Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dieses eBook: "Aus meiner Knabenzeit" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Man hat von jener Anhöhe aus einen unbegrenzten Blick den Fluß hinauf und hinunter und über die großen Waldungen von Illinois; die Aussicht ist wunderschön, fast möchte ich sagen, eine der schönsten am Ufer des Mississippi, aber das ist eine kühne Behauptung, denn die 800 Meilen, die der Fluß von St. Paul nach St. Louis durchläuft, bieten eine ununterbrochene Reihe der reizendsten Landschaftsbilder. So jung und frisch, so reizend und anmutig sah ich sie vor mir, wie sie je gewesen, während die Gesichter meiner ehemaligen Freunde natürlich alt sein mußten und voller Narben vom Kampf des Lebens." Mark Twain (1835-1910) war ein amerikanischer Schriftsteller. Mark Twain ist vor allem als Autor der Bücher über die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn bekannt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 77
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Als ich nach neunundzwanzigjähriger Abwesenheit (1882) meinem Heimatort einen kurzen Besuch machte, fand ich daselbst ebensoviel anders geworden, wie überhaupt am ganzen Mississippi. Die Stadt Hannibal, wie sie früher gewesen, stand mir noch klar und lebhaft im Gedächtnis, ich hätte sie malen können. Ich trat ans Ufer und mir war zu Mute wie einem Menschen aus einer längst begrabenen Generation, der wieder unter den Lebenden wandelt. Ein ähnliches Gefühl müssen, denke ich, die Gefangenen der Bastille gehabt haben, wenn sie nach jahrelanger Kerkerhaft ans Licht des Tages kamen und sich nun in Paris umschauten, wo ihnen alles so fremd und doch so vertraut war.
Wohl sah ich die neuen Häuser – sie standen ja leibhaftig vor mir – aber die Bilder aus alter Zeit, die in meiner Erinnerung lebten, berührte das nicht; durch die festgefügten Mauern hindurch sah ich die alten Häuser, die ehemals an ihrem Platz gestanden, mit größter Deutlichkeit.
Es war Sonntag-Morgen und alles lag noch in den Federn. So schritt ich denn durch die leeren Straßen, sah die Stadt nicht wie sie ist, sondern wie sie war und begrüßte im Geist hundert mir wohlbekannte Gegenstände, die vom Erdboden verschwunden waren. Schließlich stieg ich den Holiday-Hügel hinauf, um einen weiten Überblick zu gewinnen. Nun lag die ganze Stadt zu meinen Füßen ausgebreitet und ich konnte jedes Gebäude, jede einzelne Örtlichkeit genau bestimmen. Natürlich hatte ich Mühe, meine Rührung zu bemeistern. Ich sagte mir: »Von den Leuten, die ich einst in diesem friedlichen Hafen meiner Kindheit gekannt habe, sind schon viele in den Himmel gegangen, manche aber auch sicherlich nach einem andern Ort der Vergeltung.«
Alles, was ich rings um mich sah, rief meine Knabengefühle wieder wach; ich war überzeugt, ich sei noch ein Knabe und hätte nur einen ungewöhnlich langen Traum gehabt. Allein, sobald ich anfing zu überlegen, schwand diese Vorstellung. »Da drüben stehen etwa fünfzig alte Häuser,« sagte ich zu mir, »und ich brauche nur einzutreten, um überall Männer und Frauen zu finden, die noch in der Wiege lagen oder nicht geboren waren, als ich zuletzt von hier oben hinabschaute, vielleicht sogar eine Großmutter, die damals eine blühende junge Braut war.«
Man hat von jener Anhöhe aus einen unbegrenzten Blick den Fluß hinauf und hinunter und über die großen Waldungen von Illinois; die Aussicht ist wunderschön, fast möchte ich sagen, eine der schönsten am Ufer des Mississippi, aber das ist eine kühne Behauptung, denn die 800 Meilen, die der Fluß von St. Paul nach St. Louis durchläuft, bieten eine ununterbrochene Reihe der reizendsten Landschaftsbilder. Möglich, daß meine Vorliebe für die in Frage stehende Aussicht mein Urteil beeinflußt – ich weiß es nicht gewiß. Jedenfalls gewährte sie mir die vollste Befriedigung, denn sie hatte vor allem andern Lieben und Bekannten, was ich wiedersehen sollte,einesvoraus – sie war ganz unverändert. So jung und frisch, so reizend und anmutig sah ich sie vor mir, wie sie je gewesen, während die Gesichter meiner ehemaligen Freunde natürlich alt sein mußten und voller Narben vom Kampf des Lebens. Sie alle trugen wohl Spuren ihrer Niederlagen und Kümmernisse und konnten mein Gemüt nicht erheben.
