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Access to the health-care system is difficult for people with autism spectrum disturbances as a result of many obstacles. Medical care for many of those affected and their health situation are therefore inadequate. This book provides helpful ideas on how to make collaboration successful for everyone involved. Numerous areas that are necessary for leading a healthy life are discussed: in addition to diagnosis, symptoms and treatment options, special aspects of medical care for people with autism are also presented in relation to a wide variety of barriers. Frequent accompanying illnesses and crisis situations are taken into account, as well as a generally healthy lifestyle, the need for sports and exercise, and autism in transitional periods such as puberty and in the elderly. The book provides an overview of measures for achieving barrier-free access in the various areas of life (school, work and professional life, accommodation, everyday life, friendships, etc.) and offers tips for individuals who are affected, for their relatives and for medical specialists.
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Seitenzahl: 373
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Cover
Titelei
Vorwort und Einleitung: Autismus und Gesundheit
Menschen mit Autismus und das Recht auf Gesundheit
Gesundheit und Krankheit bei Menschen mit Autismus
Zu diesem Buch
Vorsorge und Gesundheitsförderung
Psychoedukation
Was ist Autismus und welche Formen gibt es?
Häufigkeit und Ursachen
Diagnostik
Möglichkeiten der Behandlung und Unterstützung
Verlauf
Hygiene
Körperhygiene
Geschlechtsspezifische Hygiene
Hygiene im Alltag
Gesunde Lebensführung und Sport
Ernährung und Körpergewicht – Problematik
Gesunde Ernährung – mögliche Hilfen
Gesunde Ernährung – allgemeine Empfehlungen
Sport – Problematik
Motorische Auffälligkeiten
Sport und Bewegung – mögliche Hilfen
Bewegung im Alltag
Sexualität
Sexualberatung
Ich als Frau / Ich als Mann
Masturbation
Liebe und Partnerschaft
Sexualkontakte
Empfängnisverhütung, »Safer Sex« etc.
Kinderwunsch und Elternschaft
Sexueller Missbrauch
Wahrnehmungsbesonderheiten
Sinneswahrnehmung
Reizüberflutung
Allgemeine Maßnahmen bei Reizüberflutung
Therapeutische Maßnahmen bei Reizüberflutung
Körperwahrnehmung
Detailwahrnehmung
Stress und Entspannung
Ursachen und Folgen von chronischem Stress
Stress bei Menschen mit Autismus
Sozialkontakte
Einsamkeit
Entspannung – allgemeine Maßnahmen
Entspannungsverfahren
Medizinische Vorsorgemaßnahmen
Impfungen
Früherkennungsuntersuchungen
Arbeitsmedizinische Aspekte
Resilienz und die Rolle der Angehörigen
Resilienz
Menschen mit Autismus und Resilienz
Die Situation der Eltern
Was können betroffene Eltern für sich tun?
Wie sollte das Umfeld reagieren?
Ambulante und stationäre medizinische Versorgung
Diagnostik einer Autismus-Spektrum-Störung
Ansprechpartner für eine Diagnose
Differenzialdiagnosen
Checkliste: mögliche Auffälligkeiten bei Erwachsenen
Was folgt nun? – Vorgehen nach der Diagnose
Spezialisierte (fachärztliche) Betreuung
Kontinuierliche Begleitung
Transition
Fachärztliche Versorgung in Krisen
Medikamentöse Behandlung
Allgemeinärztliche/zahnärztliche Behandlung
Besonderheiten der Arzt-Patienten-Beziehung
Probleme durch autismusspezifische Besonderheiten
Probleme bei der Terminvereinbarung und dem Aufsuchen der Praxis
Probleme bei Wartezeit vor Ort
Probleme bei der körperlichen Untersuchung
Probleme bei Kommunikation und Interaktion
Zusätzliche Probleme beim Zahnarztbesuch
Probleme auf Seiten des medizinischen Personals
Maßnahmen, um den Arztbesuch für Menschen mit Autismus zu erleichtern
Vorbereitung des Arztbesuchs und Maßnahmen bei Wartezeit in der Praxis
Untersuchungssituation, Kommunikation und Interaktion
Individuelle Maßnahmen
Lösungsansätze für Zahnarztbesuche
Selbstverständlichkeiten?
Psychotherapie/Autismusspezifische Therapie
Versorgungssituation und Anlaufstellen
Methoden
Wichtige Themenbereiche in der Therapie
Was müssen Therapeuten sonst noch beachten?
Möglichkeiten und Grenzen der Therapie
Ergotherapie
Allgemeines
Hilfe bei Wahrnehmungsbesonderheiten
Hilfe bei der Alltagsbewältigung
Selbsthilfe und weitere Maßnahmen
Selbsthilfe – Ziele und Besonderheiten
Selbsthilfe – mögliche Hürden und Maßnahmen
Selbsthilfe – häufige Themenbereiche
Sonstige therapeutische Konzepte
Weitere Maßnahmen
Krankenhausbehandlung
Häufige Schwierigkeiten
Mögliche Hilfen
Psychiatrische/Psychotherapeutische Kliniken
Häufige Begleiterkrankungen: Körperliche Erkrankungen
Epilepsie
Sonstige körperliche Erkrankungen
Häufige Begleiterkrankungen: Psychische Erkrankungen
Intelligenzminderung
Depressionen
Depressionen – Allgemeines
Depressionen bei Menschen mit Autismus
Möglichkeiten zur Vorbeugung
Ängste und Angsterkrankungen
Angsterkrankungen – Allgemeines
Formen von Angsterkrankungen
Angst bei Menschen mit Autismus
Zwänge, Zwangsstörungen, zwanghaftes Verhalten
Zwangsstörungen – Allgemeines
Zwangsphänomene bei Menschen mit Autismus
Psychosen
Psychosen – Allgemeines
Psychosen bei Menschen mit Autismus
Schlafstörungen
Schlafstörungen – Allgemeines
Schlafstörungen bei Menschen mit Autismus
Ursachen und Behandlung
Essstörungen
Essstörungen – Allgemeines
Essstörungen bei Menschen mit Autismus
Reaktionen auf schwere Belastungen/Anpassungsstörungen
Belastungsreaktionen – Allgemeines
Belastungsreaktionen bei Menschen mit Autismus
Sucht-/Abhängigkeitserkrankungen
Stoffgebundene Sucht
Nicht-stoffgebundene Sucht
Tic-Störungen
Tics – Allgemeines
Tics oder typisch autistische Verhaltensweisen?
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom
AD(H)S – Allgemeines
Symptomatik
Bewertung und Behandlung
Mögliche Ursachen für psychische Komorbidität: schwierige Lebenssituationen und Krisen
Übergang Schule – Beruf
Die Bewerbung begleiten
Individuelle Stärken nutzen
Besonderheiten beim Lernen
Schwierigkeiten im Arbeitsalltag
Hilfen im Arbeitsalltag
Arbeit und Beruf – Möglichkeiten
Mobbing und Aggression
Mobbing von Menschen mit Autismus
Fremdaggressives und selbstverletzendes Verhalten
Pubertät
Verlassen des Elternhauses und Wohnortwechsel
Älterwerden mit Autismus
Soziale Kontakte
Versorgung auf unterschiedlichen Gebieten
Emotionale Aspekte
Trauer, Tod und Sterben
Wechsel der Bezugspersonen
Barrierefreiheit im Alltag für Menschen mit Autismus
Wahrnehmung
Kontakt und Kommunikation
Kindheit und Schule
Studium
Arbeit und Beruf
Wohnen
Öffentliche Einrichtungen, Gesellschaft und Mobilität
Gesundheitspolitische Aspekte und Ausblick
Maßnahmen seitens der Gesundheitspolitik
Maßnahmen durch die Autismusverbände
Maßnahmen seitens der betroffenen Menschen
Anderssein als Chance
Allgemeines
Literatur
Die Autorin
Dr. Christine Preißmann ist Ärztin, Psychotherapeutin in eigener Praxis mit Schwerpunkt Autismus und selbst Autistin, hält Vorträge und schreibt Bücher für Betroffene, Angehörige und Fachleute.
