Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen - Georg Theunissen - E-Book

Basiswissen Autismus und komplexe Beeinträchtigungen E-Book

Georg Theunissen

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Beschreibung

Das Buch befasst sich mit autistischen Personen mit Lernschwierigkeiten und komplexen Beeinträchtigungen und nicht nur – wie in der Fachliteratur der letzten Jahre häufig üblich – sogenannten hochfunktionalen oder Asperger Autist*innen. So sollen alle Personen aus dem Autismus-Spektrum davon profitieren können. Das Lehrbuch für die Heilerziehungspflege und Heilpädagogik ist mit kleinen, zwischengeschalteten Textblöcken zu pädagogischen Hinweisen oder Tipps sowie Beispielen aus der Praxis gestaltet. Dies lockert das Buch auf und macht es leicht zugänglich. Zugleich ist es in verständlicher Sprache verfasst, die oft bei Fachbüchern vermisst wird. Neu in der 3. Auflage ist die Berücksichtigung des Klassifikationssystems ICD-11. Außerdem wurden neuere Befunde und Erkenntnisse aus der Autismusforschung eingearbeitet.

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Georg Theunissen

Basiswissen Autismusund komplexe Beeinträchtigungen

Lehrbuch für die Heilerziehungspflege,Heilpädagogik und (Geistig-)Behindertenhilfe

Dieses Buch entstand in Kooperation mit derBundesvereinigung Lebenshilfe e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

3. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten

© 2024, Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau

www.lambertus.de

Umschlaggestaltung: Nathalie Kupfermann, Bollschweil

Umschlagbild: The me in the I of the Self (Privatbesitz)

(Künstlerin: Gee Vero, Initiatorin des internationalen Projekts The Art of Inclusion; Kontakt über www.bareface.jimdo.com)

Druck: Elanders Waiblingen GmbH

ISBN ePub 978-3-7841-3749-0

ISBN eBook-PDF 978-3-7841-3705-6

ISBN Print 978-3-7841-3704-9

Inhalt

Vorwort zur dritten Auflage

Vorwort zur zweiten Auflage

Kapitel I – Einführung zum Verständnis der Leitbegriffe

Autismus

Zur Klassifikation von Autismus nach DSM-5 und ICD-11

Autismus aus der Betroffenensicht

Komplexe Beeinträchtigungen

Zum Begriff der „geistigen Behinderung“

Zur Klassifikation von „Intellektueller Entwicklungsstörung/kognitiver Beeinträchtigung” nach DSM-5 und ICD-11

Zum Behinderungsverständnis nach ICF

Autismus und komplexe Beeinträchtigungen

Ursachen und neurobiologische Erkenntnisse

Intelligenz und Auswirkungen

Zur Frage der primären Behinderung

Kapitel II – Spezielle Besonderheiten und Begleiterscheinungen

Hyperlexie

Wahrnehmungsbezogenes Denken bei autistischen Kindern

Wahrnehmungsbezogene Interessen und Verhaltensweisen

Begriffsbestimmung und Verständnis von Hyperlexie

Außergewöhnliche Begabungen und hyperlexieähnlichen Fähigkeiten

Neurowissenschaftliche Annahmen

Atypische Entwicklungsprozesse bei autistischen Kindern

Konsequenzen für die pädagogische Praxis

Beispiele an Förder- und Unterstützungsangeboten

Sensorische Besonderheiten

Vier sensorische Problembereiche

Diskussion und Folgerungen für die pädagogische Praxis

Sinnesbehinderungen im Hören und Sehen

Forschungsbedarf, diagnostische Probleme und Prävalenz

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Autismus und Sinnesbehinderungen

Konsequenzen für die pädagogische Praxis

Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS)

ADHS aus klinischer Sicht

ADHS aus der Betroffenensicht

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ADHS und Autismus

Konsequenzen für die Praxis

Stress und Krisen

Vulnerabilität und stresshafte Situationen (Stressoren)

Stressreaktionen

Krisen

Resilienz und Ressourcen

Konsequenzen für die Praxis

Schlussbemerkung: Nach der Krise

Herausfordernde Verhaltensweisen (Verhaltensauffälligkeiten)

Abgrenzung zu psychischen Störungen

Herausforderndes Verhalten bei Autismus

Positive Verhaltensunterstützung (PVU)

Zur ersten Präventions- und Interventionsstufe

Zur zweiten Präventions- und Interventionsstufe

Zur dritten Präventions- und Interventionsstufe

Schlussbemerkung

Psychische Begleitstörungen

Angststörungen

Depressive Störungen (bipolare affektive Störungen)

Essstörungen

Schizophrenie/psychotische Störungen

Schlafstörungen

Zwangsstörungen

Persönlichkeitsstörungen

Klassifikation

Häufigkeit

Erscheinungsformen und Besonderheiten bei Autismus

Konsequenzen für die Praxis

Traumata und Traumatisierung

Ausgangspunkt: Traumatisierungen bei Personen aus dem Autismus-Spektrum

Traumatische oder traumatisierende Ereignisse

Traumatische Erfahrungen

Traumareaktionen und Folgeerscheinungen

Erkennen einer Traumatisierung

Folgerungen für die pädagogische Praxis

Schlussbemerkung

Epilepsie

Zu den Ursachen

Zu Erscheinungsbildern, Symptomen und Verläufen

Zur medizinischen Therapie

Zu pädagogischen Hilfen

Altern und schwere neurokognitive Störungen (Demenzen)

Autismus und Lebenserwartung

Altern mit Autismus

Zu Erkrankungen und Verhaltensbesonderheiten im Alter

Schwere neurokognitive Störungen (Demenzen)

Vorschläge zur Diagnostik

Zur Leitperspektive der Lebensqualität

Konsequenzen für die pädagogische Praxis

Schlussbemerkung

Kapitel III – Arbeitsfelder und pädagogische Hilfen

Geschichte, Entwicklung und Schwerpunkte der Arbeitsfelder

Arbeitsfeld Frühförderung und Autismus-Zentrum

Arbeitsfeld Vorschulische Kindertageseinrichtung

Arbeitsfeld Schule

Arbeitsfeld berufliche Ausbildung und Teilhabe am Arbeitsleben

Arbeitsfeld Wohnen

Pädagogische Hilfen

Evidenzbasierte Praxis

Zur Einschätzung pädagogisch relevanter Förder- und Unterstützungsangebote

Anhang

Syndromaler Autismus und klinische Bilder

Angelman-Syndrom

Cornelia-de-Lange-Syndrom

Down-Syndrom

Duchenne/Becker muskuläre Dystrophie

Fetales Valproinsäure-Syndrom (Dysmorphie-Syndrom)

Fragiles-X-Syndrom

Klinefelter-Syndrom

Prader-Willi-Syndrom

Phelan-McDermid Syndrom (PMS)

Rett-Syndrom

Sanfilippo-Syndrom

Smith-Lemli-Opitz-Syndrom

Smith-Magenis-Syndrom

Tuberöse Sklerose (Bourneville-Pringle-Syndrom)

Williams-Beuren-Syndrom

Ausgewählte Literatur

Der Autor

Vorwort zur dritten Auflage

Bedanken möchte ich mich zunächst für die positive Resonanz der bisherigen Aufbereitung des vorliegenden Buches. In der Tat ist es wichtig, autistischen Menschen eine Stimme zu geben, denen es schwerfällt, für sich selbst zu sprechen oder die derart beeinträchtigt sind, dass sie zur Durchsetzung ihrer Rechte sowie zur Gestaltung und Verwirklichung ihres Lebens Unterstützung benötigen.

Hierzu wurden nunmehr in der dritten Auflage Ausführungen über Autismus und intellektuelle Beeinträchtigungen des Klassifikationssystems ICD-11 eingearbeitet und darüber hinaus stellenweise (z. B. in Hinblick auf sensorische Besonderheiten, Ursachen und neurobiologische Erkenntnisse, Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Schule, Teilhabe am Arbeitsleben), Ergänzungen durch neuere Befunde und Erkenntnisse vorgenommen. Damit kann dem Buch über Basiswissen in Hinblick auf Autismus und komplexe Beeinträchtigungen weiterhin hohe Aktualität und zugleich Zeitlosigkeit attestiert werden.

Georg Theunissen (Freiburg i. Br.)

