Auswärtsspiel - Marcel Reif - E-Book
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Auswärtsspiel E-Book

Marcel Reif

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Beschreibung

Ein Buch, das nicht nur Fußballfans zum Träumen bringt! London, Liverpool, Mailand, Barcelona oder Amsterdam: Marcel Reif kennt sich aus in Fußball-Europa. Mit all diesen magischen Orten verbinden ihn erlebte Geschichten, Freundschaften, besondere Momente und natürlich Lieblingsplätze, die er immer wieder aufsucht. In seinem neuen Buch nimmt er die Leser mit auf die Reise, erzählt von Begegnungen mit Fußballlegenden und dem Wahnsinn der legendären Champions-League-Abende. Aber auch vom unvergleichlichen Genuss eines einfachen Abendessens in einer kleinen Tapas-Bar nach einem Zwölfstundentag im Dauerstress oder der Schönheit der Pariser Parks bei Sonnenaufgang. Ein Reisebuch der besonderen Art - nicht nur für Fußballfans.

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Seitenzahl: 287

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Bei der Verwendung im Unterricht ist auf dieses Buch hinzuweisen.

echtEMF ist eine Marke der Edition Michael Fischer

1. Auflage

Originalausgabe

© 2020 Edition Michael Fischer GmbH, Donnersbergstr. 7, 86859 Igling

Covergestaltung: Michaela Zander, unter Verwendung einer Illustration von Tim Möller-Kaya

Umschlagfoto: © SPORT1 l Getty Images

Illustration Vor- und Nachsatz: Shutterstock © KateChe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Layout/Satz: Michaela Zander

Herstellung Laura Denke

ISBN 978-3-96093-944-3

www.emf-verlag.de

Über die Autoren

Marcel Reif, geboren 1949 in Polen, ist Sportjournalist und Fußballkommentator. Nach langjähriger Tätigkeit für das ZDF und RTL war er bis 2016 Fußballreporter bei Premiere/Sky. Bis heute ist er einer der Experten der Sport1-Fußball-Talkshow „Doppelpass“. 2002 wurde er mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet, 2003 mit dem Adolf-Grimme-Preis.

Patrick Strasser, geboren 1975, ist Journalist und Buchautor. Nach dem Studium der Geschichte und Politik an der LMU München arbeitet er als Sportreporter, u. a. seit 1998 für die Münchner Abendzeitung. Seine Bücher Hier ist Hoeneß! und Wie ausgewechselt, die Autobiografie von Rudi Assauer, wurden zu Bestsellern.

Für meinen Freund Dieter Kürten – ohne den ich die letzten 35 Jahre wohl erst am Tag des Spiels angereist wäre, mit einem lauwarmen Kaffee-to-go ein

zähes Sandwich runtergeschluckt hätte, um dann hektisch

ins Stadion zu eilen irgendwo, egal wo in Europa ...

Inhalt

Mailand: Erst Meazza, dann Papermoon

Turin: Mal Nebel, mal „notti magiche“

Rom: Von Rudi, Totti & Tartufo

Neapel: Beim „heiligen“ Diego

London: plötzlich Kriegsberichterstatter

Manchester: Auf eigene Gefahr: „Curry Mile“

Liverpool: Wenn ein Mythos Spiele gewinnt

Glasgow: Aus Liebe: Kilt & Whiskey

Dublin: Wunderbare Boys in Green

Paris: Vive le Flohmarkt!

Lissabon: Fado und EusÉbio

Madrid: BernabÉu und Casa BotÍn

Barcelona: Doppelter Genuss: BarÇa & Cal Pep

Bilbao: Was heynckes neu lernen musste

Istanbul: Das Reds-Wunder am Bosporus

Athen: Auf einen Fisch nach Mikrolimano

St. Petersburg: Freilichtbühne entlang der Newa

Budapest: Puskás Lager & Gellért-Bad

Bukarest: Als bei Steau der BVB-Zoff begann

Kopenhagen: Das Crazy Horse des Danish Dynamite

Amsterdam: Durch van Gaals Augenschleuse

Baku: Vogts, Pionier der Stadt der Winde

Adressen

Vorwort

Ich habe Einiges von der Welt gesehen, nahezu alle Stadien, habe jeden erdenklichen Verlauf eines Spiels erlebt und kommentiert – das weiß ich spätestens seit Barcelona 1999, als Manchester United die Bayern buchstäblich in letzter Minute vom Thron stieß und das Finale der Champions League gewann. Bayern-Fans halten nun kurz inne, ich weiß.

Eines hat sich für mich in 35 Berufsjahren nie geändert: die Liebe zu diesem Spiel. Das Schönste am Fußball ist ja: Du weißt nie, wie es ausgeht über 90 Minuten oder mehr. Auf dieser Reise bin ich der Begleiter der TV-Zuschauer, nehme sie mit in die Stadien und in die Städte, erzähle beim Kommentieren, was mich, was die Menschen vor Ort bewegt. Auch abseits des Spielfelds.

Giovanni Trapattoni, ein wunderbarer Mensch, einst knallharter Spieler und erfolgreicher Trainer, sagte einmal so schön: „Fußball ist ding, dang, dong. Es gibt nicht nur ding.“ Eben. Da ist mehr.

Als ich noch ein Jungspund war und grün hinter den Ohren, öffnete mir mein früherer Sportchef und Mentor beim ZDF, Dieter Kürten, heute ein guter, unverzichtbarer Freund, buchstäblich die Augen. Ich erinnere mich noch genau an einen Abend irgendwo in Europa am Vortag eines Spiels. Dieter kommentierte damals und hatte mich als seinen Assistenten mitgenommen.

„Du, die spielen morgen ohne Libero, lass uns das schnell mal besprechen“, sagte ich eifrig.