2., aktualisierte Auflage
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2., aktualisierte Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-043084-6
E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-043085-3epub: ISBN 978-3-17-043086-0
Im Jahre 1948 wurde mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auch das Recht auf Gesundheit proklamiert. Es lautet vollständig: »Das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit«. Zentral geht es dabei darum, jedem Menschen einen diskriminierungsfreien Zugang zum Gesundheitssystem rechtlich zu gewährleisten, um ein Leben in Würde zu führen.
Das Recht auf Gesundheit ist also ein universelles Menschenrecht. Es gilt für alle Menschen, auch für alle Menschen mit Behinderungen, und schließt »das Recht ein, über die eigene Gesundheit und den Körper zu bestimmen, einschließlich der sexuellen und reproduktiven Freiheit, das Recht, frei von Eingriffen zu sein, und das Recht, nicht misshandelt, nicht medizinischer Behandlung oder medizinischen Versuchen ohne Einwilligung unterzogen zu werden« (Bielefeldt 2016, 34).
Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gesundheit als einen »Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur als das Fehlen von Krankheit und Gebrechen« (World Health Organization 2009, 100). Gesundheit wird hier als ein die gesamte Lebenswelt, also auch die Umwelt und das soziale Umfeld, einbeziehendes Wohlergehen beschrieben. Notwendig dafür ist u. a. die Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten, beispielsweise durch die gesundheitsbewusste Gestaltung der Arbeits- und Freizeitbedingungen. Kein Mensch darf in seiner Gesundheit beeinträchtigt werden, etwa durch Mangelernährung, nicht angemessene Kleidung, schimmelige Wohnungen oder krankmachende Arbeitsbedingungen, die Menschen auch bei guter Konstitution erkranken lassen. Außerdem müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, allen Menschen Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung zu gewährleisten und es ihnen zu ermöglichen, in eigenverantwortlicher Selbstbestimmung gesund zu leben. Dazu gehören auch gesundheitsbezogene Ausbildung und Information einschließlich der Aufklärung über Sexualgesundheit und reproduktive Gesundheit (Krennerich 2016).
Es besteht zudem der Anspruch auf ein offenes und unterstützendes soziales Umfeld, durch das Autonomie überhaupt erst realisiert werden kann, denn im Falle von Krankheit, schwerer Behinderung, Demenz und hohem Alter benötigen Menschen unter Umständen weitreichende Unterstützungsleistungen, um überhaupt selbstbestimmt leben (oder auch nur selbstbestimmt entscheiden) zu können (vgl. Aichele 2013). Autonomie ist also Aufgabe und Vorgabe zugleich.
Gesundheitsfürsorge und ärztliche Betreuung müssen für jeden Menschen verfügbar, offen zugänglich, annehmbar und von angemessener Qualität sein.
Was bedeuten nun diese Vorgaben für autistische Menschen?
Deutlich wird zum einen, dass es notwendig ist, auch die Lebensbedingungen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen wie Arbeit, Wohnen und Umwelt einzubeziehen, wenn man von »Gesundheit« spricht. Ganz bewusst geschieht dies auch in diesem Buch.
Und natürlich merkt man sehr deutlich, dass das Recht auf Gesundheit noch längst nicht für alle Menschen so umgesetzt ist, wie es auf dem Papier steht. Insbesondere der Zugang zu den Einrichtungen des Gesundheitswesens ist für Menschen mit Autismus in vielen Fällen noch immer ungenügend. Bedingt durch nur geringe Kenntnisse über Autismus-Spektrum-Störungen und das knappe Zeitbudget, das im Gesundheitswesen zur Verfügung steht, erhalten viele Betroffene keine ausreichende medizinische Versorgung und nur wenige gesundheitsrelevante Informationen oder müssen unter gesundheitlich ungünstigen Bedingungen leben.
Notwendig sind also mehrere unterschiedliche Ansätze fachlich-therapeutischer, gesellschaftlicher wie gesundheitspolitischer Veränderungen, um das Menschenrecht auf Gesundheit auch für diesen Personenkreis sicherzustellen.
Wenn autistische Menschen krank werden, kann sich das Erscheinungsbild der Erkrankung ebenso wie deren Verlauf anders darstellen als bei anderen Menschen. Auch sind die Untersuchungsbedingungen durch Besonderheiten in der Wahrnehmung und in anderen Bereichen erschwert. Die möglichen Folgen sind dann: Die Krankheit bleibt lange unbemerkt, wird falsch eingeschätzt und ineffektiv oder gar nicht behandelt.
Das ärztliche Bemühen bei Menschen mit Autismus setzt Einfühlungsvermögen, Beharrlichkeit, die Bereitschaft zu flexiblen und individuellen Lösungen sowie meist einen größeren Zeitaufwand voraus und ist daher mitunter kostenintensiver.
Bei der Umsetzung der Gesundheitssicherung müssen deshalb häufig schwierige ethische und moralische Entscheidungen getroffen werden. In einer Zeit beschränkter Ressourcen (sowohl finanzieller Art als auch im Hinblick auf die Verfügbarkeit medizinischer Fachkräfte) ist es immer wieder notwendig, zwischen verschiedenen Investitionen abzuwägen. Dies muss jedoch stets in dem Bewusstsein geschehen, dass solche Entscheidungen gerade im Gesundheitswesen für den einzelnen Menschen sehr weitreichende Folgen hinsichtlich Lebenserwartung und Lebensqualität haben können.
Was erwartet Menschen mit Autismus, wenn sie zusätzlich zu ihrem Grundproblem medizinische Hilfe brauchen? Die Erfahrung zeigt leider, dass es dann zahlreiche Schwierigkeiten gibt, sodass viele Betroffene gar keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben. Und das betrifft die ambulante ärztliche Versorgung im akuten Krankheitsfall, bei psychischen wie körperlichen Problemen, genauso wie Vorsorgemaßnahmen, also Informationen zu Gesundheit und Hygiene, Impfungen, Früherkennungsuntersuchungen und schließlich auch Klinikbehandlungen sowie die Unterstützung im akuten Krisenfall.
Inzwischen wird die Häufigkeit autistischer Störungen mit etwa 1 % angegeben, dies ist durchaus eine relevante Größe. Daher ist es sehr wichtig, auch diesen Menschen die Teilhabe im Alltag und eben auch im Hinblick auf die adäquate Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Manchmal sind dafür schon einige wenige Hilfen ausreichend, wenn man um die Problematik weiß.
Da ich selbst Ärztin und Autistin bin, ist mir das alles natürlich sehr wichtig. Deshalb möchte ich im vorliegenden Band Anregungen bieten, wie auch dieser Bereich für Menschen mit Autismus wie auch für alle Mitarbeiter im Gesundheitswesen zufriedenstellend gelöst werden kann – wissend, dass dies tatsächlich nur Vorschläge sein können und für den jeweiligen Einzelfall stets ganz individuelle Maßnahmen nötig sind. Dass der Bedarf groß ist, verdeutlichen die zahlreichen Anfragen in dieser Hinsicht, die ich jeden Tag erhalte. Dahinter verbergen sich Schicksale, die mich betroffen machen, vor allem aber verbirgt sich dahinter sehr viel Leid für alle Beteiligten, für Menschen mit Autismus ebenso wie für ihr gesamtes Umfeld.
