Autismus und herausforderndes Verhalten - Georg Theunissen - E-Book

Autismus und herausforderndes Verhalten E-Book

Georg Theunissen

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  • Herausgeber: Lambertus
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Autismus nimmt in den letzten Jahren zu. Inzwischen wird davon ausgegangen, dass der Anteil autistischer Menschen an der Gesamtbevölkerung bei etwa 1 Prozent liegt. Das betrifft in Deutschland ungefähr 800.000 Menschen im Autismus-Spektrum. Der Leitfaden ist für heilpädagogische und pädagogische Fachkräfte (auch Lehrer:innen), aber auch für Eltern konzipiert, die sich Hilfe oder Unterstützung beim Umgang mit herausforderndem Verhalten von Kindern und Jugendlichen aus dem Autismus- Spektrum wünschen. Die 6., aktualisierte Auflage enthält u.a. einen Sicherheitsplan, ein Beispiel aus der Erwachsenenarbeit, Aspekte des Bundesteilhabegesetzes sowie ein Modell für einen personenbezogenen Unterstützungsplan im Anhang.

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Georg Theunissen

Autismus undherausforderndes Verhalten

PraxisleitfadenPositive Verhaltensunterstützung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

6. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten

© 2024, Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau

www.lambertus.de

Umschlaggestaltung: Nathalie Kupfermann, Bollschweil

Umschlagbild: Ohne Titel (Gee Vero, Künstlerin, Initiatorin des internationalen Projekts The Art of Inclusion)

Druck: Elanders Waiblingen GmbH

ISBN 978-3-7841-3686-8

ISBN eBook 978-3-7841-3687-5

Inhalt

Geleitwort der Herausgeber

Vorwort

1Autismus

Grunja Evimovna Ssucharewa (1891 − 1981)

Georg Frankl (1897 – 1975)

Hans Asperger (1906 − 1980)

Leo Kanner (1896 − 1981)

Autismus aus klinischer Sicht (DSM-5)

Autismus aus der Betroffenensicht

Autistische Fähigkeiten

Erkenntnisse und Annahmen aus der Autismusforschung

Autismus und Intelligenz

Autismus als primäre Behinderung

Autismus unter Aspekten der Sozialisation und des Lebenslaufs

2Herausforderndes Verhalten

Abgrenzung zu psychischen Störungen

Erscheinungsformen und Definition von herausforderndem Verhalten

Herausforderndes Verhalten bei Autismus

Zur Bedeutsamkeit der funktionalen Betrachtung

Vulnerabilität – Stress – Bewältigung

Häufigkeiten von herausfordernden Verhaltensweisen

3Positive Verhaltensunterstützung

Entstehungsgeschichte

Leitidee und Positionsbestimmung

Handlungsbestimmende Prinzipien und Bezugswerte

Forschungsbefunde und zentrale Erkenntnisse

Das Gesamtkonzept der PVU

Sicherheitsplan

Schlussbemerkung

4Beispiele aus der Praxis

Ein Beispiel aus der Kindertagesstätte (Kevin)

Ein Beispiel aus der Grundschule (Nick)

Auszüge aus der Arbeit mit Erwachsenen (Herr D)

5Tipps für Eltern und Familien

Anhang

Kriterien für einen personenbezogenen Unterstützungsplan

Literatur

Sachwortregister

Der Autor

Geleitwort der Herausgeber

Schaut man sich die heutige „Autismus-Landschaft“ an, kann man zu dem Schluss kommen, dass im Vergleich zu den Erkenntnissen und Praktiken der 70er- und 80er-Jahre des vorausgegangenen Jahrhunderts, also vor 30 bis 40 Jahren, heute wahrlich traumhafte Zustände in der Versorgung autistischer Menschen herrschen. Dies ist, was die therapeutische Versorgung autistischer Menschen angeht, ein Verdienst vieler Eltern, die sich, vereint im Bundesverband autismus Deutschland e.V., für die therapeutische Versorgung ihrer Kinder stark gemacht haben und z.T. den Mangel in der Versorgung dadurch abstellten, dass sie eigene Therapiezentren gründeten. Heute feiern viele dieser Zentren und Elternvereine bereits ihr 25., 30. oder 45. Gründungsjubiläum. Sie können mit Dankbarkeit auf viele Meilensteine, sowohl in der Entwicklung ihrer eigenen Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung als auch in den von ihnen gegründeten Einrichtungen und Angebote, zurückblicken.

Parallel dazu hat in der Gesellschaft und damit auch in der Pädagogik ein „Paradigmenwechsel“ stattgefunden, sodass heute dank vieler differenzierter Methoden ein weitaus positiverer und kompetenzorientierterer Blick auf Menschen mit Autismus geworfen wird.

Den Autor dieses Buches möchte ich ausdrücklich als Vertreter dieses Paradigmenwechsels hervorheben. Herr Professor Theunissen steht unserem Bundesverband, wenn es sein muss, durchaus auch kritisch gegenüber und mahnt uns beharrlich, den Menschen mit seinen Möglichkeiten und weniger die Defizite und Diagnosen in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Häufig fällt genau das schwer, gerade wenn es um den Umgang mit massiv herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Autismus geht, welches von der Person zu trennen ist. Mit Wissen über die Besonderheiten des Autismus, einer Strukturierung des Alltags und einer am Menschen orientierten Pädagogik ist dem unverständlichen Verhalten des Gegenübers auf positive und konstruktive Weise zu begegnen. Das ist ein Teil des angesprochenen Paradigmenwechsels.

Maria KaminskiVorsitzende des Bundesverbandes autismus Deutschland e.V.

Vorwort

Autismus nimmt in den letzten Jahren immer mehr zu. Inzwischen wird davon ausgegangen, dass der Anteil autistischer Menschen an der Gesamtbevölkerung bei gut 1 % liegt. Das betrifft in Deutschland ungefähr 800.000 Menschen im Autismus-Spektrum. Von diesen Personen sind aber längst nicht alle als autistisch diagnostiziert. Insofern haben wir es weniger mit einem „realen“ Anstieg an autistischen Menschen zu tun. Vielmehr handelt es sich um einen „Nachholeffekt“, der mit einer genaueren Diagnostik, mit besseren Kenntnissen und häufig mit einer Beseitigung von bisherigen Fehldiagnosen einhergeht. Dass Autismus keine seltene Erscheinungsform ist, hatte bereits Hans Asperger erkannt: „Wenn wir die charakteristischen Manifestationen von Autismus genauestens studieren, stellen wir fest, dass sie keineswegs selten sind“ (zit. n. Steve Silberman 2015, S. 82).

Demgegenüber betrachtete Leo Kanner Autismus als ein eher seltenes Syndrom. Beide Autoren gelten als „Erstbeschreiber“ von Autismus. Während Leo Kanner von einem „engeren Bild“ ausging, beschrieb Hans Asperger eine breiter angelegte Symptomatik. Nach Erkenntnissen der weltweit bekannten britischen Autismusforscherin Lorna Wing war das Modell von Hans Asperger valide und tragfähiger. Vor diesem Hintergrund gab sie der Autismusforschung wichtige Impulse, Autismus im Rahmen eines Spektrums zu betrachten und zu erfassen.

Heute wissen wir, dass es zwischen dem Autismus-Bild von Leo Kanner und dem von Hans Asperger beschriebenen Syndrom mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt. Ebenso wissen wir, dass die meisten Menschen aus dem Autismus-Spektrum keine kognitiven Beeinträchtigungen im Sinne einer sogenannten geistigen Behinderung haben. Ferner haben alle autistischen Personen spezifische Stärken, und viele von ihnen zeigen Spezialinteressen und besondere Fähigkeiten. Daher gilt es ihre „autistische Intelligenz“ zu erkennen, zu würdigen und zu unterstützen. Das war viele Jahre nicht selbstverständlich. Heute wissen wir, dass mit der sogenannten Stärken-Perspektive der wohl beste Weg zu mehr Lebensqualität für autistische Personen geebnet werden kann.

Gleichwohl ist es wichtig, Autismus nicht nur im Lichte von Stärken zu betrachten. Ebenso wichtig ist es, Probleme mit in den Blick zu nehmen, die mit Autismus einhergehen. Das betrifft z. B. verschiedene Besonderheiten in der Wahrnehmung, in der Motorik, in der sprachlichen Kommunikation und in der Interaktion mit anderen Menschen.

Heute wissen wir, dass vor allem eine biologisch bedingte erhöhte Reizempfindlichkeit autistischer Menschen Stress und Ängste erzeugen kann, die es zu bewältigen gibt. Hierbei kommt es häufig zu Verhaltensweisen, die als herausfordernd wahrgenommen werden. Das betrifft z. B. Wutanfälle, Schreien, Schlagen, Wegrennen, sich selbst mit dem Kopf schlagen oder sich zurückziehen und abkapseln. Solche herausfordernden Verhaltensweisen wurden viele Jahre unmittelbar mit Autismus in Verbindung gebracht. Oft wurden sie als Ausdruck von Autismus betrachtet. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um Verhaltensreaktionen auf bestimmte Situationen, die für die betreffende autistische Person unerträglich sind. Darauf hatte schon Grunja Evimovna Ssucharewa aufmerksam gemacht. Ihr Verdienst ist es, schon vor L. Kanner und H. Asperger eine sogenannte funktionale (verstehende) Problemsicht im Zusammenhang mit Autismus angedacht zu haben.

