Nachspielzeit - ein Leben mit dem Fußball - Marcel Reif - E-Book

Nachspielzeit - ein Leben mit dem Fußball E-Book

Marcel Reif

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Beschreibung

»Ich erinnere mich gar nicht so sehr an große Spiele, sondern an große Momente in manchmal auch kleinen Spielen ...« In seinem Buch blickt Marcel Reif zurück und nach vorne, erzählt kleine und große Geschichten vor und hinter den Kulissen des Fußballs, des größten Spektakels, das unsere Gegenwart zu bieten hat. Als Marcel Reif 1984 vom politischen Journalismus zum Sport wechselte, konnte niemand ahnen, in welchem Maße dieser Mann mit seinem ganz eigenen Stil, seiner Originalität und seinem Witz über Jahrzehnte die Berichterstattung in Deutschland über die Bundesliga und den internationalen Fußball prägen würde. In seiner Zeit beim ZDF, bei RTL und dann 17 Jahre bei Premiere/Sky hat Marcel Reif alles erlebt: die schwindelerregende Kommerzialisierung und Internationalisierung des Fußballs, das Aufkommen immer neuer Spielsysteme, die Explosion der Medienberichterstattung und der Bedeutung des Fußballs in unserer Zeit. Kein Reporter hat dabei so perfekt Unterhaltsamkeit mit scharfer Intelligenz, Schlagfertigkeit, Fachwissen und Eigenständigkeit des Urteils verbunden wie Marcel Reif. Für seine Arbeit wurde er mit Preisen überhäuft, aber auch immer wieder heftig attackiert, sei es von Clubverantwortlichen, von Trainern oder im Netz. Legendäre Ereignisse wie der »Torfall von Madrid« 1998 gehören zu seinen Erlebnissen ebenso wie hässliche Angriffe von »Fans« im Stadion.

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Seitenzahl: 209

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Macel Reif

Mit Holger Gertz

Nachspielzeit

Ein Leben mit dem Fußball

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Macel Reif

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

VorwortLegendenbildungMeine HeldenMaradona hinter MauernGretzkys AutogrammPelé bleibt unbeflecktSimeone der KolkrabeVerschenkte MomenteNach Abpfiff – ein Gespräch über das HinschauenTeamgeistSinn und Zweck des FC BayernFrei laufende BullenSinn und Zweck von Borussia DortmundNahe, fremde NebenmännerKrutow, Larionow, MakarowSendezeitenA propositoFalsche NeunSchnellinger – ausgerechnet SchnellingerDie Stille nach dem SchussEmotionen in Pjöngjang»Du säufst zu viel!«Der Pimmel vom Papst – eine Unterhaltung über das NetzPlatzstürmeUuuh – das Echo der Europameisterschaft 2016GeldmeisterschaftGesetzbuch des PokalsFrevelGesichter hinter GlasTrophäenschrankElfmeterAm Nebentisch der PapstScusi RudiAnderthalb TrikotsIhre Lieder, unsere LiederStoff der Träume – eine Fachsimpelei über FetischeNachspielzeitDanke, FußballMein Verein für immerCapo di NapoliFreundschaft und nicht nur FreundschaftIn der SchweizDas letzte SpielFanpost
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Vorwort

»Geschichten, die nur der Fußball schreibt«. Habe ich diese breitgetretene, abgestandene, eigentlich auf jeden Reporterindex gehörende Floskel auch gebraucht?

Ausschließen kann ich es nicht, die Versuchung gab es bestimmt mehr als ein Mal. Denn Geschichten hat mir der Fußball geliefert, viele. Kein Wunder, ich habe ungefähr 1500 Spiele kommentiert. Allerdings muss man diese Geschichten erst mal selbst sehen, erkennen, spüren und erzählen. Genau das habe ich ein ganzes Reporterleben lang versucht. Allerdings ist Kommentieren eine sehr luftige Kunst, kaum ausgesprochen, ist alles auch schon wieder verflogen. Und jetzt also aufschreiben … Als die Idee zu diesem Buch entstand, habe ich sehr bald und sehr bestimmt gemerkt, dass das nicht mein Metier ist.