Ich bedanke mich bei den Mitarbeitern des Kohlhammer-Verlags, die sofort bereit waren, dieses Buchprojekt mit mir zu realisieren. Besonderen Dank an Frau Kathrin Kastl sowie Frau Annika Grupp für das schnelle Lektorat und die Begleitung im Herstellungsprozess. Und vielen Dank auch an die Co-Autoren, die durch ihre zahlreichen persönlichen Beispiele die Bedeutung des Themas verdeutlichen.
Nicht zuletzt danke ich auch diesmal sehr herzlich den Menschen, die mich in medizinischer und therapeutischer Hinsicht seit vielen Jahren begleiten und unterstützen und es mir so ermöglichen, im Großen und Ganzen ein glückliches und gesundes Leben zu führen und Tätigkeiten auszuüben, die mir Spaß machen und mich erfüllen:
Frau E. Sauerwein, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin
Frau M. Miller, Ergotherapeutin
Frau Dr. med. B. Liesau-Pflum.
Der Ansatz der Gesundheitsförderung ist weniger auf Krankheiten als auf die Stärkung der Gesundheit gerichtet. Die zentrale Frage lautet also, was den Menschen gesund hält. Durch gezielte Veränderungen von Arbeits-, Umwelt- und Lebensbedingungen sowie des individuellen Verhaltens sollen bessere Bedingungen für ein gesundes Leben geschaffen werden (vgl. Hurrelmann et al. 2014).
Die aktive Beteiligung des jeweiligen Menschen ist dabei unverzichtbar. Das gilt auch für Menschen mit Autismus, die ganz gezielt dazu befähigt und dabei angeleitet werden müssen – mit dem Ziel, in den verschiedenen Lebensphasen gut mit der eigenen Situation umgehen zu können. Gefordert sind dafür neben den Bezugspersonen von Menschen mit Autismus deren Therapeuten und Begleiter, aber auch Erzieher und Pädagogen, denn das Wissen, die Einstellungen und Verhaltensweisen im Umgang mit Gesundheit und Krankheit werden bereits im frühen Kindesalter erworben.
Menschen mit Autismus haben einen geringeren Zugang zu Vorsorgeaktionen und Maßnahmen der Gesundheitsförderung, erhalten nicht ausreichend Anleitung dabei, auf ihre Gesundheit zu achten (Nicolaidis et al. 2013) und sind daher häufiger als andere Menschen aufgrund von plötzlichen Befindlichkeitsstörungen oder auch ernsten Erkrankungen in Notaufnahmen der Krankenhäuser zu finden (Nicolaidis 2012). Dort aber ist man so gar nicht auf ihre Bedürfnisse eingerichtet, außerdem sind die Ausgaben für das Gesundheitswesen im Erwachsenenalter ein ganz wesentlicher Grund für die hohen Kosten, die Menschen mit Autismus im Laufe ihres Lebens für die Sozialsysteme verursachen (Buescher et al. 2014). Vorsorgemaßnahmen und Anleitung zu gesundheitsförderndem Verhalten sind daher ganz wesentlich und werden auch künftig immer wichtiger werden.
Psychoedukation ist keineswegs nur reine Informationsvermittlung im Hinblick auf Ursachen, Therapie und Verlauf, sondern sie ist im optimalen Fall eingebettet in ein Schulungsprogramm, das Handlungskompetenzen und motivationale Faktoren einbezieht (Faller et al. 2011) und Selbstmanagementfertigkeiten fördert, um die diagnostischen und therapeutischen Erfordernisse eigenständig umzusetzen und den Alltag mit Autismus zu meistern (u. a. Szczepanski 2009). Auch emotionale Probleme im Zusammenhang mit der autistischen Beeinträchtigung werden dabei aufgegriffen und Hilfen zur Bewältigung gegeben. Solche am Selbstmanagement orientierten Schulungen führen nachweislich zur Verbesserung der somatischen, psychosozialen und gesundheitsökonomischen Parameter (u. a. Esser et al. 2008). Die Gruppe ist dabei häufig ein wesentlicher Wirkfaktor, da sich die Teilnehmer gegenseitig als Modell nutzen und emotional stützen können. Dies gilt insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene, die sich bei der Bildung von Einstellungen sehr stark an Gleichaltrigen orientieren.
Das Ziel besteht darin, den betroffenen Menschen zum Experten für seine eigene Situation zu machen und ihn zu eigenverantwortlichen Maßnahmen zu motivieren. Generell hat man seit einigen Jahren die Patientenkompetenz als das neue Credo entdeckt, wenn es um den gelingenden Umgang mit einer chronischen Erkrankung oder einer schweren Lebenssituation geht. Der aufgeklärte und informierte Patient, so die Vorstellung, stellt sich den Herausforderungen, nutzt eigene und auch fremde Ressourcen, achtet auf seine persönlichen Bedürfnisse und verfolgt seine Ziele. Er tritt aus der Rolle des passiven Opfers heraus und behält das Heft des Handelns in der eigenen Hand.
Sehr sinnvoll ist es deshalb, auch Menschen mit Autismus detaillierte Informationen zu geben über die eigenen Besonderheiten, Schwierigkeiten wie auch Ressourcen, darüber, was den Autismus ausmacht und wie man gut damit umgehen kann. Dies steht meist am Beginn einer therapeutischen Maßnahme, ist aber auch im Sinne der Prävention wichtig, um einige ungünstige Verhaltensweisen oder falsche Vorstellungen korrigieren zu können.
Die Voraussetzungen sind oft ganz unterschiedlich: Die Autismus-Diagnose erst im Jugend- oder gar Erwachsenenalter ist noch immer keine Seltenheit. Manche Betroffene leiden bereits seit der Kindheit unter ihren Schwierigkeiten, die sie jahrelang nicht einordnen konnten und die erst allmählich, manchmal durch eigene Recherchen im Internet, nun einen Sinn ergeben. Oft sind sie sehr gut informiert, aber eine selbstinitiierte Recherche birgt natürlich immer auch die Gefahr von Fehlinformationen. Andere Betroffene haben nur geringe oder gar keine Informationen, da sie gerade erst ihre Diagnose erhalten haben, und bei denen, die schon vor vielen Jahren diagnostiziert wurden, ist oft ein veraltetes Wissen vorhanden.
Es ist also wichtig, den betroffenen Menschen auf den aktuellen Kenntnisstand zu bringen, daher sollte man
Informationen geben über den Autismus allgemein, die Abgrenzung der einzelnen Formen, Ursachen, Diagnosekriterien und Möglichkeiten der Behandlung und Unterstützung,
die eigenen Ressourcen wie Schwierigkeiten benennen und Möglichkeiten erörtern, wie man die Probleme angehen und die Stärken gezielt nutzen kann,
den Betroffenen dabei unterstützen, sich mit all seinen Eigenschaften akzeptieren zu lernen,
Hilfe anbieten, um sich selbst gut kennenzulernen und die Wirkung des eigenen Auftretens auf andere einschätzen zu lernen,
überlegen, ob eine Psychoedukation einzeln oder in der Gruppe erfolgen sollte und ob sie auch für die Angehörigen des betroffenen Menschen angeboten werden kann, um das Verständnis für die spezifischen Auffälligkeiten und Verhaltensweisen zu verbessern.
Autistische Störungen werden je nach Beginn und Symptomatik unterteilt in
Asperger-Syndrom,
Frühkindlicher Autismus,
Atypischer Autismus.