Heute wissen wir, dass es zum Verständnis von Autismus wichtig ist, zwischen autistischen Merkmalen und Verhaltensreaktionen zu unterscheiden. Von zentraler Bedeutung ist die funktionale Sicht autistischen Verhaltens und Erlebens sowie der Reaktionen auf bestimmte Situationen. Sie bietet die Chance, nicht nur Menschen aus dem Autismus-Spektrum besser zu verstehen, sondern ihnen zugleich auch Unterstützung zur Bewältigung von Problemen anzubieten. Zudem trägt die funktionale Sicht zu einem angemessenen Umgang mit autistischen Menschen bei. Das gilt vor allem für den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen.

Gerade herausfordernde Verhaltensweisen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus dem Autismus-Spektrum stellen vor allem für nicht-autistische Bezugspersonen oder Mitmenschen eine hohe Belastung dar. Als besonders belastend werden insbesondere stark ausgeprägte autistische Merkmale und zusätzliche (schwere) kognitive Beeinträchtigungen (geistige Behinderung), schwerwiegende Verhaltensauffälligkeiten oder Begleiterscheinungen (z. B. ADHS, Depressionen, Angst-, Zwangs- oder Essstörungen) wahrgenommen.

Daher ist der Wunsch nach Hilfe oder einer angemessen Unterstützung groß. Hierzu gibt es mittlerweile zahlreiche therapeutische oder pädagogische Konzepte und Vorschläge. In der vorliegenden Schrift geht es diesbezüglich ausschließlich um spezielle pädagogische Maßnahmen.

Spezielle pädagogische oder sogenannte pädagogisch-therapeutische Maßnahmen beziehen sich in erster Stelle auf den Umgang mit herausforderndem Verhalten. Fragen des Umgangs mit herausfordernden Verhaltensweisen bei Autismus stehen somit im Vordergrund. Folglich geht es nicht um Fragen des Umgangs mit eng umschriebenen Begleiterscheinungen oder zusätzlichen psychischen Störungen wie z. B. ADHS, Depressionen, Angst-, Zwangs-, Ess- oder Schlafstörungen. Darauf bin ich in meiner Schrift „Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen“ (Lambertus-Verlag) näher eingegangen.

Mehrere Studien und Forschungsarbeiten aus dem angloamerikanischen Raum lassen den Schluss zu, dass es derzeit nur wenige umfassende pädagogisch-therapeutische Konzepte gibt, die im Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Autismus als Erfolg versprechend eingeschätzt werden dürfen. Das gilt vor allem für die Positive Verhaltensunterstützung (PVU). Sie stammt unter der Bezeichnung positive behavioral support (PBS) ursprünglich aus den USA und wurde hierzulande im Rahmen eines Gesamtkonzepts verfeinert und weiterentwickelt.

Inzwischen gibt es mehrere deutschsprachige Schriften zur Positiven Verhaltensunterstützung. Sie beziehen sich jedoch bis auf die Schrift von S. Dodd (2007) und meine Untersuchung zum „Umgang mit Autismus in den USA“ (Theunissen 2014a) nur auf den Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten oder Problemverhalten bei Menschen mit Lernschwierigkeiten (geistiger Behinderung). Was bisher fehlt, ist eine umfassende und konkrete Arbeitshilfe in Hinblick auf herausforderndes Verhalten bei autistischen Personen. Genau an dieser Stelle setzt die vorliegende, leicht zugängliche Schrift an. Sie wurde als Praxisleitfaden für Personen konzipiert, die sich Hilfe oder Unterstützung beim Umgang mit herausforderndem Verhalten von Menschen aus dem Autismus-Spektrum wünschen.

Mit dieser Arbeitshilfe soll zugleich dem Wunsch aus der Praxis entsprochen werden. Denn viele Lehrkräfte, pädagogische oder therapeutische Mitarbeiter:innen aus dem außerschulischen Bereich sowie Eltern autistischer Kinder beklagen immer wieder das Fehlen konkreter Anregungen und Anleitungen für die Praxis.

Wer sich an dem vorliegenden Praxisleitfaden orientiert, wird alsbald feststellen, dass die Positive Verhaltensunterstützung gut durchdacht sowie sorgfältig geplant sein muss. Zudem verlangt sie ein systematisches Vorgehen. Darüber hinaus reflektiert sie Rahmenbedingungen und zieht Kontextveränderungen mit in Betracht. Ungünstige Bedingungen erschweren oder blockieren jede noch so gut gemeinte Hilfe oder Intervention. Unabdingbar für eine erfolgreiche Praxis ist die Zusammenarbeit aller an der Unterstützung interessierten und beteiligten Bezugspersonen.

Ebenso wichtig ist die Haltung oder Einstellung autistischen Menschen gegenüber. Die Positive Verhaltensunterstützung möchte autistischen Menschen dienen und ihnen so gut wie möglich zu einem „Leben mit Autismus“ verhelfen. Zugleich achtet sie dabei auch auf die Zufriedenheit der nicht-autistischen Unterstützungs- oder Bezugspersonen. Folglich bedarf es nicht nur einen wertschätzenden und achtsamen Umgang mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum, sondern gleichfalls Respekt gegenüber ihren Unterstützungs- oder Bezugspersonen.

Der vorliegende Praxisleitfaden ist systematisch angelegt und klar gegliedert: Er beginnt mit dem Verständnis von Autismus unter Berücksichtigung der „Erstbeschreibungen“ durch G. E. Ssucharewa, H. Asperger und L. Kanner, der klinischen Betrachtung und der Sicht von autistischen Menschen. Abgerundet wird dieser erste Teil durch eine kurze Übersicht aktueller Erkenntnisse aus der neurowissenschaftlichen Autismusforschung.

Anschließend wird der Begriff des herausfordernden Verhaltens unter Berücksichtigung von Parallelbezeichnungen definiert und reflektiert. Wichtig ist dabei die Abgrenzung zu psychischen Störungen. Diese sind nämlich kein Thema der vorliegenden Schrift.

Das nächste Hauptkapitel stellt das Konzept der Positiven Verhaltensunterstützung vor. Nach einer kurzen Einführung werden ihre drei Stufen beschrieben. Diese stehen für ein Gesamtkonzept. Die erste Präventions- und Interventionsstufe bezieht sich auf die Alltagsarbeit und Ebene der Institutionen (v. a. Schule). Die zweite Stufe befasst sich mit gruppenspezifischen Angeboten. Die dritte Stufe steht für Einzelhilfe. Alle Stufen und vor allem die methodischen Schritte der Einzelhilfe werden genau beschrieben. Dadurch entsteht letztlich ein Leitfaden für die Praxis.

Dieser wird abschließend durch Beispiele und Empfehlungen für Eltern und Familien angereichert, sodass ein plastisches Bild über konkrete Handlungsmöglichkeiten entsteht.

Grundsätzlich versteht sich die Arbeitshilfe nicht als ein Rezept für die pädagogisch-therapeutische Arbeit; und ebenso wenig kann sie eine Feuerwehrfunktion erfüllen. Wohl aber ermöglicht sie durch ihre Übersichtlichkeit und verständliche Sprache einen raschen Zugang zu Fragen des Umgangs mit autistischen und zusätzlichen herausfordernden Verhaltensweisen.

Bedanken möchte ich mich bei allen, die die Schrift unterstützt haben, vor allem bei Gee Vero für ihr tolles Bild, das das Thema der Schrift sehr gut trifft, bei Vico Leuchte für seine wertvollen Studien zu G. E. Ssucharewa und H. Asperger, die für mich eine wichtige Orientierungshilfe waren, bei Henriette Paetz für ihre Zuarbeit in Bezug auf Beiträge von L. Kanner, bei Isabell Drescher für Textübersetzungen aus dem angloamerikanischen Sprachraum, bei Hanna Rosahl-Theunissen und Mieke Sagrauske für die Durchsicht und Diskussion einiger Kapitel der vorliegenden Arbeit, bei Frau Sabine Winkler vom Lambertus-Verlag für das verlegerische Interesse sowie bei Frau Maria Kaminski für das Interesse an einer Veröffentlichung im Rahmen von autismus Deutschland e.V.

Besonders erfreut haben mich die positive Resonanz und der rasche Verkauf des Buches seit der Erstveröffentlichung im Jahr 2017. Dafür möchte ich mich bei allen, die sich für diesen Praxisleitfaden interessiert haben, bedanken. Die sechste Auflage ist gegenüber der fünften bis auf wenige aktualisierte Textstellen, Veränderungen und Erweiterungen unverändert geblieben.

Georg TheunissenFreiburg (im Breisgau)im Dezember 2023

1

AUTISMUS

Autismus hat es wohl zu allen Zeiten gegeben. Darauf bin ich an anderer Stelle eingegangen (vgl. Theunissen 2022). Im Folgenden werden vier „Erstbeschreibungen“ aufgegriffen, die bis heute zum Verständnis von Autismus als zeitlos und aktuell betrachtet werden können.

Grunja Evimovna Ssucharewa (1891 − 1981)

Beginnen möchte ich mit der russischen Kinder- und Jugendpsychiaterin Grunja Evimovna Ssucharewa, die schon in den 1920er-Jahren autistische Kinder und Jugendliche zum ersten Mal beschrieben hat.

