Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein wunderbarer Einblick in das Jugendleben in Istanbul!Als Lara hört, dass ihre Familie auswandern wird, sieht sie zunächst kein Problem. Bis sie hört, wohin es gehen soll. Wieso muss es denn Istanbul sein? Trotz ihrer Wurzeln in der Türkei zieht sie nichts in diese Stadt. Also fasst Lara den Entschluss, ihre neue Heimat zu hassen. Diese Einstellung wird jedoch bald auf die Probe gestellt, denn sie muss feststellen, dass Istanbul mehr Facetten hat, als sie sich vorstellen konnte. Und dann trifft sie auch noch Noyan, der alles daran setzt, Laras Sicht auf ihre neue Heimat zu ändern. -
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 323
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Susann Teoman
Saga
Ausgerechnet IstanbulCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2010, 2019 Susann Teoman und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726255911
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
»Ich verstehe das einfach nicht. Warum? Hab ich irgendetwas falsch gemacht?« Fassungslos starrte ich meine Mutter an.
»Ich habe es dir doch schon erklärt: Wir wandern aus, weil dein Vater ein gutes Jobangebot von seiner Firma erhalten hat, und nicht, weil deine Leistungen in der Schule schlecht sind. Hier hätte er nicht dieselben Aufstiegschancen wie in der Türkei. Das ist eine einmalige Gelegenheit!«, versuchte Mama es erneut.
»Aber warum ausgerechnet die Türkei? Die USA, Kanada oder Australien, das wären echt coole Alternativen gewesen, aber ich will wirklich nicht in die Türkei ziehen, das ist doch ein Dritte-Welt-Land!«
Meine Mutter Susan seufzte resigniert. »Kaans zweite Muttersprache ist eben Türkisch und nicht Englisch. Die Firma will jemanden dort haben, der die Landessprache beherrscht. Und ich bin mir sicher, es wird dir gefallen, wenn du dich erst eingelebt hast.«
Mir wurde schwindelig, ich musste mich setzen. Stumm beobachtete ich, wie sich die Lippen meiner Mutter öffneten und schlossen, während sie sprach, aber das Summen in meinen Ohren war lauter.
»Lara, Liebling, du hast dort viel bessere Möglichkeiten als hier. Wir können uns dort eine Privatschule leisten, in der du perfekt Englisch oder Französisch lernen kannst. Oder du besuchst eine deutschsprachige Schule, darüber können wir ja später noch sprechen. Und ich habe mich auch schon nach einer guten Ballettschule für dich erkundigt. Genau genommen ist Istanbul ein kleines Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dir stehen alle Türen offen, du kannst tun, was immer du willst, ist das nicht großartig?«
Ich lachte bitter. »Nein, das ist es nicht! Was ist mit meiner Ballettschule hier? Madame Rochelle wird es nicht so toll finden, wenn ihre Solistin sie kurz vor der Premiere von Schwanensee im Stich lässt.«
»Mit Madame Rochelle habe ich schon gesprochen und sie war es auch, die mir die neue Ballettschule in Istanbul empfohlen hat!«
Ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. »Und was ist mit meinen Freundinnen? Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, gute Freundinnen zu finden?« Nein, sie hatte sicher keinen Schimmer, sonst hätte sie diesen bescheuerten Umzug abgelehnt.
»Ich bin mir sicher, du findest im Handumdrehen neue Freundinnen in Istanbul, vielleicht sogar bessere, wer weiß?«
»Du hast gut reden! Du bist ja auch nicht diejenige, die sich ganz allein in einer fremden Klasse in einem völlig fremden Land zurechtfinden muss! Wer weiß, wie diese neue Schule ist, womöglich falle ich durch alle Prüfungen durch, nur weil ich die Sprache nicht richtig beherrsche!«
Mama lehnte sich zurück. »Also hier, wo die Schulsprache Deutsch ist, bist du auch keine besonders gute Schülerin, oder? Deine Versetzung ist wieder einmal gefährdet!«
»Na und? Ich mogle mich schon irgendwie durch, ist doch kein Thema! Wenn ich erst eine professionelle Tänzerin bin, kräht kein Hahn mehr danach, ob ich die Versetzung geschafft habe oder nicht!«
»Das mag ja sein. Aber bis es so weit ist, solltest du dein hübsches Gesicht weniger schminken und dich weniger sorgen, welche Schuhe zu welchem Outfit passen! Stattdessen solltest du dich auf den Hosenboden setzen und lernen! Und wenn wir erst in Istanbul sind ...«
»Ihr seid so gemein! Keiner hat mich gefragt, ob ich diesen Scheißumzug überhaupt will, ihr habt mich einfach vor vollendete Tatsachen gestellt und ich habe kein Recht, meine Meinung zu äußern!«
»Komm schon, jetzt übertreibst du!«
»Nein, tu ich nicht! Und ich sage dir gleich: Ich werde auf gar keinen Fall ein Kopftuch tragen, damit das klar ist!«
Wider Willen lachte meine Mutter auf.
»Was gibt’s denn da zu lachen?«, schrie ich aufgebracht.
»Nichts, nur die Vorstellung, dass meine eitle kleine Maus ihre prachtvolle Mähne unter einem Kopftuch verbirgt, fand ich irgendwie witzig.« Sie wurde wieder ernst. »Wir ziehen zwar in ein muslimisches Land, aber Istanbul ist ganz sicher ein Stück moderner als Bonn, jedenfalls was die Mode angeht. Du brauchst nichts zu tun, was dir missfällt, und auf gar keinen Fall musst du ein Kopftuch tragen oder so etwas. Das basst ja auch kaum su unsere Teint, non?« Mamas absichtlich schlecht imitierter französischer Dialekt brachte mich sonst immer zum Lachen. Nicht dieses Mal.