Ein alter Herr, der auf seinem Morgenspaziergang begriffen war, kam jetzt herbei. Wir tauschten zuerst unsere Bemerkungen über das Wetter aus und gerieten dann auf andere Unterhaltungsstoffe. Sein Gesicht war mir unbekannt; er sagte, er wohne schon 28 Jahre hier am Ort, das war nach meiner Zeit, ich hatte ihn also noch nie gesehen. Ich zog nun allerlei Erkundigungen ein; zuerst fragte ich nach einem meiner Kameraden aus der Sonntagsschule – was wohl aus ihm geworden wäre.
»Er ging mit Ehren von einer Universität im Osten ab, dann zog er in die weite Welt, doch nirgends wollte es ihm glücken; jetzt ist er längst aus aller Gedächtnis geschwunden, man glaubt, er sei gestorben und verdorben.«
»Er war ein begabter Junge, der zu den besten Hoffnungen berechtigte.«
»Jawohl, aber in Erfüllung gegangen sind sie nicht.«
Nun fragte ich nach einem andern meiner Mitschüler, dem klügsten im ganzen Ort.
»Auch seine Studien im Osten waren vom besten Erfolg gekrönt, aber im Leben hat er bei jedem Kampf den kürzeren gezogen; schon vor Jahren ist er irgendwo in den Territorien gestorben – ein gebrochener Mann.«
Ich erkundigte mich nach einem dritten begabten Jungen.
»Dem ist’s gut gegangen, alles gelingt ihm, ich glaube es wird ihm immer glücken.«
Hierauf fragte ich nach einem jungen Mann, der damals gerade in die Stadt gekommen war, um sich in seinem Beruf auszubilden.
»Er hat umgesattelt, ehe er noch fertig war – erst wollte er Advokat werden, dann Mediziner, dann noch etwas anderes. Ein Jahr lang war er fort, kam mit einer jungen Frau wieder, ergab sich dem Trunk, später auch dem Spiel; endlich brachte er seine Frau und zwei kleine Kinder zu ihrem Vater zurück und ging nach Mexico, sank immer tiefer herunter und starb dort, ohne einen Cent, um das Bahrtuch zu bezahlen, ohne einen Freund, der seiner Leiche folgte.«
»Schade um ihn – es war der gutmütigste Mensch von der Welt, immer heiter und hoffnungsvoll.«
Von einem andern Knaben, den ich nannte, hieß es:
»O, mit dem ist alles in Ordnung; er hat Frau und Kinder und sein gutes Fortkommen.«
Derselbe Bescheid ward mir noch über viele meiner früheren Kameraden.
Nun fragte ich nach drei Mitschülerinnen:
»Die beiden ersten leben hier mit Mann und Kindern, die dritte ist schon lange tot – geheiratet hat sie nicht.«
Mit Herzklopfen nannte ich jetzt den Namen einer meiner frühesten Flammen.