Im Rahmen ihrer Forschungen über Psychopathien im Kindes- und Jugendalter interessierte sie sich für Heranwachsende, die ihr durch Eigentümlichkeiten, durch ein eigenwilliges, exzentrisches Verhalten als „Sonderlinge“ besonders ins Auge gefallen waren. Dabei hatte sie den Eindruck, dass es jenseits des klassischen Bildes einer Schizophrenie noch ein anderes Störungsbild gab.

Dieses Bild wird von ihr durch vier grundlegende Merkmale charakterisiert. Des Weiteren werden mehrere Besonderheiten genannt, die allesamt in Verbindung mit den vier grundlegenden Merkmalen wesentliche Aspekte von Autismus widerspiegeln.

Grunja Ssucharewa fasst die Gesamtheit der von ihr beobachteten Symptome allerdings unter dem Begriff der „schizoiden Psychopathie“. Denn der damals von E. Bleuler eingeführte Autismus-Begriff war eng ausgelegt, weshalb er für G. E. Ssucharewa das Bild der „schizoiden Psychopathie“ nicht in seiner Komplexität erfassen konnte. Nach dem heutigen Verständnis und Wissensstand würden wir statt „schizoider Psychopathie“ von Autismus sprechen.

Motorische Besonderheiten

Für G. E. Ssucharewa zählen motorische Besonderheiten zu den frühesten Symptomen der von ihr erfassten Kinder und Jugendlichen mit „schizoider Psychopathie“. Sie selbst spricht von Störungen und einer „Zerrüttung der Psychomotorik“ – gekennzeichnet durch „unsinnige, plumpe Bewegungen, eine spezifische Bipolarität zwischen Erregung und Trägheit, Automatismus, Stereotypie“ (2009, S. 51). Darüber hinaus sind ihr bei ihrer Untersuchungsgruppe auch „tic-artige Bewegungen“, Synkinesien, eine schwach ausgeprägte Mimik, schwache Ausdrucksbewegungen, Manierismen sowie schlaffe Haltungen besonders aufgefallen. Einige der motorischen Besonderheiten (z. B. Stereotypien, rhythmisches, repetitives Verhalten) können wohl durch sprachliche Auffälligkeiten (Echolalie) begleitet sein. Ferner scheinen einzelne Kinder eine „Unbeständigkeit“ zu zeigen, wenn sie einerseits eine „erhöhte motorische Erregbarkeit“ und andererseits eine „Langsamkeit und Trägheit“ an den Tag legen (ebd., S. 46). Als typisch für die Erregbarkeit gelten Stereotypien oder auch ein zielloses Umherlaufen mit fehlender Hinwendung zu einem Spiel oder einer Beschäftigung. Geht es um Trägheit, so würde langsam gegessen, die Nahrung lange gekaut, sich langsam angezogen oder irgendetwas getan und plötzlich abgebrochen.

Alles in allem misst G. Ssucharewa den motorischen Besonderheiten einen hohen Stellenwert zu, weshalb dieser Bereich auch diagnostisch beachtet werden sollte. Diese Auffassung deckt sich weithin mit Vorstellungen aus der Selbstvertretungsbewegung autistischer Menschen, z. B. dem Autistic Self-Advocacy Network (ASAN), das sich gleichfalls eine stärkere Beachtung der motorischen Besonderheiten wünscht.

Emotionale Besonderheiten

Das zweite von G. E. Ssucharewa herausgestellte Merkmal bezieht sich auf emotionale Besonderheiten. Diesbezüglich konnte sie mehrfach eine „Abgeflachtheit und Oberflächlichkeit der Gefühle“ (Ssucharewa zit. in Wolff 1996, S. 129) beobachten. So gab es Kinder mit einem „schwachen Bedürfnis nach emotionalen Verbindungen“ oder einer „schwachen affektiven Bindung an die Umgebenden“, die sich oft schon im frühen Kindesalter zeigten. Häufig seien dies „nicht zärtliche Kinder“, sondern Heranwachsende „mit einer bestimmten Kälte“ (2009, S. 46).

Zugleich konnte G. E. Ssucharewa aber auch eine „leichte Verwundbarkeit“ bzw. „erhöhte emotionale Sensitivität“ beobachten, die in der Regel zu „explosiven Gefühlsausbrüchen“ führte. Dabei zeigte sich bei manchen eine schwach ausgebildete Fähigkeit, Emotionen zu kontrollieren und emotionale Erlebnisse abzureagieren. Die These der leichten Verwundbarkeit (Vulnerabilität) ist modern und wird heute durch neurowissenschaftliche Theorien oder Annahmen gestützt (vgl. Theunissen 2020a).

Intellektuelle Besonderheiten

Als drittes grundlegendes Merkmal nennt G. E. Ssucharewa „intellektuelle Besonderheiten“, die schon im frühen Kindesalter zutage treten können, sich zumeist aber erst später ausbilden. Das Feld der „intellektuellen Besonderheiten“ ist breit: Zum einen geht es hier um einen „ungewöhnlichen Typus des Denkens“, z. B. mit der Neigung zum Abstrakten, Schematischen oder Formalen; ferner mit der Tendenz zum „Automatismus der Assoziationen“ oder zu „sonderbaren Grübeleien“.

Zum anderen werden besondere intellektuelle Fähigkeiten und spezielle Begabungen vereinzelt erwähnt. So berichtet G. E. Ssucharewa beispielsweise von einem musikalisch talentierten Jungen, der aufgrund seines Interesses an Musik und seiner außergewöhnlichen auditiven Sensitivität in der Lage war, bereits mit drei Jahren eine Anzahl an Melodien auf dem Klavier zu spielen (zit. in Wolff 1996, S. 128).

Andere Beispiele beziehen sich auf einen Jungen, der sich selbst eine spezielle und erfolgreiche Methode zum Rechnen erarbeitet oder auf ein Kind, das sich mit fünf Jahren selbst das Lesen beigebracht hat. Diese Beobachtungen stützen die Bedeutung selbsterarbeiteter Lernstrategien sowie des atypischen Lernverhaltens autistischer Personen.

Zuletzt möchte ich noch eine Beobachtung nennen, die gleichfalls als eine „intellektuelle Besonderheit“ betrachtet werden kann. Es geht um die Fähigkeit der „Selbstanalyse“, „Selbstkritik“ und „Selbstbeobachtung“. In dem Fall wird ein Junge vorgestellt, der in bemerkenswerter Weise in der Lage ist, seine Situation und sein Erleben genau zu beschreiben und im Vergleich zu anderen Kindern zu analysieren und zu reflektieren. Wie wir noch sehen werden, sind ebenso Hans Asperger autistische Kinder mit einer solchen Selbstbeobachtungsgabe begegnet.

Autistische Grundhaltung

Der vierte zentrale Aspekt ist die „autistische Grundhaltung“, die allen Kindern und Jugendlichen mit „schizoider Psychopathie“ nachgesagt wird. Hierbei geht es um einen unzureichenden, häufig bizarr oder seltsam wirkenden Kontakt mit der Außenwelt. Als charakteristisch gelten bereits im frühen Kindesalter das Meiden von Kontakten, Beziehungen oder sozialen Situationen, Formen der Selbstisolation, der soziale Rückzug, die Abkapselung in eine eigene Welt und das „Versunkensein in sich selbst“ (2009, S. 46). In dieser eigenen Welt gewinnen Beschäftigungen mit Spezialthemen oder Spezialinteressen an Bedeutung, auf die G. E. Ssucharewa aber nicht näher eingeht.

Gleichwohl beschreibt sie Probleme, die mit der sozialen Abkapselung und dem seltsam, oft egozentrisch oder exzentrisch wirkenden Verhalten einhergehen. Je bizarrer oder sonderbarer das Verhalten erscheint, desto größer ist die Gefahr, dass spätestens im Alter der Pubertät Betroffene von Mitschüler:innen gehänselt, verspottet und sozial ausgegrenzt werden. Denn ihre „Seltsamkeit“ macht die autistischen Jugendlichen „unverständlich“. Dies kann zu einer noch größeren Verschlossenheit und Absonderung führen. Ebenso können existentielle Ängste entstehen, die es abzuwehren gilt. Solche Abwehr- oder Problembewältigungsmuster können neben dem verstärkten Rückzug auch psychische Symptombildungen (Ess-, Schlaf-, Angst- oder depressive Störungen) sowie selbst- oder fremdaggressive Verhaltensweisen sein, die es vom autistischen Verhalten abzugrenzen gilt.

In dem Zusammenhang unterscheidet G. E. Ssucharewa zwischen dem autistischen Merkmal (primäres Symptom) und der Verhaltensreaktion (sekundäres Symptom). Mit dieser Unterscheidung (Strukturanalyse) ebnet sie zugleich den Weg für eine funktionale Problemsicht, die zum Verstehen von Autismus und dem Verhalten autistischer Menschen wesentlich beitragen kann. Darauf werde ich später noch ausführlich eingehen. Hier sei nur erwähnt, dass die verstehende Sicht der Positiven Verhaltensunterstützung einverleibt ist.

