Aus meinem Jugendland - Isolde Kurz - E-Book

Aus meinem Jugendland E-Book

Isolde Kurz

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Isolde Kurz ist auch heute noch eine ambivalente Schriftstellerin. Schon in jungen Jahren selbstständig als Autorin und Übersetzerin, war sie eine Seltenheit im wilhelminischen Deutschland. Später jedoch geriet sie wegen ihres Schweigens im Dritten Reich und ihrer altmodischen Sprache in Kritik. Hervorzuheben sind ihre Werke "Vanadis" und "Florentiner Novellen". Isolde Kurz wuchs in einem liberalen und an Kunst und Literatur interessierten Haushalt auf. Anfang der 1890er Jahre errang sie erste literarische Erfolge mit Gedicht- und Erzählbänden. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 359

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Isolde Kurz

Aus meinem Jugendland

Isolde Kurz

Aus meinem Jugendland

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962812-03-4

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Wid­mung

Vor­wort

Le­bens­mor­gen

Tan­te Ber­ta und die Schwa­ben­strei­che

Um­zug nach Kirch­heim

Das alte Tü­bin­gen

Die Hei­den­kin­der

Ein Flucht­ver­such

Von Ihr. Nach­klän­ge des tol­len Jah­res. Das rote Al­bum.

1866

Die Ge­burt der Tra­gö­die

Vor­früh­ling

Ein No­tel­fer. Rus­si­sche Freun­de

Ein fran­zö­si­scher Re­vo­lu­tio­när. Ju­gen­dese­lei­en

1870

Rigi Re­gi­na

Be­such in Frank­reich

Be­dräng­nis­se

Der Brand und die Flam­me. Hat der Mann ein See­len­le­ben?

Der 10. Ok­to­ber

Wie­der bei den Grie­chen

Un­zeit­ge­mä­ßes und was es für Fol­gen hat­te

Mün­chen

Letz­te Tage in der Hei­mat

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Widmung

Dem Le­bens­freund und Teil­ha­ber mei­ner Ju­gen­derin­ne­run­gen Ernst von Mohl

Vorwort

Die vor­lie­gen­den Blät­ter dan­ken ihr Ent­ste­hen zu­nächst ei­ner An­re­gung der »Neu­en Frei­en Pres­se«, die einen großen Teil da­von zu­erst in Ein­zel­feuil­le­tons ver­öf­fent­licht hat. Erst die freund­li­che Auf­nah­me, die sie in Le­ser­krei­sen fan­den, ver­an­lass­te die Ab­fas­sung des gan­zen Bu­ches. Die­ses bil­det ge­wis­ser­ma­ßen eine Fort­set­zung und Er­gän­zung der Le­bens­ge­schich­te mei­nes Va­ters1 und die Über­lei­tung zu den Flo­ren­ti­ni­schen Erin­ne­run­gen,2 in de­nen ich die Cha­rak­ter­bil­der mei­ner ver­stor­be­nen Brü­der ein­zeln ge­zeich­net habe. Da ich bei Nie­der­schrift der ge­nann­ten Bü­cher nicht dar­an dach­te, auch ein­mal die ei­ge­ne Ent­wick­lung zu er­zäh­len, sind in bei­den ge­le­gent­lich Din­ge vor­weg­ge­nom­men, die hier mit grö­ße­rer Aus­führ­lich­keit be­han­delt sein woll­ten. Die Art des Ent­ste­hens die­ser Auf­zeich­nun­gen be­ding­te ihre Ein­tei­lung in ge­schlos­se­ne Ka­pi­tel, die nicht streng chro­no­lo­gisch, son­dern nach der in­ne­ren Ord­nung ge­glie­dert sind. Doch bin ich hier­in nur dem Ge­setz des Ge­dächt­nis­ses ge­folgt, das gleich­falls die Er­eig­nis­se nicht am lan­gen Fa­den auf­rei­ht, son­dern das Zu­sam­men­ge­hö­ri­ge, auch wenn es zeit­lich ge­trennt ist, an­ein­an­der­knüpft.

Na­tür­lich kann das Bild, das ich von mei­ner da­ma­li­gen Um­welt gebe, kein voll­stän­di­ges sein. Es ha­ben wert­vol­le Men­schen mei­nen Ju­gend­weg ge­kreuzt, de­ren hier kei­ne oder nur flüch­ti­ge Er­wäh­nung ge­schieht, weil ich sonst von der vor­ge­setz­ten Rich­tung zu weit ab­ge­lenkt wür­de. Die Wahl der ein­ge­führ­ten Per­so­nen be­stimmt sich ein­zig nach ih­rem Ein­fluss auf mei­nen Wer­de­gang. Und ein sol­cher Ein­fluss hängt ja weit we­ni­ger von der wirk­li­chen Be­deu­tung ei­ner Per­sön­lich­keit ab als von dem Zeit­punkt, wo un­se­re Le­bens­we­ge sich schnei­den.

Auch wun­de­re man sich nicht, wenn man in mei­nen Erin­ne­run­gen Größ­tes und Kleins­tes, Völ­ker­ge­schi­cke und Ju­gen­dese­lei­en, große Män­ner und klei­ne Mäd­chen bunt bei­sam­men fin­det. In mei­nem Ju­gend­gar­ten wuch­sen alle Ge­wäch­se Got­tes, große und klei­ne, ein­hei­mi­sche und frem­de, wild durch­ein­an­der. Da gab es him­mel­stre­ben­de Ze­dern, wun­der­sa­me Orchi­de­en, sel­te­ne Ro­sen­ar­ten, da­ne­ben lus­ti­ge Bau­ern­blu­men und al­ler­hand blü­hen­des Un­kraut. Ich pflücke mit vol­len Hän­den, was ich noch er­raf­fen kann. Frei­lich muss­te ich man­che lo­cken­de Blu­me nach­träg­lich wie­der aus dem Strauß wer­fen, weil mir die Rück­sicht auf Le­ben­de oder Ver­stor­be­ne Zu­rück­hal­tung auf­er­legt. Und was die großen Män­ner be­trifft, so neh­men sie die Nähe der klei­nen Mäd­chen nicht übel; ja sie hät­ten, als sie leb­ten, die Welt ohne die­se Nähe um vie­les we­ni­ger an­zie­hend ge­fun­den.

Vi­el­leicht er­scheint es man­chem als eine Ver­mes­sen­heit, dass ich über­haupt in­mit­ten des Welt­krie­ges von den Freu­den und Lei­den mei­ner ei­ge­nen Ju­gend er­zäh­le. Zu mei­ner Recht­fer­ti­gung die­ne die Er­wä­gung, dass die große Sint­flut, aus der sich all­mäh­lich eine neue Welt em­por­zu­rin­gen be­ginnt, in Bäl­de vollends die letz­ten Spu­ren je­ner idyl­li­schen Tage mit ih­ren Rei­zen und ih­ren un­er­träg­li­chen Hem­mun­gen hin­weg­ge­fegt ha­ben wird. Dann mag ein neu­es Ge­schlecht sich durch die ver­schö­nern­de Zei­ten­fer­ne hin­durch viel­leicht an ih­rem An­blick be­ha­gen. Auch spie­geln sich ja in je­dem Men­schen­le­ben im­mer un­zäh­li­ge an­de­re, in de­nen die glei­chen An­sät­ze ent­hal­ten sind und die nicht un­gern im frem­den Ge­sicht das ei­ge­ne wie­der­er­ken­nen.

Buoch i. R., im Som­mer 1918

Isol­de Kurz

Her­mann Kurz. Ein Bei­trag zu sei­ner Le­bens­ge­schich­te. Mün­chen 1906, bei Ge­org Mül­ler. Jetzt Stutt­gart, Deut­sche Ver­lags-An­stalt.  <<<

Flo­ren­ti­ni­sche Erin­ne­run­gen. Mün­chen 1910, bei Ge­org Mül­ler. 2. Aufl. Jetzt Stutt­gart, Deut­sche Ver­lags-An­stalt.  <<<

Lebensmorgen

Es hat einen tie­fen Reiz für das geis­ti­ge Ich, sei­nen ei­ge­nen An­fän­gen nach­zu­spü­ren. Wann und wie ist von die­sem Be­wusst­sein, das spä­ter die gan­ze Welt des Sei­en­den, des Ge­we­se­nen und gar noch des Künf­ti­gen um­span­nen möch­te, der ers­te Fun­ke auf­ge­däm­mert? Die täg­li­che Um­ge­bung, in die wir hin­ein­ge­bo­ren wur­den, lässt kaum einen be­wuss­ten Ein­druck zu­rück, sie ist uns das Selbst­ver­ständ­li­che ge­we­sen, auch sind es nicht Per­so­nen, son­dern Din­ge, die uns zu­erst die Vor­stel­lung der Au­ßen­welt als mit uns im Ge­gen­satz be­find­lich ge­ben.