»Wie wäre es heute mit deinem Lieblingsessen: Kassler, Sauerkraut und Kartoffelpüree?«
»Noch etwas, das es dort nicht gibt«, murmelte ich verdrossen. »Dabei esse ich Schweinefleisch für mein Leben gern!«
In zwei Wochen sollte es so weit sein. Nur noch zwei Wochen lang würde ich in den Genuss von Schweinefleisch, Puddingteilchen und Malzbier kommen, dann würden diese Köstlichkeiten Mangelware sein. Nur noch sechs Mal würde ich in meinem heiß geliebten Ballettstudio trainieren, noch dreizehn Mal in meinem Bett schlafen. Ich versuchte krampfhaft, jede Sekunde voll auszukosten, vereinzelt unternahm ich auch den Versuch zu rebellieren, aber meine Eltern blieben blöderweise eisern, ganz gleich, wie sehr ich heulte, tobte oder in Hungerstreik trat. Auch wenn ich mir mit aller Macht den Tag des Umzugs weit, weit weg wünschte, rückte er doch unerbittlich näher. Ich weigerte mich standhaft, meine Sachen in die Kartons und Koffer zu packen, die Mama mir ins Zimmer gestellt hatte.
»Sollen sie doch allein ins Land der schwarzen Bettlakenfrauen ziehen, ich werde einfach hierbleiben!«, erklärte ich meinen Freundinnen trotzig.
»Das sind keine Betttücher, das nennt man Tschador«, korrigierte mich Ira.
»Schade, dass ihr bald fort seid.« Saskia, Leo, Aggie und Ira standen im Halbkreis um mich herum. So ging das oft in den vergangenen Tagen. Meistens sagte ich nichts und die anderen gaben sich Mühe, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Ich blickte nur finster in die Ferne.
»Wie ist es denn so in Istanbul?«, wollte Saskia neugierig wissen.
»Keine Ahnung, war noch nie da.« Gleichgültig zuckte ich die Schultern. Istanbul war mir egal, hier, in Bonn, war ich zu Hause und nicht in irgendeiner türkischen Stadt, die ich nur dem Namen nach kannte.
»Wenn du noch nie da warst, wie willst du dann wissen, ob es dort tatsächlich so schrecklich ist?«, fragte Aggie interessiert.
»Ich war schon mal in der Heimatstadt meiner Großeltern, in Diyarbakir, und da haben fast alle Frauen Kopftücher getragen und die Männer hatten schwarze Bärte. So viel besser kann Istanbul nicht sein. Ist doch dasselbe Land.«
Alle nickten bedrückt. Ich spürte, dass auch ihnen der Abschied nicht leichtfiel, trotzdem versuchten sie, sich nichts anmerken zu lassen, damit es mir nicht noch schlechter ging.
»Aber in den Reisemagazinen liest man doch immer von der Gastfreundschaft und Freundlichkeit der Türken, da muss doch etwas Wahres dran sein, oder nicht?«
»Weiß ich nicht.« Ich scharrte grimmig mit meinen rosafarbenen Converse im Sand.
»Also, bei uns im Iran ...«, begann Ira, deren Eltern Nachkommen von Einwanderern aus dem Iran waren.
»Wieso sagst du eigentlich immer bei UNS im Iran?«, blaffte ich sie an. »Du kennst den Iran doch kaum besser als ich die Türkei!«
»Stimmt gar nicht!«, erwiderte Ira beleidigt. »Wir fahren jedes Jahr sechs Wochen in den Sommerferien hin. Und bei uns im Iran müssen ALLE Frauen Kopftücher tragen, auch Touristinnen, sobald sie das Flugzeug verlassen.« Wichtigtuerisch verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Ich wette, in der Türkei ist das genauso.«
»Meine Mutter sagt Nein.«
»Sicher lügt sie, damit du keine Zicken machst.«
»Jetzt reicht es aber, Ira! Meine Eltern waren als Studenten in Istanbul und sie sagen, es sei eine faszinierende, moderne Stadt! Und meine Mutter hat die Stadt in Shorts und Spaghettiträger-Shirt erkundet!«, widersprach Saskia heftig.
»Ach, Lara, nun sieh das Ganze doch mal positiv: Ein großes Abenteuer wartet auf dich, wir können uns jederzeit mailen und uns über Skype sehen und hören, wann immer du willst. Aus den Augen heißt doch nicht automatisch auch aus dem Sinn, oder?«, versuchte Leo, mir Mut zu machen.
Ich wollte gerade zu einer mürrischen Antwort ansetzten, als es zur dritten Stunde läutete. »Komm, wir haben jetzt Sport und sollten uns lieber beeilen, sonst tickt Frau Noppa noch aus! Eins steht jedenfalls fest: Du kannst froh sein, eine so nervige Paukerin los zu sein!«
Auch wenn meine Eltern mich nicht nach meiner Meinung gefragt hatten, hatten sie den Umzug so geplant, dass ich meinen 16. Geburtstag noch in Bonn mit meinen Freunden feiern konnte. Aber selbst die Aussicht auf eine große Abschieds- und Geburtstagsparty konnte mich kaum trösten. Während meine Mutter den Partykeller dekorierte und Papa die Musikanlage einstellte, lümmelte ich in meinen neuen, knallengen Jeans und dem modischen Wickeltop lustlos in einer Ecke herum. Ich mochte ja todtraurig sein, weil ich fortmusste, aber es war mir irgendwie wichtig, bei meinen Freunden einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
»Mensch, jetzt lach doch mal.« Kaan, mein Vater, klopfte mir gut gelaunt auf die Schulter. Ich schüttelte mich, als wäre seine Hand ein lästiges Insekt, das fortgejagt werden müsste. Immerhin war er schuld daran, dass wir jetzt alle in die verdammte Türkei ziehen mussten, warum sollte ich also nett sein?
Papa seufzte. »Hey, ich will doch nur das Allerbeste für dich.«
»Ja, klaro, und das Allerbeste ist wahrscheinlich eine arrangierte Heirat, sobald ich mit der Schule fertig bin, was?«
»Hä?« Verständnislos riss er die Augen auf.
»Du liebst mich nicht, nicht die Bohne! Du denkst nur an dich selbst!« Wieder traten mir Tränen in die Augen.
»Jetzt beruhige dich bitte! Deine Freunde können jeden Moment hier sein, willst du, dass sie dich als Heulsuse in Erinnerung behalten?« Mama legte mir besänftigend die Hände auf den Arm.
Widerwillig schüttelte ich den Kopf.