April 2024

Vorwort zur zweiten Auflage

Nach einer Meta-Analyse von G. Russell und Team (2019) waren im Jahr 2016 in den bedeutsamsten Fachzeitschriften über Autismus des angloamerikanischen Sprachraums Menschen aus dem Autismus-Spektrum mit einer unterdurchschnittlichen Intelligenz signifikant unterrepräsentiert. Ausgewertet wurden 301 Publikationen. Die mangelnde Berücksichtigung dieses Personenkreises betraf weithin alle Bereiche der Autismusforschung − neurowissenschaftliche Studien ebenso wie Untersuchungen über wirksame Interventionen und soziale Dienstleistungssysteme.

Bei diesem Befund handelt es sich um einen Trend, der auch anderen Studien zu entnehmen ist (vgl. Brown, Chouinard und Crewther 2017). Die Gefahr besteht, dass im Zuge einer solchen Entwicklung etwa die Hälfte aller Menschen aus dem Autismus-Spektrum marginalisiert wird. Denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird 31 % bis 42 % aller autistischen Personen eine unterdurchschnittliche Intelligenz im Sinne einer sogenannten „geistigen Behinderung“ (Intelligenzquotient unter 70) nachgesagt, und etwa 8 % bis 39 % aller Personen, die als „geistig behindert“ bezeichnet werden, gelten zugleich als „autistisch“.

Die Marginalisierung autistischer Menschen mit unterdurchschnittlicher Intelligenz wird dadurch befördert, dass sich immer mehr autistische Erwachsene zu Wort melden, die über ihre „Innensichtweisen“ berichten. Damit geben sie als „Expert:innen in eigener Sache“ der Autismusforschung, Behindertenhilfe, Bildungs- und Sozialpolitik wichtige Erkenntnisse und Anregungen.

Der Wert der Stimme der Betroffenen wird allmählich erkannt, weshalb im Rahmen von Forschungsstudien immer häufiger darauf zurückgegriffen wird. Allem Anschein nach ist es für die Autismusforschung einfacher und attraktiver, mit sprachbegabten und (hoch-)intelligenten Autist:innen zusammenzuarbeiten, als mit autistischen Personen, die sich kaum oder nicht sprachlich äußern können, intellektuelle Beeinträchtigungen zeigen und schwerer zugänglich sind (vgl. Jack & Pelphrey 2017).

Ohne Zweifel kann die Bedeutsamkeit der selbsterschlossenen Erkenntnisse und Selbstvertretung (Empowerment) von Autist:innen für alle Menschen aus dem Autismus-Spektrum hoch eingeschätzt werden (vgl. Kapp 2020).

Gleichwohl sollten wir uns davor hüten, Selbstauskünfte und insbesondere Befunde und Theorien, die aus Untersuchungen mit autistischen Personen ohne Intelligenzbeeinträchtigung hervorgegangen sind, unreflektiert zu rezipieren und auf den gesamten Personenkreis der Autist:innen zu verallgemeinern. Denn „nicht alle autistischen Personen stimmen in ihren neurologischen Profilen, in der genetischen Veranlagung, im ursächlichen Entwicklungsverlauf sowie in den kognitiven und wahrnehmungsbezogenen Unterschieden überein und zeigen die gleichen Reaktionen auf Interventionen“ (Russell et al. 2019, 7).

Freilich gibt es einige Forscher:innen, die das breite Autismus-Spektrum beachten und auf eine differenzierte Betrachtung von Forschungsbefunden Wert legen. Dennoch hat die Fokussierung auf sogenannte hochfunktionale oder Asperger-Autist:innen in den letzten Jahren in der Fachliteratur eine Lücke erzeugt, die sich nicht nur auf Menschen aus dem Autismus-Spektrum mit unterdurchschnittlicher Intelligenz bezieht, sondern darüber hinaus Betroffene mit zusätzlichen herausfordernden Verhaltensweisen, psychischen Begleitstörungen und hohem Unterstützungsbedarf betrifft. Gemeint sind damit autistische Personen mit Lernschwierigkeiten und komplexen Beeinträchtigungen.

Genau um diesen Personenkreis geht es in der vorliegenden Schrift. Sie soll quasi die Orientierung an der Selbstvertretung autistischer Menschen im Interesse derjenigen, die nicht als „empowered persons“ imponieren können, so justieren und aufbereiten, dass alle Personen aus dem Autismus-Spektrum davon profitieren können. Anders gesagt: Um zu vermeiden, dass Autist:innen mit komplexen Beeinträchtigungen vernachlässigt, benachteiligt und zugleich in ihren Entwicklungsmöglichkeiten und Stärken verkannt sowie als „schwerstbehindert“ in Sondereinrichtungen abgeschoben werden, ist es wichtig, auch ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Dies zu leisten verspricht eine verstehende Sicht von Autismus, ohne dabei das Spektrum an komplexen Beeinträchtigungen auszublenden.

In diesem Sinne geht es im ersten Kapitel des Buches um die Aufbereitung der „Schlüsselbegriffe“: Im Anschluss an einen kurzen Blick auf das aktuelle Autismus-Konzept aus klinischer Perspektive wird zunächst das von der weltweit einflussreichsten Selbstvertretungsbewegung „Autistic Self Advocacy Network“ (ASAN) favorisierte Verständnis von Autismus aufgegriffen. Dieses gilt als richtungsweisend für eine „gute Praxis“. Nachfolgend wird unter Berücksichtigung der Sicht behinderter Menschen der Arbeitsbegriff der komplexen Beeinträchtigungen begründet. Dieser bezieht sich auf Personen mit hohem Unterstützungsbedarf, denen hierzulande eine sogenannte geistige Behinderung nachgesagt wird, die sich selbst als Menschen mit Lernschwierigkeiten bezeichnen und nicht selten mehrfache Behinderungen aufweisen. Das Zusammenwirken von Autismus und komplexen Beeinträchtigungen unter Beachtung von Fragen zu den Ursachen und zu spezifischen Syndromen runden die Einführung in die Schrift ab.

Anschließend werden in einem zweiten Kapitel zentrale Besonderheiten und Begleitstörungen unserer Bezugsgruppe herausgestellt und diskutiert. Das betrifft neben Wahrnehmungsbesonderheiten und ADHS das bislang vernachlässigte Thema der Hyperlexie gleichermaßen wie Fragen zu Sinnesbehinderungen, zu Auswirkungen bestimmter psychischer Störungsbilder (z. B. Depressionen, Angst-, Ess-, Zwangsstörungen), zu Persönlichkeitsstörungen und zum Umgang mit traumatischen Erfahrungen, Stress, Krisen und herausforderndem Verhalten. Abgerundet wird dieser Teil der Schrift mit Fragen zum Altern und zu schweren neurokognitiven Störungen (Demenzen) als die häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter.

Das dritte Kapitel befasst sich mit Unterstützungssystemen und pädagogischen Hilfen, die im Hinblick auf autistische Personen mit komplexen Beeinträchtigungen als tragfähig betrachtet werden können. Hierzu werden Fragen zur Wirksamkeit diskutiert und Konzepte, Methoden oder Interventionen in einer Übersicht zusammengestellt, die eine reflektierte Einschätzung und Auswahl von Angeboten für eine „gute Praxis“ erleichtern soll.

Insgesamt ist die Schrift als ein Lehrbuch für die Heilerziehungspflege und Heilpädagogik konzipiert worden. Dafür wurde eine didaktische Gestaltung vorgenommen, die durch kleine, zwischengeschaltete Textblöcke zu pädagogischen Hinweisen oder Tipps sowie Beispiele aus der Praxis das gesamte Buch auflockert und leicht zugänglich macht. Zugleich waren wir um eine verständliche Sprache bemüht, die oft bei Fachbüchern vermisst wird. Englischsprachige Zitate wurden daher zumeist ins Deutsche übersetzt. Bei unserer Buchkonzeption standen wir vor der Wahl, entweder der Lesbarkeit halber Fachliteratur möglichst sparsam anzugeben oder wie bei wissenschaftlichen Abhandlungen Aussagen, Ansichten, Befunde oder Erkenntnisse mit Quellenangaben zu belegen und anzureichern. Da ein Lehrbuch nicht nur zum Mitdenken, Reflektieren und Nacharbeiten, sondern auch zu einer vertieften Auseinandersetzung mit bestimmten Themen oder Fragen motivieren soll, entschieden wir uns für einen Mittelweg. Dort, wo wir es für wichtig hielten (vor allem bei neueren Erkenntnissen und Themen, die bislang kaum beachtet werden), wurde relevante Bezugsliteratur quasi als Nachschlageangebot für neugierige, wissensbedürftige und engagierte Leser:innen aufgeführt.

Alles in allem hoffe ich somit ein attraktives Lehrbuch vorgelegt zu haben, das für die Unterstützung (Assistenz) von autistischen Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen eine wichtige Orientierungsgrundlage und Hilfe sein soll.

