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Das Buch bestimmt ein radikaler Blickwechsel auf das Phänomen Autismus. Pathologische und defizitorientierte Perspektiven werden hier endgültig verabschiedet. Unter dem Leitmotiv "Verstehen" geht es zunächst um die Innensicht und die Selbstbilder autistischer Personen. Unter dem Motto "Annehmen" wird dann das Kernthema Wertschätzung von Autisten als "Experten in eigener Sache" behandelt. Der dritte Teil des Buches steht im Zeichen von "Unterstützen" und liefert einen profunden Einblick in pädagogische Unterstützungsformen auf den unterschiedlichsten Handlungsfeldern im schulischen, außerschulischen, im beruflichen und privaten Bereich. Das Buch eröffnet nicht nur völlig neue Sichtweisen auf Menschen im Autismus-Spektrum, sondern liefert auch richtungsweisende Impulse für einen neuen Umgang mit Autismus in der Praxis.
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Seitenzahl: 568
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1. Auflage 2014
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart
Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-025393-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-025394-0
epub: ISBN 978-3-17-025395-7
mobi: ISBN 978-3-17-025396-4
Vorwort
I Verstehen
1 Autismus heute und morgen: Spektrum-Sicht und funktionale Betrachtung
Von der Tradition zur Innovation
Autismus – innovativ ausgelegt
DSM 5
Autismus verstehen lernen
Funktionale Betrachtung autistischer Verhaltensmuster
Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell
2 Innovative Erklärungsansätze
Monotropismus-Hypothese
Intense World Theory
Bedeutung der Amygdala
Theory of Mind
Modell der Schwachen Zentralen Kohärenz
Modell der Exekutiven Dysfunktion
Resümee im Hinblick auf eine verstehende Sicht
Konsequenzen für die Praxis und Ausblick
Empathy Imbalance Hypothesis und Extreme Male Brain Theory
Revision und Weiterentwicklung der Theory of Mind
Enhanced Perceptional Functioning
Konsequenzen für die Praxis
II Annehmen
1 Innovative Leitprinzipien: Empowerment und Inklusion
Die Geschichte von Kayla Takeuchi
Empowerment
Inklusion
2 Paradigmenwechsel im Zeichen von Empowerment und Konsequenzen für die Praxis
Das Beispiel TW
Von der Top-down-Partizipation zur Bottom-up-Partizipation
Personzentrierte Planung
Persönliche Zukunftsplanung
Persönliche Lebensstilplanung
Soziale Netzwerkplanung
Das Instrument »My Plan«
Individuelle Hilfeplanung (IHP-3)
Resümee und Organisation der Personzentrierten Planung
Sozialraumorientierung
Behinderten-Beiräte und Betroffenenbeteiligung
III Unterstützen
1 Leitperspektive Ressourcenaktivierung
2 Frühe Hilfen
Das Beispiel Jeff
Elternberatung und Familienarbeit
Unterstützerkreis und Programmplanung
Pädagogische und therapeutische Methoden
Das Beispiel ABA: Von der restriktiven zur ressourcenorientierten Praxis
3 Schule und Unterricht
Schulische Inklusion
Vertrauen in die Lernfähigkeit autistischer Schüler(innen) und allgemeine Unterstützungsmöglichkeiten
Individuelle Unterstützungsplanung
Lehrplanimplementierung
Subjektzentrierte Unterstützung
Kontextgestaltung
Planung eines inklusiven Unterrichts
Schlussbemerkung
4 Arbeit und Wohnen
Einleitende Bemerkungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Spezielle Bildungs- und Unterstützungssysteme zur Teilhabe am allgemeinen Arbeitsleben
Übergangsschulen
Angebote und Systeme zur beruflichen Bildung
Unterstützte Beschäftigung
Integrationsfirmen, -projekte und soziale Unternehmen
Unterstützte Hochschulausbildung oder Weiterbildung
Wohnen aus der Betroffenen-Sicht
Realität des Wohnens
5 Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten
Positive Verhaltensunterstützung im Arbeitsfeld Schule
Ein Beispiel aus der Praxis (nach Hyman 2009)
Verständnis von Verhaltensauffälligkeiten
Entwicklung und Grundzüge der PVU
Vorgehen der PVU als Einzelhilfe
Schlussbemerkung
Pädagogischer Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten im außerschulischen Bereich
Aus Geschichten lernen – Autismus positiv denken
Das Beispiel Frau F.
Literatur und Quellennachweise
»To some people, these ideas may seem radical« (Durbin-Westby, Ne’eman & Topper 2011). Mit diesen Worten ziehen prominente Repräsentanten aus der US-amerikanischen Empowerment-Bewegung behinderter Menschen, zu der auch das Autistic Self Advocacy Network (ASAN) zählt, ein Resümee im Hinblick auf ein Positionspapier, mit dem sie sich vor kurzem in die politische Debatte über zukünftige Wege der Behindertenarbeit und entsprechende Gesetze eingebracht haben.