»Siehst du. Und was Istanbul angeht: Dein Vater und ich sind genauso hier geboren und aufgewachsen wie du. Auch wir sind hier daheim, auch wir haben hier Freunde, die wir sehr vermissen werden. Aber im Gegensatz zu dir waren wir schon in Istanbul, wir wissen, wovon wir reden, wenn wir dir versichern, dass es dir dort gefallen wird. So, und nun mach dich frisch, es hat gerade geklingelt und so verheult, wie du gerade aussiehst, möchtest du deine Gäste sicher nicht begrüßen!«
Meine ganze Klasse und auch ein paar Leute aus den Parallelklassen waren eingeladen, sodass der Partykeller brechend voll war. Zum Glück hatten meine Eltern sich nach oben ins Wohnzimmer verzogen und die Tür fest hinter sich geschlossen.
»Ist Du-weißt-schon-wer da?«, flüsterte Saskia.
»Pschscht!« Aufgebracht schaute ich mich um. »Nicht so laut, es muss doch nicht jeder gleich wissen!« Saskias Schwärmerei für Simon war einfach nur peinlich, fand ich. Das hatte ich ihr auch gesagt, genauso wie Ira und Leo, aber Saskia war blind vor Liebe, was uns alle unheimlich nervte. Ich nahm mir fest vor, nie, niemals einem Jungen so hinterherzuhecheln, wie sie das tat.
»Ich habe doch keine Namen genannt.«
»Trotzdem.« Genau in dem Moment erschien ihre Flamme in der Tür. Saskia schmolz bei seinem Anblick dahin wie Butter auf heißem Toast. Ich kicherte nervös. Simon warf seine lange blonde Mähne zurück, als er mich sah. Zugegeben, er sah nicht übel aus. Wenigstens bis er den Mund auftat und jeder Vollidiot erkennen konnte, dass sein IQ gerade einmal ausreichte, sich beim Pinkeln nicht selbst nass zu machen.
»Hallo! Hier, das ist für dich. Herzlichen Glückwunsch!« Er überreichte mir eine Flasche Aldi-Sekt. Ohne Saskia weiter zu beachten, deren Augen absurderweise wie Sterne leuchteten, steuerte er auf eine Gruppe tanzender Mädchen zu, Freundinnen aus meinem Ballettkurs. »Super Fahrgestelle!«, murmelte er beiläufig und pfiff anerkennend durch die Zähne.
»Blödmann!«, rügte Leo leise und ich nickte zustimmend.
Die Party war ein voller Erfolg und wäre ich nicht so traurig wegen des Umzugs gewesen, wäre ich heute das glücklichste Mädchen der Welt. Mamas liebevoll dekoriertes kaltes Buffet mit Minifrikadellen, Cocktailwürstchen, Kartoffel- und Nudelsalat, aber auch türkischen Speisen wie Börek und Kisir war bis auf ein paar Krümel leer gegessen. Den ganzen Abend über hatten alle getanzt, bis es unten im Partyraum brüllend heiß war, aber selbst daran hatte sich niemand gestört. Ich hatte den Umzug, der wie eine unausweichliche Bedrohung vor mir lag, schon fast vergessen. Erst gegen drei Uhr früh, als alle Gäste sich schon verabschiedet hatten, gähnte ich: »Also, wenn ich nicht so sauer auf euch wäre, Mama und Papa, dann würde ich euch für diese tolle Fete glatt küssen!«
Papa grinste und schaute meine Mutter fragend an.
»Also schön«, lenkte sie ein, »dann gib es ihr eben.«
»Mir geben? Was denn?« Obwohl ich eben noch todmüde gewesen war, war ich jetzt plötzlich wieder hellwach.
»Herzlichen Glückwunsch von uns beiden.« Mit diesen Worten überreichte mir Papa ein Paket, das in pinkfarbenes Glitzerpapier gewickelt und mit einer rosafarbenen Schleife verziert war.
Ungeduldig riss ich das Papier auf. »Waaaahnsinn! Ein Sony Vaio Netbook! In Pink! Danke!« Stürmisch umarmte ich meine Eltern.
»Du schreibst doch so gerne. Da dachten wir, es wäre jetzt mal an der Zeit, dass du die Sache ein wenig professioneller angehst. Ich habe ein Programm installiert, mit dem du Drehbücher entwickeln kannst, und ein anderes für Kurzgeschichten oder einen Roman. Sicher findest du dafür in Istanbul genügend Stoff.«
Gerührt küsste ich sie. »Ihr seid wirklich tolle Eltern!« Die nächsten Tage flogen nur so dahin. Mein Vater wollte schon ein paar Tage vor uns in Istanbul sein, um eine neue Unterkunft zu finden und sie bewohnbar zu machen. Zwischendurch schauten Freunde und Nachbarn vorbei, um sich zu verabschieden und uns alles Gute zu wünschen, vereinzelt flossen auch ein paar Tränen. Besonders das Abschiedsgeschenk, das die Mädels mir machten, brachte mich zum Weinen. »So ganz geht man nie. Und jeder Abschied ist ein Grund, wieder zurückzukommen«, sagte Leo, als sie es mir überreichte. Es war ein silberner Armreif, in den unsere Namen eingraviert waren: Leo, Ira, Lara, Saskia und Aggie 4ever. Grinsend entblößten sie ihre Handgelenke. Alle trugen dasselbe Schmuckstück, ich streifte es ebenfalls über.
»Den nehme ich ganz sicher nie mehr ab«, versprach ich. »Ihr sollt wissen, auch wenn ich weg bin, bleibe ich für immer eure Freundin, ganz gleich, was passiert!« Jetzt heulten wir alle, was von den Möbelpackern mit verständnislosem Kopfschütteln quittiert wurde.
Und ganz plötzlich waren alle Leute weg, das Haus war leer. Meine Schritte hallten, als würde ich einen Rundgang durch ein Museum machen.
»Lara, wir müssen gleich los, bitte schau noch einmal nach, ob du auch nichts vergessen hast, ja?«, mahnte Mama und schaute dabei hektisch auf ihre Armbanduhr.
Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich bedrückt durch die ordentlich gefegten Räume schritt. Hier war ich aufgewachsen, ich hatte noch nie ein anderes Zuhause gehabt.
»Schatz, wir müssen los, beeil dich bitte!«
»Ich komme ja schon!«, rief ich heiser.