Bedanken möchte ich mich wiederum bei Gee Vero, diesmal für Ihr beeindruckendes Bild „The me in the I of the Self“, bei Isabell Drescher für die Mitarbeit und Unterstützung des Buchprojekts sowie bei Frau Winkler vom Lambertus-Verlag für die ausgezeichnete Zusammenarbeit.

Georg Theunissen (Freiburg i. Br.)

Juli 2022

KAPITEL I

Einführung zum Verständnis der Leitbegriffe

Unser erstes Kapitel greift mit Autismus und komplexen Beeinträchtigungen die Leitbegriffe unserer Schrift auf, diskutiert unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte, die mit den Begriffen einhergehen und befasst sich mit Parallelbezeichnungen. Herausgestellt werden neben klinischen Sichtweisen die Auffassungen aus Selbstvertretungsbewegungen autistischer Personen und Menschen mit Lernschwierigkeiten. Die Frage des Autismus als primäre Behinderung rundet das Einführungskapitel ab.

Autismus

Der Begriff „Autismus“ ist vom griechischen Wort „autos“ abgeleitet. Ins Deutsche übersetzt wird er mit „selbst“ in Verbindung gebracht. Im Jahr 1911 wurde er von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler zunächst zur Beschreibung eines Merkmals der Schizophrenie benutzt. Damit sollte aber nicht zwangsläufig etwas Pathologisches gekennzeichnet werden. Vielmehr versuchte Bleuler mit Autismus den von ihm bei seinen schizophrenen Patienten beobachteten Kontaktverlust mit der Umwelt und den Rückzug aus der Wirklichkeit als eine menschliche Eigenschaft zu beschreiben (Theunissen & Sagrauske 2019, 14).

Daran anknüpfend wurde der Begriff in den 1940er-Jahren von Leo Kanner und Hans Asperger benutzt, die als „Pioniere“ des Autismus bezeichnet werden. Allerdings hatten sie durch Zuarbeiten der Psychologin Anni Weiss-Frankl und des Psychiaters Georg Frankl erheblich profitiert (vgl. Theunissen 2021d). Zudem gibt es noch eine dritte „Erstbeschreibung“ autistischer Merkmale und autistischen Verhaltens. Sie stammt von der russischen Kinderpsychiaterin Grunja Ssucharewa, die um 1920 autistische Merkmale und Verhaltensweisen von Jugendlichen unter der Bezeichnung „schizoide Psychopathie“ gefasst hatte (vgl. Theunissen 2021a).

Heutzutage begegnen wir verschiedenen Versuchen, die betroffene Personengruppe zu kennzeichnen und zu beschreiben. Die beiden weltweit anerkannten Klassifikationssysteme ICD1 und DSM2 sowie viele Fachleute benutzen den Begriff „Autismus-Spektrum-Störung“. Dagegen wenden sich nicht wenige Betroffene, die Autismus weder als Krankheit noch per se als eine psychische Störung betrachten. Ihrer Ansicht nach ist Autismus Ausdruck menschlichen Seins, weshalb sie die Bezeichnungen Autist:in, autistische Person oder auch Mensch im Autismus-Spektrum bevorzugen (vgl. Kenney et al. 2015). Folgerichtig lehnen sie ebenso wie die von Eltern betroffener Menschen eingebrachte Bezeichnung „Mensch mit Autismus“ ab. Einige weltweit renommierte Autismusforscher (z. B. S. Baron-Cohen et al. 2009) haben darauf reagiert, indem sie die Bezeichnung „autism spectrum condition“ favorisieren. Damit soll der Blick auf Defizite oder Störungen und zugleich auf spezifische Stärken und Fähigkeiten autistischer Personen gelenkt werden.

Merkbox

Statt Autismus-Spektrum-Störungen sollen Bezeichnungen wie Autismus oder Autismus-Spektrum bevorzugt werden. Autismus gilt als Ausdruck menschlichen Seins. Daher bezeichnen sich Betroffene als Autist:innen.

Zur Klassifikation von Autismus nach DSM-5 und ICD-11

Bisher war es üblich, Autismus nach den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM IV als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ zu beschreiben und in verschiedene klinische Bilder oder Typen zu unterteilen: frühkindlicher Autismus (nach L. Kanner), Asperger-Syndrom, atypischer Autismus, nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung. Mit dieser Einteilung gingen all die Jahre diagnostische Unsicherheiten und Probleme einher. Dies führte dazu, dass einzelne Personen im Laufe ihres Lebens unterschiedliche Autismus-Diagnosen erhielten. In dem Zusammenhang wurde deutlich, dass - wie bereits aus den „Erstbeschreibungen“ hervorgeht (vgl. Theunissen 2021d) - zwischen dem frühkindlichen Autismus und dem Asperger-Syndrom mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede bestehen. Daraufhin wurden abgeleitet vom frühkindlichen Autismus die Begriffe hochfunktionaler Autismus (mit einer Nähe zum Asperger-Syndrom) und niedrigfunktionaler Autismus (als schwere Form assoziiert mit komplexer, vor allem intellektueller Beeinträchtigung) in die Fachdiskussion eingeführt. Aber auch dieser Schritt war unbefriedigend.

So wurde im Rahmen der Revision und Aktualisierung des DSM IV zu DSM-5 der Beschluss gefasst, zukünftig unter der Bezeichnung „Autismus-Spektrum-Störung“ (Autism Spectrum Disorder) auf die bisherige Einteilung zu verzichten und die verschiedenen klinischen Bilder von Autismus unter zwei Kernbereiche einzuebnen:

A.Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg. Diese manifestieren sich in allen folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen (die Beispiele sind erläuternd, nicht vollständig):

1.Defizite in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit. Diese reichen z. B. von einer abnormen sozialen Kontaktaufnahme und dem Fehlen von normaler wechselseitiger Konversation sowie einem verminderten Austausch von Interessen, Gefühlen oder Affekten bis hin zum Unvermögen, auf soziale Interaktion zu reagieren bzw. diese zu initiieren.

2.Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten, das in sozialen Interaktionen eingesetzt wird. Diese reichen z. B. von einer schlecht aufeinander abgestimmten verbalen und nonverbalen Kommunikation bis zu abnormem Blickkontakt und abnormer Körpersprache oder von Defiziten im Verständnis und Gebrauch von Gestik bis hin zu einem vollständigen Fehlen von Mimik und nonverbaler Kommunikation.

3.Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen. Diese reichen z. B. von Schwierigkeiten, das eigene Verhalten an verschiedene soziale Kontexte anzupassen, über Schwierigkeiten, sich in Rollenspielen auszutauschen oder Freundschaften zu schließen, bis hin zum vollständigen Fehlen von Interesse an Gleichaltrigen.

B.Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich in mindestens zwei der folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen manifestieren (die Beispiele dienen der Erläuterung und sind nicht vollständig):

1.Stereotype oder repetitive motorische Bewegungsabläufe, stereotyper oder repetitiver Gebrauch von Objekten oder von Sprache (z. B. einfache motorische Stereotypien, Aufreihen von Spielzeug oder das Hin- und Herbewegen von Objekten, Echolalie, idiosynkratrischer Sprachgebrauch).

2.Festhalten an Gleichbleibendem, unflexibles Festhalten an Routinen oder an ritualisierten Mustern verbalen oder nonverbalen Verhaltens (z. B. extremes Unbehagen bei kleinen Veränderungen, Schwierigkeiten bei Übergängen, rigide Denkmuster oder Begrüßungsrituale, Bedürfnis, täglich den gleichen Weg zu gehen oder das gleiche Essen zu sich zu nehmen).

3.Hochgradig begrenzte, fixierte Interessen, die in ihrer Intensität oder ihrem Inhalt abnorm sind (z. B. starke Bindung an oder Beschäftigen mit ungewöhnlichen Objekten, extrem umschriebene oder perseverierende Interessen).

4.Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an Umweltreizen (z. B. scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber Schmerz/Temperatur, ablehnende Reaktion auf spezifische Geräusche, Strukturen oder Oberflächen, exzessives Beriechen oder Berühren von Objekten, visuelle Faszination für Licht oder Bewegungen) (zit. n. Falkai & Wittchen 2018, 64 f.).

Bemerkenswert ist, dass die genannten Symptome nicht mehr wie bisher in den Klassifikationssystemen vor dem dritten Lebensjahr, jedoch in der frühen Entwicklung vorhanden sein müssen. Allerdings können sie sich erst zu einem späteren Zeitpunkt voll ausbilden, wenn sie „in klinisch bedeutsamer Weise“ zu einem Leiden oder zu Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen. Ferner müssen Ausschlussdiagnosen beachtet werden, so dürfen z. B. die genannten Symptome nicht durch Lernschwierigkeiten (Intelligenzminderung), ADHS, Persönlichkeitsstörungen oder psychische Erkrankungen erklärbar sein (dazu später).