Holger Gertz kenne ich schon ein paar Jahre, seine Arbeit noch länger: ein begnadeter Storyteller, Journalist im besten Sinne, Seite 3 bei der Süddeutschen Zeitung, mehr geht nicht. Mit Holger hatte ich schon ein paarmal für seine Zeitung an Geschichten gearbeitet. Jedes Mal, wenn ich sie dann schwarz auf weiß gedruckt las, hörte ich mein eigenes Echo: Rhythmus, Tenor, Tonfall, Nuancen, fast beängstigend. Mehr noch – aus meinen Versatzstücken, selten nur chronologisch oder gar strukturiert geliefert, hatte er das ganze Bild gesehen und nachgezeichnet. Immer wieder dachte ich: Genau so geht die Geschichte, genau so gehört sie erzählt. Nicht selten hat er mir überhaupt eröffnet, dass da eine ist. Er hat gefragt, präzisiert, zurechtgerückt. In drei Kapiteln des Buchs haben wir einfach unseren Dialog wiedergegeben. Da spüren Sie dann, wie gut wir uns verstanden haben und wie dieses Buch auf der Basis von Gesprächen entstanden ist, ein Buch, das ohne Holger nicht möglich gewesen wäre.

Ich selbst habe dabei nicht weniger als eine Ahnung davon bekommen, welche Bedeutung der Fußball in meinem Leben und für mein Leben hatte und unvermindert hat. »Ist am Ende nur Fußball« – das habe ich immer wieder gesagt, vielleicht, weil ich diesem wunderbaren Spiel der großen und kleinen Jungs nicht so ganz trauen, nicht mehr zutrauen mochte. Heute weiß ich es besser: Ohne Fußball hätte ich mein Leben nicht gelebt, wäre ich nicht der, der ich geworden bin. Es ist und bleibt eine große Liebe. Wehe, irgendwer oder irgendwas macht sie mir kaputt. In letzter Zeit ist aber immer öfter eine gewisse Furcht in mir hochgekrochen. Dass das viele Geld, der Gigantismus, die Gier sich irgendwann verbinden könnten zu einem tödlichen Gift für die weltweite Fußballbegeisterung. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken: Wenn es so kommt, möchte ich das nicht mehr erleben.

Albert Camus hat gesagt: »Alles, was ich im Leben über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe, verdanke ich dem Fußball, verdanke ich meinem Klub.« Nicht wirklich kleine Münze.

Aber ich glaube Camus jedes Wort. Und so ist dieses Buch letztlich mein Buch, von mir für mich. Es erzählt meine Geschichten, die »nur« der Fußball schrieb.

 

Marcel Reif, im Dezember 2016

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Legendenbildung

Begegnungen mit Spielern und Menschen

Meine Helden

Vielleicht erwarten manche von einem Buch wie diesem, dass darin Helden besungen werden. Held ist ein strapazierter Begriff, gerade wenn es um Sport geht, um Fußball. Und viele Menschen, die ich getroffen habe und von denen ich hier erzähle, sind irgendwann mal Held genannt worden, von Einzelnen und manchmal auch von der ganzen Welt: Beckenbauer. Maradona. Pelé. Cruyff. Magic Johnson. Joe Montana. Schau bei Google nach. Alles Helden.

Ich habe länger überlegt, wer warum ein Held für mich ist. Ich habe meine Kommentare und Berichte noch mal in Gedanken daraufhin abgehört, ob ich jemanden je Held genannt hätte. Es wird schwer werden, den Beweis zu führen, dass ich es nicht getan habe: TV-Sportreportagen und Fußballkommentare werden in der Regel nicht konserviert, es gibt kein Archiv, in dem man einfach so nachschauen könnte. Kommentieren ist eine flüchtige Kunst, du sagst was für den Moment, und danach verhallt es. Außer es fällt ein Tor um. Aber es ist selten, dass so etwas passiert.