So viele kleine Glücksmomente und unzählige Erinnerungen wisperten mir aus den Ecken der Zimmer zum Abschied zu. »Leb wohl, altes Haus. Ich werde dich nie vergessen«, flüsterte ich und machte meinen ersten Schritt in ein neues Leben.
»Wie alt war ich überhaupt, als wir das letzte Mal in der Türkei gewesen sind?«, fragte ich, als wir endlich im Flugzeug saßen. Ich war höllisch aufgeregt, aber das hätte ich nie im Leben zugegeben.
»Du warst erst fünf.«
»Echt, so jung?«
Meine Mutter nickte. »Ich wundere mich, dass du dich überhaupt noch daran erinnerst.«
»Ich kann nicht gerade sagen, dass es positive Erinnerungen sind«, gab ich ehrlich zu. »Ich weiß nur noch, dass eine Frau, ich glaube, es war irgendeine Verwandte von uns, mich immer in die Wange gekniffen hat und ständig ›Maaschallah!‹ gerufen hat, dass ihr Mann fürchterlich finster geschaut und einen langen schwarzen Bart hatte und dass es dort ein Stehklo gab und ich Angst hatte, beim Pinkeln hineinzufallen. Und es war unheimlich heiß.«
»Ehrlich? Meine Güte, der arme Abdullah! So heißt der Mann, von dem du behauptet hast, er sähe so mies gelaunt aus. In Wirklichkeit ist er eine Seele von Mensch, er hat nur buschige Brauen. Und seine Frau Fadime ist auch in Ordnung. Sie sind eben mit ganz anderen Werten und Idealen aufgewachsen als wir. Istanbul ist ganz anders.« Mama blickte verträumt in die Ferne. »Es ist der Ort, an dem Europa und Orient einander die Hand reichen, an dem Vergangenheit und Zukunft, Ozean und Horizont, Sonnenuntergang und Morgenröte aufeinandertreffen. Es ist eine Stadt, die nie schläft, und deren Puls dreimal so schnell schlägt wie der jeder anderen Stadt, die ich kenne.«
Das Flugzeug war längst gestartet.
»Oh Mann! An dir ist ja eine wahre Dichternatur verloren gegangen!«, zog ich sie auf. »Woher weißt du so viel über Istanbul?«
Sie lächelte. »Ich war in den Ferien oft da, meine Tante lebte dort bis zu ihrem Tod und ich habe sie gerne besucht. Auch sie liebte Istanbul, sie sagte, sie wäre nirgends glücklicher gewesen.« Mama holte tief Luft. »Man sagt, wer einmal in Istanbul gelebt hat, will nirgendwo sonst leben. Und wer in Istanbul Auto fahren kann, kann überall auf der Welt fahren.« Sie lachte. »Keine schlechte Aussicht, wenn man bedenkt, dass du dort deinen Führerschein machen wirst, oder?«
Nach einem tiefen, traumlosen Schlaf brachte mich Mamas Stimme in die Gegenwart zurück.
»Sieh mal!«
»Sind wir schon da?« Ich gähnte. Kam mir vor, als sei ich eben erst eingeschlafen.
»Ja, Liebling. Das ist unser neues Zuhause. Das ist Istanbul.«
Andächtig schauten wir auf den Bosporus hinab, jene legendäre Meerenge, die die Türken kurz boğaz, also »Hals«, nennen und die die Stadt in einen europäischen und einen anatolischen Teil trennt. Die Sonne spiegelte sich auf dem Meer und Schaumkrönchen hüpften auf dem Wasser, während Fähren, Fischkutter, Segelboote und luxuriöse Yachten die Meerenge durchkreuzten. Ich konnte die Minarette unzähliger Moscheen hoch in den wolkenlosen Himmel ragen sehen, sah orangefarbene Dächer und die blitzenden Glasfassaden riesiger Wolkenkratzer, die das Licht der Sonne funkelnd zurückwarfen, sodass ich blinzeln musste. Und es waren so viele! Unzählige Gebäude bildeten einen dichten bunten Flickenteppich unter uns, mal reihten sie sich ordentlich strukturiert aneinander, mal standen sie krumm und schief nebeneinander.
»Beeindruckend, nicht wahr?«
Ich nickte stumm. Ja, beeindruckend, aber auch beängstigend.
Das Erste, was mir an Istanbul auffiel, während wir im Auto zu unserem neuen Zuhause fuhren, war der dicke graue Smogstreifen am Horizont. Als ich Paps darauf ansprach, entgegnete er: »Ja, das ist etwas, was mir ganz und gar nicht gefällt. Aber da, wo wir wohnen, ist die Luft noch erträglich.«
Als wir ankamen, war es schon fast dunkel. In den überfüllten Straßen einen Parkplatz zu finden, war reine Glückssache. Ich stieg aus, froh, mir endlich die Beine vertreten zu können. Ich war hundemüde und um mich drehte sich alles. Ich fühlte mich vollkommen erschlagen von den vielen neuen Eindrücken. Alles war hier anders, eine völlig andere Welt. Sogar die Luft roch anders. Zu Hause lag der Herbst schon in der Luft und die ersten Blätter hatten sich bunt gefärbt. Hier dagegen war es noch sommerlich warm und selbst um diese Uhrzeit bemerkte ich den Geruch des Meeres, der mich an unseren letzten Strandurlaub erinnerte.
»Das sieht ganz anders aus als zu Hause«, bemerkte ich. Und dieses »anders« hatte ich keinesfalls positiv gemeint. Keine Einfamilien- oder Reihenhäuser, keine Mehrfamilienhäuser. Sechs-, sieben-, achtstöckige Hochhäuser reihten sich aneinander, kein Blatt Papier passte zwischen die Altbauten.
»Dikkat etsene!«, schrie ein Autofahrer mich wütend an. »Pass doch auf!«
Zu Tode erschrocken konnte ich mich in letzter Minute auf etwas retten, das wie ein Fußgängerweg aussah, doch mitten auf dem vermeintlichen Bürgersteig stand eine Reihe sehr großer, offenbar sehr alter Bäume, die es schwer machten, hier normal zu gehen. Ich schluckte die deftige Antwort, die ich dem Rowdy gerne hinterhergerufen hätte, tapfer hinunter. Es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt, er hätte mich ja doch nicht verstanden. Immer wieder musste ich den Bäumen ausweichen und auf die Straße zurückspringen. »Da sind wir!«, sagte Paps schließlich.