Wie die US-amerikanische Psychiatriegesellschaft hat ebenso die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ihr bisheriges Klassifikationssystem ICD-10 überarbeitet und als ICD-11 aktualisiert. Seit Januar 2022 hat sie den Weg für die Einführung der ICD-11 frei gemacht. In Hinblick auf Autismus liegt eine Version aus dem Jahr 2023 vor, auf die im Folgenden Bezug genommen wird (vgl. WHO 2023a). In Anlehnung an das DSM-5 ist in dieser Version gleichfalls die bisherige Unterscheidung von Autismusformen unter dem Begriff der „Autismus-Spektrum-Störung“ aufgehoben worden, die unter dem Code 6A02 den neurologischen Entwicklungsstörungen („neurodevelopmental disorders“) zuordnet wurde.

Nach ICD-11 wird „Autismus-Spektrum-Störung charakterisiert durch anhaltende Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktionen und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten, sowie durch eine Reihe von eingeschränkten, sich wiederholenden und unflexiblen Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder exzessiv sind. Der Beginn der Störung erfolgt während der Entwicklungsphase, typischerweise in der frühen Kindheit, aber die Symptome können sich erst später vollständig manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Kapazitäten übersteigen. Die Defizite sind so schwerwiegend, dass sie eine Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, erzieherischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursachen, und sind in der Regel ein allgegenwärtiges Merkmal der individuellen Funktionsweise, das in allen Lebensbereichen zu beobachten ist, auch wenn sie je nach sozialem, erzieherischem oder anderem Kontext variieren können. Personen, die dem Spektrum angehören, können unterschiedliche Ausprägungen der Intelligenz und der sprachlichen Fähigkeiten aufweisen“ (zit. n. WHO 2023a; Übersetzung des Autors).

Ferner unterscheidet ICD-11 in Anlehnung an das DSM-5 gleichfalls zwei „essentiell notwendige Merkmalsbereiche“ mit untergruppierten Kriterien. Die beiden Merkmalsbereiche erfordern jedoch abweichend vom DSM-5 für die Diagnoseerstellung keine Mindestanzahl an Symptomen:

(1)„Anhaltende Defizite bei der Initiierung und Aufrechterhaltung sozialer Kommunikation und wechselseitiger sozialer Interaktionen, die je nach Alter und intellektuellem Entwicklungsstand des Einzelnen außerhalb des erwarteten Bereichs typischer Funktionen liegen. Spezifische Manifestationen dieser Defizite variieren je nach chronologischem Alter, verbalen und intellektuellen Fähigkeiten sowie der Schwere der Störung.“

(2)„Anhaltend eingeschränkte, sich wiederholende und unflexible Verhaltens-, Interessen- oder Aktivitätsmuster, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder übertrieben sind.“

Darüber hinaus werden zwei weitere Merkmale hervorgehoben,

(1)„Die Störung beginnt während der Entwicklungsphase, typischerweise in der frühen Kindheit, die charakteristischen Symptome kommen jedoch möglicherweise erst später vollständig zum Ausdruck, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Kapazitäten übersteigen.“

(2)„Die Symptome führen zu einer erheblichen Beeinträchtigung persönlicher, familiärer, sozialer, pädagogischer, beruflicher oder anderer wichtiger Funktionsbereiche. Manche Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung sind in der Lage, in vielen Kontexten durch außergewöhnliche Anstrengung ein angemessenes Funktionsniveau zu zeigen, sodass ihre Defizite für andere möglicherweise nicht erkennbar sind. In solchen Fällen ist die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung immer noch angemessen“ (übersetzt n. ebd.).

Bemerkenswert ist eine zusätzliche Einteilung sogenannter Spezifizierer zur Charakterisierung spezieller Aspekte innerhalb des Autismus-Spektrums:

•Autismus-Spektrum-Störung ohne Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung (im Original: „Störung der Intelligenzentwicklung“) und mit geringer oder ohne Einschränkung der funktionalen Sprache

•Autismus-Spektrum-Störung mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit geringer oder ohne Einschränkung der funktionalen Sprache

•Autismus-Spektrum-Störung ohne Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit Beeinträchtigung der funktionalen Sprache

•Autismus-Spektrum-Störung mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit Beeinträchtigung der funktionalen Sprache

•Autismus-Spektrum-Störung ohne Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit fehlender funktionaler Sprache

•Autismus-Spektrum-Störung mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit fehlender funktionaler Sprache.

Durch diese Spezifizierer sollen gleichzeitig auftretende Beeinträchtigungen der Intelligenz und sprachlichen Fähigkeiten erfasst werden, um zu angemessenen individualisierten Behandlungsplänen, Interventionen und Unterstützungsleistungen für Personen aus dem Autismus-Spektrum zu gelangen. Zudem wird darauf verwiesen, dass bei einer gleichzeitig auftretenden Beeinträchtigung der Intelligenz eine separate Diagnose einer „Störung der intellektuellen Entwicklung“ mit dem entsprechenden Schweregrad (leicht, mäßig, schwer, tiefgreifend, vorläufig) erfolgen sollte. Außerdem sollte, „da soziale Defizite ein Kernmerkmal der Autismus-Spektrum-Störung sind, (…) bei der Beurteilung des adaptiven Verhaltens als Teil der Diagnose einer gleichzeitig auftretenden Störung der intellektuelle, konzeptionelle und praktische Bereich des adaptiven Funktionsniveaus stärker berücksichtigt werden als soziale Fähigkeiten (skills)“ (übersetzt n. ebd.).

Gleichwohl ist die Spezifizierer-Einteilung mit der Exponierung der geistigen (intellektuellen) Entwicklung kritisch zu sehen. Denn die Erfassung der Intelligenz ist bei psychischen Störungen (Psychosen, Schizophrenie, affektiven Störungen, Angststörungen etc.) oder Persönlichkeitsstörungen unüblich und wirft die Frage nach dem Nutzen und Schaden auf: Was geschieht, wenn sich z. B. eine Person der Intelligenzerfassung verweigert oder wenn keine adäquate, verlässliche Beurteilung möglich ist? Wieweit werden durch eine diagnostische Zuschreibung oder Annahme einer „Störung der Intelligenzentwicklung” (Intelligenzminderung) bei einer betroffenen Person Vorurteile, negative Prognosen und Prozesse sozialer Diskriminierung oder Stigmatisierung befördert? Bislang ist das ICD-11 noch nicht im Gebrauch, insofern bleibt abzuwarten, wie damit umgegangen wird.

Positiv ist zu vermerken, dass ICD-11 wie DSM-5 mögliche psychische Begleitstörungen berücksichtigt, zudem die Möglichkeit einer „autistischen Regression” ab dem dritten Lebensjahr (z. B. Verlust an zuvor erworbenen sprachlichen und sozialen Fähigkeiten, an Darm- und Blasenkontrolle) in Betracht zieht und „Grenzen zur Normalität” (z. B. in Bezug auf Kommunikation, Interaktion, repetitives Verhalten), kulturelle, normative Unterschiede (z. B. in Hinblick auf soziale Kommunikations- und Interaktionsformen, Interessen, Aktivitäten) sowie geschlechts- und/oder geschlechtsbezogene Merkmale reflektiert.

Als wiederum fragwürdig kann der Hinweis auf eine mögliche Verwendung von zwei weiteren diagnostischen Codes für „Autismus-Spektrum-Störung“ betrachtet werden:

(1)„Sonstige spezifizierte Autismus-Spektrum-Störung (…) wenn die oben genannten Parameter nicht zutreffen“ (6A02. Y).

(2)„Autismus-Spektrum-Störung, nicht näher bezeichnet, (….) wenn die oben genannten Parameter unbekannt sind“ (6A02. Z).