Zukünftig wird diese Unterscheidung in den neuen Klassifikationssystemen entfallen, dann wird man lediglich von »Autismus-Spektrum-Störungen« sprechen. Die nicht selten verwendete Formulierung »autistische Züge« sollte allenfalls dann ihre Berechtigung haben, wenn zusätzliche Beeinträchtigungen im Sinne einer autistischen Symptomatik bei vorbestehenden anderen Formen der Behinderung verdeutlicht werden sollen.
Allen Autismus-Spektrum-Störungen gemeinsam sind (vgl. Dilling & Freyberger 2010)
Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion (Schwierigkeiten mit Mimik, Gestik, Blickkontakt zur Regulation sozialer Interaktionen; Schwierigkeiten, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen mit gemeinsamen Interessen, Aktivitäten und Gefühlen; Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen Menschen zu teilen etc.),
Beeinträchtigungen in der Kommunikation (verspätete oder vollkommen fehlende Sprachentwicklung; Schwierigkeiten, einen sprachlichen Kontakt zu beginnen und aufrechtzuerhalten; stereotype und repetitive Verwendung der Sprache; Mangel an »So-tun-als-ob«-Spielen oder sozialen Imitationsspielen etc.),
eingeschränkte und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten (manchmal zwanghaft anmutende Beschäftigung mit stereotypen und begrenzten Interessen, die in Inhalt und Schwerpunkt ungewöhnlich sind, z. B. Zugfahrpläne, Geografie, technische Artikel; motorische Manierismen mit Hand- und Fingerbewegungen oder komplexen Bewegungen des ganzen Körpers; hauptsächliche Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht-funktionalen Elementen des Spielmaterials wie Geruch oder Oberflächenbeschaffenheit etc.).
Weitere häufige Auffälligkeiten sind z. B.
motorische Ungeschicklichkeit (insbesondere beim Asperger-Syndrom),
isolierte spezielle Fertigkeiten,
Bedürfnis nach Gleicherhaltung der Umwelt; große Probleme mit Veränderungen und allem Unerwarteten,
Bedürfnis nach strikten Routinen, täglich wiederkehrenden Ritualen und Struktur (eingespielte, immer gleiche Tätigkeitsabläufe oder bestimmte Speisen, Kleidung etc.),
spezielle Wahrnehmung (Detailwahrnehmung; Überempfindlichkeiten hinsichtlich verschiedener Sinnesreize; Unempfindlichkeiten gegenüber Schmerz- und Temperaturwahrnehmung etc.).
Studien legen nahe, dass die Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen bei etwa 1 % liegt, möglicherweise sogar noch darüber (Kim et al. 2011). Die deutliche Zunahme an Autismus-Diagnosen lässt sich nach Ansicht von Experten aber eher nicht durch eine Zunahme des Autismus als solchem erklären, sondern vielmehr durch die besseren Kenntnisse der Fachleute und vor allem durch die Tatsache, dass viele betroffene Menschen mit Asperger-Syndrom, also ohne geistige Behinderung, in der Vergangenheit häufig übersehen worden sind. Es ist also wichtig, auch die vermeintlich »milden« Verlaufsformen, die aber dennoch häufig Leid verursachen und einen Hilfebedarf zur Folge haben, korrekt zu erkennen, um eine effektive Unterstützung zu ermöglichen. Das Bewusstsein für den Autismus hat also zugenommen, vor allem eben auch das Wissen, dass bei einer entsprechenden Diagnose auch Hilfen möglich sind.
Gleichzeitig aber tragen vermutlich auch die sozialen Medien dazu bei, dass Menschen, die »anders« sind, heute mehr leiden als früher. In früheren Jahren waren sie, gerade auf dem Dorf, genauso Außenseiter, aber doch irgendwie akzeptiert. Heute aber werden sie oft im Netz an den »Pranger« gestellt, auffälliges Verhalten wird der Öffentlichkeit mitgeteilt, und dann steht es eben sehr schnell mal zehntausend gegen einen. Das kann oft zu völliger Verzweiflung führen – und natürlich zu Mobbing und Ausgrenzung,
Das männliche Geschlecht ist häufiger betroffen; frühere Angaben von 8:1 zu Lasten der Jungen scheinen jedoch zu hoch gegriffen. Die Dunkelziffer ist vor allem beim weiblichen Geschlecht sehr hoch, denn Mädchen sind in ihrem Verhalten oft ruhiger, wirken weniger »auffällig«, sodass man ihre Schwierigkeiten häufig nicht oder zumindest nicht auf Anhieb erkennen kann (Preißmann 2013c).
Der aktuelle Stand der Forschung zeigt (vgl. Gawronski et al. 2012), dass der Autismus aus dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren resultiert, insbesondere genetische Faktoren spielen eine große Rolle. Man geht davon aus, dass mehrere Gene daran beteiligt sind, die exakten Gene konnte man jedoch noch nicht identifizieren. Sowohl einzelne Mutationen als auch eine Kombination aus mehreren Mutationen oder eine genetische Prädisposition in Verbindung mit dem Auftreten bestimmter Umweltfaktoren (z. B. prä- und perinataler Stress, pränatale virale Infektionen wie Röteln-, Masern- oder Zytomegalieinfektion, Zinkmangel, mütterlicher Diabetes, Exposition gegenüber Toxinen wie Pestiziden, Barbituraten oder Antiepileptika) werden diskutiert (vgl. Christensen 2013). Daneben wurden in Untersuchungen strukturelle und funktionelle Gehirnveränderungen gefunden (u. a. schlechtere »Verschaltung« der einzelnen Hirnbereiche untereinander und als Folge eine verringerte Kommunikationsfähigkeit der einzelnen Hirnbereiche miteinander; veränderte Aktivierung der verschiedenen Areale bei unterschiedlichen Aufgabenstellungen etc.).
Weitere Untersuchungen werden hier künftig noch exaktere Ergebnisse bringen. Wichtig vor allem für die Bezugspersonen autistischer Menschen ist aber die Tatsache, dass der Autismus nicht durch etwaige Fehler bei der Erziehung ausgelöst wird. Und er hat auch nichts mit Unvermögen oder schlechtem Benehmen zu tun.
Im Kindes- und Jugendalter ist die erste Anlaufstelle der Kinderarzt, der eine orientierende Einschätzung vornehmen kann. Der zweite Schritt besteht dann in einer Vorstellung bei einem spezialisierten Zentrum oder einem Kinder- und Jugendpsychiater mit dem Ziel, eine umfassende Diagnostik durchzuführen.
Die eigentliche Diagnosestellung ist ein zeitintensiver und differenzierter Prozess und erfolgt bei Kindern und Jugendlichen mittels ADI-R (Autism Diagnostic Interview-Revised) und ADOS-2 (Autism Diagnostic Observation Schedule). Ersteres ist ein standardisiertes, halbstrukturiertes, untersuchergeleitetes Interview (vgl. Bölte et al. 2006), das ADOS-2 als halbstandardisiertes Spielinterview mit dem Kind ergänzt die Befragung. Hier werden Situationen geschaffen, die normalerweise soziale Interaktionen hervorrufen (z. B. Geburtstagsfeier etc.). Je nach Alter und kognitiver sowie sprachlicher Entwicklung des Kindes können unterschiedliche Module angewandt werden (vgl. Rühl et al. 2004).