„Danke“, antwortete Dieter. „Aber wie du richtig sagst: Die spielen morgen. Heute müssen wir erst mal vernünftig warm essen und kalt trinken. Und ich weiß auch schon wo.“

Und als ich skeptisch schaute, fügte er hinzu: „Sieh mal: Wie das Spiel morgen läuft, darauf haben wir keinen Einfluss. Dass es uns heute gut geht, darauf allerdings sehr wohl. Und nur ein froher Zeisig kann schön trällern.“

Ich hatte verstanden. Genauso wichtig wie die Spielvorbereitung waren ihm die Wahl des richtigen Cafés, des passenden Restaurants und einer Bar für einen Absacker. Denn nicht zuletzt die machen es aus, das „Auswärtsspiel“.

Auf einer Reise zu einer Europapokalpartie war und ist immer ein bisschen Luft, dafür sorge ich. Spaziergänge, Abstecher in Museen und Cafés. Ich möchte mir eine Stadt erlaufen, das aktuell vorherrschende Lebensgefühl erspüren. Erstens, um es dem Zuschauer näherzubringen. Denn ja, es sind immer 22 Mann in kurzen Hosen und ein Ball. Aber jedes Spiel ist einzigartig, jeder Spielort hat seine Unverwechselbarkeit. Und zweitens, es hilft mir, meinen Kopf, die Gedanken frei zu bekommen. Als Kommentator soll ich Leichtigkeit vermitteln, fröhlich rüberkommen und kein Trübsal mitschleppen. Dann kann ich mich entspannt freuen auf dieses wunderbare Kinderspiel, aufgeführt von großen Jungs – denn das ist und bleibt es bei allem Kommerz. Nur so kann ich all die zuvor zusammengetragenen Erkenntnisse, schweren Weisheiten und bleiernen Statistiken leicht und locker reinlaufen lassen in meinen Kommentar.

Die Europameisterschaft 2020 findet erstmals als Meisterschaft in (fast ganz) Europa statt. Zwölf Länder, zwölf Städte, zwölf Stadien anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des ersten Turniers 1960. Zunächst dachte ich: Schwachsinn, das wird eine EM für Reiseveranstalter! Mittlerweile habe ich mich mit der Idee angefreundet. Wie sonst sollten die Menschen in kleineren Staaten jemals in den Genuss kommen, Gastgeber solch eines Turniers zu sein? Wie könnten sie es sich sonst leisten angesichts des stetig zunehmenden Gigantismus? Kopenhagen, zum Beispiel, oder Dublin, Budapest oder Athen. Auch diese Orte haben einen festen, warmen Platz in meinem Album der Erinnerungen.

Dagegen wird die Champions League immer mehr zu einer geschlossenen Veranstaltung. Die Show steigt eben dort, wo das Geld ist – ob in London oder Liverpool, Mailand oder Madrid, Amsterdam oder Paris. Mit all diesen Städten verbinde ich magische Spiele, besondere Momente und Begegnungen, habe hier und dort meine Lieblingsplätze und Restaurants, die ich immer wieder aufsuche. Wenn Sie mögen, nehme ich Sie mit. Denn mein Motto lautet: „Ich esse ungern schlecht, ich trinke ungern schlecht, und ich bin ungern in schlechter Gesellschaft.“

Auf Städtereisen bin ich unerbittlich. Für Kollegen der Bärenführer. Für die Familie der Reiseleiter. Es geht dann bitte schön nach meinen Regeln. Da bin ich stur, bin schließlich das Familienoberhaupt. Wenn der Alte es so will, müssen sie mit (am Ende war es auch immer lustig). Ich habe unverhandelbare Rituale: Fish & Chips essen in London, ein Fado-Abend in Lissabon, in Paris am Abend die Champs-Élysées hochgucken, in Liverpool die Mersey-Fähre nehmen und in Barcelona jedes Mal ins Cal Pep. Marcel, das Gewohnheitstier? Aber ja!

Ich bin Wiederholungstäter und – das gebe ich gerne zu – in vielen Dingen unflexibel, gefangen im Klischee. Denn bei diesen Kurztrips, in der Regel nie länger als zwei Tage, bin ich Tourist. Ich will wiedersehen, was ich sehen mag. Immer wieder. Da ist mir das Risiko des Neuen, das dann schiefgeht, schlicht zu groß. Kann es nicht ändern. Ist mir auch wurscht, wenn ich dem Mainstream erliege. Bitte erwarten Sie in diesem Büchlein deshalb keine geheimsten, aktuellsten Top-Secret-Hinweise für Restaurants oder Bars. Denn bis ich diese Geheimtipps ausgekundschaftet habe – so ich es überhaupt wollte –, sind sie sowieso schon längst nicht mehr geheim und überlaufen.

Falls Sie in der Reihe von Europas Fußballmetropolen die Standorte München (einer der zwölf Austragungsorte der EM 2020)und Dortmund vermissen, die habe ich ganz bewusst außen vorgelassen und mich auf 22 Städte und Stadien außerhalb des Bundesliga-Dunstkreises konzentriert. Eben auf die Austragungsstädte der EM 2020 und die wichtigsten Orte, an denen regelmäßig die Champions-League-Hymne ertönt. Auf eine Diskussion: wieso A und C, aber nicht B etc. habe ich keine Lust.

„Auswärtsspiel“ ist in der Heimat entstanden. An meinem Lebensmittelpunkt Zürich im Restaurant Cantinetta Antinori und in der Bar des Widder, sowie in München auf der Terrasse des Hotels The Charles am Alten Botanischen Garten. Und bei „dem Charles“ – in der Schumann’s Bar am Hofgarten. Dort, bei Betreiber Charles Schumann, wo nach Bayern-Spielen Bastian Schweinsteiger und Freunde die Köpfe zusammensteckten. Wo man Fußball mit dem wunderbaren Barmann Kostas so herrlich leidenschaftlich (und auf allen objektiven Augen blind!) diskutieren kann. Wo einst Pep Guardiola mit Thomas Tuchel, seinem Trainerkumpel im Geiste, bis tief in die Nacht die Salz- und Pfefferstreuer über den Tisch verschob, bis die taktische Grundordnung stimmte.