Diese beiden Codes sind nämlich für die Bildung von „Subtypen“ im Bereich von Autismus wegbereitend und widersprechen der ursprünglichen Intention im Lager der Autismusforschung, mit dem Konzept eines Spektrums Typisierungen oder Unterscheidungen durch bestimmte Bilder zu vermeiden. Bedenklich sind Entwicklungen im europäischen Raum, vor allem in Großbritannien, wo es vonseiten einiger Elternorganisationen und Fachleute Bestrebungen gibt, durch „Profound Autism“ und „Pathological Demand Avoidance (PDA)“ zwei neue Subtypen im Bereich von Autismus zu begründen und zu legitimieren. Beide Typen werden als „schwere“ Formen des Autismus beschrieben, die bisher in Hinblick auf spezielle und umfängliche Unterstützungsleistungen zu wenig beachtet und unterfinanziert worden seien. Diese Begründung sollte jedoch nicht zur Bildung neuer Subtypen führen, da die Notwendigkeit besonderer Unterstützungsleistungen sehr wohl durch eine personenzentrierte Planung zum Ausdruck gebracht werden kann, die kein eng umschriebenes Bild (Besonderung) im Bereich von Autismus bedarf. Hinzu kommt, dass die beiden Subtypen wissenschaftlicher Seriosität entbehren, indem sie den flexiblen, individualisierten Umgang mit Merkmalsausprägungen innerhalb des Autismus-Spektrums verkennen, Aspekte sozialer Zuschreibung (Bewertung) auf der Grundlage eines unreflektierten Normalitätsverständnisses und fließende Übergänge zwischen ‚autistischem‘ und ‚normalem‘ Verhalten sowie schweren und leichten Formen an Verhaltensauffälligkeiten missachten, dadurch eine statische Sicht auf Personen, Festschreibungen, Pathologisierung, Stigmatisierung und Diskriminierung erzeugen sowie letztlich voreiligen Schlüssen und einer selbsterfüllenden Prophezeiung Vorschub leisten, indem sie negative Prognosen bei Betroffenen, Angehörigen und Professionellen bewirken (vgl. Kapp 2023; Woods 2024). Wissenschaftlichen Untersuchungen und Erkenntnissen ist unschwer zu entnehmen, dass der auch im deutschsprachigen Raum zusehends diskutierte Typ des PDA kein autismusspezifisches Profil darstellt, sondern jenseits von Autismus ebenso bei anderen Bildern (z. B. ADHS, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens, affektiven Störungen) beobachtet werden kann (vgl. Kamp-Becker, Schu & Stroth 2023; Woods 2024).

Grundsätzlich kann – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der ‚Erstbeschreibungen‘ über Autismus – die Einebnung der bisherigen Autismusbilder (frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, atypischer Autismus) begrüßt werden. Gleichwohl sind einige Aspekte kritisch zu sehen:

Für die Bedingungen in Deutschland ist der Rückgriff auf das ICD-11 zur Diagnostizierung von Autismus zweifellos verlockend, weil dadurch im Unterschied zum DSM-5 Zuweisungen für Leistungsträger vermeintlich leichter erfolgen können: Liegt Autismus und intellektuelle Beeinträchtigung (Intelligenzminderung) vor, ist bei Kindern und Jugendlichen der Leistungsträger der Sozialhilfe zuständig; Autismus ohne Intelligenzbeeinträchtigung fällt hingegen bei Kindern- und Jugendlichen in den Zuständigkeitsbereich der Kinder- und Jugendhilfe. Diese Zweiteilung ist jedoch fachwissenschaftlich überholt und sollte ebenso im Sinne der Inklusion überwunden werden. Erfreulich ist, dass dies vonseiten der Bundesregierung bis 2028 angestrebt wird.

Pädagogischer Hinweis

Unter Inklusion verstehen wir die unmittelbare Zugehörigkeit oder Nicht-Aussonderung aller behinderten Menschen. Mit dieser Definition orientieren wir uns an der UN-Behindertenrechtskonvention, die den Zugang zum Verständnis von Inklusion durch fünf zentrale Aspekte genauer kennzeichnet:

1)Personale Wertschätzung und Respekt vor der behinderten Person und ihrem So-Sein

2)Zugänglichkeit (Barrierefreiheit, sodass z. B. behinderte Menschen Ressourcen nutzen oder Orte aufsuchen können, die nicht-behinderten Personen ungehindert zugänglich sind)

3)Einbindung in wechselseitigen, gegenseitig abhängigen Beziehungen im persönlichen Nahbereich und in gesellschaftlichen Kontexten

4)Selbstbestimmung (persönliche Wahl- und Entscheidungsfreiheit)

5)Partizipation (Teilhabe im Sinne von Mitsprache, Mitbestimmung und Mitgestaltung)

Weitere Kritikpunkte, die beide Klassifikationssysteme betreffen, beziehen sich auf die unzureichende Beachtung von Besonderheiten bei Mädchen/Frauen3, auf die mangelnde Berücksichtigung einer Entwicklungsperspektive (Erwachsenenalter) sowie auf die einseitige, negative Auslegung sogenannter „restriktiver Interessen und repetitiver, stereotyper Verhaltensweisen“. Hierbei kann es sich nämlich auch um eine Quelle von Freude und Glück (Flow), um ein „informationssuchendes“ oder um ein subjektiv bedeutsames, kompensatorisches Verhalten zur psychischen Beruhigung handeln. Manche Autist:innen betrachten ein solches Verhalten als „überlebensnotwendig“ (vgl. Schmidt 2020, 53 ff., 60; Vero 2020, 87 f., 92). Umso wichtiger ist eine verstehende Sicht dieses Verhaltensbereichs, um die Funktion von repetitivem Verhalten oder eingeschränkten Interessen zu erfassen.

Pädagogischer Hinweis

„Autismus zu verstehen, ist die Voraussetzung dafür, um als Außenstehender die dringenden Bedürfnisse autistischer Menschen anzuerkennen“ (Schmidt 2020, 150).

Ferner ist es einerseits begrüßenswert, dass Hyper- oder Hyposensitivitäten beachtet werden, andererseits ist es schwer nachvollziehbar, dass dieser Bereich den „eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten” untergeordnet wird. Wahrnehmungsbesonderheiten stellen nämlich ein zentrales Merkmal von Autismus dar, das zu „eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten” führen kann, aber nicht umgekehrt.

Zu einer einseitigen Betrachtung verleiten darüber hinaus die sogenannten „Defizite in der sozial-emotionalen Wechselseitigkeit”. Damian Milton (2018), ein Gelehrter und Dozent aus dem Autismus-Spektrum, sieht hier ein „doppeltes Empathie-Problem“. Was damit gemeint ist, signalisiert unter anderem die folgende Beobachtung:

„Wenn sie (die autistische Tochter eines Bekannten von H. Markram) unter die Dusche sollte, wuchs es sich zum Drama aus. Wie eine Katze wehrte sie sich, Kratzen, Beißen, Wasserschlacht, und der Vater, wütend, schimpfte mit ihr: Kannst du nicht mal eine Dusche nehmen! Nur eine Dusche! Jeder duscht. Stell dich nicht so an! Es ist nur Wasser! Allein, sie stellte sich nicht an. Die Tropfen fielen nicht wie Tropfen, sie fielen wie heiße Nadeln, folterten sie, und da sie wie viele Autisten nicht sprach, redete sie mit Händen und Füßen, sie versuchte nur ihre Haut zu retten, mit verzweifelter Gewalt. War das denn so schwer zu verstehen? (…) Wir sagen, Autisten fehlt Empathie. Nein. Uns fehlt sie. Für die Autisten“ (Markram zit. n. Wagner 2018, 135, f.).

Tatsächlich fällt es nicht-autistischen Personen sehr oft schwer, sich in das Denken und Handeln von Autist:innen hineinzuversetzen und die Bedeutung ihres Verhaltens nachzuvollziehen. Dies betont auch die Autistin Gabriele Schmitt-Lemberger (2020, 49), Mutter eines nicht-sprechenden Autisten mit ADHS. Leid entsteht oftmals erst dadurch, dass autistische Personen nicht verstanden werden und dass gegenüber ihrem Verhalten und ihren Sichtweisen Unverständnis zum Ausdruck gebracht wird.

Das zeigt sich nicht nur bei der Empathie, sondern ebenso bei sozialen Interaktionen. Interessant sind hierzu Forschungsstudien, die ähnlich wie bei dem „doppelten Empathie-Problem“ den Schluss eines „doppelten Interaktions-problems“ nahelegen (vgl. Sasson et al. 2016; Fontenot 2020; Theunissen 2024). Demzufolge sollten wir es vermeiden, nur autistischen Personen Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion zu attestieren. So zeigen z. B. viele autistische Personen im Zusammensein mit anderen autistischen Menschen ein hohes Maß an sozialer Interaktion und Kommunikation (dazu auch Seng 2021).