Bei Erwachsenen gibt es noch keine standardisierten Diagnoseinstrumente. Die entscheidenden Informationen kommen auch hier aus der Verhaltensbeobachtung bei der sozialen Interaktion (z. B. im Rahmen der Interviewsituation) sowie aus der Befragung der betroffenen Menschen und ihrer Bezugspersonen (Eltern, Geschwister, Freunde, Lehrer etc.). Dafür stehen z. B. AAA (Adult Asperger-Assessment) und AQ- bzw. EQ-Fragebögen (Fragebogen zur emotionalen Intelligenz) zur Verfügung. Insbesondere müssen die Auffälligkeiten aus der Kindheit erfragt werden. Speziell abgefragt werden Besonderheiten in Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Interessen, Kommunikation, Sprachverhalten und Sprachverständnis und vor allem im Sozialverhalten sowie das Bedürfnis nach geregelten, erwartungsgemäßen Abläufen und Routinen (vgl. Tebartz van Elst 2015).
Bei der Diagnosestellung sollten nicht nur die Auffälligkeiten, sondern auch die Auswirkungen der Besonderheiten des betroffenen Menschen im Alltagsleben (auch im Sinne von Leidensdruck und Teilhabeeinschränkung) berücksichtigt werden.
Da der Autismus nicht kausal behandelt werden kann, sind unterstützende therapeutische Verfahren wichtig. Angewandt werden in erster Linie
Autismusspezifische Therapie,
Psychotherapie,
Ergotherapie.
Die Behandlung kann durchgeführt werden in einem Autismus-Therapie-Institut (Adressen unter www.autismus.de) oder in einer psychotherapeutischen bzw. ergotherapeutischen Praxis. Sie umfasst ganz unterschiedliche Elemente und wird auf Alter, kognitive und sprachliche Fähigkeiten des betroffenen Menschen abgestimmt. Wesentliche Ziele der Therapie sind dabei
die Linderung der oft belastenden Symptomatik und die Behandlung von Begleiterkrankungen,
die Förderung der sprachlichen Kommunikation, des Spielverhaltens und der Selbstständigkeit,
die Förderung der sozialen Kompetenzen sowie der Flexibilität, um den Umgang mit anderen Menschen zu erleichtern,
das Erlernen von Bewältigungsstrategien für die eigenen Schwierigkeiten,
der angemessene Umgang mit den eigenen Besonderheiten und den ganz individuellen Stärken und Schwierigkeiten,
die Unterstützung bei den alltäglichen Herausforderungen,
die Hilfe bei den Bemühungen, eine berufliche Nische zu finden, bei der die eigenen Stärken voll zum Tragen kommen und die Schwierigkeiten nicht allzu sehr stören,
die Hilfe bei den Bemühungen, ein für die eigene Person passendes, glückliches und zufriedenes Leben zu führen (vgl. Preißmann 2015a).
Ein weiterer wichtiger Ansatz ist die Selbsthilfearbeit, also der Austausch mit anderen autistischen Menschen in Gruppen, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu befähigen, die eigenen Schwierigkeiten zu erkennen und soweit wie möglich zu überwinden oder, falls das nicht möglich ist, sich damit zumindest zu arrangieren.
Während noch bis vor wenigen Jahren Autismus-Spektrum-Störungen als typische Störungen des Kindesalters angesehen wurden, ist man sich heute ihrer Bedeutung im Erwachsenenalter bewusst. Das findet seinen Ausdruck u. a. in der Namensänderung des größten deutschen Selbsthilfeverbandes. 1970 wurde der Bundesverband unter dem Namen »Hilfe für das autistische Kind« von betroffenen Eltern gegründet, seit 2005 heißt er »autismus Deutschland e. V. – Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus«, um auch betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen gerecht zu werden. Der Autismus wächst sich nämlich nicht aus, sondern besteht lebenslang, ist also kein Zustand, der nur das Kindes- und Jugendalter betrifft, sondern der auch die Unterstützung durch Einrichtungen der Erwachsenenpsychiatrie notwendig macht.
In den meisten Fällen kommt es aber über die Lebensspanne zu teils deutlichen Verbesserungen, auch noch jenseits der Jugendzeit, sodass sich die Symptomatik im Erwachsenenalter in einigen Punkten im Vergleich zu Kindheit und Jugend unterscheidet: »Viele der kognitiven Kompensationsstrategien aus Kindheit und Jugendalter sind nicht mehr anwendbar, und es entsteht oft ein Gefühl der Unzulänglichkeit und eines nicht zu überwindenden Andersseins (...). Insgesamt ist die Symptomatik im Erwachsenenalter also durch den chronischen Verlauf und die eigenen Kompensationsbemühungen geprägt« (Gawronski et al. 2012, 23). Auf den Gebieten der Kommunikation und der sozialen Interaktion werden meist bereits im Kindes- und Jugendalter Verbesserungen beobachtet, im späteren Jugend- und im Erwachsenenalter dagegen bleiben diese Schwierigkeiten eher konstant, während sich die sprachliche Kommunikation und die Stereotypien auch dann noch bessern (vgl. Duketis 2011). Betroffene Erwachsene stoßen vor allem dann an ihre Grenzen, wenn Flexibilität und Einfühlungsvermögen in komplexeren sozialen Situationen gefordert sind, z. B. am Arbeitsplatz oder im Hinblick auf Freundschaft bzw. Partnerschaft (vgl. Herpertz-Dahlmann et al. 2010). Es ist deshalb in jedem Lebensalter wichtig, eine effektive Unterstützung anzubieten.
Aufgrund von Wahrnehmungsbesonderheiten und anderen Auffälligkeiten gelingt es Menschen mit Autismus manchmal nicht ohne Unterstützung, die notwendigen Hygienemaßnahmen anzuwenden und auch zu erkennen, wie häufig diese durchgeführt werden müssen. So kommt es, dass manche von ihnen z. B. einen unangenehmen Körpergeruch verströmen, schlechte Zähne haben oder andere Erkrankungen entwickeln, die auf mangelnde Hygiene zurückzuführen sind. Sie brauchen dann Hilfe und Anleitung auch auf diesem Gebiet. Wichtig ist es, sie dabei nicht bloßzustellen, denn diese Schwierigkeiten haben nichts mit fehlender Intelligenz zu tun. Und auch der fehlende Wille ist nicht dafür verantwortlich, sondern vielmehr die autismusspezifischen Besonderheiten im Hinblick auf die eigene Körperwahrnehmung und das eigene Körpergefühl sowie die oft fehlende Möglichkeit, sich über diese Dinge mit Gleichaltrigen auszutauschen, wie es die Klassenkameraden z. B. in den Pausen tun. Und nicht selten ist es relativ einfach möglich, Lösungen zu finden, wenn man gezielt die Gründe für das Verhalten hinterfragt:
»Die Eltern des 12jährigen Markus beklagen sich (...) über die mangelnde Beachtung der Körperhygiene ihres Sohnes, der die Notwendigkeit von Körperhygiene nicht sehe und sich dafür auch nicht interessiere (...). Als die Eltern von der Weigerung ihres Sohnes berichten, seine Socken zu wechseln, entwickelt sich ein Gespräch (...) über die Hintergründe dieser Haltung von Markus, die unter seiner aktiven Teilnahme langsam deutlich werden: Frische Socken seien immer kalt und somit unangenehm. Ein Teilnehmer schlägt spontan vor, die frischen Socken vor dem Auswechseln auf die Heizung zu legen. Markus ist sichtlich erfreut über diesen Vorschlag, mit dem er sich auch einverstanden zeigt« (Nashef & Mohr 2015, 38).