Auf! Let,s go! Andiamo! Allons y ¡Vamos!

Mailand: Erst Meazza, dann Papermoon

Heimat, eine echte Heimat als den Ort der Sehnsucht, konnte ich mir nie wirklich erlauben. Weil ich als Kind mit meinen Eltern so oft umgesiedelt bin, durch die Länder gezogen bin. Ich hätte diese Heimat ja jedes Mal verloren. Von Waldenburg in Polen, meinem Geburtsort, sind wir nach Warschau, weiter nach Tel Aviv, schließlich nach Kaiserslautern. Später Heidelberg, Wiesbaden, Mainz und Köln. Heute ist mein Lebensmittelpunkt Zürich. Das waren und sind alles Lebensplätze – aber es ging mir immer um die Menschen, um das Gebilde aus Familie und Freunden, nicht um die Verortung.

Und dennoch haben einige Städte eine beinahe magische Anziehungskraft auf mich. Mailand zum Beispiel, ganz extrem – ein Ort, an dem ich mich mittlerweile zu Hause fühle. Doch fast schon so etwas wie Heimat. In Mailand kannst du mir die Augen verbinden und mich irgendwo in der Stadt hinführen – nach zwei Augenblicken kann ich exakt sagen, wo ich bin. Mailand ist meine Gefühlsstadt. Ich war dort locker 50 Mal, sehr vorsichtig geschätzt. Über einen Schulfreund, mit dem ich auch zusammen Fußball gespielt habe, kam ich erstmals hin. Sein älterer Bruder hatte geschäftlich oft in Italien zu tun und nahm uns in den Ferien mit. Er gab uns wertvolle Ratschläge, aber auch kulinarische Tipps. Bella Italia für Anfänger. Mich packte es sofort. Ich spürte und begriff: Italien ist Leben, Italien ist sinnlich: Es sieht gut aus, es klingt gut, es riecht gut, es schmeckt gut.

Die zweite Verbindung entstand später, auf ganz anderen Pfaden: Meine erste Frau Ria und ich hatten in Wiesbaden zwei Modegeschäfte, 1980 eröffneten wir die erste Boutique für Damen­bekleidung. Von da an waren wir mindestens vier Mal im Jahr in Mailand, zu Modemessen und um bei großen Firmen zu ordern. Durch die damaligen beruflichen und privaten Begegnungen habe ich Mailand, mein Mailand, von A bis, sagen wir, X entdeckt. Einwohner und Ortskundige haben mir immer wieder neue Seiten gezeigt. So werden Y und Z beim nächsten oder übernächsten Mal dazukommen.

Den dritten Knoten zur Hauptstadt der Lombardei konnte ich durch meinen Job als Fernsehreporter und Kommentator knüpfen. So kam ich im Dezember 1984 mit dem ZDF nach Milano. Der Hamburger SV spielte im Europapokal – ja, tatsächlich, die Älteren werden sich erinnern – im UEFA-Cup-Achtelfinale bei Inter Mailand. Mit Uli Stein und Felix Magath beim HSV (die hatten im Jahr zuvor den Europapokal der Landesmeister gewonnen). Auf Inter-Seite Karl-Heinz Rummenigge, Alessandro Altobelli und andere Weltmeister von 1982. Wir waren mit einer kleinen ZDF-Mannschaft vor Ort, unter anderem der unnachahmliche Rolf Töpperwien. Am Spieltag sagte ich: „Jungs, wenn ihr wollt, führe ich euch ein bisschen rum. Ich kenne ein paar Leute hier und Restaurants, die euch gefallen werden.“ Und Töppi raunte: „Ohohoho!“ Während sein Blick verriet: Heute trägt er aber ziemlich dick auf, der Herr Reif. Na dann mal los. Wir schlenderten also durchs Bermudadreieck, eher ein Quadrat zwischen der Via della Spiga und der Via Monte Napoleone, in Sachen Mode eines der teuersten Viertel der Welt. Auf der Via delle Spiga, einer Kopfsteingasse, kam plötzlich eine sehr gut aussehende und bestens gekleidete Frau auf mich zu, umarmte mich, Küsschen rechts, Küsschen links, und legte sofort mit Small Talk los: „Marcel, wie geht’s dir? Was machst du?“ Die Direktrice von Versace, Christina, die gerade Mittagspause machte. Wir gingen weiter, und auf einmal war es sehr still in meiner Entourage. Vor allem für Töppi eine schwierige Prüfung. Lange Rede, kurzer Sinn: In Milano macht mir kaum jemand was vor.

Mailand ist keine rein italienische Stadt, vielmehr sehr international, weltgewandt. Gegründet von Kelten, aufgrund der Geografie immer auch unter deutschem, österreichischem und französischem Einfluss. Mailand steht für Moneten, ist Sitz der italienischen Börse, die führende Medien- und Modemetropole des Landes, eine große Messestadt. Man sagt ja nicht umsonst in Italien: Dort oben wird das Geld verdient, in Rom wird es politisch zu Schaden gebracht, und von dem, was übrigbleibt wird der Süden subventioniert. Nicht zuletzt auch durch die Börse strahlt Mailand das Selbstverständnis aus: Ohne uns geht nichts. Und wenn du richtig Geld hast, kannst du in Mailand auch richtig Geld ausgeben – das sind allerdings nur die oberen Zehntausend, die in dieser Liga mitspielen können.