Gott sei Dank!, dachte ich bitter und fragte mich, wie ich mich in all dem Chaos jemals zu Hause fühlen sollte.
Wir stiegen in einen Fahrstuhl, der uns in den vierten Stock beförderte. Als Papa den Lichtschalter anknipste, fanden wir uns in einem quadratischen Eingangsbereich wieder, der in eine helle, geräumige Küche mit hochmoderner Kochinsel mündete. Unmittelbar daneben befand sich das Wohnzimmer, das in zwei Ebenen unterteilt war. Die erste schien der Essbereich zu sein, zwei polierte Parkettstufen weiter unten befand sich das eigentliche Wohnzimmer, mit riesigen, stockdunklen Panoramafenstern. Auf dem Balkon befand sich ein eingebauter Barbecue-Grill. Der lange Korridor rechts führte zum Elternschlafzimmer und in ein Zimmer, von dem ich annahm, es wäre meines.
»Geh nur!«, forderte mein Vater mich auf, während Mama entzückt die Kochinsel bewunderte.
Zögernd betrat ich mein neues Reich, ein hübsches Mansardenzimmer mit eigenem Ankleidezimmer und Bad. »Nicht schlecht!«, entfuhr es mir.
»Hier kannst du die Klimaanlage einstellen, wenn du willst«, erklärte Papa stolz. »Ich habe gehofft, dass es dir gefällt.«
Ich sagte nichts. »Ich bin müde«, brachte ich bloß hervor.
»Wenn du Hunger hast, können wir ausgehen, wir wohnen sehr zentral und die Restaurants haben bis spät in die Nacht geöffnet.«
»Nein, danke.«
»Aber ...«
»Ich sagte, ich bin müde!«
Meine Mutter war hinter ihm erschienen. »Lass sie, Kaan. Gib ihr Zeit«, flüsterte sie.
»Na dann: Willkommen!« Liebevoll küsste Papa mich auf die Stirn. »Und schlaf gut in deinem neuen Zuhause!«
Ich schlüpfte in meinen Schlafsack und kramte nach meinem alten Teddy in meinem Rucksack. Joe war zumindest ein kleines Stück Zuhause, das ich mitbringen konnte. Ich kuschelte mich dicht an sein flauschiges Fell und schloss schon ein wenig getröstet die Augen.
Am nächsten Morgen weckte mich das Morgengebet des Muezzins. Im ersten Moment wusste ich nicht, wo ich war, schlaftrunken checkte ich meine Armbanduhr. Es war erst halb sechs. Ans Weiterschlafen war jetzt nicht mehr zu denken, denn ich war hellwach. Also aufstehen. Barfuß tapste ich durch die Wohnung, um meine Eltern nicht zu wecken. Halb tat es mir leid, wie ich Paps gestern abgewiesen hatte, er hatte es ja nur gut gemeint. Fernes Vogelgezwitscher lockte mich ins Wohnzimmer. Lautlos öffnete ich die Schiebetür zum Balkon. »Wow!«, entfuhr es mir. Ein Panoramablick wie aus einem alten Gemälde begrüßte mich. »Günaydin!«, ertönte es neben mir. »Guten Morgen!« Erschrocken fuhr ich herum. Auf dem Nachbarbalkon stand der bestaussehende Junge, der mir je unter die Augen gekommen war. Er schien etwa so alt zu sein wie ich, vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Seine hellbraunen Locken standen wild in alle Richtungen ab und seine haselnussbraunen Augen musterten mich interessiert. Er war etwa zwei Köpfe größer als ich und wirkte athletisch. Mist, verdammter. Warum nur hatte ich mich nicht erst angezogen oder mir zumindest die Zähne geputzt, bevor ich auf den Balkon gekommen war? Ich schlafe grundsätzlich immer so, als würde ich im Traum mit jemandem kämpfen, und meine Haare stehen deshalb morgens immer in alle Richtungen ab. Ich schluckte nervös.
»Are you a foreigner?«, fragte er freundlich.
Ich schüttelte den Kopf. »Wir kommen aus Deutschland«, stotterte ich auf Türkisch. Ich bin eine Türkin der vierten Generation. Soll heißen, dass mein Türkisch ziemlich mies ist. Englisch oder Französisch liegen mir da schon eher.
»Ah, Almancilar«, stellte der Typ sachlich fest.
»Ich bin kein Deutschländer!«, blaffte ich wütend zurück. Deutschländer, Menschen, die weder richtig deutsch noch richtig türkisch waren, Zwischenmenschen. Deutschländer. Abschaum.
»Hey, ich habe das doch nicht böse gemeint!«, versuchte er jetzt auf Deutsch zu erklären, aber das konnte er sich sparen. Ich hatte längst die Tür zugeknallt und war wieder in mein Zimmer abgedampft.
»Ich will wieder nach Hause!«, schluchzte ich in meine Kissen. Mama setzte sich auf meine Bettkante.
»Ach, Schätzchen. Ich verstehe ja, dass du Heimweh hast. Aber findest du nicht, du solltest mit dem Trübsalblasen aufhören?« Mama, die ich unbeabsichtigt geweckt hatte, strich mir sachte über den Rücken. Ich schlang die Arme um ihren Hals. »Ich spreche ja nicht einmal richtig Türkisch!«, heulte ich. »Wie soll ich hier überhaupt zur Schule gehen?«
»Mach dir darüber keine Gedanken. Wir melden dich am deutschen Gymnasium an, die Schulsprache ist also bis auf wenige Fächer Deutsch«, tröstete Papa mich. »Und nun wasch dir das Gesicht und zieh dir was Frisches an, dann gehen wir zum Frühstücken aus!«
Ich schlüpfte in marineblaue Shorts und ein blau-weiß geringeltes T-Shirt und verschlang wenig später unter dem neidischen Kreischen der Möwen ein riesiges Frühstück aus knusprigem Weißbrot, verschiedenen Käsesorten, Oliven, tiefroten Tomaten und echtem Wabenhonig. Ich merkte, wie es mir allmählich besser ging.