Eine mangelhafte Hygiene kann krank machen, diese Information brauchen auch Menschen mit Autismus. Manchmal benötigen sie eine Anleitung, wie sie die umfangreiche Auswahl von Körperpflegeprodukten, die im Handel zu finden ist, für sich nutzen können. Was ist wichtig, was unnötig? Was ist mir angenehm? Welchen Geruch mag ich? Diese und weitere Fragen sind oft nicht allein zu lösen. Es kann hilfreich sein, eine Liste anzulegen mit den Dingen, die man braucht oder für sich sinnvoll findet. Eine Grundlage können z. B. folgende Artikel bilden, die natürlich je nach individuellem Bedarf (Allergien, Hauterkrankungen, spezieller Bedarf, besondere Wünsche) ergänzt werden müssen:
Deoroller/-spray,
Duschgel, evtl. Badezusatz,
Haarshampoo,
Seife,
Handcreme, Gesichtscreme,
Body Lotion,
Zahnpasta und Zahnbürste,
Sonnencreme,
Nagelschere bzw. -feile,
Haarbürste.
Im nächsten Schritt wird die Häufigkeit erläutert, mit der diese Artikel angewandt werden sollten, um sauber und vor Erkrankungen geschützt zu sein, aber auch keine extrem übertriebene Hygiene zu praktizieren, die ihrerseits gefährlich werden und z. B. zu Hautirritationen führen kann. Menschen mit Autismus weisen verschiedene Wahrnehmungsbesonderheiten auf (s. u.), nicht immer ist es eine Überempfindlichkeit, manchmal besteht auch eine Unempfindlichkeit gegenüber manchen Gerüchen. Deshalb kann es sein, dass eigener unangenehmer Körpergeruch nicht als solcher wahrgenommen werden kann. Dann ist es sehr wichtig, von der Umgebung eine ehrliche und rechtzeitige Rückmeldung zu erhalten (also bevor sich andere Menschen darüber beklagen oder lustig machen) und gleichzeitig langfristig zu lernen, wie solche Zustände vermieden werden können.
Viele autistische Kinder verweigern das Benutzen öffentlicher Toiletten, was beim Eintritt in den Kindergarten oder spätestens in der Schule problematisch wird. Manchmal helfen Desinfektionstücher, andernfalls ist es vielleicht auch möglich, dem betroffenen Kind eine eigene Toilette zur Verfügung zu stellen (oder ihm das Benutzen etwa der Lehrertoilette zu ermöglichen).
Auch das Zähneputzen kann schwierig sein, hier spielen u. a. motorische Probleme und Wahrnehmungsauffälligkeiten eine Rolle. Mögliche Hilfen in Form von gezielter Anleitung finden sich vor allem in englischer Sprache im Netz.
Insgesamt berichten viele Menschen mit Autismus über einige Schwierigkeiten auf dem Gebiet der Hygiene:
»Ich entwickelte kein Verhältnis zur Hygiene, so wusste ich beispielsweise lange nicht, was fettige Haare sind. Ich putzte meine Zähne nicht richtig, gerade der Umstieg auf Erwachsenenzahnpasta fiel mir schwer. Und ich wusch mich nur dann, wenn es unbedingt nötig war und man mich darauf hinwies. Ich verstand nicht, wozu dieser tägliche Aufwand gut sein sollte« (C. Meyer, in: Preißmann 2013c, 24).
Darüber hinaus sind folgende Aspekte zu berücksichtigen:
Körperpflege macht nicht nur sauber, sie ermöglicht auch einen positiveren Umgang mit dem eigenen Körper und ein Entdecken des eigenen Körpers. Schon bei den alten Griechen und Römern sollten Hygienemaßnahmen nicht nur reinigen, sondern auch die Sinne erfreuen. Die Römer verbrachten reichlich Zeit mit dem Baden in Gemeinschaftsthermen, die oft auch über eine Sporthalle sowie separate Salb- und Massagezimmer verfügten.
Kosmetische Körperpflege kann eine positivere Einstellung zum eigenen Körper ermöglichen und hat dadurch oft auch positive Auswirkungen im sozialen Bereich.
Wichtig ist zunächst der Hinweis darauf, dass Körperhygiene auch die Geschlechtsorgane mit einbezieht. Für Frauen bzw. Männer gibt es spezielleren Bedarf, z. B.:
Binden bzw. Tampons,
Rasierapparat und evtl. zusätzliche Produkte für die Rasur,
Aftershave,
Make-up etc.
Die richtige Anwendung muss man oft erklären und Sinn und Notwendigkeit erläutern. Mädchen und Frauen mit Autismus fällt es häufig ganz besonders schwer, sich mit der Menstruation abzufinden. Die Tatsache, dass sie sich zu einer Frau entwickeln, ist für viele sehr problematisch, weil sie sich viel jünger fühlen und sich kaum vorstellen können, die gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen zu können, die man an eine Frau stellt (vgl. Preißmann 2013c).
Auf der anderen Seite aber fällt auch der praktische Umgang mit der Monatshygiene schwer. Das Berühren des eigenen Körpers bereitet ohnehin Schwierigkeiten, das Tragen von Binden fühlt sich merkwürdig und ungewohnt an, und »etwas da unten reinzustecken«, kommt für viele betroffene Frauen überhaupt nicht in Frage.
Es kann hilfreich sein, schon einige Zeit vor dem Einsetzen der Menstruation ab und zu Binden oder Slipeinlagen zu benutzen, um sich in Ruhe daran gewöhnen zu können und dann, wenn man aufgeregt ist und Angst hat, schon zu wissen, wie man das macht und wie sich das anfühlt. Alles, was man in Ruhe und ohne Stress ausprobieren kann, macht deutlich weniger Sorgen.
Da das Benutzen von Tampons eine erhebliche Verbesserung der Lebensqualität bedeuten kann, sollte man betroffene Frauen auch hier zur korrekten Anwendung beraten. Gerade bei längeren sportlichen, beruflichen oder anderen Aktivitäten ist es hilfreich, Tampons benutzen zu können. Zuständige Beratungsstellen sollten Bescheid wissen über die spezifische Problematik bei autistischen Frauen, um auch sie ohne Berührungsängste gut beraten zu können:
Während meiner ärztlichen Tätigkeit in der Chirurgie musste ich ab und zu auch bei mehrstündigen Operationen assistieren. Dafür wollte ich eine Lösung bezüglich der Monatshygiene finden, und seit ich durch die Mitarbeiterin einer Beratungsstelle erklärt bekam, wie man Tampons richtig benutzt, ist meine Lebensqualität auch während dieser paar Tage im Monat deutlich gestiegen. Der Mitarbeiterin war es anfangs sichtlich unangenehm, solche Dinge mit einer Ärztin zu besprechen, aber ich war ihr sehr dankbar für diese Hilfe.
Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass man mit recht wenig Aufwand doch eine Menge für den autistischen Menschen erreichen kann. Aber das Beispiel zeigt auch, wie wichtig es ist, ihn auch mit eigentlich ganz banal und selbstverständlich erscheinenden Fragen nicht allein zu lassen.
»Deine Kleidung sei rein, gewaschen dein Haupt, mit Wasser sollst du gebadet sein!« So heißt es im über 3000 Jahre alten Gilgamesch-Epos. Das Bedürfnis nach Sauberkeit und Ordnung begleitet die Menschheit vermutlich seit ihren Anfängen. Die Vorstellung davon, was als schmutzig und was als sauber zu betrachten ist, hat sich aber über die Jahrtausende und in verschiedenen Kulturkreisen deutlich gewandelt. Inzwischen gilt in westlichen Industrieländern: Je sauberer, desto besser – am liebsten klinisch rein mit Hilfe von genügend Wasser, einer ganzen Reihe von Reinigungsmitteln und immer raffinierteren technischen Hilfsmitteln. Wer soll sich da noch auskennen?