Merkbox

Nicht wenige autistische Menschen berichten, dass sie nicht unter ihrem Autismus leiden, sondern unter psychischen Begleiterscheinungen (z. B. depressiven Störungen) und vor allem unter den Reaktionen ihres Umfeldes (unter Mobbing, Hänseleien, Diskriminierung, Anfeindungen, mangelndem Zutrauen, Ignoranz individueller Fähigkeiten oder Stärken). Ein Leidensdruck entsteht nicht selten aus Missverständnissen und resultiert seltener aus dem Autismus.

Betroffene wenden sich daher gegen die noch weit verbreitete Pathologisierung autistischen Verhaltens: „Die Art, wie wir anders sind als andere Menschen zu pathologisieren, empfinden wir als Diskriminierung“, und „wir wehren uns dagegen, dass Autismus nur über Defizite definiert wird“ (Aspies e. V. 2008). Wie aktuell diese Kritik ist, zeigt die Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Autismus-Subtyp PDA (vgl. Woods 2024).

Ebenso wird die Defizitorientierung der Klassifikationssysteme scharf kritisiert; und es wird nicht akzeptiert, dass nur persönliche Defizite als Ursache für Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen betrachtet werden. Diese einseitige Sicht untergräbt die Wechselwirkungen zwischen persönlichen und Umweltfaktoren und missachtet externe Einflüsse auf autistisches Verhalten.

Autismus aus der Betroffenensicht

Die Auseinandersetzung mit der medizinischen Betrachtung von Autismus, die sich in den Klassifikationssystemen widerspiegelt, hat viele Betroffene, insbesondere Aktivist:innen aus Selbstvertretungsgruppen, dazu veranlasst, sich selbst mit Autismus zu befassen und eigene Positionen zu entwickeln. Warum dies wertvoll ist, führt uns die Autistin Jasmine O‘Neill (2001, 12 f.) vor Augen:

„Zu viele Eltern und Betreuer autistischer Menschen schenken schriftlich oder mündlich weitergegebenen Fehleinschätzungen Glauben. Was Ärzte oder Psychologen sagen, braucht nicht immer wahr zu sein. Manche so genannte Experten sind schlichtweg inkompetent. (…) Viele Aussagen Außenstehender über autistische Menschen sind reine Spekulation. (…) Besonders empfehlenswert ist es, medizinische Texte mit anderen Quellen zu kombinieren.“

Ergänzend äußert sich der Autist Hajo Seng (zit. in: Kohl, Seng & Gatti 2017, 358 f.):

„In den Erfahrungen autistischer Menschen stehen dagegen andere Aspekte im Zentrum, vor allen Dingen ihre Wahrnehmung und ihr Denken betreffend. Ihre Erfahrungen und Reflexionen ermöglichen andere, bislang kaum beachtete und vermutlich auch für das Leben autistischer Menschen relevantere Zugänge zum Autismus.“

Vor diesem Hintergrund wurden von uns autobiografische Schriften und insbesondere Erkenntnisse aus der Sicht Betroffener wissenschaftlich aufbereitet. Eine führende Rolle kommt im Hinblick auf Umgang mit Autismus dem weltweit agierenden Autistic Self Advocacy Network (ASAN) zu (vgl. Kapp 2020; Theunissen & Sagrauske 2019; Theunissen 2020). Zentrale Anliegen dieser politisch einflussreichsten Selbstvertretungsorganisation sind:

•Nichts über uns ohne uns! (Empowerment im Sinne von Selbstvertretung, Mitsprache, Mitbestimmung und Mitgestaltung)

•Wertschätzung der Neurodiversitätshypothese (Diese besagt, dass es keine „normale Gattung von Mensch“ gibt, sondern eine breite Palette an Möglichkeiten, wie das menschliche Gehirn neuronal angelegt und vernetzt sein kann)

•Verabschiedung vom Heilungsgedanken und Verbot aversiver (bestrafender) Therapiemethoden oder Interventionen

•Verzicht auf restriktive Therapiemethoden (z. B. in Bezug auf direktiv angelegte ABA-Formate4 einer intensiven Verhaltenstherapie) zugunsten unterstützender Maßnahmen für ein „Leben mit Autismus“

•„Partizipative Autismusforschung“ und Unterstützung von Forschungsprojekten und Maßnahmen, die die Erhöhung von Lebensqualität und Verbesserung der Lebenssituation von Autist:innen zum Ziel haben: z. B. inklusive Bildung; inklusives (ggf. unterstütztes) Wohnen, (ggf. unterstützte) Beschäftigung (Jobcoaching) auf dem 1. Arbeitsmarkt, gesellschaftliche Teilhabe)

•Peer Counseling (Betroffenen-Beratung, z. B. Autist:innen beraten Autist:innen)

Als richtungsweisend für ein zeitgemäßes Autismus-Verständnis können sieben von ASAN (2012) vertretene „autismustypische Merkmale“ betrachtet werden, die wir bereits in anderen Schriften mit vielen Beispielen aufgegriffen und ausführlich beschrieben haben (vgl. Theunissen 2020; Theunissen & Sagrauske 2019). Daher fassen wir uns im Folgenden kurz:

(1) Unterschiedliche sensorische Erfahrungen

Die Sinneswahrnehmung bei autistischen Personen weist oftmals eine Hyper- oder Hyposensibilität auf, wobei jeder Sinn betroffen sein kann (vgl. Kap. II: sensorische Besonderheiten). Mögliche Reaktionen auf eine Reizüberflutung und -überlastung (Overload) kann beispielsweise das fluchtartige Verlassen der Situation, selbstverletzendes Verhalten, Panik, Schreien usw. sein. Gerade Einkaufszentren, Restaurants, öffentliche Verkehrsmittel − also Orte, an denen sich viele Menschen gleichzeitig aufhalten und viele Reize über verschiedene Sinneskanäle einströmen − können zur Belastung werden. Auf der anderen Seite können gesellschaftlich nicht anerkannte Verhaltensweisen wie das Beschnuppern von Gegenständen dazu dienen, Reize zu verstärken, um die Hyposensibilität zu kompensieren. Ebenso denkbar ist, dass mit dem Beschnuppern, Anfassen und unter die Nase halten von Dingen, die einem begegnen, „eine Brücke zur Wirklichkeit“ (Johansson 2019, 176) hergestellt wird, in der sich nicht-autistische Menschen befinden. Diese Brücke befördert „dann das Gefühl, dabei zu sein“ (ebd.).

Pädagogischer Hinweis

Nach individuellen Wahrnehmungsbesonderheiten Ausschau halten und anknüpfend an den Befunden ein Unterstützungsprogramm entwickeln. Hierzu können räumliche Anpassungen, zeitliche Strukturierungshilfen, Angebote sensorischer Integration sowie Strategien zur Prävention und Bewältigung von Stress sehr hilfreich sein.

(2) Unübliches Lernverhalten und spezielles Denken

Beobachtbar ist, dass Autist:innen häufig eigene Lösungswege für Aufgaben und Lernstrategien entwickeln. Visualisierung und Logik stellen dabei oft ein wichtiges Vehikel für kognitive Leistungen dar. Ebenso können spezielle Interessen der Person zum selbstständigen Lernen anregen und letztendlich zu Erfolgserlebnissen und Steigerung des Selbstwertgefühls führen. Einige „Selbstlerner“ verspüren „in ihrem Inneren“ kaum Impulse, das zu tun, was ihnen gesagt oder beigebracht wird. So schreibt die Autistin Iris Johansson (2019, 45): „Mir war nicht klar, was ich mit all dem machen sollte, was von anderen Menschen kam. (…) Das alles sah ich, und ich begriff es auf meine eigene Weise, doch etwas damit zu machen oder daran teilzunehmen, das war in meiner Welt nicht vorgesehen“; und ebenso gibt es „für uns keine Neigung und keinen Ehrgeiz, Dinge zu übernehmen, um selbstständig zu werden“ (ebd., 400). Daher sollten die selbsterschlossenen und selbstbestimmten Lern- und Lösungswege von nicht-autistischen Personen vor allem in pädagogischen Bereichen (Schule) und Arbeitsfeldern anerkannt werden. Notwendig ist ein gewisses Maß an Gelassenheit und Vertrauen in die Fähigkeit und Bereitschaft autistischer Menschen, die Grenzen ihrer Selbstbezogenheit zu öffnen, wenn dies aus der Betroffenensicht als sinnvoll erachtet wird. Voraussetzung für eine solche Öffnung gegenüber der Welt der Nicht-Autist:innen ist eine kommunikative Basis, die das autistische Personsein respektiert und achtet. Anderenfalls fühlen sich autistische Personen entwertet und verletzt, was „schnell zu einer Flucht-, Kampf- oder Starre-Reaktion“ (Vero 2020, 87) führen kann, bei der es nur noch um das „Überleben“ geht. Bei Kindern mit dem sogenannten frühkindlichen Autismus kann es dabei „zur Unterschätzung ihrer kognitiven Fähigkeiten (kommen, d. A.). Die meisten frühkindlichen Autisten befinden sich ständig im Überlebensmodus, in welchem sie nur noch einen begrenzten Zugriff auf die Basisprogramme5 haben. Dies ist durchaus von außen sichtbar, wird aber von der Umgebung als geistige Behinderung interpretiert. Das führt schnell dazu, dass Menschen mit frühkindlichem Autismus damit fast jede Kompetenz abgesprochen wird“ (ebd., 88).