Wie wir uns eine mögliche Reaktion auf die soziale Demütigung durch Mitschüler:innen vorstellen können, beschreibt G. E. Ssucharewa am Beispiel eines „emotional kalten“ Jungen mit „überhöhter Selbsteinschätzung und Egozentrik“ (2009, S. 48). Dieser Junge fühlt sich in seiner Selbstliebe verletzt, hasst daher die anderen und erfreut sich daran, seine Mitschüler zu schikanieren oder gar zu schlagen. Diese wiederum mögen ihn auch deshalb nicht, weil er ständig über Fairness rede, selbst aber höchst egoistisch sei und nur eigene Interessen verteidigen würde (Ssucharewa zit. in Wolff 1996, S. 126). Diese Unnachgiebigkeit, eine damit verknüpfte Prinzipienfestigkeit sowie ein „übertriebenes Gerechtigkeitsgefühl“ betrachtet G. E. Ssucharewa als ein hintergründiges (autistisches) Charaktermerkmal, das im frühen Alter kaum zu bemerken sei und erst im Laufe der Entwicklung (zu Beginn der Pubertät) augenfälliger würde. Je nach Situation würde es soziale Konflikte und individuelle Abwehrreaktionen verschärfen. Einen Höhepunkt der Verschärfungen und Auffälligkeiten in der schizoiden (autistischen) Symptomatik gebe es während der Pubertät. Erfahrungsgemäß – so G. E. Ssucharewa – sei jedoch die Prognose gut, da es „nach der Pubertät eine Glättung vieler psychopathischer Besonderheiten“ (2009, S. 49) gebe.

Weitere Merkmale

Wie zuvor schon angedeutet, sind G. E. Ssucharewa noch weitere charakteristische Merkmale aufgefallen, die sie jedoch nicht besonders hervorhebt. Das betrifft z. B. ein unflexibles Denken und Verhalten sowie das Bedürfnis, an Prinzipien oder Routinen festzuhalten. Ferner gibt es vereinzelt Hinweise auf ein zwanghaft anmutendes Verhalten sowie auf Wahrnehmungsbesonderheiten. Zum Beispiel wird ein Junge erwähnt, der gegenüber Geräuschen hoch empfindlich war und sich dadurch beim Denken gestört fühlte. Des Weiteren werden sprachliche Besonderheiten festgestellt, beispielsweise Echolalie, das Wörtlichnehmen von Aussagen, ein aufdringliches, unentwegtes Reden, eine Neigung zum Reimen oder zu Wortneubildungen.

Schlussbemerkung

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass Ssucharewas Beschreibung des Syndroms der „schizoiden Psychopathie“ viele Ähnlichkeiten zum Bild des Autismus aufweist. G. E. Ssucharewa Forschungsinteresse galt aber nicht nur der bloßen Beschreibung eines Syndroms. Vielmehr interessierte sie sich auch für die Entstehungsbedingungen und den Entwicklungsverlauf. Dabei erkannte sie bereits das Zusammenwirken von anlagebedingten, sogenannten endogenen oder konstitutionellen Faktoren mit äußeren, sogenannten exogenen Einflüssen (z. B. Lebensmilieu, Erziehung, soziales Umfeld).

Auf der Grundlage ihrer Beobachtungen kam sie zu der Überzeugung, dass die von ihr beschriebenen Merkmale durch ungünstige äußere Bedingungen oder Faktoren verstärkt oder gar erst ausgelöst werden können.

Neben zusätzlichen Erkrankungen (z. B. Epilepsie) sah sie in einem „schlechten Milieu“ oder in einer „schlechten Erziehung“ einen externen Einflussfaktor. Vor diesem Hintergrund ging sie der Frage nach, „wie sich das psychopathologische Bild entfaltet, in Abhängigkeit vom Alter des Kindes und der es umgebenden Momente des sozialen Alltags und der Lebenssituationen“ (2009, S. 43 f.). Hierzu beobachtete und studierte sie den Verlauf der Entwicklung von mehreren Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen Lebensmilieus. Die Untersuchungsdauer lag zwischen fünf und sieben Jahren.

Besonders interessant sind Ssucharewas Befunde mit Beginn der Schulzeit und insbesondere der Pubertät. Wie schon erwähnt, gingen kritische Situationen (Hänseleien, Spott, soziale Ausgrenzung) nicht spurlos an den betroffenen autistischen Jugendlichen vorbei. Neben einer noch größeren Verschlossenheit und sozialen Absonderung kam es zu Misstrauen, zu Gefühlen der Minderwertigkeit bis hin zu seelischen Verletzungen.

Des Weiteren beobachtete Grunja Ssucharewa spätestens seit Beginn der Pubertät eine erhöhte Erregbarkeit und Unstetigkeit, ein Nachlassen der intellektuellen Produktivität sowie eine wachsende Neigung zu einem „Automatismus“ oder auch läppischen Benehmen. Ferner nahmen Manierismen und „unsinnige“ Spiele zu. Ebenso ließ sich eine übertriebene Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit feststellen, die mit dem Beharren auf Prinzipien einherging.

Gleichwohl waren mehrere dieser Auffälligkeiten durch eine einfühlsame pädagogisch-therapeutische Arbeit auch wieder veränderbar. Probleme im lebenspraktischen Bereich und adaptiven Verhalten schienen hingegen schwerer zu beeinflussen sein.

Insgesamt ähneln G. E. Ssucharewas Merkmalsbeschreibungen und Ausführungen den späteren Berichten von Hans Asperger. Im Unterschied zu Grunja Ssucharewa beschreibt und würdigt H. Asperger aber weitaus mehr Spezialinteressen und Stärken autistischer Kinder und Jugendlicher.

Eine Gemeinsamkeit betrifft Untersuchungen von familiären Einflüssen auf Autismus. Diesbezüglich scheint H. Asperger parallele Charakterzüge von Familienangehörigen (v. a. Vätern) zu erkennen. Ebenso deutet G. E. Ssucharewa auffällige Charakterzüge von Familienmitgliedern an, allerdings trifft sie keine Verallgemeinerungen. Weitaus stärker als H. Asperger ist sie an milieuspezifischen und erzieherischen Einflüssen interessiert, die ihrer Ansicht nach biologisch bedingte autistische Merkmale verstärken und weitere herausfordernde Verhaltensweisen hervorrufen können. Ungünstige soziale Einflüsse können traumatische Auswirkungen haben und schwere Entwicklungskrisen mit psychotischen Anteilen hervorrufen. Diese Erkenntnis passt zu einer psychodynamischen Sicht von Autismus. G. E. Ssucharewa betrachtet Ursachen der „schizoiden Psychopathie“ jedoch multifaktoriell, wobei biologische Faktoren die grundlegende Rolle spielen. Daher ist sie keine Repräsentantin eines psychogenetisch bedingten Autismus.

Georg Frankl (1897 – 1975)

Erst in jüngster Zeit werden bemerkenswerte Beiträge des Psychiaters Georg Frankl im Rahmen der „Erstbeschreibungen“ in Bezug auf Autismus diskutiert. Georg Frankl war Jude und zunächst wie seine spätere Frau Anni Weiss in den 1930er-Jahren als Diagnostiker auf der von Hans Asperger geleiteten heilpädagogischen Station der Universitätskinderklinik in Wien tätig. Als die Situation für Juden in Wien immer kritischer wurde, floh G. Frankl mit Hilfe Leo Kanners in die USA nach Baltimore. Dort leistete er zusammen mit A. Weiss etwa zwei Jahre lang L. Kanner diagnostische Zuarbeiten in Bezug auf autistische Kinder. Wie seine Frau ist G. Frankl aber nicht mit dem Thema des Autismus hervorgetreten. Seine autismusspezifischen Befunde hat er nur implizit in wenigen Aufsätzen veröffentlicht, unter anderem 1943 unter dem Titel „Language and Affective Contact“ im zweiten Heft der Zeitschrift „The Nervous Child“, in dem gleichfalls Kanners zentraler Beitrag über Autismus erschienen war.

Eingeschränkte „emotionale Sprache“ und mangelnder affektiver Kontakt

Eine zum Verständnis von Autismus wichtige Anregung geht von Frankls Analyse des sprachlichen und kommunikativen Verhaltens der von ihm beobachteten autistischen Kinder aus (vgl. Frankl 1943). Normalerweise käme es schon im Säuglingsalter im Rahmen der engen Mutter-Kind-Beziehung zur Aneignung der für die menschliche Verständigung und Beziehung üblichen Verschränkung einer „wortbezogenen Sprache“ und „emotionalen Sprache“ (non-verbale Kommunikation, Gesichtsausdruck, Gestik, sprachliche Modulation). Bei autistischen Kindern würde eine feine Abstimmung zwischen den beiden Sprachformen fehlen, was dem mangelnden Verständnis des „Gefühlsgehalts“, des intuitiven (nicht geäußerten) Gehalts gesprochener Wörter sowie der non-verbalen Kommunikation geschuldet sei. Das sei bei Heranwachsenden mit einem „autistischen Mutismus“ (Frankl 1957, S. 9 ff.) weniger sichtbar als bei sprechenden autistischen Kindern, die keine affektive Sprache zeigen und sich in einer „unmodulierten, vollständig monotonen“, „automatenähnlichen“, „leblosen“ oder „gekünstelten“ Weise äußern und zum Teil durch Echolalie ihre Wünsche zum Ausdruck bringen würden.