Wenn man von der Autobahn runterfährt und sich durch den Industriegürtel kämpft, ist Mailand die hässlichste Stadt der Welt. Aber dann: diese Innenstadt. Das Wahrzeichen der Stadt, der Duomo – natürlich. Um den Dom aber in seiner vollen Pracht bewundern zu können, musst du als Besucher riesiges Glück haben. Mittlerweile gibt es gefühlt ein Zeitfenster von zwei bis drei Stunden, in dem das kolossale Bauwerk nicht an irgendeiner Stelle eingerüstet ist, weil es gerade renoviert oder geputzt wird. Durch die Lage der Stadt in der Po-Ebene am Rande der Alpen kann der Smog des immer mehr anwachsenden Verkehrs oft nicht abziehen und setzt sich auf dem weißen Marmor fest – also wird ständig poliert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den Dom bei all meinen Besuchen nur ein einziges Mal ohne Gerüst erlebt habe. Wenn man dann nicht gedankenschnell ein Foto macht und das eine Stunde später nach dem Lunch nachholen will, dann – genau: Chance vorbei. Wenn sie vorne fertig sind mit Putzen, fangen sie hinten wieder an. Eine Dauerputzstelle. Aber die schönste der Welt. Also rumstreunen, niederlassen und gucken, die Piazza del Duomo ist eine wundervolle Volksbühne. Großes Touristentheater – jederzeit.

Der Duomo

Das Wahrzeichen der Stadt ist das bedeutendste Werk gotischer Baukunst in Italien und nach dem Petersdom in Rom und der Kathedrale von Sevilla die drittgrößte Kirche der Welt. Aufgrund der über 157 m Länge und fünf Schiffe gibt es weltweit keinen umfangreicheren Marmorbau.

Direkt neben dem Dom befindet sich der Triumphbogen, zugleich der südliche Eingang zur Galleria Vittorio Emanuele II, dieser wuchtigen Einkaufspassage mit Glasdach und großer Kuppel aus dem 19. Jahrhundert. Ein Abstecher ist dringend zu empfehlen. Wer kein Geld loswerden will, kann sich an der Architektur, dem Dekor aus Fresken, Marmor und Stuck sowie den opulenten Schaufenstern ergötzen – geht hervorragend. Dort zeigen sie gerne, was sie haben. Auch akustisch ist die Galleria unübertroffen, was ich allerdings eher zufällig erfahren durfte. Eines Tages rauschten die „Bersaglieri“, eine Infanterietruppe des italienischen Heeres, in voller Formation an uns vorbei. Die Kapelle der Gebirgsjäger mit Hut und Feder, die ihre Lieder und Märsche strammen Schrittes im Lauf spielen. Was für ein Spektakel! Dieser Hall, fantastisch. Ich bekam feuchte Augen.

Nicht weit vom Dom liegt auch das fabelhafte Caffè Sant Ambroeus samt hauseigener Konditorei, ein Patisserietraum. Legendär. Der Haken ist: Die Kellner sind alle, wirklich alle, feinere Herren als man selbst und sehen auch besser aus – wie Vittorio De Sica, der wunderbare italienische Schauspieler und Filmregisseur. Da kannst du machen, was du willst. Alles gestandene ältere, grau melierte Herren, stilvoll gekleidet in einer Livree mit Goldrand – irre. Du traust dich kaum, einen Cappuccino zu bestellen. Du möchtest eher fragen: Was darf ich IHNEN bringen?

Da fällt mir die Scala ein. Über Neujahr 2018 waren meine Frau Marion und ich auf Kurztrip in Mailand. Am Silvesterabend sind wir in die Oper, ein Verdi-Abend. Giuseppe Verdi liebe ich. Es war für mich nicht weniger als die Erfüllung eines meiner Lebens­träume. Seit 40 Jahren hatte ich vergeblich versucht, eine Karte für die Scala zu bekommen. Nix zu machen, niente. Wenn ich konnte und wollte, gab’s keine Tickets mehr. Wenn es tatsächlich mal Karten gab, konnte ich nicht.

Dann klappte es endlich. Nach dem Konzert sind wir in ein Restaurant, nur zehn Minuten zu Fuß entfernt. Unsere Mailänder Gastgeber, vier perfekt gestylte Damen, meine Frau und ich. Wir stießen aufs neue Jahr an. Am Nebentisch ein wohl distinguiertes Ehepaar. Als die beiden aufstehen, beugt sich der Mann im Vorübergehen zu mir herunter und flüstert mir ans Ohr:„Signore, gestatten Sie mir eine Frage: Fünf Frauen! Wie kommt man bitte an dieses Ticket?“

Aber zurück zum Domplatz. Am nördlichen Ausgang fährt hinter dem Dom eine Straßenbahn mit dem Ziel Brera, dem intellektuellen Zentrum der Stadt. Ein altes, früher bei Studenten sehr beliebtes Szeneviertel voller Bohème-Flair, Museen – die Pinakothek, der Museumskomplex Castello Sforzesco –, zahlreichen Kunstgalerien, Antiquariaten, einem „Design District“ und vielen kleinen Geschäften. Hier hat die „Gazzetta dello Sport“, das rosa Traditionsblatt, ihren Sitz. Heute chic und hip und studentisch außer Reichweite.

Auch wenn man zu Fuß vom Dom nur rund zehn Minuten braucht, gönne ich mir jedes Mal die putzige Straßenbahn-Linie 2, eine richtige „Bembel“: orange-gelb, alt und klein, knarrend, schnaubt wie ein Tier. Wenn dieses Bähnlein angequietscht kommt, hörst du es schon aus mehr als einem Kilometer Entfernung. Eines meiner Lieblingsbilder von Mailand: Es herbstelt, gelb-­braunes Laub, neblig. Und dann rumpelt die „2“ auf mich zu – das klingt sehr nach Heimat. Ich kann nicht genau erklären, warum.