»Wenn du willst, kannst du die Gegend erkunden, deine Mutter und ich kümmern uns inzwischen um die Wohnung«, schlug Papa vor.
Ich nickte erfreut. Sicherheitshalber schrieb Paps mir die genaue Adresse auf und mahnte: »Wenn irgendetwas ist, ruf mich auf dem Handy an, okay?«
Ich nickte. »Klaro, Paps!«
»Gut, dann viel Spaß.« Er überreichte mir ein paar Scheine.
»Für den Fall, dass du etwas siehst, was dir gefällt!«, zwinkerte er mir vergnügt zu und ich steckte das Geld begeistert ein. Na, mal schauen, vielleicht würde das Leben hier nicht ganz so mies sein, wie ich befürchtet hatte.
Ich spazierte die Strandpromenade entlang und sog die salzgetränkte Luft ein, bis es mir zu langweilig wurde. Dann stiefelte ich eine scheinbar endlose, in den Fels gehauene Treppe hinauf, die vor einem riesigen, lärmerf ü llten Spielplatz endete, dem alte Eichen Schatten spendeten. Ich schlenderte weiter, bog mal hier ab, mal da, trank starken türkischen Mokka in einem orientalisch eingerichteten Café und ließ mir die Zukunft aus dem Kaffeesatz weissagen, etwas, das hier in vielen Cafés zum Service gehörte, wie mir die junge Kellnerin erklärte. Eine Zigeunerin in den Vierzigern setzte sich vor mich, nahm erst mich, dann die kleine Tasse genauestens in Augenschein und murmelte: »Ich sehe einen jungen Mann, der in Liebe zu dir entbrannt ist.«
Bei dieser Bemerkung hatte ich Mühe, nicht in Gekicher auszubrechen. Wie vielen Leuten erzählte sie wohl täglich dasselbe? »... aber ich sehe auch große Gefahr. Hüte dich vor dem Mann mit den grünen Augen.« Okay, das reichte jetzt, Pauschalitäten konnte ich mir auch woanders anhören. Ich dankte artig und machte, dass ich davonkam.
Als es allmählich dämmerte, merkte ich, dass ich schrecklichen Hunger und keinen Schimmer mehr hatte, wo ich überhaupt war. Keine Ahnung, wie ich hier gelandet war, in einer engen dunklen Gasse, die mir nicht ganz geheuer war. Im Fernsehen ist das genau die Art von Gasse, in der Leute ermordet werden. Besser, wenn ich hier so schnell wie möglich verduftete. Unsicher blickte ich mich um, als eine Gruppe Rocker auftauchte, zumindest sahen sie so aus. Alle waren in Leder gekleidet, gepierct, tätowiert. Und alle grölten. Verängstigt wich ich ein paar Schritte zurück, in der Hoffnung, dass sie mich nicht bemerken würden, wenn ich mich im Schatten der Hauseingänge versteckt hielt. Aber dafür waren sie beinahe schon zu nahe. Eine kräftige Hand packte mich plötzlich und zog mich in einen dunklen Hausflur. Ich hatte das Gefühl, mir vor lauter Angst in die Hosen zu machen.
»Keine Gegend für junge Almancis «, flüsterte eine Stimme.
»Lass mich auf der Stelle los!« Aufgebracht befreite ich mich aus dem eisernen Griff und drehte mich um. Da stand mein Nachbar und schaute mich abschätzend an. »Du hast mir heute Morgen keine Gelegenheit gelassen, mich vorzustellen. Ich bin Noyan.« Spöttisch verbeugte er sich vor mir.
»Mir doch egal, wer du bist.« Achselzuckend wollte ich wieder auf die Straße zurück, doch Noyan hielt mich zurück. »Bist du dir wirklich sicher, dass du das willst? Nur mal so zur Info: Der Kerl da mit dem rasierten Schädel ist einer der meistgefürchteten Leute hier in der Gegend. Unberechenbar und fast immer bekifft. Und seine Kumpels sind auch nicht viel besser.«
»Ich muss jetzt aber gehen!«
»Aber nicht allein! Komm, ich kenne eine Abkürzung. Wie sagtest du noch gleich, wie du heißt?«
»Ich sagte gar nichts.«
»Ihr Deutschländer seid ja nicht besonders höflich, was?«
»Hör gefälligst auf, mich so zu nennen! Lara, mein Name ist Lara.«
»Lara, soso. Wasserfee, das bedeutet er, nicht wahr? Na, dann komm, kleine Nixe, bringen wir dich heim.«
Wir warteten, bis die Gruppe der lärmenden Männer vorbeigezogen waren, dann nahm Noyan meine Hand und zog mich mit sich fort. Ich nahm erstaunt wahr, wie warm seine Handfläche war.
Durch verwinkelte Gassen, die so eng waren, dass wir kaum nebeneinandergehen konnten, führte er mich schnell und sicher wieder zurück nach Hause.
»So, pass auf, dass du da nicht wieder hingerätst. Mädchen wie dich sieht man hier nur selten, mach dich also bitte nicht selbst zu Freiwild, okay?«
Er wandte sich zum Gehen.
»He, warte! Ich meine ... Noyan! Ich wollte ... äh ... danke.« Ärgerlicherweise wurde ich rot.
Er lächelte. »Keine Ursache!«
»Muss ich das wirklich anziehen?«, grollte ich am nächsten Morgen, während ich kritisch mein Spiegelbild beäugte.
»Ja, Schuluniform ist hier Pflicht, genau wie in Großbritannien«, erklärte meine Mutter.
»Und die Kniestrümpfe? Ich sehe aus wie zwölf! Wenn ich doch nur ein wenig Make-up auflegen dürfte!«
»Nein, Schminken ist auch nicht erlaubt, in keiner der mir hier bekannten Schulen übrigens. Und außerdem siehst du ohne das ganze Zeug im Gesicht viel hübscher aus. Zu den Strümpfen: Alternativ dürftest du noch schwarze Strumpfhosen tragen, aber in Anbetracht der Tatsache, dass es heute über dreißig Grad warm werden soll, dachte ich, das willst du vielleicht nicht.«
»Schon gut!«
Wenn meine Mädels mich so sehen könnten, lägen sie vor Lachen auf dem Boden.