Diese Beobachtung greift auch L. Kanner (1943, S. 242 ff.) auf, der gleichfalls den kommunikativen Charakter der Echolalie, monotone Ausdrucksformen, „Grenzen in der Vielfalt spontaner Aktivität“ und die „angeborenen autistischen Störungen des affektiven Kontakts“ betont. Bei H. Asperger (1944, S. 125) stoßen wir auf das breite Feld der von Frankl beschriebenen sprachlichen Besonderheiten, gepaart mit vermeintlicher „Gefühlsarmut“, schwacher Mimik, Gestik und Einfühlung sowie einem „automatenhaften“ Erscheinungsbild. Wie aktuell das Thema der Kommunikation einzuschätzen ist, beschreibt die Autistin N. Bornhak (2021, S. 54 f.): „Es gehört zu meinen ‚Defiziten‘, dass ich nonverbale Signale nur sehr schlecht erkennen und deuten kann. Und es fällt mir schwer, Metaphern zu verstehen oder ‚Zwischen-den-Zeilen-Botschaften wahrzunehmen. (…) Ich bin hochgradig darauf angewiesen, dass der winzige Teil der Kommunikation, den ich gut verstehen kann – nämlich der verbale – klar, eindeutig und unmissverständlich ist.“

„Triebhandlungen“

Hierbei handelt es sich um Verhaltensweisen, die dem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) ähneln, z. B. spontane, „ohne Vorboten (…) geschickt und geschwinde“ ausgeführte motorische Aktivitäten wie „wunderbare, von keinerlei Angst oder Schwindel gehemmte“ Turn- oder waghalsige Kletterkünste an Einrichtungsgegenständen einerseits und eine plötzlich „merkwürdige“ ungeschickte Motorik sowie Unaufmerksamkeit andererseits (Frankl 1937, S. 2 f.), wenn die betreffenden Kinder „gezwungen sind, etwas zu tun, was nicht lustbetont ist“ (S. 3). Bei einem „extremen Autismus“ kann sich die Triebhaftigkeit derart steigern, dass z. B. im Vorbeilaufen plötzlich an den Haaren anderer (nicht-autistischer) Kinder gezogen wird oder von ihnen errichtete Bauwerke oder andere Dinge zielsicher zerstört werden, was mit einem „selig-boshaften Lächeln“ und Genuss begleitet wird.

Ein solches Verhalten muss nicht generell „den Charakter richtiger Bösartigkeit“ tragen und unterscheidet sich von einer „plötzlich hervorbrechenden Triebhandlung“, die aus heutiger Sicht einem unwillentlichen „Meltdown“ (z. B. als Reaktion auf sensorische Überlastung oder Stress sowie als Ausdruck von Verzweiflung) entspricht. Darauf geht Frankl (1934, S. 5) an anderer Stelle weitsichtig ein, indem er anregt, das Leben der betroffenen Kinder „so einzurichten, daß erregende Reize möglichst ausgeschaltet sind“. Im Zustand der Erregung sei hingegen „keine aktive Beherrschung des Affektes und keine Selbstbesinnung möglich“, weshalb es geboten sei, das betroffene Kind und seine Umgebung vor „unvorsichtigen Handlungen“ zu schützen.

Schlussbemerkung

Bemerkenswert ist, dass Frankl die von ihm beschriebenen, vermutlich zerebral bedingten autistischen Besonderheiten (einschl. spezifischer Formen einer Abkapselung oder eines sozialen Desinteresses an anderen Kindern) als Ausdrucks eines klinischen Bildes betrachtet, das „von der Idiotie bis zu einer erstaunlichen und eigentümlichen Leistung eines bestimmten Typus eines Wunderkindes variieren“ (1943, S. 261) kann. Damit legt er den Grundstein für eine intelligenzunabhängige Sicht von Autismus, die letztlich die Beschreibungen von Asperger und Kanner zusammenführt und das Gemeinsame betont. Dieser Ansatz wird heute durch das psychiatrische Klassifikationssystem DSM-5 gestützt. Demgegenüber hat im psychiatrischen Klassifikationssystem ICD-11 die Erfassung der Intelligenz im Rahmen von Autismus eine exponierte Stellung, die die Gefahr befördert, autistische Personen, die sich der Intelligenzerfassung verweigern, bei denen keine verlässliche Beurteilung möglich ist oder denen eine Intelligenzminderung attestiert wird, zu stigmatisieren und zu diskriminieren.

Ferner zeichnet G. Frankl mit seinem Konzept der „Triebhandlung“ ein „Gegenstück“ (1943, S. 242) zur Theorie der „unterdrückten“ Affektivität und „emotionalen Sprache“, welches eine „Disharmonie“ signalisiert. Dass „in vielen Fällen“ eine Widersprüchlichkeit im Gefühlsleben und Verhalten autistischer Kinder zu beobachten sei, schlussfolgert auch H. Asperger (1944, S. 123 ff.). Ebenso berichtet Grunja Ssucharewa mehrfach über solche „Gegensätzlichkeiten“ im Verhalten und Erleben der von ihr untersuchten autistischen Kinder.

Abschließend kann davon ausgegangen werden, dass sowohl H. Asperger als auch L. Kanner durch G. Frankls Beobachtungen und Erkenntnisse im Hinblick auf Autismus in starkem Maße beeinflusst wurden. Außerdem wissen wir heute von Verbindungslinien zwischen Kanner, Asperger und Ssucharewa.

Hans Asperger (1906 − 1980)

Die zweite „Erstbeschreibung“ bezieht sich auf den Wiener Kinder- und Jugendpsychiater Hans Asperger. In Verbindung seines Namens wird vom sogenannten Asperger-Syndrom gesprochen. Diese Bezeichnung wurde bisher in deutlicher Abgrenzung zu anderen Formen des Autismus verwendet.

Wie G. E. Ssucharewa interessierte sich gleichfalls H. Asperger für Kinder und Jugendliche, die ein höchst eigenwilliges und einzelgängerisches Verhalten zeigten. Für dieses klinische Bild nutzte er den Begriff der „autistischen Psychopathie“, die er erbbiologisch begründet, „als eine Extremvariante des männlichen Charakters, der männlichen Intelligenz“ (1968a, S. 199) betrachtet und von einer Schizophrenie abgrenzt. Die These der „Extremvariante des männlichen Charakters“ ist nicht unumstritten. Sie zeigt eine Nähe zur aktuellen Theorie des „extrem männlichen Gehirns“ (S. Baron-Cohen) autistischer Menschen (vgl. dazu Theunissen 2020a, S. 72 ff.).

H. Asperger wird nachgesagt, dass er mit geschickter Argumentation (durch Hinweis auf besondere Fähigkeiten) autistische Kinder vor der Verfolgung durch die Nazis schützen wollte. Gegen den Abtransport von schwer geistig und mehrfachbehinderten Kindern hatte er hingegen keine Einwände. Seine Schriften (1944; 1968a;b) zum Autismus beruhen im Wesentlichen auf Untersuchungen und Behandlungen von ca. 200 autistischen Kindern sowie einigen ausführlichen „Falldarstellungen“.

Einige der wesentlichen Merkmale des von ihm beschriebenen Autismus haben in den Klassifikationssystemen für psychische Störungen ICD-10 und DSM IV unter dem sogenannten Asperger-Syndrom Eingang gefunden. Ebenso finden sie sich im DSM-5 wieder. Im Unterschied zu diesen Klassifikationssystemen war Aspergers Blick aber nicht nur einseitig auf Defizite oder Fehlverhaltensweisen von autistischen Kindern und Jugendlichen ausgerichtet. Vielmehr bietet er Beschreibungen, die uns auch Fähigkeiten, außergewöhnliches Lern- und Problemlösungsverhalten sowie besondere Stärken, vor Augen führen. Er selbst schreibt, „dass in jedem Charakter (der autistischen Psychopathen, GT) Vorzüge und Mängel Ausfluß derselben Wesenszüge sind, daß Positives und Negatives zwei Seiten sind, die man nicht ohne weiteres voneinander trennen kann“ (1944, S. 135). Das macht seine Schriften über Autismus besonders wertvoll. Leider wird dies in der wissenschaftlichen Autismusforschung noch unzureichend beachtet. Expert:innen in eigener Sache sind hier ein wesentliches Stück weiter (vgl. Seng 2021).

Vor diesem Hintergrund möchte ich nunmehr einige Aspekte aufgreifen, die aus Hans Aspergers Schriften über Autismus hervorgehen und die zum Verständnis von Menschen aus dem Autismus-Spektrum bedeutsam sind. H. Asperger selbst hat keine detaillierte Auflistung spezifischer Merkmale von Autismus vorgenommen.

Zu Wahrnehmungsbesonderheiten

Beginnen möchte ich mit Wahrnehmungsbesonderheiten. Dieser Bereich kam bislang im Rahmen der Diagnostizierung und Klassifizierung von Autismus zu kurz. Inzwischen ist aber die Bedeutung von Wahrnehmungsbesonderheiten autistischer Menschen erkannt worden. Daher haben hyper- und hyposensorische Auffälligkeiten im aktuellen Klassifikationssystem DSM-5 Eingang gefunden.

Von Hans Asperger werden Wahrnehmungsbesonderheiten im Rahmen seiner zusammenfassenden Betrachtung autistischen Verhaltens aufgegriffen: „Überempfindlichkeiten und krasse Unempfindlichkeit stehen sich schroff gegenüber. Fast regelmäßig finden sich sehr differenzierte Zu- und Abneigungen auf dem Gebiete des Geschmackssinns … Etwas Entsprechendes findet sich auch auf dem Gebiet des Tastsinnes, viele dieser Kinder haben eine bis zu abnormen Graden gehende Abneigung gegen bestimmte Berührungsempfindungen … Auch gegen Geräusche oder Lärm sind diese Kinder oft ausgesprochen überempfindlich“ (ebd., S. 124 f.).