Im Vergleich zum Zentrum ist Brera nicht so überteuert. Prima kleine Restaurants findet man in den kopfsteingepflasterten Gassen wie das Antica Locanda Solferino in der Via Castelfidardo, da war ich schon Mitte der 80er-Jahre zu Gast. Ein Hotel samt Trattoria, das sich hält. Nur elf Zimmer, hübsch eingerichtet mit dem so liebenswerten italienischen Kitsch, das Frühstück wird ausschließlich auf den Zimmern serviert. Manche Dinge bleiben. Zum Glück gibt es da keine Fluktuation.

Nicht in Brera, sondern einen knappen Kilometer vom Dom entfernt, liegt mein Stammlokal in Sachen Fußball: das Papermoon. Nach einem Spiel im „Giuseppe-Meazza-Stadion“ mündet mein nächtlicher Weg seit rund 30 Jahren unweigerlich in die Via Bagutta 1.

Das Papermoon hat seinen Namen noch aus einer Zeit, in der es chic war, sich einen englischen Namen zu geben. Den konnten sich die Models und Sternchen aus aller Welt besser merken. Im Papermoon ändert sich nichts. Die liebenswert aufmerksame Mama des Restaurants sitzt an der Kasse, und mein Stammkellner verzichtet seit Jahr und Tag auf größere Begrüßungsfloskeln, sondern fragt mich lediglich: „Wie war das Spiel?“ Mehr nicht. Distanz und Nähe, herrlich.

Zur Vorspeise gibt es für alle eine Pizza Margherita, schon vorgeschnitten. Immer. Als Hauptgang lasse ich mir Bœuf Robespierre bringen, dünn geschnittene, kurz gebratene Rindsfiletscheiben. Immer. Mit grünem Pfeffer und Rosmarin. Etwas Rucola und Parmigiano drüber. Immer. Zum Niederknien. Das kannst du nirgends besser bekommen.

Dann räumt der Kellner die leergefegten Teller ab, und ich schaue ihn an, ohne etwas zu sagen. Er dreht sich kurz zu einer kleinen Anrichte um, die sich in 30 Jahren nicht vom Platz bewegt hat. Dann spricht er mit wunderbarer, unbeirrbarer Selbstverständlichkeit den immer gleichen Satz: „Si, ci sono ancora“ – ja, wir haben noch welche. Kleine, unfassbar aromatische Walderdbeeren. „Con sorbetto di limone?!“, fragt er. Mit einer Kugel Zitronensorbet? Es handelt sich mehr um die lakonische Feststellung eines unabänderlichen Rituals als um eine echte Frage. Denn das ist unser Dessert. Immer.

Längst kein Geheimtipp mehr sind die Navigli, die Kanäle. Ein Viertel für Nachtschwärmer mit zahlreichen Bars und Restaurants, lebhaft und bunt und erst in den letzten Jahrzehnten aufgehübscht. In einer lauen Sommernacht trinkt man dort in einer Weinbar einen Aperitif, hier und dort hört man Jazz – zu schön.

Die Navigli

Die Navigli sind ein System von Kanälen und Wasserstraßen, deren Bau im 12. Jahrhundert begann und sieben Jahrhunderte dauerte. Über die Kanäle wurde der Marmor für den Bau des Mailänder Doms verschifft. Und die lombardischen Fürsten betrieben über sie ihren Handel, hatten so Zugang zur Adria.Die meisten der Navigli, die früher die Stadt durchzogen, wurden zugeschüttet. Heute werden sie als Straßen benutzt. Der Naviglio Grande, der Naviglio Pavese und das 1603 erbaute Hafenbecken Darsena blieben dank privater Initiativen erhalten.

Hotels in Mailand, vor allem die etwas gehobenere Kategorie, kosten richtig. Wenn du den Preis erfährst, denkst du: Nein, ich will nicht gleich auch noch Anteile am Etablissement kaufen, nur die Übernachtung bitte. Heutzutage bekommt man, wenn man sich etwas Zeit für Recherche nimmt, über Wohnungsportale aber tolle Zimmer mit Balkon oder Dachgarten. Früher folgte man bei den Sendern, für die ich gearbeitet habe, dem Wahn, stets ein Hotel auszuwählen, das möglichst nah am Stadion lag. Als müsste ich das Hotel, vom Bahnhof oder Flughafen kommend, kurz vor Anpfiff des Spiels stets mit hechelnder Zunge erreichen. Damit haben sie mich lange Jahre gequält. Vor allem im Fall Mailand war das meist ziemlich kontraproduktiv, leider konnte ich mich nicht immer vom Gruppenzwang befreien und in ein Hotel meiner Wahl mogeln.

Prima colazione, das Frühstück, brauche ich nicht. Meine goldene

Regel lautet: In Italien niemals im Hotel frühstücken! Das können sie nicht – und sie wollen es auch nicht können. Fettige Croissants,

diese kleinen, leichenblassen Weißbrötchen: außen bretthart, innen staubig. Dann diese Marmeladenpackungen in Miniaturformat, hör’ mir auf! Also nichts wie raus und um die Ecke in irgendeinem Caffè an die Theke stellen. Vorher die „Gazzetta dello Sport“ kaufen, ganz wichtig, und unter den Arm klemmen, wenn man die Bar betritt, das sieht immer gut aus. Einen Cappuccino bestellen, dazu eine Spremuta, einen frisch gepressten Saft, und einen Schinken-Käse-Toast. Und das alles schmeckt nur da! Du hast die Wahl: entweder das beste Frühstück der Welt (im Caffè) oder das schlechteste Frühstück der Welt (im Hotel).