Am An­fang mei­ner Erin­ne­run­gen steht ein Rad. Die­se frü­he­s­te Ge­dächt­niss­pur hat sich mir in mei­nem acht­zehn­ten Le­bens­mo­nat ein­ge­gra­ben. Es war ein mit grü­nem Schlamm be­han­ge­nes, ver­wit­ter­tes Mühl­rad, das sich in ei­nem ei­len­den Schwarz­wald­bach dreh­te. Ich hielt es für den großen Garn­has­pel un­se­rer Jo­se­phi­ne, wor­aus ich schlie­ßen muss, dass mir die­ser schon eine ganz ge­läu­fi­ge Vor­stel­lung war, aber wann ich sei­ner be­wusst wur­de, weiß ich nicht. Das Rad war also nicht das ers­te, ich müss­te viel­leicht sa­gen: im An­fang war der Has­pel; al­lein nun stut­ze ich wie der Dok­tor Faust bei der Bi­bel­über­set­zung: ich kann den Has­pel so hoch un­mög­lich schät­zen. Es müs­sen noch an­de­re Er­kennt­nis­se in Men­ge vor und mit dem Has­pel ge­we­sen sein, je­doch sie sind auf ewig un­ter die Schwel­le mei­nes Be­wusst­seins hin­ab­ge­taucht, und das Mühl­rad steht als ers­ter si­che­rer Mei­len­stein auf mei­ner Le­bens­stra­ße. Ich zap­pel­te also vom Arm des Kin­der­mäd­chens her­un­ter, um den ver­meint­li­chen Has­pel aus dem Was­ser zu lan­gen – die Grö­ßen­ver­hält­nis­se wa­ren mir noch nicht auf­ge­gan­gen – und ich setz­te durch die­se Ab­sicht das Mäd­chen in be­rech­tig­tes Er­stau­nen, denn sie trug mich schleu­nig hin­weg, wo­bei ich mei­ne Miss­bil­li­gung durch Schrei­en und Tre­ten aufs leb­haf­tes­te äu­ßer­te. Die­ses Mäd­chen hieß Jus­ti­ne, sie war bei der gleich­na­mi­gen Hel­din des Weih­nachts­fun­des, den mein Va­ter um jene Zeit schrieb, Pate ge­stan­den, und der Auf­tritt spiel­te auf ei­ner moos­be­wach­se­nen Stein­brücke in dem klei­nen Schwarz­wald­bad Lie­ben­zell, die ich bei ei­nem vor we­ni­gen Jah­ren dort ab­ge­stat­te­ten Be­such auf der Stel­le wie­der er­kann­te.

Die­sel­be Jus­ti­ne, die, bei­läu­fig ge­sagt, erst vier­zehn Jah­re alt war, mir aber als eine sehr ehr­wür­di­ge Per­sön­lich­keit er­schi­en, trug mich ein­mal in eine Schmie­de, wo ru­ßi­ge Män­ner tief in­nen um lo­dern­des Feu­er han­tier­ten. Ich sah sie mit un­be­schreib­li­chem Ent­set­zen und hielt sie für Teu­fel. Wie aber kam der Teu­fel, von dem ich nie ge­hört hat­te, in mei­ne Vor­stel­lung? Ich weiß es nicht und kann nur an­neh­men, dass der Teu­fel zu den an­ge­bo­re­nen Be­grif­fen ge­hört. Ich schrie und sträub­te mich ge­wal­tig, als es in die­se Höl­le ging, und als gar ei­ner der Schwar­zen – es war, wie ich spä­ter er­fuhr, der Va­ter des Mäd­chens – sich mir ver­bind­lich nä­hern woll­te, ließ ich je­nes im gan­zen Ort be­kann­te Ge­schrei er­tö­nen, wor­an mich der Nacht­wäch­ter stra­ßen­weit zu er­ken­nen pfleg­te, dass das Mäd­chen ei­ligst mit mir das Wei­te such­te. Ich konn­te mich üb­ri­gens da­mals schon ganz gut ver­ständ­lich ma­chen, denn ich sprach, wie man mir er­zähl­te, schon im ers­ten Le­bens­jahr zu­sam­men­hän­gend. Mein um elf Mo­na­te äl­te­res, sonst sehr be­gab­tes Brü­der­chen Ed­gar lern­te es erst an mei­nem Bei­spiel. Aber wahr­schein­lich hät­te er es eben­so früh wie ich ge­konnt und ließ sich nur durch ir­gend­ein in­ne­res Hemm­nis die Zun­ge bin­den, denn er war ein wun­der­li­ches, äu­ßerst schwie­rig ver­an­lag­tes klei­nes Men­schen­kind, dem mei­ne grö­ße­re Un­be­fan­gen­heit eben­so nütz­lich war wie mir sein schon ent­wi­ckel­te­rer Ver­stand.

Mein nächs­ter blei­ben­der Ein­druck war ein frisch­ge­fal­le­ner Schnee in den Stra­ßen von Stutt­gart, den ich mit in­ni­ger Freu­de für Streu­zu­cker an­sah. Dann aber kam eine Stun­de un­ver­ge­ss­li­chen Jam­mers. Un­se­re Jo­se­phi­ne, das ge­lieb­te Erb­stück aus dem groß­vä­ter­li­chen Hau­se, hat­te mich im Wä­gel­chen auf den Schloss­platz ge­führt und war un­ter der so­ge­nann­ten Ehren­säu­le, die auf ei­nem, wie mir schi­en, him­mel­ho­hen Un­ter­bau eine Grup­pe von Stein­fi­gu­ren trägt, mit mir an­ge­fah­ren. In ei­ner die­ser Ge­stal­ten glaub­te ich un­se­re Mut­ter zu er­ken­nen und rief sie er­schro­cken an her­ab­zu­kom­men. Da sie sich nicht reg­te, schrie ich im­mer ängst­li­cher und fle­hen­der mein »Ma­ma­le, komm lun­ter«. Die­ses star­re, stei­ner­ne Da­ste­hen flö­ßte mir eine ban­ge Furcht, ein wach­sen­des Grau­en ein, ich be­gann zu ah­nen, dass es ein Ent­rückt­sein ge­ben kön­ne, wo kein Ruf die ge­lieb­te See­le mehr er­reicht. In mei­nen Jam­mer misch­te sich noch ein dunkles Schuld­ge­fühl, als ob die­ses Un­glück die Stra­fe für ir­gend­ei­ne von mir be­gan­ge­ne Un­bot­mä­ßig­keit wäre, ich brach in ein fürch­ter­li­ches Weh­ge­schrei aus und blieb für alle Trös­tun­gen taub, wäh­rend man mich schrei­end die gan­ze Kö­nigs­tra­ße ent­lang nach Hau­se führ­te, wo erst der le­ben­di­ge An­blick der für ver­lo­ren Be­wein­ten mir den Frie­den wie­der­gab.

Und dann sehe ich in eben die­ser Kö­nigs­tra­ße eine brau­ne ein­flü­ge­li­ge Ei­chen­tür mit mes­sin­ge­ner Klin­ke, die so nied­rig stand, dass ich sie mit ei­ni­ger Mühe ge­ra­de er­rei­chen und auf­drücken konn­te. Sie führ­te in einen Bäcker­la­den, den wir Kin­der täg­lich auf un­se­rem Spa­zier­gang mit Jo­se­phi­ne be­such­ten. Dort durf­te je­des von uns sich ein schmack­haf­tes Back­werk, eine so­ge­nann­te »See­le«, sel­ber vom Tisch lan­gen. Ei­nes Ta­ges kam Ed­gar mit sei­ner Wahl nicht zu­stan­de. Wel­che See­le man ihm an­bot, es war im­mer nicht die rech­te. Er wur­de dar­über sehr schwer­mü­tig und er­klär­te im­mer­zu: ’s Her­ze­le will was und ’s Her­ze­le kriegt nix. Als Jo­se­phi­ne nach vie­len ver­geb­li­chen Ver­su­chen, ihn zu be­frie­di­gen, end­lich mit uns den La­den ver­ließ, ver­wan­del­te sich sein Gram in lau­ten Jam­mer, und wäh­rend wir an­de­ren freu­dig un­se­re See­len ver­zehr­ten, er­fuhr es die gan­ze Kö­nigs­tra­ße hin­ab je­der Vor­über­ge­hen­de, dass das Her­ze­le et­was woll­te und nichts be­kam. Da­heim er­goss sich der Ent­täu­schungs­schmerz in einen Strom von Trä­nen, bis Jo­se­phi­ne ih­ren Lieb­ling still bei­sei­te nahm und ihm die heim­lich ein­ge­steck­te See­le reich­te. Er ver­zehr­te sie be­frie­digt und sag­te dann: ’s Her­ze­le will noch mehr.