Pädagogischer Hinweis

Vertrauen Sie den individuellen Fähigkeiten und selbsterarbeiteten Lernwegen. Bei mangelnder Lernbereitschaft sollten Stärken und Interessen aufgegriffen werden. Sie haben eine „Brückenfunktion“, um Motivation für den Erwerb neuer Informationen oder die Ausführung wünschenswerter Tätigkeiten zu wecken.

(3) Stärken, außergewöhnliche Fähigkeiten und spezielle (individuelle) Interessen

signalisieren ein Ressourcenpotenzial, das jeder autistischen Person zugeschrieben werden kann. So lassen sich z. B. bei nicht wenigen autistischen Personen, die als kommunikationseingeschränkt (nicht-sprechend) und intellektuell beeinträchtigt gelten, bereits im frühen Kindesalter hyperlexieähnliche Fähigkeiten wie das Erkennen und Legen von Mustern oder Buchstaben sowie das Schreiben und Lesen von Wörtern beobachten; außerdem zeigen viele von ihnen neben außergewöhnlichen Gedächtnisleistungen besondere Stärken beim Figuren- oder Puzzlelegen. Weitere Stärken, die der großen Mehrheit autistischer Personen attestiert werden, beziehen sich auf Zuverlässigkeit, Loyalität, Genauigkeit, Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Sorgfalt, Beharrlichkeit oder Durchhaltevermögen.

Gut 50 % aller Menschen aus dem Autismus-Spektrum werden „moderate Savant-Fähigkeiten“ nachgesagt, die außergewöhnliche Teilleistungsfähigkeiten und –fertigkeiten betreffen, die jedoch angesichts intellektueller Beeinträchtigungen eher selten im Rahmen der Verrichtungen des alltäglichen Lebens genutzt werden (z. B. genaue Kenntnisse von Fahrplänen, aber keine öffentlichen Verkehrsmittel eigenständig nutzen können; mit einer Hand ein Skatkartenspiel mischen, aber nicht Skat spielen können).

Zudem imponiert die große Mehrheit der Autist:innen mit speziellen (individuellen) Interessen, die nicht nur zur selbstbestimmten Aneignung einer Sache (fokussiertes Denken und Lernen) beitragen, sondern „‚nutzenfrei‘ allein dem Erlebnis und der Befriedigung und Verarbeitung von Gefühlen dienen“ (Schmidt 2020, 55) und „eine Art Sicherheitsnetz“ (Vero 2020, 140) sein können. Da die intensive Pflege von Interessen aus der Betroffenensicht zur Steigerung der Lebensqualität beitragen, sollten sie weder ignoriert noch mit entwertenden Bezeichnungen wie „pathologisch“ oder „stereotyp“ betitelt werden: Stattdessen sollten sie Wertschätzung erfahren und nicht unterbunden werden.

Pädagogischer Hinweis

Es ist fruchtbarer, an dem anzusetzen und das zu unterstützten, was eine Person kann und wofür sie sich interessiert, als ihr Defizite oder Fehlverhalten durch eine rigide, direktive Verhaltenssteuerung (wie bei den eng gestrickten Lernformaten nach ABA) vor Augen zu führen.

(4) Motorische Besonderheiten

Dieses Merkmal gilt meist als motorische Auffälligkeit, da Personen im Autismus-Spektrum oftmals steif in ihrer Körperhaltung, motorisch ungeschickt wirken oder Schwierigkeiten haben, ihr Denken und Wollen handlungspraktisch (automatisch) umzusetzen (dazu Zöller 2020). Außerdem können Verhaltensweisen wie z. B. mit dem Oberkörper schaukeln, auf den Füßen wippen, Kreisdrehen oder mit den Händen flattern auftreten, die nach außen hin, gerade im schulischen Umfeld als von der Norm abweichend und mitunter störend empfunden werden.

Von Autist:innen werden diese (repetitiven, stereotypen) Verhaltensmuster als „Stimming“ (selbst-stimulierendes Verhalten) bezeichnet (vgl. Vero 2020, 92 ff.), da sie dem Stressabbau dienen und der Person Sicherheit geben können. Solche Verhaltensmuster sind von Tics und Zwangsverhalten zu unterscheiden, die für autistische Menschen weniger mit positiver Stimulation und Vergnügen verbunden sind, sondern unter denen sie leiden (vgl. Kap. II: Psychische Begleitstörungen). Stimming kann insofern als Bewältigungsstrategie betrachtet werden.

Eine weitere positive Sicht motorischer Besonderheiten ergibt sich an der Stelle, wo Menschen im Autismus-Spektrum ein sehr hohes Maß an Geschick aufweisen. Dies konnten wir z. B. bei autistischen Erwachsenen mit kognitiver Beeinträchtigung beobachten.

Pädagogischer Hinweis

Repetitives, stereotypes Verhalten nicht per se therapieren, sondern in seiner Bedeutung erschließen. Daran anknüpfend kann nach einem alternativen Verhalten Ausschau gehalten werden. Nicht selten können sportliche oder körperliche Aktivitäten und physisch-psychische Entspannungsangebote weiterhelfen.

(5) Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung

Dieses Merkmal ist eng verbunden mit Schwierigkeiten, die autistische Menschen im Umgang mit (unerwarteten) Veränderungen, beispielsweise im Tagesablauf, haben können. Gleichzeitig weist es aber auf eine Fähigkeit hin, sich selbst zu organisieren. Zudem geht es um das Bedürfnis, „Ängste und Unsicherheiten unter Kontrolle zu halten“ (Schmitt-Lemberger 2020, 29). Eine große Rolle spielen Routine und Ordnung für das Sicherheits- und Vertrautheitsgefühl autistischer Menschen. Damit Regeln und Strukturen für autistische Personen einen Sinn ergeben, kann es von Vorteil sein, wenn die Betroffenen sich ihren Ablauf- oder Tagesplan selbst erstellen. Wenngleich solche Pläne Halt geben, kann „ein allzu rigides Festhalten an Strukturen (…) dazu führen, dass der Autist sich selbst im Weg steht und seine eigene Weiterentwicklung so blockiert. Meistens ist ihm dies nicht einmal bewusst“ (Schmidt 2020, 53). Daher macht es Sinn, frühzeitig ein flexibles Denken und Handeln zu trainieren, das aber braucht freilich „keinen Druck, sondern Zeit, Geduld und Verständnis“ (ebd., 53).

Pädagogischer Hinweis

Zeitliche und inhaltsbezogene Strukturierungspläne sollten mit Alternativen versehen werden, z. B. Plan A, Plan B, Plan C. Dadurch können einige unvorhergesehene Situationen vermieden oder plötzlich notwendige Programmänderungen erfasst werden. Hilfreich für Situationswechsel ist zudem der Einsatz eines Timetimers.

(6) Sprachliche Besonderheiten

können Schwierigkeiten betreffen, Sprache zu verstehen und sich sprachlich auszudrücken, so wie es üblicherweise in Kommunikationssituationen (Gesprächen) erwartet wird. Solche Probleme beziehen sich sowohl auf die verbale als auch die non-verbale Kommunikation, das Sprachverständnis und den -ausdruck. Dazu gehört unter anderem das „Wörtlichnehmen“ sprachlicher Ausdrücke, zu denen auch bestimmte Redewendungen oder Sprichwörter zählen, Verzögerungen in der Sprachentwicklung oder Besonderheiten und spezielle Phänomene wie Hyperlexie (siehe Kap. II), Echolalie, Neologismen (kreative Wortneubildungen) oder eine auffällige Intonation.

Sehr häufig ist zu beobachten, dass autistische Personen während eines Gesprächs keinen Blickkontakt zeigen. Grund dafür ist vermutlich die Komplexität der non-verbalen Mitteilungen durch Mimik und Gestik, die die inhaltlichen (verbalen) Informationen im Gespräch begleiten und für viele Autist:innen eine Reizüberflutung darstellen. Der fehlende Blickkontakt kann somit eine Strategie sein, um Stress durch Reizüberflutung zu vermeiden und die Konzentration auf die verbale Kommunikation zu erhöhen.