Ich liebe dieses erste Abtauchen am Morgen, aus dem Hotel rein ins Leben, das ist mein Warmlaufen. Im Caffè steht der Bauarbeiter neben dem Top-Banker, das Gespräch über calcio (italienisch für Fußball), über Inter und AC Mailand, das verbindet sie. Funktioniert immer noch. Auch in Zeiten von Social Media.

Ich stöbere dann gedankenverloren die Gazzetta durch.

Verschlinge alles bis hin zur Frage, wie der FC Modena in der Serie C, der Dritten Liga, gespielt hat. Das macht den Kopf frei, deine Probleme sind ganz weit weg. Dann schrecke ich plötzlich hoch, höre die Stimme meiner Frau. Was hast du gesagt? Sie wiederholt: „Sag mal, ist irgendwas mit dir nicht in Ordnung?“ Nein, nein – tutto bene.

Das Sympathische an der Fußballstadt Mailand ist, dass es hier zwei Großvereine mit gewaltiger Tradition gibt, die zwar große Rivalen waren und sind, sich aber gegenseitig nie vernichten wollten. Leben und leben lassen, wie zwei benachbarte Herrschaftsfamilien. An ihrer Größe und ihrer Bedeutung haben sie sich irgendwann mal überfressen, die Übernahme von ausländischen Investoren hat ihnen nicht gutgetan – im Gegenteil. Bei Milan wurschtelte nach dem Patriarchen Silvio Berlusconi erst ein chinesischer Unternehmer herum und verkaufte den Verein 2018 an einen US-Hedgefonds. Inter fiel ebenfalls in chinesische Hände. Ein Drama. Vielleicht auch deshalb brauchen die beiden Vereine einander, sie lieben und hassen sich wie Brüder, sind untrennbar verbunden – und mittlerweile mehrere Schritte von Serienmeister Juventus Turin abgehängt. Wenn man an große Spiele von Inter oder Milan denkt, an große Europapokalnächte und die Titelgewinne, denkt man an Spiele aus früheren Jahrzehnten – das ist nie ein gutes Zeichen. Inter wenigstens erholt sich gerade.

Sie teilen sich auch ein Stadion, das erwähnte Giuseppe-Meazza-Stadion im Stadtteil San Siro, wo das Vorspiel zum Papermoon stattfindet. Giuseppe Meazza war in den Dreißiger­jahren ein ungemein treffsicherer Mittelstürmer in der italienischen Nationalmannschaft, der im Laufe seiner Karriere sowohl für die Nerazzuri (die Schwarz-Blauen von Inter) wie für die Rossoneri (die Rot-Schwarzen von Milan) aufgelaufen ist. Leider bröselt diese Arena vor sich hin, ist marode. Ein ehemaliger Palast mit Verfallsdatum. Eine Modernisierung macht keinen Sinn mehr, es wird ein neues Stadion gebaut – auch das gemeinsam. Die Vereine werden Eigentümer sein, nicht die Gemeinde. Ich bin gespannt. Es kann nur besser werden. Vor allem die Anbindung ans richtige Leben! Denn: Das San Siro ist mir bei all den Reminiszenzen und aller beeindruckenden Architektur nie wirklich ans Herz gewachsen.

Als Kommentatoren sind wir nach dem Spiel oft noch länger vor Ort, führen Nachbesprechungen mit dem Team. Dann kommt man dort nur mühsam weg. Regelmäßig droht die Gefahr, nachts im Nirgendwo dieser weiten Alleen in Stadionnähe zu stranden. Überall anders kenne ich einen Ausweg, rund um das San Siro aber wird es schwer: Regelmäßig ist kein Taxi weit und breit zu bekommen. Was habe ich dort schon um das Nachspiel im Papermoon gebangt! Aber es hat dann doch noch immer irgendwie geklappt.

Dabei gibt es kaum ein Stadion, in dem ich so viele große Partien erleben durfte. Angefangen mit dem „Wunder von Mailand“, das den Bayern im Dezember 1989 gelang. Zu Hause, im Münchner Olympiastadion, hatten sie das Achtelfinal-Hinspiel im UEFA-Cup gegen Inter Mailand 0:2 verloren – eine klare Sache demnach, damals war Inter noch eine große Nummer. Umso bitterer für die Münchner, weil bei den Italienern ihre ehemaligen Spieler Lothar Matthäus und Andy Brehme mitmischten. Die Nerazzuri waren über Jahre die Adresse für deutsche Spieler im Ausland – weil sie hier geschätzt wurden wie nirgendwo anders. Von Hansi Müller („Ansi Muller“) schwärmt man noch heute unterhalb des Doms. Von Karl-Heinz Rummenigge (Kalle Rummenig“), der so schnell und so gut italienisch parlieren konnte, sowieso. Und von Jürgen Klinsmann.

Vermeintlich chancenlos also reisten die Bayern zwei Wochen später ins San Siro. Inter freute sich auf ein Schaulaufen. Und dann verblüffte die Elf von Trainer Jupp Heynckes die Interisti – und alle Augenzeugen. Roland Wohlfarth, Klaus Augenthaler und Jürgen Wegmann schossen binnen acht Minuten ein 3:0 heraus, am Ende hieß es 3:1. Torhüter Raimond Aumann hielt nach der Pause alles – eines seiner besten Spiele, wenn nicht sogar sein bestes. Nach Abpfiff aber wurde es unschön. Augenthaler bekam im Kabinengang ein paar Tritte ab. Brehme und Matthäus waren geschockt, Lothar soll in der Kabine sogar geweint haben.