In mein drit­tes Le­bens­jahr fällt die ers­te Be­kannt­schaft mit dem Dich­ter Lud­wig Pfau, der als po­li­ti­scher Flücht­ling in Pa­ris leb­te und nun zu heim­li­chem Be­su­che nach Stutt­gart ge­kom­men war. Es ver­kehr­ten zwar vie­le Freun­de in mei­nem El­tern­hau­se, aber sie alle tau­chen in mei­nem Ge­dächt­nis erst viel spä­ter auf. Aus je­ner frü­hen Stutt­gar­ter Zeit bli­cken mich nur Lud­wig Pfaus vor­ste­hen­de blaue Au­gen aus ei­nem röt­lich um­rahm­ten Ge­sicht stra­fend an. Das ging so zu: Pfau hielt sich acht Tage in un­se­rem Hau­se ver­bor­gen und pfleg­te wäh­rend der Ar­beits­stun­den mei­nes Va­ters bei mei­ner Mut­ter zu sit­zen, mit de­ren An­schau­un­gen er sich be­son­ders gut ver­stand. Mich konn­te er nicht aus­ste­hen, und die­se Ge­sin­nung war ge­gen­sei­tig, denn wir wa­ren ein­an­der im Wege. Ich war durch­aus nicht ge­wohnt, dass die Mama, die ich sonst nur mit den Brü­dern zu tei­len hat­te, sich so viel und an­dau­ernd mit ei­ner frem­den Per­son be­schäf­tig­te. Wenn die bei­den also po­li­ti­sie­rend in dem großen Be­suchs­zim­mer auf und ab gin­gen, dräng­te ich mich ge­walt­sam zwi­schen die müt­ter­li­chen Knie, dass ihr der Schritt ge­sperrt wur­de, und der Gast är­ger­te sich hef­tig, ohne dass er bei der ab­göt­ti­schen Lie­be, die mei­ne Mut­ter für ihre Klei­nen hat­te, es wa­gen durf­te, mich vor die Tür zu set­zen. Er woll­te sich da­her in Güte mit mir ei­ni­gen, und nach­dem er sich ei­nes Ta­ges doch zu ei­nem Aus­gang ent­schlos­sen hat­te, brach­te er eine Tüte voll Zucker­werk mit, dem er den mir noch un­be­kann­ten Na­men Bon­bons gab. Die­ses un­schö­ne Wort für einen so schö­nen Ge­gen­stand miss­fiel mir sehr: in dem na­sa­len O und in der Ver­dop­pe­lung der Sil­be fühl­te ich dun­kel et­was Gro­blüs­ter­nes und Un­wür­di­ges. Wie mich ein neu­es Wort, das mei­nen Ohren schön oder ge­heim­nis­voll klang, in einen stil­len Rausch ver­set­zen konn­te, auch wenn ich sei­nen Sinn gar nicht ver­stand, ja dann erst recht, so­dass ich da­mit um­her­ging wie mit dem schöns­ten Ge­schenk, so gab es an­de­re, die mir einen Wi­der­wil­len ein­flö­ßten und die ich ein­fach nicht in den Mund nahm. Ich wur­de nun auf den brei­ten höl­zer­nen Tritt ge­setzt, der das hal­be Zim­mer aus­füll­te, und un­ter dem Be­ding, mich für eine Wei­le ru­hig zu ver­hal­ten, er­hielt ich ein run­des bern­stein­far­bi­ges Zucker­chen, das ich als­bald in Ar­beit nahm. Aber es rutsch­te mir glatt den Hals hin­un­ter, mich um den Ge­nuss be­trü­gend. So­gleich brach ich den Frie­den, in­dem ich wie Queck­sil­ber auf­fuhr und mich mi­au­end zwi­schen die Knie der Mut­ter klemm­te, in der Hoff­nung, eine Ent­schä­di­gung zu er­lan­gen. For­dern moch­te ich sie nicht, weil ich nicht wuss­te, wie das Ding be­n­am­sen, da mir das wi­der­wär­ti­ge Wort, das ich ganz leicht hät­te aus­spre­chen kön­nen, nicht von der Zun­ge woll­te. Ich ant­wor­te­te also auf die er­schreck­te Fra­ge, was mir ge­sche­hen sei, nur, ich hät­te »das Ding« ver­schluckt. Was für ein Ding? frag­te sie, schon an al­len Glie­dern zit­ternd, denn sie dach­te an ir­gend­ei­nen spit­zi­gen oder gar gif­ti­gen Ge­gen­stand. Das Ding! Das Ding! rief ich ge­ängs­tigt, dass man mich nicht ver­stand, und nun erst recht ent­schlos­sen, das ver­haß­te Wort kei­nen­falls aus­zu­spre­chen. Mama war schon aus der Tür ge­stürzt, um den Arzt zu ru­fen, aber der Gast hat­te die Geis­tes­ge­gen­wart, mich bes­ser ins Ver­hör zu neh­men: Wie sah denn das Ding aus? – Es war rund und gelb und ganz süß, sag­te ich schnell, er­leich­tert, dass ich nun end­lich den Weg sah, mich ver­ständ­lich zu ma­chen. Du dum­mes Kind, das war ja dein Bon­bon, konn­test du das nicht gleich sa­gen? hieß es nun. Mama wur­de zu­rück­ge­ru­fen, die mich ju­belnd als eine Ge­ret­te­te in die Arme schloss, ich er­hielt ein zwei­tes Bon­bon, das ich trotz dem wid­ri­gen Na­men ver­gnügt in Empfang nahm, und das Zwie­ge­spräch konn­te end­lich sei­nen Fort­gang neh­men. Aber die­sen Zwi­schen­fall hat mir Pfau nie ver­ges­sen. Er ver­si­cher­te mir spä­ter oft, ich sei das un­aus­steh­lichs­te Kind ge­we­sen, was ich ihm von sei­nem Stand­punkt aus ger­ne zu­ge­ben will.

Früh­zei­tig schlich sich auch die Nacht­sei­te des Le­bens in mei­ne In­nen­welt. Die Miss­ge­stal­ten des Struw­wel­pe­ters ar­bei­te­ten zum Nach­teil mei­nes See­len­frie­dens in mei­ner Fan­ta­sie, die ge­nö­tigt war, im Traum noch mehr sol­cher Un­ge­heu­er zu er­zeu­gen. Eins der schreck­lichs­ten war der Hä­kel­mann, eine Ge­stalt, die mich jah­re­lang ver­folg­te. Er war lang und ma­ger mit gras­grü­nem Frack und ro­ten Bein­klei­dern und fuhr blitz­schnell durch alle Zim­mer, in­dem er mit ei­nem lan­gen Ha­ken die Kin­der, die sich vor ihm ver­kro­chen, un­ter den Ti­schen und Bet­ten her­vor­zu­hä­keln such­te. Wann er er­schi­en, brach­te er das gan­ze Haus um den Schlaf, so furcht­bar war mein Angst­ge­schrei. Wie bei Nacht vor dem Hä­kel­mann, so fürch­te­te ich mich wa­chend vor der Licht­putz­sche­re, die da­mals noch im Ge­brau­che war. Ich hat­te näm­lich auf ei­nem Bil­der­bo­gen eine sol­che ge­se­hen, die ein klei­nes Mäd­chen ein­schnapp­te, und glaub­te mich seit­dem zum glei­chen Schick­sal be­stimmt. Wenn es däm­mer­te und die Ker­zen an­ge­zün­det wur­den, so blin­zel­te ich im­mer mit tie­fem Miss­trau­en nach der mes­sin­ge­nen Putz­sche­re, und so oft sie in Tä­tig­keit trat, fürch­te­te ich, in dem gäh­nen­den schwar­zen Ra­chen ver­schwin­den zu müs­sen, denn so früh­reif ich in al­lem an­de­ren war, die Grö­ßen­ver­hält­nis­se wa­ren mir noch im­mer nicht auf­ge­gan­gen. Des­glei­chen gab es im Hau­se einen Bil­der­ka­len­der mit ei­ner Ka­ri­ka­tur, aus der ich schreck­li­che Ängs­te sog: das wa­ren die Krän­ze­les­frau­en. Mit groß­ge­blum­ten Klei­dern im Bie­der­mei­er­stil, Kaf­fee­kan­nen und Tas­sen in der Hand, sa­ßen sie um einen run­den Tisch; sie hat­ten grau­si­ge Dra­chen­köp­fe auf lan­gen, schlan­gen­ar­ti­gen Häl­sen und auf den Köp­fen große ni­cken­de Hau­ben, und sie neig­ten die­se un­heim­li­chen Köp­fe gei­fernd und schnat­ternd ge­gen­ein­an­der. Ein län­ge­res Ge­dicht mit Auf­zäh­lung ih­rer Un­ta­ten war bei­ge­ge­ben, wo­von je­der Vers mit dem Kehr­reim schloss: Hü­tet euch vor den Krän­ze­les­frau­en. Ich nahm mir na­tür­lich vor, mich vor die­sen Un­ge­tü­men zu hü­ten, doch hat mir das im Le­ben we­nig ge­nutzt, denn als ich ih­nen spä­ter leib­haf­tig be­geg­ne­te, da hat­ten sie lei­der kei­ne Dra­chen­köp­fe noch Schlan­gen­hälse, wor­an ich sie zu er­ken­nen ver­mocht hät­te; sie schnat­ter­ten mir auch nicht ent­ge­gen, son­dern küss­ten mich auf bei­de Wan­gen, und erst wenn ich den Rücken ge­dreht hat­te, spritz­ten sie ihr Gift. Da wuss­te ich nun, wes­halb sie mir in den frü­he­s­ten Kin­der­jah­ren den töd­li­chen Ab­scheu ein­ge­flö­ßt hat­ten.