Ebenso radikal könnte der Ansatz des vorliegenden Buches eingeschätzt werden – bricht er doch gleichfalls wie das ASAN mit traditionellen Vorstellungen über Autismus als pathologisches Phänomen sowie mit der bisherigen einseitig ausgerichteten Autismusforschung und Praxis, die bislang über eine an Defiziten orientierte Denkfigur kaum hinausgekommen ist.
Vor diesem Hintergrund ließe sich das Buch auch mit dem Titel »Von der Tradition zur Innovation« versehen – und dies in dreifacher Hinsicht:
Erstens wird eine Verstehensperspektive herausgearbeitet, die einerseits auf der »Innensicht« und auf Vorstellungen von autistischen Personen basiert, die unter anderem den Begriff des Autismus-Spektrums favorisieren und Autismus nicht als unmittelbaren Ausdruck einer Störung betrachten. Das wird bis heute im Lager der hiesigen Autismusforschung und Fachwelt fast gänzlich ignoriert. Andererseits wird die Verstehensperspektive mit international diskutierten Theorien und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen angereichert, die über die bislang im deutschsprachigen Raum verbreiteten Erklärungsansätze hinausgehen und zugleich die bisherige Sicht über Autismus wesentlich erweitern. Zum ersten Mal werden dabei der deutschsprachigen Leserschaft Ansätze vorgestellt, die bisher nur englischsprachig zugänglich waren.
Zweitens geht es um die Annahme und Wertschätzung von Autisten und Autistinnen in ihrem menschlichen So-Sein. Dies erfordert ein Konzept, das autistische Personen als »Experten in eigener Sache« akzeptiert, ernst nimmt und würdigt. Mit dem Empowerment liegt ein solcher Ansatz vor, der Betroffenen eine Stimme verleiht, die eindeutig ist: » Nothing about us without us!« (ASAN) – so lautet das Motto aus dem Autism Rights Movement, der Rechtebewegung autistischer Menschen, denen es neben Respekt, Antidiskriminierung und Akzeptanz des »autistischen Seins« insbesondere um gesellschaftliche Zugehörigkeit, um uneingeschränkte Inklusion in allen Lebensbereichen zu tun ist.
Drittens stellt sich die Frage nach einer Unterstützung, die der Verstehensperspektive und den Vorstellungen von autistischen Personen Rechnung tragen kann. Als erster Lehrstuhlinhaber für »Pädagogik bei Autismus« im deutschsprachigen Raum fokussiere ich hierzu verständlicherweise pädagogische Unterstützungsformen in Bereichen, die für Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit von besonderer Bedeutung sind.
Damit hoffe ich, ein attraktives und vor allem innovatives Buch vorgelegt zu haben, welches zum Nachdenken anregen und richtungsweisende Impulse für die Praxis bieten soll.
Mein Dank gilt allen, die die Arbeit an diesem Buch unterstützt haben, vor allem Henriette Paetz für ihre kritisch-konstruktive Durchsicht, Zuarbeit und Übersetzung einiger Texte aus dem angloamerikanischen Sprachraum. Bedanken möchte ich mich zudem bei Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer-Verlag für sein großes Interesse an der Realisierung des Buchprojekts.
Gewidmet habe ich das Buch autistischen Personen, denen ich begegnet bin und von denen ich viel gelernt habe, sowie insbesondere autWorkers (Hamburg) und Aspies e. V. (Berlin) zur Unterstützung ihrer Arbeit.
Georg TheunissenFreiburg i. Br. und Halle a. S.
Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur über Autismus genügt, um festzustellen, dass die weitaus meisten, vor allem deutschsprachigen Schriften Informationen über verschiedene klinische Bilder von Autismus als »tiefgreifende Entwicklungsstörung« verbreiten sowie spezifische Therapiemaßnahmen oder Interventionen empfehlen, bei denen eine Pathologisierung, Defizitbetrachtung und Behandlungsbedürftigkeit autistischen Verhaltens den spürbaren Hintergrund bildet. Diesbezüglich gibt es kaum Unterschiede im Aufbau, in der Darstellung und in den Botschaften der einschlägigen Fachliteratur, bei der das Lager der klinischen Disziplinen tonangebend ist, auf die sich nicht wenige Praktiker oder auch Eltern autistischer Kinder stützen. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Autismus bis heute folgendermaßen skizziert wird:
Dieser Beschreibung folgt dann ein Defizitkatalog gemäß der sogenannten »Symptom-Triade« (triad of impairments) nach den international bekannten und gebräuchlichen Klassifikationssystemen psychischer Störungen ICD-10 (Dilling u. a. 1993) und DSM-IV (APA 1994):
»Symptom-Triade nach ICD-10 und DSM-IV
• Qualitative Beeinträchtigung der wechselseitigen sozialen Interaktion
– Beeinträchtigung bei Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Interaktionen
– Unfähig, altersgemäße Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen
– Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit
– Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen
• Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation
– Entwicklungsstörung der gesprochenen Sprache ohne Kompensation durch Gestik oder Mimik
– relative Unfähigkeit, eine Konversation zu beginnen oder aufrechtzuerhalten
– stereotype und repetitive oder eigentümliche Verwendung der Sprache
– Mangel an spontanen Als-ob-Spielen bzw. sozialen Interaktionsspielen
• Stereotypes Repertoire von Interessen und Aktivitäten
– Intensive Beschäftigung mit stereotypen und begrenzten Interessen
– Spezifische, nicht funktionale Handlungen oder Rituale
– Stereotype und repetitive motorische Manierismen
– Durchgängige Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen von Gegenständen
Zusätzlich: Auffällige Entwicklung von frühester Kindheit an (Quelle: Monica Biscaldi-Schäfer und Klaus Hennighausen, 02.04.2011)« (Gier-Dufern & Selter 2012).