»Auf nach Hogwarts!«, murmelte ich ironisch und musste wider Willen grinsen.
»Zur Schule kommst du mit dem Shuttlebus, er hält gleich vor der Tür, am besten, du gehst schon mal runter«, schlug Papa vor. Ich hatte ihm gegenüber noch immer ein schlechtes Gewissen, deshalb gab ich ihm einen besonders liebevollen Kuss auf die Wange. »Bis heute Abend, Paps.«
Als ich vor die Tür trat, stand der Shuttlebus schon bereit. Ich holte tief Luft und stieg ein. Neugierige Gesichter wandten sich mir zu, denen ich nur ein unverbindliches Günaydin, »Guten Morgen«, entgegenmurmelte, während ich nach einem freien Platz Ausschau hielt, auf dem ich mich unsichtbar machen konnte.
»Du kannst dich hierhersetzen, kleine Nixe.« Noyan, der in seiner Schuluniform wie eine verbesserte Fassung von Robert Pattinson aus Twilight aussah, klopfte auf den Platz neben sich. Ich merkte verärgert, dass meine Wangen sich wieder erwärmten und ich schon wieder rot im Gesicht wurde. Hätte ich gekonnt, hätte ich mich liebend gern woanders hingesetzt, doch der Sitz neben Noyan war der einzig freie.
»Ich werde mich nicht in so einen Schönling vergucken!«, nahm ich mir vor, obwohl eine kleine Stimme in meinem Kopf mir sagte, dass Noyan außerordentlich schöne Locken für einen Jungen hatte und dass er auch sonst verdammt gut aussah. Krampfhaft bemühte ich mich, ihn nicht zu beachten, aber das hätte ich mir auch sparen können, er nahm sowieso keine Notiz von mir. Vorsichtig schielte ich ihn von der Seite an. Er war in ein Buch vertieft. MacBeth von Shakespeare und das auch noch auf Englisch! Eins jedenfalls stand fest: Dumm war er nicht!
»Guten Morgen zusammen!«, begrüßte Frau Generes meine neue Klasse. »Guten Morgen!«, tönte es verhalten zurück. Frau Generes unterrichtete Mathe und Biologie, ausgerechnet die Fächer, die ich am meisten hasste.
»Lara Mavi?«, rief die Lehrerin und blickte über den Rand ihrer fragilen Metallbrille hinweg in die Klasse.
»Ja?«, meldete ich mich gelangweilt.
»Du sollst dich bitte in das Zimmer des Direktors begeben.«
»Ich? Warum denn?« Zu Hause in Bonn wurde man nur in das Rektoratszimmer zitiert, wenn man etwas echt Übles angestellt hatte. Ein überlaufendes Klo in die Luft zu jagen oder beim Mogeln während einer Klassenarbeit erwischt zu werden waren solche Vergehen, die dann im Zimmer der höchsten Schulautorität geahndet wurden. Soweit ich mich erinnerte, hatte ich in den paar Stunden, die ich hier war, noch kein Klo zum Explodieren gebracht.
»Das wirst du wohl dort erfahren«, antwortete Frau Generes kurz. »Du solltest dich beeilen, du hältst meinen Unterricht auf.«
Alle Augen waren auf mich gerichtet, manche blickten spekulierend, manche schadenfroh, andere wiederum einfach nur neugierig. Aus irgendeinem Grund ärgerte es mich, so begafft zu werden, als wäre ich das schwarze Schaf.
»Die hat bestimmt was ausgefressen«, raunte das Mädchen, das in der Reihe hinter mir saß, ihrer Tischnachbarin zu. Beide kicherten schadenfroh und ich drehte mich zornig um. Das Mädchen, das diese boshafte Bemerkung fallen gelassen hatte, hieß Ebru oder so ähnlich. Ich hatte vorhin jemanden ihren Namen rufen hören. Ebru war ein großes, schlankes Mädchen, auch sie hatte lange Haare, genau wie ich, nur war ihres dunkelbraun, fast schwarz, was einen verführerischen Kontrast zu den grünbraunen Augen bildete, die von dichten dunklen Wimpern umrahmt wurden. Gedanklich sortierte ich sie in die Kategorie »Hübsch, aber ohne Hirn« ein.
Ich wünschte, ich hätte nur ein Fitzelchen Gloss oder einen Hauch Wimperntusche auflegen dürfen! Und diese Schuluniform war auch nicht gerade nach meinem Geschmack, wo ich doch so tolle Klamotten hatte! Aber daran konnte ich wohl nichts ändern.
Ich steuerte auf die Tür zu, während die Lehrerin mit dem Unterricht fortfuhr. Wo war noch mal das Rektorat? Ah ja, gleich neben dem Lehrerzimmer im ersten Stock. Jetzt machte ich mir ernsthaft Gedanken darüber, warum ich dorthin zitiert wurde. Oh Gott, hoffentlich war meinen Eltern nichts zugestoßen! Diese Szenen kennen wir doch alle aus dem Kino, oder nicht? Ein Mädel wird zum Direktor zitiert, allerdings erledigt diesen Job im Film eine sanftmütige junge Lehrkraft mit Rehaugen und keine militante alte Schachtel, die mich im Geiste schon im Schulkerker vermodern sah. Nein, sicher war zu Hause alles in Ordnung.
Zaghaft klopfte ich an die dicke Eichenholztür. Ich war nervös. Zuerst dachte ich, ich hätte nicht laut genug geklopft und hatte schon die Faust erhoben, um es noch mal zu versuchen, doch dann erscholl ein gedämpftes »Herein!«, gefolgt von einem leisen Summen. Die Tür ließ sich ganz leicht öffnen. Ich betrat das Vorzimmer des Direktors, in dem eine Frau Ende fünfzig mit einem adretten silbernen Dutt auf dem Hinterkopf vor einem flimmernden Flachbildschirm saß und eifrig tippte.
»Der Direktor ist gleich fertig, du kannst solange hier auf dem Stuhl Platz nehmen«, erklärte sie freundlich in tadellosem Deutsch.