Dass ich bewusst und in Vollbesitz meiner geistigen Kräfte mal jemanden Held genannt hätte? Mein Held? Ich kann mich nicht erinnern. Und ich fühle das auch nicht. Um einen Menschen Held nennen zu können, müsste ich schon sehr vor ihm in die Knie gehen. Helden sind Menschen, die Übermenschliches leisten. Aber was wäre denn das Übermenschliche, das auf einem Fußballplatz zu leisten wäre? Ich konnte selbst ganz ordentlich kicken, sodass ich auch bei den großen Champions-League-Spielen nicht stumm vor Überraschung oder Entsetzen war: Okay, das ist einer, der kann halt Dinge, die kann ich nicht und konnte ich nie. Respekt. Staunen. Anerkennung. Das war es, auf diese Begriffe könnte ich es bringen.

Franz Beckenbauer zum Beispiel war für mich kein Held. Lichtgestalt, Kaiser? Kauf ich alles. Aber nicht Held. Ich habe lange mit ihm bei Premiere und Sky zusammengearbeitet. Er war für mich eine Persönlichkeit, mit entsprechendem Charisma. Jemand, der viel geleistet hat, der dabei geerdet und menschlich geblieben ist. Und der vielleicht gerade bei der Vergabe der Weltmeisterschaft 2006 vergessen hat, was ihm vorher immer bewusst war: dass er nur ein kleiner Junge aus Obergiesing ist, mit einem Lebensglück, das niemand auf die Probe stellen sollte, nicht mal er. Ich will nicht kleinreden, was ans Licht gekommen ist, großartige Recherchen, Chapeau. Aber wenn ich sehe, wie schnell es geht, dass einer vom Helden zum Aussätzigen wird in der Sicht der Menschen, die über ihn reden – sorry, da schnürt es mir den Hals ab. Wenn ich Beckenbauer vor mir sehe, nach den Enthüllungen, und mich frage, wie ich mich jetzt mit ihm und seiner Geschichte fühle – dann merke ich: Ich kann nicht einfach drauflosblöken und mich entsetzen und entrüsten. Dafür habe ich selbst zu viel angestellt. Selbst an der falschen Stelle Hurra geschrien. Selbst Leute verletzt, enttäuscht. Und dafür bezahlt auch, mit Seelenqualen.

Um bei der Gelegenheit meine intellektuelle Belastbarkeit unter Beweis zu stellen: Gelobt sind die Zeiten, die keine Helden brauchen. Hat Brecht gesagt. Trotzdem gibt es diese Sehnsucht nach Helden. Und trotzdem fragen mich Journalistenkollegen, wenn sie mich nach Beckenbauer fragen, gerne nach meinem Verhältnis zum gefallenen Helden. Nur: Wenn ich einen gefallenen Helden beschreiben soll, muss ich ihm ja vorher ein Podest gebastelt und ihn als Held verstanden haben. Das war er nicht, für mich nicht. Das war nicht mal Co Prins damals in Kaiserslautern, der tief geliebte und verehrte Fußballer, der immer das Trikot über der Hose hängen hatte. Obwohl: Der war schon ziemlich kurz davor, mein Held zu sein. Aber ich war damals erst 14.

Ich bin in Waldenburg geboren, in Polen, heute heißt das Wałbrzych. Danach Umzug mit meiner Familie nach Warschau, dann nach Tel Aviv, dann nach Kaiserslautern. Ich war ein Kind. Warum wir von da nach da gezogen sind, habe ich mir erst danach erschlossen oder erschließen müssen. Zum Beispiel, dass in den Fünfzigern in Polen wieder Antisemiten unterwegs waren und meine Eltern eher gestern als morgen nach Israel gehen mussten. Und dann nach Deutschland. Warum? Weil mein Vater da die besten Chancen für sich und die Familie sah, wahrscheinlich. Mein Vater war Tuchhändler, ein feiner Herr, Geschäftsmann. Der bügelte seine Hemden selbst, weil meine Mutter das angeblich nicht gut genug konnte. Sie nannten ihn den schönen Leon.

