleine (man kann mir nicht vorwerfen, dass ich nichts dazulerne) und klemme mein Handy an sein Ladegerät. Zwei Anrufe in Abwesenheit, sehe ich. Paul. Und nochmal Paul. Vor einem halben Jahr hätte diese Anzeige auf dem Handydisplay meinen Puls ungemein beschleunigt. Und jetzt? Tut sich nicht viel. Was ist passiert? Ist etwas passiert? Liebe ich Paul nicht mehr? Oder liebe ich etwa Max noch? Panik kriecht in mir hoch. Was, wenn meine große Liebe zu Paul nur ein Strohfeuer war? Einfach nur eine prickelnde Mischung aus Hormonen, sexueller Anziehung und Nicht-haben-können? Was, wenn Max meine einzige, wahre große Liebe war? Die ich in einer Phase der Langeweile und Orientierungslosigkeit achtlos wegwarf?
Woher soll man wissen, wie sich die große Liebe anfühlt – die, die man nie aufgeben darf, um die es sich zu «kämpfen» lohnt? (Wie man um Liebe kämpft und ob man um Liebe kämpfen sollte, ist noch ein ganz anderes Thema.) Muss diese Liebe einen jeden Tag in den siebenten Himmel katapultieren, oder kann sie einen auch mal anöden oder gar nerven? Ist sie dann nicht mehr die große Liebe? Oder ist sie es gerade deswegen? Was unterscheidet die große Liebe von der kleinen Liebe? Gibt es überhaupt die große Liebe? Oder ist einfach jede Liebe anders und nicht als größer oder kleiner zu kategorisieren? Ich liege auf dem Sofa in meinem stickigen Wohnzimmer, die Augusthitze lungert in meiner Wohnung herum und lähmt meine Gedanken. Sie drehen sich langsam im Kreis.
Man merkt erst, was man hatte, wenn man es verloren hat. Dieser Satz beißt sich in mir fest und lässt mich nicht mehr los. Und wirft weitere Fragen auf. Merkt man nicht immer erst, was Sache war, wenn etwas vorbei ist? Ist man nicht immer hinterher schlauer? «Das war eine geile Zeit» hört man oft. «Das ist