Dass solche Kinder stressempfindlich sind und stresserzeugende Situationen durch Stereotypien, repetitives Verhalten oder andere Verhaltensauffälligkeiten zu bewältigen versuchen, macht folgende Beobachtung deutlich: „Zum anderen war es eine Bewegung oder Unruhe um ihn (Fritz V., GT), die ihn zu solchen Stereotypien hinriß; war einmal an der Station eine laute, fröhliche, unruhige Stimmung, etwa bei einem Wettspiel, so konnte man sicher sein, daß er bald aus der Reihe brach und herumzuhüpfen oder herumzuschlagen begann“ (S. 88).

Neben der Beschreibung von hyper- oder hyposensorischen Auffälligkeiten stoßen wir aber auch auf Beobachtungen, die auf Stärken in der Wahrnehmung (z. B. Erkennen von Details) schließen lassen. Dies schimmert unter anderem im Rahmen von Intelligenzprüfungen durch. Zum Beispiel war der autistische Junge Fritz V. beim „Legeversuch“ in nur wenigen Sekunden in der Lage, die Stäbchen richtig zu legen. Diese Beobachtung entspricht Befunden und Erkenntnissen aus der modernen Autismusforschung.

Zu motorischen Auffälligkeiten

Zwischen Wahrnehmungsbesonderheiten und motorischen Auffälligkeiten bestehen enge Zusammenhänge. Das betrifft unter anderem Schwierigkeiten im Hinblick auf Körperwahrnehmung und Körperbeherrschung. Greifen wir unter anderem folgende Beobachtungen auf: Der autistische Junge Fritz V. „kann niemals körperlich gelöst sein, schwingt in keinem Rhythmus mit, beherrscht seinen Körper nicht. So kommt es denn, daß er immer wieder aus der Turngruppe oder von seinem Arbeitstisch davonrennt, hüpft oder schlägt oder auf die Betten steigt oder irgendeinen stereotypen Singsang loslässt“ (S. 89).

Im Unterschied zu den Wahrnehmungsbesonderheiten werden die motorischen Auffälligkeiten in den Fallbeschreibungen häufig erwähnt. Das gilt z. B. für ein unbeholfenes, ungeschicktes Verhalten beim Turnen, für eine „Unbeweglichkeit“ oder für „verkrampfte Hände“, des Weiteren für eine mangelnde Mimik und Gestik, für ein „automatenhaftes“ Erscheinungsbild, für „rhythmisches Wackeln“ und Bewegungsstereotypien.

Zu sprachlichen Besonderheiten

Sprachliche Besonderheiten gelten bis heute aus der Sicht autistischer Menschen und einiger Autismusforscher:innen als ein typisches Merkmal im Zusammenhang mit Autismus. Allerdings kommt ihnen als ein für Autismus typisches Merkmal im DSM-5 keine zentrale Bedeutung (mehr) zu. Stattdessen gibt es jenseits der Autismus-Spektrum-Störung eine eigens für Sprach- oder Kommunikationsstörungen neu geschaffene Kategorie.

Ähnlich wie motorische Auffälligkeiten schimmern ebenso sprachliche Besonderheiten in H. Aspergers „Fallbeschreibungen“ durch. Dies kann sich im Einzelfall auf ein frühes Sprechen oder auf Verzögerungen in der sprachlichen Entwicklung beziehen. Ferner berichtet Hans Asperger über das Fehlen der „normalen Wortmelodie“ mancher autistischer Kinder, über eine gesteigerte oder auch fehlende „lebendige“ Sprachmodulation, über Auffälligkeiten im Klang der Stimme (fein, hoch) oder im Redefluss (Singsang). Darüber hinaus beobachtete er bei einzelnen autistischen Kindern einen fehlenden Blickkontakt, einen unentwegten Redefluss, eine Spontanrede statt einem adäquaten Beantworten von Fragen oder auch eine originelle sprachliche Produktion, Wortneubildungen oder den Gebrauch ungewöhnlicher Wörter. So gibt es autistische Kinder oder Jugendliche, die gerne phantastische Geschichten erzählen, in denen sie heldenhaft erscheinen. Mitunter geht es um endlose, frei erfundene Geschichten, die bisweilen absurd und zusammenhanglos erscheinen oder als Mittel dienen, „um sich herauszulügen“ (S. 97).

Solche originellen sprachlichen Produkte sollten aber nicht abgetan, sondern als Ausdruck von Kreativität betrachtet und gewürdigt werden. Leider wurde Kreativität viele Jahre Menschen aus dem Autismus-Spektrum abgesprochen.

Zur „autistischen Intelligenz“

Hans Asperger stellt die „autistische Intelligenz“ als ein zentrales Merkmal der von ihm beobachteten autistischen Kinder und Jugendlichen dar. Seine Ausführungen dazu sind facettenreich. Zunächst einmal weiß er die originellen sprachlichen Produktionen als Ausdruck von Kreativität und Intelligenz zu schätzen. „Hinter der Eigenständigkeit der sprachlichen Formulierung steht die Originalität des Erlebens. Die autistischen Kinder haben die Fähigkeit, die Dinge und Vorgänge der Umwelt von neuen Gesichtspunkten aus zu sehen. Diese Gesichtspunkte sind oft von einer ganz erstaunlichen Reife, die Probleme, die sie sich stellen, reichen weit über das hinaus, was anderen Kindern gleichen Alters Inhalt des Denkens ist“ (S. 115).

Solche häufig frühreifen Fähigkeiten oder Begabungen kommen fast ausschließlich im Rahmen von „Sondergebieten“ oder Spezialinteressen zum Tragen. Hans Asperger sagt fast allen von ihm beobachteten autistischen Kindern die Ausbildung von „Sonderinteressen“ nach, die den Einzelnen „auf seinem ‚Spezialgebiet‘ zu ganz ungewöhnlichen Leistungen befähigt“ (S. 90).

Dieses außergewöhnliche, überdurchschnittliche Leistungsvermögen betrachtet er unter anderem als Ausgleich für „beträchtliche Defizite“. Für diese Kompensation erweist sich „die Eingeengtheit auf einzelne Gebiete des Lebens, auf ein isoliertes Sonderinteresse … als positiver Wert“ (S. 133).

Des Weiteren sieht er Vorzüge dieses speziellen Leistungsvermögens im Hinblick auf spätere Berufe. So schätzt er z. B. einen Jungen als „Naturforscher“, der sich mit wissenschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzt. Bei anderen stellt er vertiefte Hinwendungen und Spezialisierungen im Hinblick auf Chemie, Mathematik, Astronomie oder Technik (z. B. komplizierte Konstruktionen, Maschinen, Weltraumschiffe o. ä.) heraus. Ebenso werden Bereiche der Kunst (beachtliches Kunstverständnis, differenziertes Stilgefühl) sowie besondere musikalische Fähigkeiten erwähnt.

Als eine weitere Form der „autistischen Intelligenz“ gelten auch „automatisierte Gedächtnisleistungen“ (z. B. „Kalendermenschen“).

Zum Lernverhalten

Bemerkenswert ist, dass Hans Asperger an vielen Stellen seiner „Falldarstellungen“ sowie im Rahmen seiner zusammenfassenden Betrachtungen zum Autismus das Lernverhalten der von ihm beobachteten Kinder aufgegriffen hat. Insofern sollte dem Lernverhalten besondere Aufmerksamkeit zukommen. Daher haben Betroffene (ASAN) ein „atypisches Lern- und Problemlösungsverhalten“ als ein Merkmal für Autismus ausgewiesen.

H. Aspergers Ausführungen zum Lernverhalten beziehen sich in erster Linie auf unterrichtliche Situationen. Diesbezüglich stellte er fest, dass schulische Anforderungen und (intellektuelle) Leistungen immer dann recht unproblematisch oder überdurchschnittlich erbracht wurden, wenn der Lernstoff mit dem Interessengebiet des jeweiligen autistischen Kindes zusammenfiel. Wurden die individuellen (speziellen) Interessen nicht oder nur unzureichend berücksichtigt, waren die Leistungen in der Regel unzureichend und schwach. Ohne Interessenbezug mangelte es an Bereitschaft, sich am Unterricht zu beteiligen oder Kenntnisse von Lehrkräften zu übernehmen.

Nach H. Asperger (1968a, S. 188 f.) lernen autistische Kinder eher selbstbestimmt, „ganz von selber“ oder „nebenbei“. Dabei wenden sie wohl häufig „selbsterfundene Methoden“ an. „Wieder finden wir hier die Eigentümlichkeiten der ‚autistischen Intelligenz‘: die Leistungen sind dort am besten, wo das Kind spontan produzieren kann, dort am schlechtesten, wo es einen ganz bestimmten, vorgeschriebenen Weg einzuschlagen hat, besonders wo es Erlerntes wiederzugeben hat“ (Asperger 1944, S. 106).