Diese »Symptom-Triade« wird durch eine Auflistung an Beeinträchtigungen in verschiedenen Wahrnehmungsbereichen und des Problemlösungsverhaltens ergänzt, wobei eine statische, generalisierende, negative Sprache (z. B. »Autistischen Menschen fehlt…«, »verhalten sich…«, »haben kein Verständnis…«, »Unfähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen«) unangenehm auffällt.
Solche Defizitkataloge sowie entsprechende Informationen, die gegenwärtig nicht selten als »Rüstzeug« im Rahmen einer Vorbereitung von Schulbegleiter(inne)n für autistische Kinder und Jugendliche oder gar zur Qualifizierung und Professionalisierung heilpädagogischer und psychologischer Fachkräfte dienen, zeichnen unzweifelhaft ein sehr einseitiges Bild über Personen, die als autistisch gelten.
Demnach erscheint das Verhalten und Erleben betroffener Personen als »gestört« und häufig krankhaft, was zu der Vorstellung verleitet, Autismus als »ein lebenslanges, sehr stark belastendes Leiden« (Poustka 2010, 11) und Betroffene als »therapiebedürftige Fälle« zu betrachten. Dagegen richtet sich seit einiger Zeit massive Kritik, die vor allem aus dem Lager der Selbstvertretung von Menschen im Autismus-Spektrum artikuliert wird (vgl. ASAN 2012b; Aspies e. V.; autWorker; Cohen-Rottenberg 2011, 90). So legen zum Beispiel alle 15 Autor(inn)en der vom Selbstvertretungsverein Aspies herausgegebenen Schrift »Risse im Universum« Wert auf die Feststellung: »Uns … ist allen gemeinsam, dass wir nicht als ›Fälle‹ oder ›Opfer‹ des Autismus gesehen werden wollen, von dem wir womöglich geheilt werden müssten« (Aspies e. V. 2010, 9); und an anderer Stelle schreiben Betroffene: »Die Art, wie wir anders sind als andere Menschen, zu pathologisieren, empfinden wir als Diskriminierung … Wir wehren uns dagegen, dass Autismus nur über Defizite definiert wird« (Aspies e. V. 2008). Dieser Protest gilt nicht nur dem traditionellen Autismus-Bild im Lager der helfenden Berufe, Fachwelt, Politik und Kostenträger, sondern ebenso den Vorurteilen, unreflektierten, einseitigen Ansichten über Autismus in der Öffentlichkeit und in den Medien.
Selbst die Autismusforschung war viele Jahre »nicht frei (…) von Mythen und Vorurteilen gegenüber autistischen Menschen« (Seng 2011, 5), hatte sie sich doch weithin vom traditionellen psychiatrischen Modell leiten lassen, welches Behinderungsformen mit kognitiven Beeinträchtigungen und (zusätzlichen) Verhaltensbesonderheiten (z. B. geistige Behinderung oder Autismus) überwiegend nihilistisch-pessimistisch prognostizierte (vgl. dazu Theunissen 2012, 38). Die Verallgemeinerung dieser psychiatrischen Sicht hatte nicht nur autistischen Personen mit schweren Beeinträchtigungen, sondern ebenso anderen Autist(inn)en in vielerlei Hinsicht geschadet. Wenngleich in den beiden Klassifikationssystemen der als »Asperger-Autisten« klassifizierten Personengruppe im Unterschied zu den sogenannten »Kanner-Autisten« kognitive Fähigkeiten, eine weithin normgerecht verlaufende Sprachentwicklung sowie spezielle Stärken oder Begabungen zugeschrieben werden, wurde die Defizit-Perspektive bei allen Autismus-Syndromen angelegt und weithin verallgemeinert.
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