Mein Vater hat nie von dem erzählt, was er im Krieg erlebt hat. Er war Jude, und er konnte sehr witzig sein, auch auf eine jüdische Art witzig. Ich erinnere mich an eine Autofahrt, die erste Ampel rot. Du hast gemerkt, wie es in ihm arbeitet. Zweite Ampel rot. Da kocht der schon. Dritte Ampel rot. Da fährt er einfach weiter, fährt über die Kreuzung. Ich sage: »Hast du einen Vogel?« Und er sagt: »Jede Ampel rot? Das ist Antisemitismus. Nicht schon wieder – nicht mit mir.«

Mein Vater konnte ironisch sein, sogar albern, aber er tauchte auch immer wieder in Depressionen ab. Man nannte das damals nicht so, man sagte: Der und der ist traurig vom Krieg. Was ihn traurig machte, erzählte er nicht. Was hätte gesagt werden müssen oder gesagt werden können, blieb ungesagt.

Im Alter wurde das nicht anders, er hatte allerdings einen sehr eigenen Weg gefunden, sich den Diskussionen zu Hause zu entziehen. Mein Vater hatte ein Hörgerät, das hat er abgeschaltet, wenn ihn das Gerede langweilte. Er hatte sich aber offenbar Fähigkeiten in der Disziplin Lippenlesen angeeignet. Wenn er das Gefühl hatte, die Debatte entwickle sich in eine Richtung, die seine Expertise erfordert, drehte er das Ding wieder auf, das machte einen Höllenlärm, wie wenn man bei voller Lautstärke den Sender im Radio einstellt.

Ich glaube, er hat mit mir und meiner Schwester über die Zeit im Krieg nicht geredet, damit wir in Deutschland möglichst unvoreingenommen leben konnten. Das Land der Täter sollte uns nicht wie das Land der Täter vorkommen. Wir sollten nicht in jedem Postboten, der uns anknurrt, einen ehemaligen KZ-Aufseher sehen. Mein Vater hat geschwiegen, um es uns leichter zu machen.

Wenn das so war, fände ich das jedenfalls ziemlich heldenhaft. Aber weil wir darüber nicht geredet haben, bleibt das meine Interpretation, und sie ist nicht tausendprozentig wasserfest.

Grundsätzlich war die Geschichte meiner Familie eine große Wüstenei. Geraune, Versatzstücke. Meine Mutter, schlesische Katholikin, hatte in Kattowitz gelebt, während des Krieges wurde ihr Vater denunziert, er hatte Feindsender gehört. Da wurde er mitgenommen, auf der Straße haben sie ihn angehalten, und er kam nicht mehr nach Hause. Kam einfach nicht mehr. War weg. Und die Eltern meines Vaters, seine jüngste Schwester? Wo waren die? Ich erinnere mich daran, dass ich meinen Vater irgendwann angeblafft habe, als er wieder seinen Durchhänger hatte und nicht erreichbar war: Er soll sich mal zusammenreißen, wenigstens für seinen Enkel. Da hat meine Mutter mich angeschaut und sehr bestimmt gesagt: »Du weißt ja gar nichts!« Ein kurzer Ausbruch. Sonst hat auch sie nichts erzählt. Sie war im Schweigen die Komplizin meines Vaters.

Selten wurde das Schweigen zu Hause auf die Probe gestellt. Ende der Siebziger kam die amerikanische Serie »Holocaust« im Fernsehen, mehrere Teile, wochenlang wurde über diese Serie in ganz Deutschland geredet, aber nicht bei uns. Das Schweigen hielt, das Schweigen war belastbar. Mein Vater schaltete den Fernseher aus, wenn Berichte von damals kamen, und ich habe das übernommen. Noch heute, wenn sie Schwarz-Weiß-Bilder aus Konzentrationslagern zeigen: Ich zappe weg. Ich kann es nicht ertragen.

So haben wir gelebt. Gegenwart und Zukunft – keine Vergangenheit.