»Danke.« Ich setzte mich und wartete. Um mir die Zeit zu vertreiben, ließ ich meine Gedanken zum Ballett schweifen, malte mir aus, wie es wohl gewesen wäre, die Hauptrolle in Schwanensee spielen zu dürfen, und stellte mir den Applaus vor, der nach der Vorstellung aufbrandete. Ich hatte gerade das flauschige, matt glänzende Kostüm aus weißem Tüll und Federn vor Augen, das ich getragen hätte, als sich die Tür jäh öffnete und ein Junge mit dunkelblondem Haar und hellgrünen Augen aus dem Zimmer kam. Seine Miene wirkte verärgert.
»Du kannst jetzt hineingehen«, sagte die Sekretärin.
»Wie bitte?« Orientierungslos sah ich sie an. »Oh, jaja, natürlich.« Hochrot im Gesicht wandte ich mich der offenen Tür zu. Hatte ich den Typen wirklich angestarrt? Mann, wie peinlich. Aber er war attraktiv, das musste man ihm lassen. Nicht so groß und geheimnisvoll wie Noyan, aber da war ein gewisses Etwas an ihm, das man nicht leugnen konnte.
»Lara Mavi?« Hinter einem antiquierten Eichenholzschreibtisch saß ein schlanker Mann Mitte sechzig in einem gut sitzenden Anzug. Direktor Mattis war Deutscher, der Türkisch aber ebenso fließend beherrschte wie Englisch und Französisch, wie Papa mir berichtete.
»Sieht jung für sein Alter aus«, schoss es mir durch den Kopf. Seinen wachen Augen schien nicht die geringste Kleinigkeit zu entgehen.
Ich nickte. »Ja, das bin ich.«
Ich kam mir vor, als stünde ich vor einem Richter der spanischen Inquisition. Er musterte mich scharf, bevor er mich aufforderte, auf der braunen Ledercouch Platz zu nehmen.
»Ich werde nicht um den heißen Brei herumreden, Lara«, begann er ruhig. »Ich weiß, du bist neu an unserer Schule und weißt hier noch nicht so richtig Bescheid. Du kannst von Glück sagen, dass wir dich aufgenommen haben, bei deinem Notendurchschnitt hättest du hier eigentlich keine Chance gehabt. Allein die Tatsache, dass du aus Deutschland kommst und dass dein ehemaliger Klassenlehrer dich als nicht völlig hoffnungslosen Fall betrachtet, hat dafür gesorgt, dass du jetzt hier bist. Mag sein, dass du in der Vergangenheit, nun ja, sagen wir einmal salopp, nicht eben lernbegeistert warst. Hier erwarten wir mehr, viel mehr von dir. Dein Halbjahreszeugnis am Gymnasium war in meinen Augen eine einzige Katastrophe, nur in Sport und Deutsch konntest du glänzen. Das zeigt mir, dass du durchaus etwas leisten kannst, wenn du es nur willst. So, wie ich dich hier vor mir sehe, vermute ich, du gehörst zu den Schülern, die ich ›Spaßlerner‹ nenne. Gefällt dir der Unterricht, beteiligst du dich, wenn nicht, lässt du es bleiben und sitzt deine Zeit ab bis zur nächsten Stunde. Das geht nicht mehr, das solltest du wissen.«
So hatte noch nie jemand mit mir gesprochen. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und ob überhaupt eine Antwort gefordert war, also schwieg ich und hielt dem Blick des Direktors mit hoch erhobenem Kopf stand.
»Ich hoffe, dass dir das zu denken gibt.«
Ich starrte den Mann an und schwieg weiter. Allmählich wurde ich wütend. Was sollte der Mist eigentlich? Es war ja nicht so, dass ich mich sehnlichst hierhergewünscht hätte, ich war hier, weil ich keine andere Wahl gehabt hatte. Wäre ich schon achtzehn, hätte mich keine Macht der Welt in dieses bescheuerte Land gebracht, darauf konnte der Alte Gift nehmen! Was bildete er sich eigentlich ein?
»Gut, dann kommen wir zum nächsten Punkt. Wie gesagt, es gibt Regeln, an die sich unsere Schüler und Schülerinnen halten müssen. Verhaltensregeln wie die, die ich eben erklärt habe, und Bekleidungsregeln, an die du dich nicht zu halten scheinst.«
»Aber ich trage doch die Uniform! Und Make-up benutze ich auch nicht!«, protestierte ich empört. Allmählich wurde mir das Ganze zu bunt.
»Das sehe ich. Aber dein Rock ist viel zu kurz, deine Absätze zu hoch und deine Haare sind gefärbt«, stellte der Rex sachlich fest.
»Das sind Strähnchen«, korrigierte ich ihn würdevoll und fügte in Gedanken hinzu: die mich das Taschengeld von zwei Monaten gekostet haben!
»Was auch immer.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das geht hier nicht. Bitte besorge dir flache schwarze Schuhe, die für den Schulalltag angemessen sind, und einen neuen Rock, der dir zumindest eine Handbreit bis an die Knie reichen sollte. Und so leid es mir tut, aber deine Haare musst du in ihren Ursprungszustand zurückfärben und danach solltest du sie nicht so herumwehen lassen, sondern sie mit einem Haarband oder einer Spange aus dem Gesicht halten.«
Ich war echt versucht, wütend aufzustehen, die Tür hinter mir zuzuknallen und diese ganze verdammte Schule zum Teufel zu wünschen.
»Was, wenn ich das nicht tun will?«, zischte ich böse.
Der Direktor schien Widerworte nicht gewöhnt zu sein, er hob erstaunt die Brauen und antwortete gelassen: »Dann kannst du dich an irgendeiner anderen Schule einschreiben lassen, die Wahl liegt natürlich bei dir.«
»Ich denke, das hier ist eine Privatschule.« Ich spürte, wie meine Wangen sich rot färbten.
»Ja, das stimmt. Eine Privatschule, in der Eltern uns sehr viel dafür zahlen, dass wir ihre Kinder dazu animieren, ihr Bestes zu geben, und ihnen Manieren beibringen, was bei dir offensichtlich bitter nötig ist. Du darfst jetzt gehen«, erklärte Herr Mattis energisch. »Bitte schließe die Tür hinter dir. Ach, und Lara?«