Ein Jahr später war alles wieder gut. Matthäus führte die DFB-Elf als Kapitän bei der WM 1990 zum WM-Titel. Fünf Partien fanden im San Siro statt, Heimspiele für die deutsche Mannschaft. Mailand richtete das Eröffnungsspiel aus, mit Béla Réthy als Assistenten durfte ich Argentinien gegen Kamerun kommentieren. Kamerun war gegen den amtierenden Weltmeister um Diego Maradona der krasseste Außenseiter. Nach etwas mehr als einer Stunde führten die Schwarzafrikaner sensationell mit 1:0, doch dann ging ihnen die Luft aus. Und das Timing flöten. Sie waren weder besonders gut austrainiert noch sonderlich clever bei ihren Tacklings. Sie rannten und rannten, hetzten Maradona und Caniggia wie die Hasen. Müde von der Jagd, kamen sie in den Zweikämpfen zu spät, trafen nur noch die Beine – bis der Schieds­richter gar nicht mehr anders konnte: Kinder, so geht es nicht! Nach der zweiten Roten Karte für einen Kameruner habe ich live on air gesagt: „Jetzt fällt mir das Lied von den zehn kleinen Negerlein ein.“ Ein Scherz, ein lockerer Spruch als Verweis auf ein Kinderlied. Daraufhin hat mir ein Kollege öffentlich Rassismus vorgeworfen (mir! Rassismus!), wollte mich zu einer Diskussion ins Studio laden. Leider kam es aus Termingründen nicht dazu. Punkt. Ende der Debatte. Heute, das ist mir klar, darf man sich so etwas nicht erlauben, sonst wirst du durch den medialen Fleischwolf gedreht. Damals habe ich mir keinen Kopf gemacht.

Ein anderes, ganz besonderes Spiel in Mailand habe ich abgespeichert unter „Kahn, die Bayern!“: das Champions-League-­Finale 2001 gegen den FC Valencia. Eine der wenigen Formulierungen, über die ich noch heute sagen kann: Ja, die ist mir gelungen. „Kahn, die Bayern!“ – nicht mal ein vollständiger Satz, aber besser konnte man kaum zusammenfassen, was in dem Moment unten auf dem Platz passiert war. Die Bayern hatten diesen verdammten Henkelpott endlich geholt, nach 25 langen Jahren des Wartens und Leidens. Also habe ich die Bilder, die Emotionen, den Jubel wirklich einmal wirken lassen. In würdiger Stille. Weil sich die Bayern erst im Elfmeterschießen befreien, mehr noch, erlösen konnten vom eigenen Schicksal. 1999 waren sie ja in Barcelona im Finale gegen Manchester United den sportlichen Sekundentod gestorben. 1:0 Führung, Nachspielzeit, zwei Ecken später 1:2 – Ende.

Ich habe diese bayerische Wiederauferstehung, die mich insbesondere für Trainer Ottmar Hitzfeld sehr gefreut hat, für Premiere kommentiert. Am Spieltag war ich mittags mit Günther Jauch und anderen ehemaligen Kollegen von RTL beim Essen. Und weil es ein recht warmer Frühsommertag in Mailand war, haben wir zum Essen viel getrunken. Mineralwasser! Soll man ja.

Etwa in der 75. Minute merkte ich dann, dass ich demnächst von all den Getränken wieder etwas loswerden müsste. Gut, ist ja bald Schluss, dachte ich. Aber es blieb beim 1:1, Verlängerung. In den wenigen Minuten Pause vom Kommentatorenplatz zur Toilette und zurück? An all den Kollegen vorbei in den engen Sitzreihen? Und alle nerven, die dann aufstehen müssen? Nicht machbar, nicht zu schaffen. Utopisch.

Die 30 Minuten Hoffen und Bangen auf dem Rasen galten also auch für mich, jedoch in einem anderen Aggregatzustand. Mindestens 15 Minuten der Verlängerung kommentierte ich im Stehen, von einem Bein aufs andere tanzend. Ich zog alles zusammen, was man zusammenziehen kann. Zwischendurch dachte ich, es geht dahin mit mir. Halte durch, so wahr mir Gott helfe! Oliver Kahn half. Als er den letzten Elfer hielt, brach es aus mir heraus – in Worten. Dass ich durch dieses befreiende „Kahn, die Bayern!“ nicht in die Hosen pinkelte, ist mir ein Rätsel. Es war ein Wunder, mein Wunder von Mailand.

Und natürlich mein letztes Spiel für Sky. Mai 2016, Real Madrid

im Derby-Finale gegen Atlético. Es fühlte sich an, als hätte die UEFA dieses Finale nur meinetwegen, für mein Abschiedsspiel als Kommentator, nach Mailand vergeben. Das musste gebührend zelebriert werden. Meine gesamte Familie war dabei, die drei Söhne, Schwiegertochter und natürlich meine Frau. Also konnte ich mich wieder als Mailänder Oberbürgermeister aufspielen. Wir waren ein paar Tage vor Ort, arbeiteten alles ab: Duomo, Brera usw. Ach, Papa, nicht schon wieder. Doch. Irgendwann akzeptierten sie es. Mussten sie – war ja das letzte Spiel des Alten.

Am Ende stand es 1:1, wieder nach Verlängerung, dann gewann Real gegen die ewig Unglücklichen von Atlético im Elfmeterschießen. Cristiano Ronaldo versenkte den letzten Schuss. Zeigte, was er hat. Alles wie immer. Nicht für mich. Im Stadion riss ich mich noch zusammen, im Taxi kamen die Tränen. Ich sehe mich noch hinten im Wagen sitzen, wie ich mein Handy anschaltete, das ich auch bei diesem letzten Spiel wie üblich etwa eine Viertelstunde vor dem Anpfiff ausgestellt hatte. Bing. Bing. Bing. Pling. Pling. Pling. Eine Nachricht nach der anderen. Von Jupp Heynckes über Ottmar Hitzfeld bis Lucien Favre, dazu Kollegen, Weggefährten. Die ersten drei Nachrichten schluckte ich noch mannhaft, danach bekam ich feuchte Augen, stürzte mich von Nachricht zu Nachricht in ein melancholisches Elend. Als wir anhielten, natürlich vor dem Eingang des Papermoon, hatte ich mich gerade wieder gefangen. Meine Söhne raunten mir zu: „Wie? Du heulst gar nicht, Papa?“ Später bei Tisch natürlich noch einmal. Alles zu viel. Zu viel des Guten und des Sentimentalen.