Erst 2004 haben wir uns hingesetzt, wie das bestimmt viele Familien irgendwann tun, mein Vater war da schon zehn Jahre tot. Und ich hatte das Gefühl, dieses innere Stillschweigeabkommen, das er mit meiner Mutter geschlossen hatte, sei abgelaufen. Wir saßen zwei Tage, ich habe alles gefragt, das war dramatisch und schmerzhaft. Ich habe geheult, meine Mutter hat geheult, sie hat gezögert, neu angesetzt. Einerseits war sie mürbe, manchmal so wie Jack Nicholson in diesem Film Eine Frage der Ehre. »Die Wahrheit wollen sie wissen? Sie können die Wahrheit doch gar nicht ertragen.« Aber dann hat sie doch losgelassen, und sie erzählte. In einer dieser Geschichten ging es um die polnische Stadt Borysław, wo die Familie meines Vaters lebte. Irgendwann sagte sie: »Der Papa war ja in Borysław schon auf dem Weg ins Vernichtungslager. Und da hat ihn ein großer deutscher Mann, dieser Beitz, gerettet.« Ich habe die Tiefe der Geschichte damals gar nicht überrissen, und der Name Beitz war erst mal nur ein Name. Wichtig war: Mein Vater hatte überlebt.

Jahre später klingelt bei mir das Telefon, eine befreundete Verlagsmitarbeiterin ist dran. Während irgendeiner Plapperei hatte ich ihr gegenüber diesen »großen deutschen Mann« wohl mal erwähnt. »Marcel, ich glaube, ich habe was für dich.« Sie schickt mir die Druckfahnen eines neuen Buches, ein paar Stellen hat sie markiert. Ich lese da rein, und dann verdichtet sich alles. Die Erinnerung meiner Mutter, der Name des Retters, die Dramatik der Rettung. Ich lese, und mir wird unabänderlich und beyond any doubt klar: Das ist die Geschichte meines Vaters.

Die Passage: »So viele Jahre sind vergangen, seit ein 28-jähriger Industriekaufmann auf dem Bahnhof der kleinen polnischen Stadt Borysław gestanden und mit bewaffneten SS-Männern um das Leben vieler Menschen gerungen hatte, inmitten apokalyptischer Szenen aus Befehlsgeschrei, dem Gebell der Wachhunde, dem Weinen der Kinder, den verzweifelten Schreien der Menschen, die in Viehwagen deportiert wurden, fort in den Tod.«

So stand es in der Biografie von Berthold Beitz, dem ThyssenKrupp-Patriarchen. Er war der große deutsche Mann, von dem meine Mutter erzählt hatte. Bahnhof Borysław. Das Leben vieler Menschen. Keine Frage, der war es.

Beitz war im Krieg Leiter einer Raffinerie nahe Lemberg in der heutigen Ukraine, wo meine Familie herstammt. Mein Vater war ein junger Kerl, 18 Jahre. Der Zug, in dem er saß, hätte ihn in den Tod gefahren. Aber da war Beitz, er sagte: »Die fahren nicht weiter, ich brauche diese Leute für kriegswichtige Arbeit.« Hunderte Juden hat er auf diese Weise gerettet.

Ich habe das gelesen, und nachts habe ich mich dann hingesetzt und Beitz einen Brief geschrieben. Ob ich darin den Begriff Held benutzt habe? Ich habe jedenfalls geschrieben, dass ich ihn für eine Zierde der Menschheit halte. Drei Tage später ruft mich sein Büroleiter an: Herr Beitz würde sich sehr freuen, wenn ich in die Villa Hügel kommen könnte, er und seine Frau würden da geehrt, Staatspreis von Nordrhein-Westfalen.