Mei­ne ers­te Be­kannt­schaft mit den Krän­ze­les­frau­en fällt üb­ri­gens schon nicht mehr in mei­ne il­li­te­ra­te Zeit, denn ich er­in­ne­re mich, be­sag­tes Ge­dicht zu wie­der­hol­ten Ma­len selbst ge­le­sen zu ha­ben. Al­ler­dings hat­te ich die­se Kunst schon im drit­ten Jahr, dem äl­te­ren Bru­der zur Ge­sell­schaft, un­ter müt­ter­li­cher Lei­tung zu er­ler­nen be­gon­nen. Auch in die klas­si­sche Li­te­ra­tur wur­de ich be­reits ein­ge­führt, denn Mama ließ mich als ers­tes das Uh­land­sche Ge­dicht vom Wir­te wun­der­mild schrei­ben und aus­wen­dig her­sa­gen; und et­was spä­ter, es mag zwi­schen mei­nem vier­ten und fünf­ten Le­bens­jahr ge­we­sen sein, las sie mir Schil­ler­sche Bal­la­den vor, die mich sehr ent­zück­ten, mit Aus­nah­me der Bürg­schaft, die ich als einen unz­ar­ten An­griff auf mei­ne Trä­nen­drü­sen emp­fand und ver­stimmt ab­glei­ten ließ. Der schein­ba­re Kalt­sinn em­pör­te mein ra­sches Müt­ter­lein, sie schalt mich einen Eis­klotz und hielt mir zur Rüge vor, dass mein von mir sehr be­wun­der­ter Bru­der Ed­gar beim Vor­le­sen in Trä­nen zer­flos­sen sei. Aber es half nichts, ich konn­te über die Bürg­schaft nicht wei­nen, und es war ge­ra­de die früh­rei­fe Emp­fäng­lich­keit, die mich ge­gen das grö­be­re Pa­thos stör­risch mach­te. Die Bürg­schaft ist auch zeit­le­bens für mich auf dem In­dex ge­blie­ben, ein Be­weis für die voll­kom­me­ne Un­ver­än­der­lich­keit un­se­rer an­ge­bo­re­nen In­nen­welt.

Hier zie­he ich einen Sie­ben­mei­len­schuh an und stap­fe ohne wei­te­res in un­se­re Obe­reß­lin­ger Tage hin­über. Da ich aber alle äu­ße­re Sze­ne­rie so­wie die Fül­le der teils rüh­ren­den, teils wun­der­li­chen Käu­ze, die un­se­re Kin­der­stu­be um­ga­ben, schon in mei­ner Her­mann-Kurz-Bio­gra­fie aus­führ­lich ge­schil­dert habe, wer­de ich auch hier fort­fah­ren, nur von den in­ne­ren Er­leb­nis­sen zu re­den, an de­nen das klei­ne Men­sch­lein all­mäh­lich zum Men­schen ward.

Das nächs­te, was sich mir ein­ge­prägt hat, war eine ers­te Lie­be – o dass sie ewig grü­nend blie­be! Aber sie nahm lei­der ein Ende mit Schre­cken. Ich war jetzt fünf Jah­re alt, und er hieß Dr. Adolf Bac­meis­ter. Er trug einen brau­nen Voll­bart nebst Bril­le und war Prä­zep­tor. Dass er ne­ben­bei auch ein Poet und ein fei­ner Er­for­scher sprach­li­cher Al­ter­tü­mer war, wuss­te ich da­mals noch nicht. Wenn er ins Haus kam, galt sei­ne ers­te Fra­ge dem klei­nen Fräu­lein, ich wur­de dann al­lein aus der gan­zen Kin­der­schar her­aus­ge­ru­fen, da­mit er mir Ge­schich­ten er­zäh­len und mit mir spie­len konn­te. Er be­teu­er­te, mich un­end­lich zu lie­ben und warb eif­rig um mei­ne Ge­gen­lie­be, die ich ihm nicht ver­sag­te. Auch hör­te ich es nicht un­gern, dass er mich sein Bräut­chen nann­te. Nur küs­sen durf­te er mich nicht, weil der Bart kratz­te. Durch kei­ne Bit­te noch Ver­spre­chung, auch nicht durch el­ter­li­ches Zu­re­den, ja nicht ein­mal durch Ge­walt war es ihm je ge­lun­gen, einen Kuss von mir zu er­lan­gen. Aber die Ei­fer­sucht brach­te es ei­nes Ta­ges da­hin. Ich hat­te mir nie vor­ge­stellt, dass eine an­de­re sich zwi­schen mich und mei­nen Freund schie­ben könn­te, den ich für mein aus­schließ­li­ches, un­ver­äu­ßer­li­ches Be­sitz­tum hielt. Da­her fuhr es mir wie ein Strahl in die Glie­der, als ich ei­nes Ta­ges aus den Re­den der El­tern, die ihn sehr hoch hiel­ten, ent­nahm, dass sie da­mit um­gin­gen, ihn mit der Toch­ter ei­nes na­hen Freun­des zu ver­hei­ra­ten. An die­se Ge­fahr hat­te ich nie ge­dacht, denn das lie­bens­wür­di­ge Mäd­chen, das etwa sieb­zehn alt sein moch­te, er­schi­en mir wie eine Ma­tro­ne. Ich be­griff mei­ne Mut­ter nicht, die um ei­ner Frem­den wil­len ihre ei­ge­ne Toch­ter be­nach­tei­lig­te. Als mein Ver­eh­rer wie­der­kam, ließ ich mich auf den Schoß neh­men und trotz dem größ­ten in­ne­ren Wi­der­stre­ben von den bär­ti­gen Lip­pen küs­sen. Wir wa­ren eben al­lein im Zim­mer ne­ben dem ge­deck­ten Mit­tags­tisch. Da sag­te das Un­ge­heu­er: Weißt du auch, warum ich dich so lieb habe? Weil du ein so zar­tes fes­tes wei­ßes Fleisch hast; das schmeckt fein zu fran­zö­si­schem Senf. So klei­ne Mäd­chen esse ich am al­ler­liebs­ten. Da­bei blin­zel­te er nach ei­nem lan­gen Mes­ser, das ne­ben dem Senf­topf lag, und ich ent­wich mit ei­nem gräss­li­chen Schrei. Da in die­sem Au­gen­blick die El­tern her­ein­ka­men, ver­kroch ich mich be­bend un­ter dem Kana­pee. Nach ei­ni­ger Zeit wur­de mein Ver­schwin­den be­merkt, und man rief nach mir, aber ich hielt mich ganz still. Trä­nen lie­fen mir über das Ge­sicht, und alle Pul­se klopf­ten. Das Un­tier! Die ge­mei­ne See­le! Da­rum hat­te er mir ge­schmei­chelt und mich an­ge­lockt. Ich sah auf ein­mal in sei­nem Ge­sicht die gan­ze Scheu­sä­lig­keit des Kan­ni­ba­len. Furcht hat­te ich kei­ne, denn dass mein gu­ter Papa ihm nicht ge­stat­ten wür­de, sei­ne Lecker­haf­tig­keit zu be­frie­di­gen, war mir klar. Zorn, Hass, Ver­ach­tung und die Be­schä­mung ver­ra­te­ner Lie­be ar­bei­te­ten in dem klei­nen Seel­chen. Der Oger saß in­zwi­schen ru­hig es­send und plau­dernd am Tisch, ohne Ah­nung von des Kin­des grim­mi­gem Schmerz, denn er hielt mich für viel zu ver­stän­dig, um den gro­ben Spaß zu glau­ben. Er reis­te ab und hat die Käl­te, mit der ich ihn spä­ter bei sei­nen sel­te­nen Be­su­chen emp­fing, ge­wiss nicht auf Rech­nung sei­nes Kan­ni­ba­len­tums ge­setzt. Mir sel­ber ist es rät­sel­haft, wie ne­ben mei­ner über­schnel­len geis­ti­gen Ent­wick­lung so viel kind­li­cher Schwach­sinn fort­be­ste­hen konn­te. Aber ich nahm mir die­se Er­fah­rung zur Leh­re, dass man mit Kin­dern im Spa­ßen nicht zu weit ge­hen darf, auch wenn man sie für klu­ge Kin­der hält. Und selt­sam, es blieb et­was von je­nem Ein­druck hän­gen; ich konn­te auch, als ich her­an­wuchs und mein ehe­ma­li­ger Freund mir man­cher­lei lie­bens­wür­di­ge Auf­merk­sam­keit er­wies, kein herz­li­ches Ge­fühl mehr für die­sen Ge­gen­stand mei­ner ers­ten Lie­be er­schwin­gen, so ge­walt­sam hat­te ich ihn aus mei­ner See­le ge­ris­sen.