Experten mahnen dagegen zur Vernunft. Sinnvolle Hygienemaßnahmen sollen nicht darauf abzielen, sämtliche Mikroorganismen um uns herum zu beseitigen, sondern diese vielmehr auf ein gesundheitsverträgliches Maß zu reduzieren. Blinder Putzwahn belastet nämlich Mensch und Umwelt. Der Chemikalienmix fließt ins Abwasser, zu häufiges Waschen zerstört den natürlichen Säureschutzmantel und den Fetthaushalt der Haut.
Wichtig ist also eine maßvolle, zielgerichtete Alltagshygiene. Dazu gehört es, zu akzeptieren, dass in einem Haushalt immer potenziell schädliche Keime vorhanden sind. Sinnvolle Hygienemaßnahmen zielen nicht darauf ab, diese auszurotten, sondern ihre Verbreitung zu verringern. Denn selbst die Toilette oder der Windeleimer stellen keine wirkliche Gefahr für die Gesundheit dar, sofern nach dem Kontakt mit ihnen die Hände gründlich gewaschen werden. Regelmäßiges Waschen der Hände, der sorgfältige Umgang mit Lebensmitteln sowie die gründliche Reinigung von Arbeitsflächen und Utensilien, die mit Nahrungsmitteln in Kontakt gekommen sind, bilden deshalb das Rückgrat einer guten Haushaltshygiene, die versucht, einen Mittelweg zu finden zwischen der Bekämpfung von potenziellen Krankheitserregern und dem Erhalt des natürlichen Gleichgewichts zwischen dem Menschen und seiner Umgebung. Hinzu kommen richtiges Niesen und Husten, Handhygiene, Zahnpflege und die korrekte Versorgung von Wunden. Manchmal muss man Menschen mit Autismus, insbesondere dann, wenn sie relativ unabhängig leben und wohnen, bei all diesen Maßnahmen unterstützen und anleiten.
Wohlbefinden und Gesundheit zählen für viele Menschen zu den zentralen Wünschen im Leben. Um diese zu erreichen und zu erhalten, sind u. a. eine ausgewogene Ernährung, ein angemessenes Maß an Bewegung und eine gute Balance zwischen Belastung und Entspannung im beruflichen wie im privaten Bereich unverzichtbar. In der Medizin werden Faktoren wie Ernährung, Schlafverhalten, Stress, Bewegung und Sexualität unter dem Begriff Lebensstil zusammengefasst. Im Hinblick auf das Thema Autismus kommen solche Aspekte oft zu kurz, deshalb sollen hier Problematik, Besonderheiten und mögliche Hilfen vorgestellt werden.
Besonderheiten hinsichtlich der Ernährungsgewohnheiten und -vorlieben sind bei Menschen mit Autismus sehr häufig. Manchmal werden wegen sensorischer Besonderheiten nur Speisen einer bestimmten Farbe oder Konsistenz gegessen, in anderen Fällen sind die Speisepläne der Betroffenen von vornherein so starr festgelegt, dass sie (auch über Jahre hinweg) immer dasselbe Essen zu sich nehmen oder auch verabscheuen. Einige autistische Kinder essen nicht in der Schule, weil ihnen die Nahrungsaufnahme in Gegenwart anderer nicht gelingt, andere Betroffene essen über viele Stunden oder gar Tage hinweg gar nichts, da das Hungergefühl fehlt. Es ist wichtig, nachzufragen, was genau hinter den Auffälligkeiten steckt, denn erst dann ist es möglich, Strategien zu entwickeln:
»Kim will partout keinen Reis essen. Sie schreibt auf: ›Reis ist ungeordnet. Ich weiß nicht, wie viele es sind.‹ Thomas sträubt sich gegen Lebensmittel, die grün sind. Er schreibt: ›Wenn ich grün sehe, schmeckt es krank.‹ Und Melissa isst nichts, das größer als einen Zentimeter ist. Die Stücke müssen vorher entsprechend zerkleinert werden. ›Mein Körper passt nicht zum Essen‹, sagt sie, wenn die Portionierung nicht stimmt« (Bauerfeind 2016, 34).
Mein Lieblingsessen ist Quarkauflauf. Meine Lieblingspizza ist Pizza Margherita. Mein Lieblingskäse ist Parmesankäse. Mir schmecken auch andere Aufstriche, aber ich habe zu Hause nur Parmesankäse und mache mir dann immer Parmesankäse auf das Brot drauf. Mein Lieblingskuchen ist Käsekuchen. Ich wünsche mir immer zu meinem Geburtstag Käsekuchen. Mein Lieblingseis ist Vanilleeis. Immer, wenn wir Eis essen, esse ich entweder zwei oder drei Kugeln Vanilleeis. Ich trinke nur Leitungswasser ohne Kohlensäure oder Tee. Mein Lieblingstee ist Früchtetee. Was anderes trinke ich nicht.
(Madeleine Labusch – [email protected])
Zu einer gesunden Ernährung sind die Betroffenen aufgrund des rigiden Essverhaltens oft nicht zu bewegen. Mangelerscheinungen hinsichtlich Vitamin- oder Mineralstoffversorgung können die Folge dieser extrem einseitigen Ernährung sein, außerdem unspezifische Symptome wie Müdigkeit, Kraftlosigkeit oder Erschöpfung:
Ich habe kein Hungergefühl und infolgedessen starkes Untergewicht. Die Aufnahme von Ernährungsbiomasse, vor allem in ausreichender Menge, empfinde ich weniger als Genuss als vielmehr als notwendiges Übel. Wenn ich könnte, würde ich aufs Essen komplett verzichten. Doch da macht mein Körper nicht mit. Er zeigt mir dann durch merklich nachlassende motorische und kognitive Fähigkeiten, dass er Energie in Form von Nahrung benötigt. Wenn diese Zeichen allzu lange unbemerkt bleiben, fange ich sogar im Sommer an zu frieren, weil mein Körper die Temperatur nicht mehr aufrechterhalten kann.
Eine Lösung besteht darin, die Mahlzeiten zu ritualisieren, so dass sie als fester Bestandteil zum Tagesablauf dazugehören, ganz gleich, ob ich Hunger verspüre oder nicht. Ungünstigerweise ist mein Sättigungsgefühl genau gegenteilig ausgeprägt, und sehr schnell entsteht in mir der Eindruck, ich sei vollgestopft.
(Markus Behrendt)
Insgesamt finden sich in vielen Fällen Auffälligkeiten bezüglich des Körpergewichts (Unter- oder auch Übergewicht; siehe Kap. Begleiterkrankungen). Manchmal wird das Essverhalten gezielt in die eine oder andere Richtung gesteuert, in anderen Fällen ist es den betroffenen Menschen aber gar nicht bewusst, dass ihre Ernährungsgewohnheiten nicht angemessen sind, da sie keine entsprechende Rückmeldung durch ihren Körper erhalten:
»Meine sehr schlechte Körperwahrnehmung verhinderte ein konstantes Körpergewicht im normalen Bereich. Hunger, Durst, Müdigkeit oder Erschöpfung fühlten sich für mich nahezu identisch an, sodass ich nie wirklich wusste, was mir in der jeweiligen Situation helfen würde. Meist aß ich dann etwas, was zu stetiger Gewichtszunahme führte (...). Die Abneigung gegen zahlreiche Speisen, insbesondere solche mit breiiger (›matschiger‹) Konsistenz, erschwerte eine gesunde Ernährung zusätzlich. Außerdem hatte ich nur wenige Kenntnisse, wie ein gesundes Leben aussehen könnte. Da ich nicht über viele private Kontakte zu anderen Menschen in meinem Alter verfüge, wusste ich nicht, wie sie diese Punkte für sich lösen. Ich hatte keine Ahnung, welch unterschiedliche Möglichkeiten auf diesen Gebieten bestehen, und ich wusste nicht, mit wem ich diese Fragen hätte besprechen können. Der wichtigste Punkt aber war vermutlich, dass ich all diese Schwierigkeiten als gegeben hinnahm und mir nicht vorstellen konnte, dass Lösungen möglich wären. Ich hatte Glück und fand den Einstieg zum Nordic Walking, das ich zufällig ausprobierte und das mir sehr gefiel, weil ich es leicht erlernen und nahezu überall ohne große Vorbereitung allein anwenden konnte. Schnell bemerkte ich, wie gut es mir tat, mich regelmäßig körperlich zu betätigen. Um mich ausführlicher darüber zu informieren, kaufte ich mir ein paar Fachzeitschriften, in denen auch einiges über gesunde Ernährung stand. So erkannte ich, dass ich deutlich zu viel und auch das Falsche aß. Durch diesen Zugang zu diesem Thema bekam ich Interesse, mich näher damit zu beschäftigen, ganz allein für mich, ohne Druck von anderen« (Preißmann 2013a, 154). In der Folge habe ich dann ganz problemlos etwa vierzig Kilogramm abgenommen und halte seither mein Gewicht ohne größere Schwierigkeiten, wobei mir mein oft sehr zwanghaftes Verhalten hilft.