Häufig scheinen autistische Kinder nach Aspergers Beobachtungen im Unterricht kaum geistig anwesend zu sein, eher „Unfug“ zu machen als zuzuhören. Auch wenn sie sich dem „Aufpassen“ entziehen, kann es jedoch zu einem späteren Zeitpunkt zu unerwarteten Leistungen oder Fähigkeiten kommen. Folglich werden Lernanforderungen doch nicht gänzlich ignoriert. Das wiederum hängt neben Interessen von der Motivation oder Einsicht der Betroffenen ab. Allem Anschein nach ist es für nicht wenige autistische Kinder „bezeichnend, daß sie vieles scheinbar nur mit dem ‚peripheren Gesichtsfeld´ sehen, nur ‚vom Rande der Aufmerksamkeit her´ wahrnehmen – und doch zu geistigem Besitz verarbeiten“ (ebd., S. 95). Dieses Verhalten wird mit einer gestörten Aufmerksamkeit, aber ebenso mit einem „ungewöhnlich reichen inneren Erleben“, mit einem guten logischen Denken sowie mit einer besonders guten Abstraktionsfähigkeit in Verbindung gebracht.

Zu Auffälligkeiten in sozialen Situationen

Störungen der Aufmerksamkeit betreffen auch soziale Situationen. Zum Beispiel können autistische Kinder sich gestresst fühlen oder weigern, „ihre Aufmerksamkeit, ihre Arbeitskonzentration auf das zu richten, was die Außenwelt, in diesem Falle die Schule, von ihnen verlangt. Sie gehen ihren eigenen Problemen nach, die meist vom Gewöhnlichen so sehr fern liegen, lassen sich meist von anderen gar nicht hineinsehen“ (S. 119).

Solche Verhaltensbesonderheiten der autistischen Kinder führen uns zu einem zentralen Problem, das Hans Asperger mehrfach als eine „sehr eingeengte Beziehung zur Umwelt“ oder als „eine Einschränkung des persönlichen Kontaktes zu Dingen und Menschen“ beschreibt. Es handelt sich hier um ein zentrales Merkmal des Autismus, das er für „die wesentliche Grundstörung“ (1968a, S. 177) hält.

Interessant ist diesbezüglich seine Beobachtung des autistischen Jungen Fritz, dem erhebliche Schwierigkeiten nachgesagt werden, sich in die Kindergemeinschaft einzuordnen, sozial zu orientieren und anzupassen. Fritz zeigte anderen einen Blick, der „ins Leere“ ging; und er schien „Menschen und Dinge … nur mit kurzen, ‚peripheren‘ Blick zu streifen“ (1944, S. 87).

Diese kurzen Seitenblicke waren aber zugleich eine Beobachtungsstrategie. So überraschte Fritz die Erwachsenen mit einer ausgezeichneten Erfassung von Situationen und einer guten Beurteilung von Mitmenschen. Auch andere autistische Jugendliche schienen in der Lage zu sein, Geschehnisse im Alltag und Personen genau zu registrieren. „Ein besonders feines Gefühl“ zeigte sich dabei „für die Abnormität anderer Kinder“ (ebd., S. 117). Zudem konnten einige sich selbst beobachten, ihre Aufmerksamkeit auf den eigenen Körpers richten, das eigene Verhalten reflektieren und mitteilen.

Eine solche „besondere Selbstbeschau“ (kursiv im Original) und „sichere Beurteilung anderer Menschen“ (1968a, S. 186) sollten als Stärke betrachtet werden. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob die zuvor genannte Beziehungsstörung autistischer Kinder nicht im Widerspruch zu der skizzierten sozialen Kompetenz steht. „Wie kann ein Mensch mit gestörten Beziehungen so viel bewußt erleben … ein erstaunlich richtiges und reifes Urteil über die Menschen der Umgebung“ (1944, S. 117) abgeben?

Für Hans Asperger ist dieser Widerspruch „ein scheinbarer“. Denn angesichts der Fähigkeit zur Distanzierung seien autistische Kinder in der Lage, „Abstand von den konkreten Dingen“ zu zeigen und Gegenstände oder Situationen mit „Klarsichtigkeit“ zu erfassen. Diese Fähigkeit käme nur bei autistischen Menschen vor. Sie sei Voraussetzung zur „Abstraktion, zur Bewusstwerdung, zur Begriffsbildung“ und zur „begrifflichen Erfassung der Welt“ (ebd., S. 117 f.). Insofern stoßen wir hier wiederum auf eine Form von „autistischer Intelligenz“.

Zum emotionalen Verhalten und Einfühlungsvermögen

Die Fähigkeit zur Distanzierung birgt allerdings das Problem einer Gemütsarmut und mangelnden Empathie. Daher seien „autistische Bosheitsakte“ mit einer besonderen Raffinesse denkbar: „Mit untrüglicher Sicherheit finden die Kinder das, was in einer gegebenen Situation am unangenehmsten, verletzendsten wirkt, sie gehen mit präziser Überlegung ans Werk, es fehlt diesen gefühlsarmen Kindern auch die Empfindung dafür, wie sehr sie anderen … weh tun“ (ebd., 121).

Dass solches Verhalten soziale Konflikte und Feindseligkeiten befördert, ist nachvollziehbar. Andererseits konnte H. Asperger aber auch Ablehnung und Hänseleien beobachten, die von nicht-autistischen Kindern ausgingen. Darunter hatten wiederum die autistischen Kinder zu leiden. Insofern sollten die o. g. Bosheitsakte – ähnlich wie von G. Ssucharewa angedeutet –, als reaktive Verhaltensmuster betrachtet werden, die womöglich aus dem Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, hervorgehen und eine Art ‚Wiederherstellung‘ von gerechten Verhältnissen darstellen.

Gleichwohl attestiert H. Asperger den autistischen Kindern und Jugendlichen vor dem Hintergrund der sozialen Probleme mit ihren nicht-autistischen Peers Gefühls- und Verhaltensstörungen, die mit Störungen in den „Tiefenschichten der Persönlichkeit“ sowie mit Impulshandlungen Hand in Hand gehen können. Hierzu nennt er z. B. plötzlich auftretende Handlungen mit mangelnder Impulskontrolle und fremdaggressivem Verhalten (Schlagen), die sich nicht vorher ankündigen und pädagogisch kaum aufzufangen sind.

Darüber hinaus spricht er einzelnen autistischen Heranwachsenden die Fähigkeit ab, emotionale Beziehungen zu anderen Personen herzustellen. Ebenso greift er Schwierigkeiten auf, sich in andere Menschen emotional hineinzuversetzen. Das erinnert an das heute viel zitierte Problem der „Mentalisierung“ (engl.: Theory of Mind).

Andererseits berichtet er aber auch über „anfallsartige“ Spontanbekundungen von Zärtlichkeit oder Liebkosungen. Diese Äußerungen gelten vor allem verlässlichen und positiv wahrgenommenen Bezugspersonen (z. B. Mutter, Lehrer:in, Schwester). Ferner reagierten manche der beobachteten autistischen Kinder auf ihre Klinikeinweisung mit massivem Heimweh. Einige wollten die Trennung von ihrer Familie rückgängig oder ungeschehen machen und unbedingt nach Hause.

Des Weiteren stoßen wir auf Beispiele, in denen einige der von H. Asperger untersuchten autistischen Kinder emotionale Bindungen zu Tieren oder „fetischartige“ Objektbindungen eingingen und pflegten. Daher sollte ihre „Gefühlsseite keineswegs so eindeutig negativ beurteilt“ (S. 127) werden. Hans Asperger betrachtet somit autistische Personen nicht grundsätzlich als emotionslos oder gefühlskalt. Anstelle einer „Gefühlsarmut“ nimmt er an, dass autistische Kinder emotional, in ihrem Erleben „qualitativ anders (sind, GT), und im Gefühl, im Gemüt disharmonisch, oft voll überraschender Widersprüche“ (1986a, S. 193). Dies erkläre ihre „Anpassungsstörungen“.

Dass autistische Personen (zum Teil stark ausgeprägte) Gefühle haben, aber ebenso Schwierigkeiten, ihre Emotionen zu regulieren oder zu steuern, wird auch von Betroffenen betont. Diese Erkenntnis entspricht der „Hypothese der unausgewogenen Empathie“ (vgl. dazu Theunissen 2020a). Des Weiteren führt sie uns vor Augen, dass eine Verallgemeinerung der These der mangelnden Empathie autistischer Personen (Theory of Mind) unzutreffend ist.

Zum Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung

Das Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung ist aus der Sicht autistischer Menschen (ASAN) ein zentrales Merkmal von Autismus. Bereits Hans Asperger greift dieses Bedürfnis auf. So weist er z. B. auf eine Neigung zum Ordnen von Bausteinen bei Spieltätigkeiten oder auf „zahlreiche Pedanterien“ hin, die zum Teil „zwangsneurotisch“ wirken. Kinder mit einem solchen Bedürfnis und Verhalten würden dann „große Szenen“ machen, wenn etwas verändert würde. „Gewisse Dinge müssten immer genau an demselben Platz liegen, in genau derselben Weise geschehen“ (1944, S. 104).