Ob­gleich das biss­chen Ler­nen in Ge­sell­schaft des Bru­ders mü­he­los und mit Rie­sen­schrit­ten vor sich ging – Le­sen, Recht­schrei­ben, das Ein­mal­eins, die My­tho­lo­gie, die An­fän­ge der Ge­schich­te glit­ten uns wie von sel­ber zu –, so wur­de ich doch in Be­zug auf die Leicht­gläu­big­keit noch lan­ge nicht ge­schei­ter. Was man mir sag­te, nahm ich ohne wei­te­res für wahr und schmück­te es noch durch die Ein­bil­dung aus. Im Käm­mer­chen un­se­rer Jo­se­phi­ne be­fan­den sich drei un­ge­brauch­te kauf­män­ni­sche Rech­nungs­bü­cher von ei­nem Um­fang, der mir, an mei­ner ei­ge­nen Grö­ße ge­mes­sen, rie­sen­haft er­schi­en. Auf ei­nes die­ser Bü­cher rich­te­ten wir zwei äl­te­ren Kin­der un­ser Be­gehr, um es mit den Er­zeug­nis­sen un­se­rer Zei­chen­kunst zu fül­len. Fina, die Gute, wi­der­stand lan­ge, end­lich über­ließ sie uns ei­nes, und als es voll­ge­schmiert war, auch das zwei­te. Wir zeich­ne­ten un­ser selbs­t­er­fun­de­nes Mär­chen vom Sch­nuf­fel­tier und Buf­fel­tier hin­ein, von dem wir je­den Tag ein neu­es Be­geb­nis er­san­nen. Fina sah uns zu, aber im­mer von Zeit zu Zeit seufz­te sie: Ach, was wird Herr Sch. sa­gen, der mir die­se Bü­cher zum Auf­he­ben ge­ge­ben hat! (Herr Sch. war ein Ju­gend­be­kann­ter Ma­mas, des­sen Na­men wir oft ge­hört hat­ten.) Ge­wiss wird er ein­mal kom­men und nach den Bü­chern fra­gen. Und wenn er sie in die­sem Zu­stand fin­det, dann setzt er mir den Kopf zwi­schen die Ohren.

Die­se Re­den ängs­tig­ten mich un­aus­sprech­lich. Ich hielt das Kopf-zwi­schen-die-Ohren-Set­zen für eine grau­si­ge Mar­ter, und es war fürch­ter­lich, dass un­se­rer treu­en Pfle­ge­rin die­se Ge­fahr um un­se­ret­wil­len droh­te. Gleich­wohl half ich auch das nächs­te Buch be­schmie­ren, aber im­mer dach­te ich an den ge­fürch­te­ten Herrn Sch. und ob er nicht kom­me. An ei­nem Spät­nach­mit­tag trat ein ele­gant ge­klei­de­ter Herr in senf­gel­bem Über­zie­her in un­ser Haus und frag­te nach Mama. Au­gen­blick­lich durch­zuck­te es mich: Das ist er! Und er war es in der Tat, wie ich aus Jo­se­phi­nens Be­grü­ßung er­sah. Sie wies ihn die Trep­pe hin­auf und kehr­te hel­den­haft in ihre Kü­che zu­rück, ge­fasst, wie mir schi­en, das äu­ßers­te zu lei­den. Ich wäre am liebs­ten jam­mernd in den Gar­ten ent­wi­chen, aber ein ka­te­go­ri­scher Im­pe­ra­tiv zwang mich, wie­wohl an al­len Glie­dern schlot­ternd, dem Furcht­ba­ren die Trep­pe hin­auf nach­zu­schlei­chen, ob ich nichts zur Ret­tung un­se­rer Ge­lieb­ten zu un­ter­neh­men ver­möch­te. Was ich nun am Schlüs­sel­loch sah und hör­te, war so merk­wür­dig, dass ich auf ein­mal alle Angst ver­gaß und nur Au­gen und Ohren auf­sperr­te. Der frem­de Herr saß ganz ver­trau­lich ne­ben mei­ner Mut­ter und hat­te eine An­zahl mes­sin­ge­ner und zin­ner­ner Röh­ren auf dem ge­schlif­fe­nen So­fa­tisch aus­ge­brei­tet, das zer­leg­te Mo­dell ei­ner Er­fin­dung, durch die er je­den Krieg sieg­reich, aber un­blu­tig be­en­den zu kön­nen ver­mein­te. Es war, wenn mei­ne Mut­ter, von der ich die­se Er­klä­rung habe, ihn rich­tig ver­stand, ein Ge­schütz, durch das gan­ze Hee­re mit­tels ab­ge­schos­se­ner fei­ner Ket­ten um­spannt und wehr­los ge­macht wer­den soll­ten, und der fan­ta­sie­vol­le Er­fin­der hat­te die Ab­sicht, da­mit nach Pa­ris zu rei­sen und das Mo­dell an Na­po­le­on III. zu ver­kau­fen. Mei­ne sonst so geist­vol­le Mut­ter ver­stand von Mecha­nik nicht viel mehr als ihr Töch­ter­lein am Schlüs­sel­loch und war fast eben­so leicht­gläu­big. – Was, an den Ty­ran­nen? hör­te ich sie ent­rüs­tet sa­gen. Du soll­test dich schä­men, der Re­ak­ti­on zu die­nen. Ich hof­fe, dass du dich an­ders be­sinnst und mit dem Mo­dell nach Ita­li­en zu Ga­ri­bal­di fährst, da­mit er es zum Heil der Frei­heit ver­wen­de.

Der Be­su­cher pack­te sei­ne Röh­ren zu­sam­men und ant­wor­te­te, er wer­de jetzt, wie ge­plant, nach Pa­ris rei­sen und sein Ge­heim­nis um zwei Mil­lio­nen dem Fran­zo­sen­kai­ser ver­kau­fen, weil er das Geld brau­che. Her­nach aber wol­le er je­nen um den Vor­teil brin­gen, in­dem er ein zwei­tes Mo­dell Ga­ri­bal­di un­ent­gelt­lich zur Ver­fü­gung stel­le. Er ging auch in die Kü­che und sprach ver­trau­lich mit Jo­se­phi­ne, und als er fort war, über­zeug­te ich mich, dass ihr Kopf auf dem al­ten Fle­cke stand. Ich wag­te end­lich we­gen der Bü­cher zu for­schen, da ge­stand sie, mich nur gen­eckt zu ha­ben. Die Bü­cher wa­ren ihr Ei­gen­tum, über das sie frei ver­fü­gen konn­te. Der Herr, des­sen sinn­rei­che Ein­fäl­le üb­ri­gens be­kannt wa­ren, hat­te ein­mal mit sei­ner Frau als Gast bei mei­ner da­mals noch un­ver­hei­ra­te­ten Mut­ter ge­wohnt, und da er eben nicht bei Kas­se war, Jo­se­phi­ne jene un­be­nutz­ten Bü­cher statt ei­nes an­de­ren Ent­gelts für ihre Diens­te hin­ter­las­sen.

Die vie­len bei Tage aus­ge­stan­de­nen Ängs­te, die ich meist aus un­über­leg­ten Re­den der Er­wach­se­nen schöpf­te – auch die Furcht, ei­nes mei­ner Lie­ben zu ver­lie­ren, ge­hör­te dazu, ob­wohl ich vom Tode noch nichts wuss­te –, kehr­ten bei Nacht in aben­teu­er­li­chen Ver­mum­mun­gen wie­der und mach­ten mir oft ge­nug den Schlaf zu ei­ner ganz be­denk­li­chen An­ge­le­gen­heit. Das ging bis zu Sin­ne­stäu­schun­gen im ver­meint­lich wa­chen Zu­stand. So sah ich ei­nes Nachts im Mond­schein ganz deut­lich mei­ne Mut­ter im lan­gen wei­ßen Hemd vom La­ger stei­gen, sich ne­ben mei­nem Bett­chen einen Strumpf knüp­fen, und als ich er­war­te­te, dass sie sich jetzt über mich beu­gen wer­de, laut­los hin­ter den Ofen glei­ten. Als sie gar nicht zu­rück­kom­men woll­te, kroch ich nach län­ge­rem War­ten ängst­lich aus dem Bett und sah den Raum hin­ter dem Ofen leer. Eine schreck­li­che Un­ru­he be­fiel mich, aber als ich nun vor ihr La­ger schlich, lag sie in fes­tem Schla­fe. Eine sol­che kind­li­che Hal­lu­zi­na­ti­on hät­te viel­leicht im Mit­tel­al­ter ge­nügt, eine un­glück­li­che Frau der Hexe­rei und der Schorn­stein­fahrt zu über­füh­ren.