Ich fahre dahin, großes Zeremoniell, irgendwann geht im Festsaal die Tür auf. Und wir reden hier von Türen. Nicht von Türchen. Beitz tritt ein und hat seine Frau am Arm. Ein Baum von einem Mann, schlank, perfekt angezogen. 98 Jahre alt. Ich stehe so an der Seite, da schleicht der Büroleiter ran und sagt: »Kommen Sie mit.« Und Beitz sieht mich, geht ein, zwei Schritte auf mich zu und sagt dann leise zu seiner Frau: »Ich kannte den Vater von dem Mann.« Er gibt mir die Hand, ich fange an, irgendwas zu stammeln, aber ich bringe nichts Vernünftiges raus. Da legt er mir die Hand auf die Schulter und sagt: »Es ist gut.«

Ich durfte dann am Tisch mit seinen Kindern sitzen, eine sehr schöne Feier, sein Arzt hat mit mir geredet. Ich habe ein, zwei Häppchen genommen, bin dann aber schnell wieder gefahren. Ich war erschlagen, von der Größe des Mannes und von der Größe des Moments. Die Begegnung mit einem Menschen, ohne den es einen selbst nicht geben würde.

Beitz ist mit 99 gestorben, auf Sylt. Er hatte da ein Ferienhaus, in Kampen. Es war im Sommer 2013, ich war da selbst auf Sylt, bei Freunden. Ich hatte mir noch überlegt, Beitz mal abzupassen auf einem seiner Spaziergänge. Ich wusste, dass er sich mit Spaziergängen fitmachen wollte für seinen hundertsten Geburtstag, ich hätte bestimmt rausgefunden, wo genau er geht. Aber das wäre mir übergriffig vorgekommen. Ich bin nicht der Typ, der sich den Leuten in den Weg stellt, ich konnte das nie.

Jedenfalls schaue ich mir gerade eine Ausstellung in Kampen an, da klingelt das Handy, ein Journalist von einer Zeitung ist dran: Herr Beitz ist gestorben, auf Sylt. »Ich bin selbst gerade auf Sylt«, sage ich, und dann ist das Gespräch schnell vorbei.

Beitz’ Frau hat im Krieg jüdische Kinder versteckt, er hat Juden das Leben gerettet. Die haben beide alles dafür getan aufzufliegen. Ein Wink, ein Hinweis, ein Zungenschlag, dann wären die Nazis gekommen und hätten gesagt: Es ist genug jetzt, wir wissen, was Sie hier treiben. Und sie hätten ihn am höchsten Baum aufgehängt.

Weil es um Helden geht: Das ist für mich Heldentum. Wenn jemand – wissend, dass ihn das sein Leben kosten kann – sich so für das Leben von anderen einsetzt.

Ich will nicht sagen, dass ich die Geschichte meiner Familie bei jedem Stadionbesuch im Hinterkopf gehabt hätte, aber in der Unterströmung trägst du sie immer mit dir, und es ist dir nicht immer bewusst, dass sie deinen Blick auf die Welt verändert, aber sie verändert deinen Blick auf die Welt.

Mein Vater, mein stiller Vater. Und Berthold Beitz. In Relation zu denen dann auch noch auf dem Fußballplatz Helden finden zu sollen, das ist ein bisschen viel verlangt.

Maradona hinter Mauern

Alles fing an bei meiner ersten Weltmeisterschaft in Mexiko 1986, Diego Maradona war schon groß und wurde dann noch größer durch die zwei Tore gegen England: das schönste aller Zeiten, wo er von der Mittellinie startet und dreiunddreißig Männern Knoten in die Beine spielt, gordische Knoten, die auch nach dem Schlusspfiff nicht mehr zu entwirren sind. Und das andere, das war ja in Wahrheit nicht er, sondern Gott. Mit der Hand.