»Der geht’s gut. Sie war dreimal verheiratet. Zwei Männer hat sie begraben, vom dritten ist sie geschieden und ich höre, daß sie jetzt einen alten Menschen nehmen will, der irgendwo draußen in Colorado lebt. Ihre Kinder sind in der ganzen Welt verstreut.«
Auf einige Fragen lautet die Antwort sehr kurz:
»Im Kriege gefallen.«
Von einem Knaben, nach welchem ich fragte, hieß es:
»Mit dem ist’s seltsam gegangen! Jedermann in der ganzen Stadt wußte, daß der Junge der reinste Strohkopf war, ein Dummrian erster Sorte, ein Esel, der seinesgleichen nicht hatte. Das war allbekannt, kein Mensch zweifelte daran. Und was ist aus ihm geworden? – denken Sie nur: der angesehenste Advokat im ganzen Staate Missouri.«
»Wahrhaftig?!«
»Wie ich Ihnen sage. Es ist die lauterste Wahrheit.«
»Wie läßt sich das aber erklären?«
»Erklären läßt sich’s gar nicht. Man sieht nur daraus, daß die Leute in St. Louis nicht von selbst auf den Gedanken kommen, daß einer ein Hansnarr ist, wenn man’s ihnen nicht zuvor sagt. Eins ist sicher – hätte ich einen Hansnarren zu versorgen, ich schickte ihn gleich mit Dampf nach St. Louis, dort ist der beste Markt für dergleichen Ware. – Was sagen Sie dazu – steht einem nicht der Verstand still, wenn man’s recht bedenkt? Ich muß gestehen, mir ist etwas so Unerhörtes nicht wieder vorgekommen.«
»Freilich, es scheint verwunderlich. Aber, glauben Sie nicht, daß man den Jungen in Hannibal vielleicht falsch beurteilt hat und daß die Leute in St. Louis ihn richtiger zu würdigen wissen?«
»Wo denken Sie hin! Hier kennt man ihn ja von klein auf und tausendmal besser als die Schafsköpfe in St. Louis. Nein, Nein, folgen Sie nur meinem Rat und schicken Sie alle Hansnarren nach St. Louis, dort findet die Ware Absatz.«
Ich fragte nun noch nach vielen meiner früheren Bekannten. Sie waren gestorben oder fortgezogen; manche hatten Glück gehabt, andere nichts als Verluste; auf etwa ein Dutzend Fragen erhielt ich die beruhigende Antwort:
»Die sind wohl auf – wohnen hier – die ganze Stadt ist voll von ihren Kindern.«
»Wie geht’s Fräulein B.,« fragte ich.
»Sie starb vor drei Jahren im Irrenhaus – ist seit dem Tage ihrer Aufnahme dort nicht wieder herausgekommen; es war an keine Heilung zu denken, sie ist immer gestört geblieben.«
Dies bezog sich auf ein entsetzliches Trauerspiel, das sich in meiner frühesten Kindheit zutrug. Sechsunddreißig Jahre im Irrenhaus – bloß weil sich ein paar Thörinnen einen dummen Spaß machen wollten! Ich sehe die leichtfertigen jungen Dinger noch auf den Fußspitzen ins Zimmer schleichen, wo Fräulein B. um Mitternacht lesend bei der Lampe saß. Eins der Mädchen hatte sich das Gesicht mit Mehl gepudert und ein Leintuch umgebunden. Sie glitt dicht zu der Lesenden heran und berührte ihr Opfer an der Schulter. Was Fräulein sah auf, stieß einen Schrei aus und verfiel in Krämpfe. Von dem Schreck hat sie sich nie wieder erholt – sie wurde wahnsinnig. Heutzutage scheint es uns unbegreiflich, daß man noch vor so kurzer Zeit an Gespenster geglaubt haben soll. Aber es war wirklich der Fall.
Nachdem ich nach allen Leuten gefragt hatte, die mir einfielen, erkundigte ich mich zuletzt nach mir selber.
»O, dem ist’s auch geglückt – das ist wieder so ein Beispiel von einem Hansnarren. Hätte man ihn nach St. Louis spediert, er würde es früher zu etwas Ordentlichem gebracht haben.«
Es war doch sehr weise gewesen, daß ich dem offenherzigen alten Herrn gleich anfangs gesagt hatte, mein Name sei Smith.
Inhaltsverzeichnis