Aber die­sen Kin­der­lei­den, von de­nen die Er­wach­se­nen nichts zu ah­nen pfle­gen, hielt eine un­er­mess­li­che Kin­der­se­lig­keit die Wage. Sol­che Fest- und Won­ne­ta­ge wie un­se­re Ge­burts­ta­ge konn­te das spä­te­re Le­ben aus all sei­nem Reich­tum nicht mehr her­vor­brin­gen. Der fei­er­lichs­te war der mei­ni­ge, der Tho­mas­tag; da er in die Weih­nachts­wo­che fiel, wur­de an die­sem Abend der Baum an­ge­zün­det und die Be­sche­rung ge­hal­ten. Schon vie­le Tage vor­her han­tier­te un­se­re Jo­se­phi­ne mit köst­li­chen sü­ßen Tei­gen und stach mit den hoch­ehr­wür­di­gen al­ten Mo­deln, die ich im­mer ir­gend­wie mit un­se­ren alt­ger­ma­ni­schen Göt­tern in Zu­sam­men­hang brin­gen muss­te – viel­leicht hat­te un­ser Va­ter ein­mal die Be­mer­kung ge­macht, dass die »Sprin­ger­lein« Wodans Roß be­deu­ten –, das herr­lichs­te Back­werk aus. Es wur­de in über­schweng­li­chen Men­gen her­ge­stellt und mit den Freun­des­häu­sern korb­wei­se als Ge­schenk ge­tauscht. Mama saß mit be­freun­de­ten Da­men und »do­ckel­te« heim­lich, d. h. sie näh­te aus bun­ten Sei­den­lap­pen die schöns­ten Pup­pen­klei­der. Im­mer hing da und dort ein gol­de­ner Fa­den, der die­se feen­haf­te Tä­tig­keit ver­riet. Die üb­ri­gen Lap­pen hü­te­te ich in ei­ner Papp­schach­tel, sie wa­ren mir als Stoff zu künf­ti­ger Ge­stal­tung fast noch wer­ter als die fer­ti­gen Kleid­chen. Die Gro­ßen be­grif­fen nicht, warum die­se Schach­tel jede Nacht an mei­nem Bett ste­hen muss­te, aber ich wuss­te recht wohl, was ich tat, denn wer hät­te sie sonst ge­ret­tet, falls des Nachts ein Brand aus­brach? Ich hat­te schon den Griff ein­ge­übt, wo­mit ich sie fas­sen woll­te, wäh­rend ich im an­de­ren Arm die Pup­pen hielt, um durch die Flam­men zu sprin­gen. Man sage noch, dass klei­ne Kin­der kei­ne Voraus­sicht hät­ten! – Wenn dann nach ei­ner herz­klop­fen­den Er­war­tung end­lich die Tür des Weih­nachts­zim­mers auf­ging und der Duft und Glanz des mit gol­de­nen Nüs­sen be­han­ge­nen Baums uns ent­ge­gen­ström­te, dann war mit dem ers­ten se­li­gen Au­fat­men auch der Hö­he­punkt des Glückes über­schrit­ten. So herr­lich Pup­pen­stu­be, Kü­che, Kauf­la­den mit ih­rem In­halt wa­ren, der Ge­dan­ke, dass auch die­ser Abend un­auf­halt­sam zu Ende ge­hen muss­te wie je­der an­de­re, mach­te den Be­sitz im vor­aus zu­nich­te. Das Schöns­te an dem Fest war je­des Mal der letz­te Au­gen­blick der Er­war­tung.

An den Ge­burts­ta­gen der Brü­der wur­den im­mer alle Ge­schwis­ter mit­be­schenkt. Man er­wach­te früh bei noch ge­schlos­se­nen Lä­den voll Hoff­nung und Un­ge­duld, stell­te sich aber schla­fend und blin­zel­te nur nach den Din­gen, die da kom­men soll­ten, wäh­rend müt­ter­li­che Hän­de ganz lei­se vor je­des Kin­der­bett ein Tisch­chen rück­ten. Da stan­den dann im Mor­gen­licht be­zau­bern­de Din­ge, wie Far­ben­schach­teln, bun­te Blei­stif­te, gold­ge­rän­der­te Tas­sen, für mich eine Glas­schach­tel mit gol­de­nen, sil­ber­nen und far­bi­gen Per­len zum Sti­cken und An­rei­hen, und was mich im­mer am höchs­ten be­glück­te: ein blü­hen­des Ro­sen­stöck­chen mit vie­len Knos­pen, das ich sel­ber pfle­gen durf­te. Vor dem Ge­burts­tags­kind aber brann­ten die Jah­res­ker­zen über dem Ku­chen. – Wenn ich mei­ne se­li­gen Obe­reß­lin­ger Erin­ne­run­gen ge­gen die Brie­fe mei­ner Mut­ter aus je­ner für sie so schwe­ren und düs­te­ren Zeit hal­te, so kann ich erst ganz die Grö­ße die­ser un­end­li­chen Lie­be er­mes­sen, die den Him­mel über un­se­ren jun­gen Häup­tern so rein und blau er­hielt. Obe­reß­lin­gen war die Sand­bank, auf die po­li­ti­sche Ver­fe­mung und li­te­ra­ri­sches Nicht­ver­stan­den­sein mei­nen Va­ter ge­wor­fen hat­ten. Sein Ge­ni­us büß­te dort in der Enge des Da­seins und der Ein­tö­nig­keit der Land­schaft, die da­bei nichts Groß­ar­ti­ges hat­te, die Schwung­kraft ein. Aber das Kind sah an­ders. Ihm war die blo­ße Berüh­rung des un­ge­pflas­ter­ten Erd­bo­dens und sei­ne grü­ne Nähe Glückes ge­nug, der Hopf­sche Gar­ten, wo man Sta­chel- und Jo­han­nis­bee­ren pflücken und der Hen­ne ins Nest gu­cken durf­te, das Pa­ra­dies. Ein un­ge­wöhn­lich ent­wi­ckel­tes Ge­ruchs­ver­mö­gen mach­te mir auch all die hun­dert Kräut­lein im Gra­se zu lau­ter klei­nen Per­sön­lich­kei­ten, mit de­nen ich in Be­zie­hung trat.

Ed­gar und ich hiel­ten in der Kin­der­schar am engs­ten zu­sam­men, weil wir zu­erst vor al­len an­de­ren da­ge­we­sen wa­ren und uns eine ge­mein­sa­me Welt er­baut hat­ten. Dass ich aber auch noch als Sechs­jäh­ri­ge am liebs­ten mit ihm von ei­nem Tel­ler aß und in ei­nem Bett­chen schlief, wo­bei wir bis zum Ein­schla­fen zu­sam­men Ver­se ver­fer­tig­ten, weiß ich nicht mehr aus ei­ge­ner Erin­ne­rung, son­dern aus Brie­fen der Mut­ter. Und dass an die­sen Ver­sen, wie sie schrieb, nichts Gu­tes war als die Leich­tig­keit des Reims, ist nicht zu ver­wun­dern. Un­se­ren Spie­len hat­ten sich bald zwei an­de­re Brü­der, Al­fred und Er­win, ge­sellt, ohne dass sich mir der Zeit­punkt ih­res ers­ten Er­schei­nens ein­ge­prägt hät­te. Mit Be­wusst­sein er­leb­te ich nur die Ge­burt des Jüngs­ten, der im Jah­re 1860 zur Welt kam und nach Ma­mas Lieb­lings­hel­den Ga­ri­bal­di ge­nannt wur­de. Im Fa­mi­li­en­krei­se hieß er nie an­ders als Bal­de. Ich brach­te ihm zu­nächst kei­ne große Be­geis­te­rung ent­ge­gen, denn ich hat­te aus un­vor­sich­ti­gen Re­den Er­wach­se­ner ent­nom­men, dass sei­ne be­vor­ste­hen­de An­kunft eine un­lieb­sa­me Über­ra­schung war, und das mach­te mich zu­nächst ein we­nig zu­rück­hal­tend. Dass ich, statt wie bis­her die wil­den Spie­le der Brü­der im som­mer­li­chen Gar­ten zu tei­len, jetzt Nach­mit­tage­lang sit­zen und sei­nen Schlaf hü­ten soll­te, stimm­te mich auch nicht fro­her. Aber als ich ei­nes Ta­ges eine Flie­ge in den of­fe­nen Mund des Kin­des krie­chen sah und alle Mühe hat­te, sie her­aus­zu­brin­gen, ohne ihn zu we­cken, da wur­de mir sei­ne gan­ze Hilf­lo­sig­keit klar; von Stun­de an lieb­te ich ihn zärt­lich und wid­me­te ihm auch ger­ne mei­ne Zeit.