1986 war ich zwar auch schon gelegentlich Kommentator, aber vor allem war ich noch der, der die braven Filme macht, Vorberichte fürs ZDF. Fahr doch mal zu den Argentiniern und sieh zu, dass du ein Interview mit Maradona kriegst. Ich sage: »Ihr habt sie nicht alle, ein Interview mit Maradona. Der gibt kein Interview, und schon gar nicht irgendeinem deutschen Kasper.« Trotzdem, ein Versuch. Nach dem Training wird er von seinen PR-Leuten noch mal auf den Platz geschleppt, wo die Weltpresse auf ihn wartet. 1986 war alles noch überschaubarer als heute, aber bei Maradona war schon damals nichts mehr überschaubar. Die Leute stehen sich auf den Füßen, Mikrofone, Kameras, Kabel, über allem dieses ganz typische Geruchsgemisch, das Journalistentrauben absondern. Bisschen Schweiß. Bisschen alter Zigarettenqualm. Bisschen Muff von länger nicht mehr gewaschenen Funktionsklamotten. Bisschen Knoblauch von der preiswerten Mahlzeit am Abend davor. Es treffen also zusammen: einerseits die olfaktorisch herausfordernde Weltpresse, fremdsprachlich überfordert. Englisch, oft sogar gebrochenes Englisch, sonst nichts. Andererseits der frisch geduschte Maradona, ein Junge auf dem Sprung. Das, was sich alle schon vor Jahren von ihm versprochen haben, löst er gerade ein. Er schwebt. Und von unten quasseln alle auf ihn ein. Er schaut auf sie runter, wie man halt schaut, wenn man aus Villa Fiorito kommt. Unsicher, ratlos. Vielleicht auch schon ein bisschen arrogant. Ich drängle mich vor und sage auf Italienisch: »Diego, können wir ein paar Worte reden?« Der kennt mich nicht, ich bin dem egal, aber er hört, dass ihn einer anspricht in einem Idiom, mit dem er was anfangen kann. Und dann winkt der mich ran, das Meer teilt sich, die versammelten Troglodyten der Weltpresse traben zur Seite, und ich gehe da so durch, bis nach vorne, und dann reden wir kurz.

Paar Jahre später. Er spielt in Neapel, ich verhandle mit seinem Berater, es geht wieder um ein Interview, vor dem Europapokalfinale gegen den VfB Stuttgart. Der Berater sagt: »Du hast doch mal mit dem ein Interview in Mexiko gemacht, kann sein, dass er das noch weiß. Also, komm zum Training.«

Du fährst dann dahin, du fährst in Neapel auf das Trainingszentrum zu, und es ist, als würdest du auf Stammheim zufahren. Graue Stahltore. Mauern. Kein Fenster, keine Lücke, alles blickdicht.

Es dauert. Es dauert ewig. Endlich kommen wir rein, die trainieren, und am Trainingsplatz sitzt eine Frau, eine Nanny offensichtlich, mit einem kleinen blonden Mädchen. Die beiden schauen den Spielern zu. In Italien gibt es keine Trainingskiebitze. Dass da Fans beim Training rumstehen: völlig undenkbar. Draußen, vor der Schranke, können die warten, und wenn die Spieler dann mit ihren Autos rausfahren, haben sie vielleicht Glück und kriegen ein Autogramm durchs Autofenster gereicht. Mehr Kontakt gibt es nicht. In Rom habe ich mal Bruno Conti beobachtet, ein super Fußballspieler, aber nicht viel größer als eine Waschmaschine. Der hatte eine gewaltige Mercedes-Limousine, und als er aus dem Trainingszentrum rausfuhr, hast du ihn nicht gesehen in dem Auto, er war zu klein. Der Mercedes von Bruno Conti sah aus wie das erste selbst fahrende Auto der Welt.

Wir schauen also beim Training von Maradona zu, und als das Training vorbei ist, rennt das kleine Kind vom Spielfeldrand auf den Platz, rennt auf Maradona zu. Denn das Mädchen ist seine Tochter, Dalma. Maradona nimmt das Mädchen auf den Arm und ist für einen Moment nicht Maradona, sondern nur der Papa mit seinem Kind. Und da habe ich den Instinkt: Wenn, dann gehen wir jetzt dahin. Der Pressekasper hält die Luft an, aber wir gehen auf Maradona zu, der wusste ja, dass es ein Interview geben soll. Wir haben ein langes Mikro dabei mit diesem Fellding drüber, so ein Windschutz, das halten wir in deren Richtung, und da fängt das kleine Mädchen an, mit diesem Fellteil zu spielen. Es war zwei, drei Jahre alt, höchstens. Und ich rede mit Maradona, italienisch, rede mit ihm über seine Tochter, über Kinder, mein Sohn war damals auch noch ziemlich klein, wir kriegen ein schönes Interview mit einem echten Menschen. So eins, in dem der auch nicht das Bedürfnis hatte, mir den SSC Neapel oder die Welt oder sonst irgendwas zu erklären. Das ging beiläufiger, die andere Ebene war wichtiger, die einzige Ebene, auf der wir uns treffen konnten. Vater sein, Kinder haben.