Aufgrund der veränderten Körperwahrnehmung haben viele autistische Menschen kein Hunger- oder Durstgefühl. Sie besitzen kein Empfinden dafür, wann es Zeit ist, die Energiereserven aufzufüllen. Auch Gunilla Gerland beschreibt dieses Problem:
»Ich fühlte nie deutlich, ob ich hungrig war oder satt, und ich wusste nicht, was ich essen sollte. Kochen konnte ich nicht, und manchmal aß ich überhaupt nichts« (Gerland 1998, 204).
So lebte sie mitunter tagelang nur von Kaffee und Zigaretten, bevor sie versuchte, eine Lösung zu finden, und sich dafür andere Menschen suchte, an deren Essverhalten sie sich orientieren konnte. Dies ist für Menschen, die nicht intuitiv merken, welche Menge angemessen ist, oft eine gute Idee.
Es ist wichtig, auch Menschen mit Autismus die Notwendigkeit einer gesunden, ausgewogenen Ernährung zu erläutern und sie dabei zu unterstützen. Häufig muss man ihnen dafür auch im Jugend- und Erwachsenenalter noch ein paar Anleitungen geben:
Wem es schwerfällt, die benötigte Nahrungsmenge richtig einzuschätzen, der kann sich zumindest anfangs dabei mit festen Plänen behelfen, wann was gegessen wird, um ein Gefühl zu bekommen für die Menge, die angemessen und notwendig ist. Als nächsten Schritt kann man dann die einzelnen Komponenten austauschen gegen andere mit ähnlichen Nährwerten, um so Schritt für Schritt ein bisschen flexibler zu werden bei der Nahrungsaufnahme. Das ist im Alltag sehr hilfreich, denn nicht immer kann man zur vorgesehenen Uhrzeit das finden, was der Plan gerade vorsieht. Für diesen Schritt aber ist es nötig, sich mit den Nährwerten der wichtigsten Nahrungsmittel vertraut zu machen. Ein solches Vorgehen mag vielleicht ein bisschen »starr« wirken, aber für viele Betroffene ist das die beste Möglichkeit, sich dem Thema zu nähern:»Mein Essverhalten ist auch verändert. Wenn ich abgelenkt bin, dann kann es sein, dass ich das Essen vergesse und lange Zeit nichts esse. Gleichzeitig merke ich auch nicht immer, wann es genug ist. Mittlerweile versuche ich einfach, zu regelmäßigen Zeiten zu essen und ungefähr immer dieselbe Menge« (Emma, in: Blodig 2016, 159).Wenn man dann ein bisschen Routine hat, gelingt es in der Regel, auch etwas flexibler zu werden bezüglich der Nahrungsaufnahme.
Die meisten Kinder, ob autistisch oder nicht, haben nur einige wenige Lieblingsspeisen, die in aller Regel nicht zu den gesündesten gehören. Es gibt aber ein paar Interventionen, die hilfreich sein können. Zunächst brauchen Kinder positive Vorbilder. Sie essen in der Regel »gesunde« Nahrungsmittel nur dann, wenn auch ihr Umfeld das tut, also Eltern, Geschwister oder Freunde. Und sie greifen lieber zu, wenn z. B. Äpfel in kleine Stücke geschnitten werden und damit »wie Pommes aussehen«. Man sollte Obst und Gemüse also mundgerecht servieren. Meist ohne Effekt bleibt dagegen die fantasievolle Zubereitung des Gerichts, das dann manchmal wie ein kleines Kunstwerk aussehen mag. Solche Mühen kann man sich in der Regel sparen. Viele Kinder reagieren dagegen sehr positiv auf spannend klingende Namen. Wenn die Karotte also umbenannt wird etwa in »Röntgenblick-Knacker«, wird sie doppelt so oft gegessen wie unter ihrem eigentlichen Namen (Schiek 2016). Und auch die Wertschätzung gesunder Nahrungsmittel durch die Bezugspersonen ist wichtig. Wird also ein Eis als Nachtisch nur dann »als Belohnung« angeboten, wenn zuvor auch der Gemüseteller aufgegessen wurde, so suggeriert dies, dass Gemüse auch für Erwachsene eher ein »lästiges Übel« darstellt als eine schmackhafte Speise. Folglich werden die Kinder es künftig ebenso eher ablehnen.
Bei an Farben orientiertem Essverhalten kann man natürlich auch mit Speisefarben arbeiten, um auch einem Kind, das ausschließlich rote oder blaue Speisen essen möchte, eine ausgewogene Ernährung zu ermöglichen (und vielleicht dabei auch manchmal tricksen: So berichtete eine Lehrerin von einem Kind, das sich auf die Farbe »blau« festgelegt hat, die Speisefarbe aber ging während einer Reise unerwartet aus. Man versuchte in der Not, dem Kind zu vermitteln: »Das sind blaue Nudeln, nur weiß« und hatte damit ganz unverhofften Erfolg).
Falls das Essen in Gesellschaft ein Problem darstellt (etwa in Schule oder Beruf), sollte ein ruhiger Ort gefunden werden, wo der betroffene Mensch ungestört die Mahlzeit zu sich nehmen kann.
Zum Gemüse kann man z. B. auch mal Ketchup reichen. Die Kinder lernen so einen neuen Geschmack durch Kopplung an einen bereits geschätzten bekannten. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie später das Gemüse auch ohne Ketchup essen.
Insgesamt sollte man versuchen, die Ernährung so flexibel wie möglich zu gestalten. Ein sehr starres Essverhalten mit einer Auswahl von nur zwei oder drei Gerichten erschwert im Erwachsenenalter deutlich die Selbstständigkeit sowie die Teilhabe in Beruf und Gesellschaft. Manchmal lassen sich hier auch die Spezialinteressen des Kindes hilfreich einsetzen: Wenn der geliebte Comic-Held gern Linsen isst, kann man die ja vielleicht auch mögen...
Ein gesunder Lebensstil verlangt nach gesunder Ernährung. Über die richtige Nahrung kann der Körper sich alles holen, was er braucht, um fit und gesund zu bleiben. Den Hauptbestandteil der Ernährung sollte deswegen reichlich frisches Gemüse und Obst ausmachen, am besten roh oder nur kurz gegart, zusammen mit Vollkorngetreide und Hülsenfrüchten sowie möglichst fettarmen Beilagen.