Es mag in je­nem Jah­re oder auch et­was frü­her ge­we­sen sein, dass ich zum ers­ten Mal mei­ne ei­ge­ne Be­kannt­schaft mach­te. Im großen Zim­mer in Obe­reß­lin­gen wa­ren zwi­schen den Fens­tern zwei lan­ge schma­le Wand­spie­gel ein­ge­las­sen, die auf ei­nem nied­ri­gen, rings um­lau­fen­den So­ckel ruh­ten. Ei­nes Ta­ges, ob es nun Wir­kung der Be­leuch­tung oder sonst ein Zu­fall war, blieb ich plötz­lich be­trof­fen mit­ten im Zim­mer ste­hen und starr­te in einen die­ser Spie­gel, der mir mein ei­ge­nes Bild ent­ge­gen­hielt. Ein lei­ser Schau­der über­lief mich, und ich dach­te einen nie­ge­dach­ten Ge­dan­ken: Also das bin ich! Zwi­schen Scheu und Wiß­be­gier trat ich ganz nahe hin­zu und mus­ter­te das schma­le, durch­schei­nen­de Kin­der­ge­sicht, das fast nur aus Au­gen be­stand, aus großen, er­staun­ten Au­gen, die mich rät­sel­haft und for­schend an­blick­ten, wie ich sie: Also das sind mei­ne Au­gen, mei­ne Stirn, mein Mund! Mit die­sem Ge­sicht, mit die­sen Glie­dern muss ich nun im­mer bei­sam­men sein und al­les mit ih­nen ge­mein­sam er­le­ben! – Die­ser Fra­ter Cor­pus, der »Bru­der Leib«, den ich da plötz­lich vor mir sah, schi­en mir aber kei­nes­wegs mein Ich zu sein, son­dern ein eben auf mich zu­ge­tre­te­ner Weg­ge­nos­se, mit dem ich jetzt wei­ter zu pil­gern hät­te. Und es kam mir vor, als wäre eine Zeit ge­we­sen, wo wir zwei uns noch gar nichts an­gin­gen. Bis­her war mir näm­lich mei­ne Kör­per­lich­keit nur be­wusst ge­wor­den, wenn ich mir eine Beu­le an die Stirn rann­te oder mit der großen Zehe ge­gen einen Stein stieß. Es war auch bloß ein kur­z­er Au­gen­blick der Be­frem­dung, in dem mich die­ses un­fass­ba­re Zwei­sein be­rühr­te. Die frü­he Kind­heit mag sol­chen halb me­ta­phy­si­schen Emp­fin­dun­gen zu­gäng­li­cher sein als die reif­ge­wor­de­ne Ju­gend, die im un­bän­di­gen Stolz ih­rer phy­si­schen Kraft und Herr­lich­keit viel­mehr den Bru­der Leib für den ei­gent­li­chen Men­schen an­sieht.

In die glei­che Zeit fiel eine an­de­re er­schüt­tern­de­re Ent­de­ckung. Ich sah ei­nes Ta­ges durchs Fes­ter eine Schar schwarz­ge­klei­de­ter Män­ner vor­über­ge­hen und einen mit schwar­zem Tuch ver­hüll­ten Ge­gen­stand tra­gen, der mir wie ein großer Kof­fer er­schi­en. Der An­blick be­rühr­te mich pein­lich, und Chris­ti­ne, un­ser neu­es Kin­der­mäd­chen, das seit kur­z­em im Hau­se war, sag­te auf mei­ne Fra­ge, das sei eine Lei­che, mit der die Leu­te auf den Kirch­hof gin­gen. – Was ist eine Lei­che? frag­te ich mit Wi­der­wil­len, denn ich hat­te das Wort noch nie ge­hört, und es klang mir fremd und un­heim­lich. Sie ant­wor­te­te, das sei ein to­ter Mensch. Ich wun­der­te mich, dass auch Men­schen ster­ben soll­ten, denn ich hat­te ge­meint, das sei ein üb­ler Zu­fall, der nur Vö­gel, Hun­de, Kat­zen und sol­ches Ge­tier be­tref­fe. Chris­ti­ne woll­te mich auf an­de­re Ge­dan­ken brin­gen, aber nun ließ ich nicht mehr los, son­dern stürz­te zur Mut­ter: Ist es wahr, dass Men­schen ster­ben? – Wer hat dir das ge­sagt? – Die Chris­ti­ne. – Ich sah gleich, dass die Chris­ti­ne ein Ver­bot über­tre­ten hat­te. – Ar­mes Kind, sag­te mein Müt­ter­lein, du hät­test es noch lan­ge nicht er­fah­ren sol­len. Aber jetzt ist es her­aus. Ja, es ist wahr, die Men­schen ster­ben. – Aber doch nicht alle, Mama? – Ja, Kind, alle. – Sie hielt mich im Arme, wie um mich zu schüt­zen und zu trös­ten, ich war aber mit dem Ge­dan­ken noch lan­ge nicht so weit. – Aber doch du nicht, Mama? – Ich auch, Kind. Alle. – Aber der Papa doch nicht? – Auch der Papa. – Also viel­leicht auch ich? – Auch du, aber erst in lan­ger, lan­ger Zeit. Wir alle erst in lan­ger Zeit. – Und man kann gar nichts da­ge­gen tun? Es muss kom­men? – Gar nichts, Kind, es muss kom­men, aber jetzt noch lan­ge nicht.

Das war mir durch­aus kein Trost, die lan­ge Zeit, von der sie sprach, war in die­sem Au­gen­blick schon vor­über. Ein schwar­zer, furcht­ba­rer Ab­grund ging auf, der al­les ver­schluck­te. Ja, wenn es doch kom­men muss­te, dann lie­ber gleich, als die­se lan­ge dunkle Er­war­tung. Ein plötz­lich ein­tre­ten­der Zu­fall schi­en mir lan­ge nicht so schau­er­lich wie die­ses un­aus­weich­li­che »Spä­ter«. Den­noch wirk­te die Mit­tei­lung nicht ei­gent­lich über­ra­schend. Es war mir, als hör­te ich da et­was, das ich zu­vor schon ge­wusst, aber wie­der ver­ges­sen hät­te. Ich dach­te fort­an oft über das Ster­ben nach, und die Uner­bitt­lich­keit des Vor­aus­be­stimm­ten er­füll­te mich mit im­mer neu­em Grau­sen: Also ein­mal muss es sein, je­der Tag bringt mich dem letz­ten Zie­le nä­her. Und wenn ich mich un­ter das Kleid der Mama ver­krö­che, es wür­de mir doch nichts nüt­zen. Und wenn ich so­gar zum Papa gin­ge, auch er könn­te mir nicht hel­fen. Nie­mand, nie­mand kann mir hel­fen, ganz al­lein ste­he ich dem Furcht­ba­ren ge­gen­über – dem Tod! Da­bei war mir zu­mu­te, als be­fän­de ich mich in ei­nem lan­gen, en­gen Gang, wo kein Ent­rin­nen, kei­ne Um­kehr mög­lich, und am Ende des Gan­ges, da war­te es auf mich, das Rät­sel­haf­te, Un­be­greif­li­che; ich aber müs­se im­mer wei­ter, so ger­ne ich ste­hen­blie­be, un­auf­halt­sam, Schritt für Schritt bis zum ge­fürch­te­ten Aus­gang. Na­tür­lich wur­de trotz dem un­heim­li­chen »Spä­ter« fort­ge­tollt, als wäre al­les wie zu­vor, und nie­mand er­fuhr, was in dem klei­nen Seel­chen vor­ging. Aber mit­ten im Spie­len schlug es zu­wei­len her­ein: Trotz al­le­dem – es wird doch ein­mal ein Tag kom­men, wo ich kalt und starr da­lie­ge, wo ich sel­ber eine Lei­che bin. Das Wort be­hielt mir auf lan­ge hin­aus et­was un­säg­lich Wi­d­ri­ges und Ab­scheu­li­ches, es haf­te­te ihm schon ein Ge­ruch wie von Ver­we­sung an.