Sagt der Berater: »Wollt ihr nicht noch ein paar schöne Bilder? Passt auf, aber ihr sagt das niemandem: Morgen früh, halb acht, geht Diego zu einem Kumpel auf ein Boot. Wir treffen uns unten am Jachthafen, und dann fahren wir raus. Wenn ihr wollt, könnt ihr mitkommen, da könnt ihr drehen.«

Wir fahren am nächsten Morgen artig hin, und es stehen fünfhundert Menschen am Hafen. Irgendjemand hatte seine Fresse nicht halten können. Maradona kam erst gar nicht, seine Leute hatten ihn angerufen: Vergiss es, hier steht halb Neapel.

Da ist er natürlich zu Hause geblieben, sein Haus war ungefähr so abgeschirmt wie das Trainingszentrum. Er lebte hinter Mauern. Der wurde nach dem Training von einer Polizeieskorte nach Hause begleitet, du dachtest, der Papst ist in der Stadt. Er konnte in kein Restaurant gehen, aber wirklich in keins. Kein Kino, kein Restaurant. Nichts. So hat Maradona gelebt, und dass du da mit 23, 24, 25 langsam zu koksen anfängst – das ist nicht empfehlenswert, aber nachvollziehbar.

Der Unterschied zwischen einem normalen Star in der immer noch recht geerdeten Bundesliga und einem Superstar in Italien ist gewaltig, hier ist es Bewunderung, da ist es Anbetung. Hier schreien sie, wenn Ribéry kommt, da weinen sie, wenn Maradona ihnen erscheint. Einmal habe ich ein Transparent selbst gesehen, quer über die Straße gespannt, in einem ärmeren Viertel von Neapel. Es war die Zeit, als ein paar Intellektuelle darüber debattierten, ob es nicht obszön sei, dass Maradona so viel verdient, ausgerechnet in Neapel. Die Antwort der Menschen stand auf diesem Bettlaken: »Es ist schöner, mit Maradona zu hungern als ohne ihn«.

Das andere hat man mir erzählt, die berühmte Aufschrift auf einer Friedhofsmauer, als Neapel mit Maradona 1987 Meister geworden war. Auf der Mauer dieser Satz: »Ihr wisst ja nicht, was euch entgangen ist«.

Werd mal damit fertig, als kleiner Junge aus Villa Fiorito. Ich kann verstehen, dass es ihn rausgehauen hat, besser: Ich kann mir vorstellen, warum. Drogen, Fresserei, fast draufgehen. Wir alle können es uns nur vorstellen, und das ist auch ein Teil des Problems, oder es erklärt die Verlorenheit solcher Über-Stars. Auf Augenhöhe reden kann einer wie Maradona mit niemandem, weil niemand wirklich weiß, wie es sich anfühlt, Maradona zu sein. Als Maradona bist du immer alleine.

In Buenos Aires haben sie diesen Markt im Stadtteil San Telmo, Antiquitäten, aber auch Nippes, und an die Hauswände ist Maradona gesprüht, in jung oder alt, Maradonagesichter in allen Aggregatzuständen. Als ich das erste Mal da war, habe ich eine kleine Skulptur gekauft, die kleinste Skulptur des größten Fußballers. Maradona macht das Tor gegen England, mit der Hand, sie haben die Szene aus Streichhölzern nachgebaut, Maradona ist ein Streichholz, und der englische Torwart Shilton ist ein Streichholz. Aber in der Art, wie die Streichhölzer gegeneinanderstehen, kann man erkennen, welcher Moment das ist. Das steht in meinem Büro. Jeder, der es sieht, sagt: die Hand Gottes.

Diesen Moment hat Maradona den Leuten geschenkt.

Ich habe das Spiel mit der Hand Gottes nicht live gesehen, obwohl ich damals ja bei der WM