Wie oft war ich beruflich in Mailand gewesen. Nicht nur im Stadion, für Dreharbeiten und Interviews auch im Trainingszentrum des Klubs in Appiano Gentile, nördlich von Mailand, Richtung Como. Aber stets nur auf Einladung. Denn öffentliches Training vor Fans oder Journalisten ist in Italien unbekannt. Dann und dann ist Pressekonferenz, und damit hat sich’s. Ansonsten ist Appiano Gentile Privatsphäre der Spieler und Trainer.

Mit Jürgen Klinsmann durfte ich in Mailand sogar einmal richtig auf „dicke Hose“ machen: Nach einem Mailänder Derby, über das ich fürs ZDF eine Zusammenfassung gefertigt hatte, war Klinsmann ins „Aktuelle Sportstudio“ nach Mainz geladen. Ein Linienflug war zeitlich aussichtslos, also gab es einen Privatflieger für zwei Passagiere: Klinsmann und mich als seinen Begleiter – das war Jetset!

Es ist mir gelungen – eigentlich, ohne es zu wollen oder mich gar groß anstrengen zu müssen –, meinen Milano-Virus weiterzugegeben. Meine Frauen waren und sind infiziert, meine Söhne auch. Unheilbar. Mag noch so viel anliegen, da können sich alle doch ein bis drei Tage freimachen.

Was Mailand angeht, bin ich wie ein Kolibri. Ich sauge Nektar, die unverdünnte Lebensfreude. Mindestens einmal im Jahr muss ich hin. Die Jahreszeit ist völlig egal. Gerade wenn es im Frühjahr und im Herbst kalt, feucht und vor allem neblig ist – rein wettermäßig im Grunde grässlich –, fühle ich mich so wohl wie sonst nirgendwo anders. Mein Vorteil: Ich bin schnell da, von Zürich dreieinhalb Stunden mit dem Zug. Eine Nacht reicht dann auch schon mal. Weil ich mich auskenne, verirre ich mich nicht, verplempere keine Zeit.

Morgens hin, rumschauen, rumlaufen, fantastisch essen, ein hübsches Hotel, am nächsten Mittag zurück. 24 Stunden Mailand im Schnelldurchlauf wie beim Auspressen einer Zitrone: nur das Beste. Als Injektion, als Druckbetankung für Hirn und Herz. Und wenn der Nebel kommt, blühe ich auf.

Und wenn man denn mal richtig Zeit hat: Die Po-Ebene ist gerade im Frühjahr oder im Herbst faszinierend schön. Raus aus Mailand, dann schnell runter von der Autostrada Richtung Turin oder Venedig und rein in eines der Provinzstädtchen links und rechts: Piacenza, Mantua, Brescia, Padua, Bergamo. Alle keine Stunde von der Metropole entfernt, jede für sich mit Historie, stolz und eigen, unverwechselbar. Eines haben sie jedoch gemeinsam: Hier holst du dir das Italien der Italiener. Pur, wenig touristisch, ein Fest für Auge und Gaumen.

Turin: Mal Nebel, mal „notti magiche“

In Turin ist mein erster Anlaufpunkt das Caffè Torino auf der Piazza San Carlo, direkt im Zentrum. Seit 1903 am Platze. Angeblich eines der ältesten Caféhäuser der Stadt, eine Institution. Nicht wundern, wenn Sie beobachten, wie selbst die feinsten Damen direkt vor dem Eingang auf den Boden stampfen. Sie begrüßen den in den Boden eingelassenen berühmten Stier von Turin mit einem herzhaften Tritt in die Lendengegend – soll Glück bringen.

Die Innenausstattung besteht aus viel Gold, Kronleuchtern, alles ist ein bisschen kitschig. Wenn das Wetter passt, sollte man sich am Abend unbedingt raussetzen, einen Aperitif unter den Arkaden bestellen, die wundervolle Piazza in der königlichen Altstadt genießen und die vor dem Caffè Torino entscheidende Frage verfolgen: Wer tritt wie fest auf den steinernen Stierhoden?

Zuletzt war ich mit meinem Sohn Nicki dort und habe ihm eine heiße Schokolade empfohlen. Das Muss für einen – okay, für meinen – Turinbesuch. Nicht überteuert, drei fuffzig. Ich warne ihn noch: „Das Ding heißt heiße Schokolade, weil es heiß ist,

glaub es mir einfach.“ – Ja, ja. Der erste kräftige Schluck – und der Sohnemann hängt unter der Decke.

Die Köstlichkeit wird fast kochend serviert, ist dickflüssig wie Lava. Weil es die Schokolade ansonsten nicht aus dem Glas schaffen würde, bekommst du einen Löffel dazu. Wenn du sie intus hast, bist du zumindest nicht unterzuckert. Schwere Kost, im Grunde ist das eine ganze Mahlzeit. Für mich jedes Mal ein riesiges Vergnügen. Wenn ich das Gesöff schlürfe, bin ich der glücklichste Mensch der Welt. Das Spiel – und deswegen sind wir ja hier – ist noch so weit weg. Und möge es bitte mithalten können mit so viel Vergnügen!

Eine andere Spezialität ist „Bicerin“, ein Heißgetränk aus einem starken Espresso, herbsüßer, heißer Schokolade und etwas crema di latte