Auch das ge­hört für mich zu den Rät­seln der Kin­der­see­le, dass mir die Ent­de­ckung des To­des als des all­ge­mei­nen Schick­sals so neu und über­wäl­ti­gend war, wäh­rend ich doch ganz frü­he schon das man­nig­fachs­te Le­se­fut­ter, und ge­wiss nicht im­mer auf das dunkle Ge­heim­nis hin ge­sich­tet, in die Hän­de be­kam. So las ich seit lan­ge in ei­nem Ban­de Pfen­nig­ma­ga­zin, der in der Kin­der­stu­be lag, Ge­schich­ten und Ab­hand­lun­gen über alle mög­li­chen Din­ge wahl­los durch­ein­an­der; die Tat­sa­che des Ster­ben­müs­sens hat­te ich schlech­ter­dings über­se­hen. Wahr­schein­lich ist der kind­li­che Geist nicht im­stan­de, die Er­schei­nun­gen zu ver­knüp­fen und zu ver­all­ge­mei­nern. Es gibt ja auch Ne­ger­stäm­me, die je­den To­des­fall im­mer wie­der als dä­mo­ni­schen Ein­zel­vor­gang be­trach­ten, auf den sie mit Teu­fels­aus­trei­bung ant­wor­ten, da­mit er sich ins­künf­ti­ge nicht mehr wie­der­ho­le.

Im Ler­nen konn­te un­ser gu­tes Müt­ter­lein, das sel­ber einen nie zu stil­len­den Wis­sen­strieb be­saß, uns zwei Äl­tes­te nicht schnell ge­nug vor­wärts brin­gen. Ein­zig für das Rech­nen, das ihr sel­ber nicht all­zu ge­läu­fig war, wur­de ein jun­ger Hilfs­leh­rer aus Ess­lin­gen an­ge­stellt, ein bäu­ri­scher Mensch, der den un­acht­sa­men Al­fred et­was derb mit dem schwe­ren Ta­schen­mes­ser auf die Fin­ger­knö­chel klopf­te und sich so­gar ein­mal ge­gen Ed­gars jun­ge Ma­je­stät ver­ging, so­dass Mama ihn ent­rüs­tet wie­der entließ. Da­von hat­te ich den Scha­den, weil ich ge­ra­de im Bruch­rech­nen ste­hen­blieb, das die Brü­der spä­ter in der Schu­le fort­set­zen konn­ten, wäh­rend ich in der gan­zen Arith­me­tik, für die ich zu­erst eine gute Fas­sungs­kraft ge­zeigt hat­te, nicht mehr wei­ter un­ter­rich­tet wur­de und so­mit in den Zah­len für im­mer schwach blieb. Alle an­de­ren Fä­cher über­nahm sie sel­ber, und wir mach­ten ihr das Leh­ren leicht. Sie be­saß kein wirk­li­ches Lehr­ta­lent, weil al­les Metho­di­sche ih­rer Na­tur aufs tiefs­te wi­der­streb­te, wie ich auch glau­be, dass die­se Apos­tel­see­le für kei­nes der vie­len ir­di­schen Ge­schäf­te, de­nen sie sich al­len wil­lig un­ter­zog, so recht ei­gent­lich ge­bo­ren war. Ihr na­tür­li­ches Amt war ein­zig, hö­he­res Le­ben ent­zün­den, wach­hal­ten und ver­brei­ten. Kei­ne Mühe war ihr da­für zu groß: ne­ben un­se­rem Un­ter­richt und den häus­li­chen Ge­schäf­ten führ­te sie noch be­gab­te Dorf­mäd­chen ins Fran­zö­si­sche und in die Li­te­ra­tur ein. Schon hat­te sie auch die An­fän­ge des La­tei­ni­schen in un­se­re Stun­den auf­ge­nom­men. Ihre ei­ge­nen in der Ju­gend er­wor­be­nen Kennt­nis­se ka­men ihr da­bei zu­stat­ten, und wir hol­ten sie all­mäh­lich mun­ter ein. Über gram­ma­ti­sche Schwie­rig­kei­ten hal­fen bei­den Tei­len die lus­ti­gen Reim­re­geln weg:

Was man nicht de­kli­nie­ren kann, Das sieht man als ein Neu­trum an, usw.

So blieb das Ler­nen im­mer ein Spiel un­ter an­de­ren Spie­len. Wir über­setz­ten klei­ne Übungs­stück­chen aus dem »Mid­den­dorf«, la­sen eine Sei­te in L’Hom­monds Viri Il­lus­t­res und ver­fer­tig­ten so­gar ge­reim­te Knit­tel­ver­schen in un­se­rem Sup­pen­la­tein, al­les mit dem glei­chen Ver­gnü­gen, mit dem wir die uns über­las­se­nen Ra­bat­ten an­pflanz­ten, auf ho­hen Ern­te­wa­gen fuh­ren, den länd­li­chen Pfer­den und Och­sen auf den Rücken klet­ter­ten, den Nach­ba­rin­nen beim Aus­gra­ben der Kar­tof­feln hal­fen oder auf lan­gen Spa­zier­gän­gen, wo­bei man bar­fuß in klei­nen Seen und Pfüt­zen quat­schen durf­te, für Ed­gars Aqua­ri­um Sala­man­der und Kaul­quap­pen fin­gen. Das schöns­te aber war, im of­fe­nen Neckar zu ba­den, an sei­nen Wei­de­nu­fern die aus­ge­wor­fe­nen Mu­schel­scha­len zu sam­meln, in de­nen man sich die Far­ben an­rieb, oder sei­ne nie­de­re Furt un­ter Jo­se­phi­nens Füh­rung mit hoch­ge­schürz­ten Klei­dern zu durch­wa­ten, um dann jen­seits im Sir­nau­er Wäld­chen sich aus­zu­tol­len. Der ei­gen­tüm­li­che Ge­ruch des flie­ßen­den Süß­was­sers, der an den Necka­ru­fern be­son­ders stark war, hat sich mir aufs tiefs­te ein­ge­prägt und er­regt mir, wo ich ihm be­geg­ne, ein un­be­schreib­li­ches Ju­gend- und Hei­mat­ge­fühl. In dem sonn­be­strahl­ten, sil­bern rie­seln­den Neckar ver­ehr­te ich ein be­seel­tes hö­he­res We­sen. Ich warf ihm ab und zu ein paar Blu­men oder eine Hand­voll glit­zern­der Per­len aus mei­ner Per­len­schach­tel hin­ein, und wenn ein Fisch auf­hüpf­te, schi­en mir das ir­gend­wie ein gu­tes Zei­chen. Er hat­te aber auch noch ein an­de­res dä­mo­nisch wil­des Ge­sicht, das ich schau­dernd noch mehr lieb­te: dort an der nach Ess­lin­gen füh­ren­den be­deck­ten Brücke, die wir das Was­ser­haus nann­ten, ver­brei­ter­te sich sein Lauf für mein Auge ins Uner­mess­li­che. Un­ter den Pfei­lern schüt­tel­te er wil­de brau­ne Lo­cken, schnaub­te und rüt­tel­te an dem Bau, dass ich wie ge­bannt stand und kaum von der Brücke weg­zu­brin­gen war. Am ge­heim­nis­volls­ten aber er­schi­en er mir in Ess­lin­gen sel­ber, wo­hin wir oft durch das alte Wolf­stor pil­ger­ten. Dort stand ich in dem be­freun­de­ten Haus die gan­ze Zeit am Fens­ter und sah auf die stil­le Flut hin­un­ter, die die Rück­sei­te des Ge­bäu­des un­mit­tel­bar be­spül­te. Ich war dann, wäh­rend die Müt­ter auf dem Sofa sa­ßen und Kaf­fee tran­ken, in Ve­ne­dig, sah schwarz­ge­schnä­bel­te Gon­deln, die ich aus Ab­bil­dun­gen kann­te, und Mar­mor­pa­läs­te in fei­er­li­cher Pracht.

In mei­ner Vor­stel­lung ist es in Obe­reß­lin­gen im­mer Som­mer ge­we­sen. Wie es mög­lich war, uns wäh­rend der lan­gen Win­ter­mo­na­te in den en­gen Räu­men zu hal­ten, ist mir nicht er­in­ner­lich. Un­se­re Leb­haf­tig­keit mag die dich­te­ri­schen Ge­bil­de, mit de­nen sich un­ser Va­ter trug, schwer ge­nug be­ein­träch­tigt ha­ben und war die Ur­sa­che, dass er den Tag über nur sel­ten das Kin­der­zim­mer be­trat, ja nicht ein­mal die Mahl­zei­ten mit der Fa­mi­lie teil­te. Des­halb tritt auch sei­ne Ge­stalt in mei­nen frü­hen Erin­ne­run­gen we­nig her­vor; sie wan­delt nur manch­mal ernst und ho­heits­voll über den Hin­ter­grund.

O die Som­mer­se­lig­keit, als man sel­ber noch nicht hö­her war als die rei­fen son­ne­duf­ten­den Ähren, zwi­schen de­nen man sich durch­wand, um die blau­en Korn­blu­men und die flam­mend ro­ten Mohn­ro­sen her­aus­zu­ho­len. Wenn ich noch ein­mal nach­emp­fin­den könn­te, was das Kin­de­rohr bei den Schil­ler­schen Ver­sen:

Win­det zum Kran­ze die gol­de­nen Ähren, Flech­tet auch blaue Zya­nen hin­ein –