Bemerkenswert ist, dass H. Asperger diesbezüglich von einem Wesenszug spricht, der zum Aufbau sozialer Anpassung genutzt werden könne. So nennt er beispielsweise den Vorzug eines „genauen Stundenplans“, „in dem, vom Aufstehen zu bestimmter Zeit angefangen, alle Beschäftigungen und Pflichten des Tages genau aufgezählt waren“ (S. 103). H. Asperger hatte festgestellt, dass soziale Anpassungsleistungen bei autistischen Kindern nicht über unbewusste, „instinktive“ Prozesse hervorgebracht werden. Im Unterschied zu nicht-autistischen Kindern würde die soziale Anpassung nur über den Intellekt, rein verstandesmäßig erfolgen. Daher seien autistische Kinder „krass ausgedrückt Intelligenzautomaten“ (S. 104). Anknüpfend an diese Feststellung betrachtet H. Asperger die Nutzung von Routinen als „objektives Gesetz“ (S. 103) zur Förderung sozialer Anpassung.

Im Ergebnis erinnert Aspergers Beobachtung an das von P. Vermeulen (2016) beschriebene Phänomen der sogenannten „Kontextblindheit“; und nach den Autoren C. Klicpera und P. Innerhofer (1999) könnten wir von einem mangelnden oder fehlenden „intuitiven Vorverständnis“ sprechen. Konzeptionell entsprechen Aspergers Vorschläge sogenannten Strukturierungshilfen (wie im TEACCH-Konzept)1 für Zeitplanung, Raumorientierung, Arbeitsorganisation oder soziale Prozesse.

Zu Sonderinteressen, Leidenschaften und Stärken

Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass H. Asperger den von ihm beobachteten Kindern und Jugendlichen Sonderinteressen, außergewöhnliche Fähigkeiten und zum Teil herausragende Begabungen attestierte. Solche Stärken und Potenziale kommen im Rahmen der von ihm beschriebenen „autistischen Intelligenz“ besonders zum Tragen. Wenngleich die Beschäftigung mit Sonderinteressen und vor allem die damit verknüpften Beziehungen zu unterschiedlichen Dingen „abartig“ sein konnten, wusste H. Asperger solche Leidenschaften oder Vorlieben der autistischen Kinder für ihr späteres Leben zu schätzen. Daher sollten negative Assoziationen in Verbindung mit einer „autistischen“ Vertiefung in Sondergebiete vermieden werden. Vielmehr kommt es auf ihre Anerkennung und Unterstützung für eine persönlich bedeutsame Selbstverwirklichung und Lebensgestaltung an. Zudem kann ein Spezialinteresse Vehikel für eine erfolgreiche berufliche Tätigkeit und ein erfülltes Leben im Erwachsenenalter sein.

Für einige autistische Kinder kann schon das bloße Sammeln, Anhäufen oder Sortieren unterschiedlichster Dinge (z. B. Zündholzschachteln) ein hohes Maß an Befriedigung und Lebenszufriedenheit bedeuten. Solche Sammelleidenschaften sowie der ungewöhnliche Gebrauch von Dingen beschreibt gleichfalls H. Asperger (1968a, S. 192). Leider geht er dabei aber nicht auf die Funktion, den subjektiv bedeutsamen Zweck dieses Verhaltens ein. Eher äußert er sich über die primitiven Sammelaktivitäten abfällig, da sie ihm unvernünftig erscheinen. Gleichwohl schreibt er, dass „im späteren Alter der Kinder… diese Sammelleidenschaft meist interessanter und vernünftiger durch die Wahl der Objekte, ihre Ordnung und geistige Verarbeitung“ wird (ebd.).

Zu Schwierigkeiten im lebenspraktischen Bereich und in der exekutiven Funktion

Zu guter Letzt möchte ich Schwierigkeiten im lebenspraktischen Bereich und in der exekutiven Funktion ansprechen. Hans Asperger erwähnt mehrfach Probleme beim Erlernen einfacher lebenspraktischer Tätigkeiten sowie Formen einer Hilflosigkeit und Insuffizienz dem praktischen Leben gegenüber. Über Schwierigkeiten bei Verrichtungen des alltäglichen Lebens berichten gleichfalls viele Erwachsene aus dem Autismus-Spektrum. Manche nennen zudem „Handlungsstörungen“, die das alltägliche Tun oder die Bewältigung von Aufgaben blockieren (vgl. Dietmar Zöller in Theunissen 2020a). Es geht hierbei um ein „Wollen“, aber „Nicht-Können“. In der Autismusforschung werden derlei Probleme mit einer „exekutiven Dysfunktion“ in Verbindung gebracht. H. Asperger greift solche Handlungsstörungen zwar nicht explizit auf, lässt sie jedoch vereinzelt durchschimmern. Unter anderem spricht er Probleme mit dem „Körperschema“ an. Ferner erwähnt er Autisten, die später als Professoren ungepflegt herumlaufen oder „in aller Öffentlichkeit nasebohren“ (1968a, S. 192). Eigentlich müssten diese Erwachsenen um soziale Konventionen wissen, verhalten sich aber nicht danach. Ob dies ein Konflikt zwischen Wissen, Wollen und Nicht-Können, Ausdruck einer selbstbezüglichen, „nicht-sozialen Prioritätensetzung“ (Lawson) oder ein Zeichen der sogenannten „Kontextblindheit“ (Vermeulen) ist, wäre zu diskutieren.

Schlussbemerkung

Hans Aspergers Befunde zum Autismus zeigen auf, dass „eindimensionale Typisierungen“ zu kurz greifen. „Jeder Mensch ist ein einmaliges, unwiederholbares, unteilbares Wesen („In-dividuum“), darum auch letztlich unvergleichbar mit anderen. In jedem Charakter finden sich scheinbar widersprechende Züge“ (1944, S. 76). Folglich ist es unzulässig, nur die Störungsperspektive in den Blick zu nehmen. Der von H. Asperger charakterisierte Autismus beinhaltet nämlich sowohl signifikante Probleme oder Schwächen als auch besondere Fähigkeiten und Stärken. Daher sollte die aktuelle Bezeichnung „Autismus-Spektrum-Störung“ vermieden werden. Vielmehr befördert sie Missverständnisse und Vorurteile, die den betroffenen Menschen eher schaden als nutzen.

Auf die Berücksichtigung eines umfassenden Bildes von Autismus legen ebenfalls autistische Personen großen Wert. Darauf werde ich noch später kurz eingehen.

Hier genügt der Hinweis, dass einige Leistungen und Stärken autistischer Jugendlicher, die Hans Asperger durchaus zu schätzen weiß, gleichfalls im Autismus-Konzept der Selbstvertretungsorganisation ASAN Beachtung finden. Das betrifft z. B. Wahrnehmungsbesonderheiten, atypisches Lernverhalten, Spezialinteressen, autistisches Denken oder autistische Intelligenz.

Bestätigt wird zudem noch ein weiterer Aspekt, der die aktuelle Position betrifft. So gibt es mehr Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten als Unterschiede zwischen dem von Hans Asperper erforschten Autismus und dem von Leo Kanner beschriebenen Bild. Das hat übrigens H. Asperger in einem späteren Aufsatz (1968b, S. 142 f.) in gewisser Weise angedeutet. Bemerkenswert sind folgende Worte: „Als ‚autistisch‘ kann man Verhaltensstörungen sehr verschiedener Genese bezeichnen, die sehr wohl unterschieden werden können und auch unterschieden werden müssen – die aber doch im gesamten Charakter und in subtilen Einzelheiten große Ähnlichkeiten aufweisen. Autistisches Verhalten hat eine besondere Klangfarbe, die für den Erfahrenen unverkennbar ist; … die Ausdruckserscheinungen wie die besonderen Denk- und Erlebensweisen entsprechen einander genau.“

Leo Kanner (1896 − 1981)

Die vierte „Erstbeschreibung“ bezieht sich auf den österreichischen Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner. Sein Name steht in Verbindung mit dem sogenannten „frühkindlichen Autismus“ oder Bezeichnungen wie „Kanner-Syndrom“, „Kanner-Autismus“ oder „klassischer Autismus“. Diese Bezeichnungen wurden bisher in deutlicher Abgrenzung zum Asperger-Syndrom verwendet. Darüber hinaus gibt es mit dem „hochfunktionalen Autismus“ (leicht ausgeprägte Form, zumeist hohe Intelligenz und gute Kompensationsstrategien) und „niedrigfunktionalen Autismus“ (stark ausgeprägte Form) zwei Begriffe, die vom „frühkindlichen Autismus“ bzw. von Kanners Ausführungen abgeleitet werden. Dabei wird nicht selten der „hochfunktionale Autismus“ mit dem „Asperger-Syndrom“ in eine enge Verbindung gebracht oder gar synonym gesetzt. Diese Praxis signalisiert wiederum mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen den beiden Bildern von Autismus. Das hatte dem Anschein nach L. Kanner im Rahmen seiner Untersuchungen von Entwicklungsverläufen selbst erkannt (vgl. Silberman 2015, S. 216).

Leo Kanner emigrierte in den 1920er-Jahren in die USA und war dort am Johns-Hopkins-Hospital in Baltimore (Maryland) maßgeblich am Aufbau der Kinder- und Jugendpsychiatrie beteiligt. Im Jahr 1943 veröffentlichte er einen Grundlagenaufsatz über Autismus, an dem unter den Stichwörtern „frühkindlicher Autismus“ oder „autistische Störung“ später in den internationalen Klassifikationssystemen ICD und DSM angeknüpft wurde. Auch in dem aktuellen System DSM-5 sind Kanners Beobachtungen und Erkenntnisse beachtet worden.