Es ist zu beachten, dass Schwierigkeiten in der Kommunikation immer von beiden Gesprächspartner:innen ausgehen können. Oftmals werden von nicht-autistischen Menschen uneindeutige Botschaften vermittelt, die dem Gegenüber ein hohes Maß an intuitivem Vorwissen und Interpretationsfähigkeiten („zwischen den Zeilen zu lesen“) abverlangen. Gerade dies fällt autistischen Personen, bei denen wahrnehmungsbezogenes Denken dominiert, besonders schwer.

Pädagogischer Hinweis

Wenn mit autistischen Menschen sprachlich kommuniziert wird, sind kurze Sätze und möglichst eindeutige Inhalte (Worte) sehr hilfreich. Zweideutige oder unklare Informationen, die eine intuitive Erschließung abverlangen („Kannst Du Dir die Nase putzen“), sollten vermieden werden. Weitere Anregungen für die Praxis enthält das Kapitel über Hyperlexie.

(7) Besonderheiten im Sozialverhalten

Schwierigkeiten, Regeln zu durchschauen, soziale Konventionen oder soziale Interaktionen zu erfassen, aufrechtzuerhalten oder aufzubauen gelten als ein deutliches Merkmal für Autismus. Dazu zählt die damit verknüpfte Schwierigkeit der Perspektivübernahme, sozialen Empathie und Antizipation. Für Peter Schmidt (2020, 26 f.) geht es hierbei um die Muster der „Kommunikation ohne Beziehungsebene“ und des „Sozialverhaltens ohne gegenseitige Empathie“, die Autismus charakterisieren. Hintergründig spielen die Selbstbezogenheit autistischer Personen und zugleich ein fehlendes Interesse „für die Alltagsbelange anderer Menschen“ (ebd., 27) eine wichtige Rolle. Zudem werden soziale Verhaltensbesonderheiten autistischer Personen oft von sensorischen Hypersensitivitäten moderiert (z. B. sozialer Rückzug und „Selbstisolation“ als Strategie vor Reizüberlastung).

Allerdings mangelt es nicht bei allen autistischen Personen an Einfühlungsvermögen, zudem können manche ihre Schwierigkeiten der Perspektivübernahme durch kognitive Fähigkeiten ausgleichen (vgl. Schmitt-Lemberger 2020, 98 ff.). Zudem gibt es Autist:innen, die anderen Menschen vorurteilsfrei begegnen, ihre „unmaskierten“ Gefühlslagen sowie soziale Interaktionen sensibel erfassen können. So berichtet z. B. G. Schmitt-Lemberger (2020, 34) über ihren nicht-sprechenden, schwer autistischen Sohn, dass er ein feines Gespür dafür hat, wenn etwas beim anderen nicht stimmt. Für die Autistin Gee Vero (2020, 26) nutzen autistische Menschen hierbei „eine Art Wunderwerkzeug, nämlich das Sensing“. Dies ist eine „allen Menschen angeborene Fähigkeit (…), eine Art des Spürens, also des Erfühlens der inneren Zustände eines anderen Menschen“ (ebd.). Vermutlich ist es bei vielen nicht-autistischen Menschen, die vorrangig sprachbezogen denken und sprachlich kommunizieren, im Laufe ihres Lebens zu einer Verkümmerung dieser Fähigkeit gekommen. Bei einigen autistischen Personen, die wahrnehmungsbezogen denken, scheint sie hingegen unabhängig ihrer Intelligenz weiterhin wirksam zu sein. „Elijah (ihr schwerst autistischer und kognitiv beeinträchtigter Sohn, d. A.) und ich brauchen eigentlich keine verbale Sprache, da das Sensing zwischen uns wunderbar funktioniert. Ich erspüre viel von dem, was er braucht, wie es ihm geht und was ihm eventuell helfen könnte. Elijah merkt auch als Erster, wenn es mir nicht gut geht und reagiert dann entsprechend darauf“ (ebd., 27). Mit Hilfe des Sensing können Autist:innen leicht hinter die Maske schauen, die sich nicht-autistische Personen im Zuge ihrer Ich-Entwicklung zugelegt haben. Diese „soziale Intuition“ (Seng 2021) greift auch Iris Johansson (2019, 60) auf, wo sie auf ihre Beobachtungsfähigkeit und ihr Gefühl verweist, andere Personen zu „durchschauen“ und das anzusprechen, was sich hinter ihrer „Verhaltensfassade“ verbirgt. Eine solche Begabung ist schon H. Asperger (1944, 117) aufgefallen, der sich die Frage stellte, wie eine autistische Person in Anbetracht ihrer Selbstbezogenheit überhaupt ein „erstaunlich richtiges und reifes Urteil über die Menschen der Umgebung“ abgeben kann. Eine Auflösung dieses „scheinbaren“ Widerspruchs sah er in der Fähigkeit zur Distanzierung, nämlich „mit Klarsicht“ oder auf „analytische Weise“ (Seng 2021, 214) Dinge, Menschen oder soziale Interaktionen zu betrachten. Diese Fähigkeit schrieb er nur autistischen Menschen zu.

Freilich fällt es ebenso manchen autistischen Personen schwer, Stimmungen, Absichten oder Hintergedanken nicht-autistischer Menschen zu erfassen und zu verstehen (vgl. Sonja in: Kohl, Seng & Gatti 2017, 229). So hat z. B. G. Schmitt-Lembergers Sohn Schwierigkeiten, die von ihm erspürten Stimmungen zuzuordnen. „Er ist dann verunsichert, unausgeglichen und er verhält sich ‚unangemessen‘, vielleicht einfach auch nur, um zu zeigen, dass es ihm damit gerade überhaupt nicht gut geht. (…) Wenn das bei uns so ist, weiß ich mittlerweile, dass mein Kind mein ’Spiegel‘ ist. Er spiegelt mir, dass etwas gerade gar nicht gut läuft. Das hält mich dazu an, innezuhalten, die Situation zu reflektieren, Dinge in Ordnung zu bringen und vor allem, ihm seine Sicherheit zurückzugeben!!!“ (ebd. 2020, 34). Zu guter Letzt sei erwähnt, dass die hier skizzierten Schwierigkeiten im Sozialverhalten hintergründig von der bereits erwähnten ‚doppelten‘ Perspektive beeinflusst werden, indem nicht-autistische Menschen zumeist Schwierigkeiten haben, sich in autistische Personen hineinzuversetzen und mit ihnen angemessen (unvoreingenommen, wertschätzend) zu kommunizieren und zu interagieren. Insofern können sie soziale Kommunikations- und Interaktionsschwierigkeiten autistischer Menschen (unbeabsichtigt) auch produzieren oder befördern (vgl. Theunissen 2024). Um dies zu vermeiden, gewinnen soziale Akzeptanz- und Kommunikationstrainingsprogramme für nicht-autistische Personen sowie ein ‚gemeinsames Lernen‘ mit Autist:innen an Bedeutung (vgl. ebd.).

Pädagogischer Hinweis

Soziale Verhaltensbesonderheiten autistischer Personen bedürfen einer differenzierten Betrachtung. Um sie zu verstehen, sollte eine sicherheitsstiftende Vertrauensbasis und Bezugsassistenz hergestellt werden.

Zum Aufbau einer positiven Beziehung bietet sich insbesondere bei schwer zugänglichen autistischen Personen die Technik des Spiegelns von Verhalten an. Hat sich ein positives kommunikatives Verhältnis entwickelt, können auf dieser Basis soziale Lernprozesse und u. a. (motivierende) Aktivitäten für die Gemeinschaft in den Blick genommen werden, dies zunächst behutsam über ein gemeinsames Tun, dann schrittweise durch Abbau des jeweils letzten Handlungsschritts des gemeinsamen Tuns, sodass die autistische Person nach und nach einzelne Handlungsschritte und schließlich die gesamte Tätigkeit selbstständig ausführt.

Letztlich sollen sozial wertvolle Aktivitäten erlernt und eigenständig-verantwortlich übernommen werden. Das kann sich auch auf freiwilliges soziales Engagement (Teilhabe im Gemeinwesen) beziehen (bemerkenswerte Praxisbeispiele hierzu in Theunissen 2014b).

(8) Emotionale Besonderheiten

Diese sieben Merkmale wurden von uns in den letzten Jahren als Autismus-Spektrum-Konzept tiefgreifend unter Berücksichtigung von Innen- und Außensichten weiter ausgearbeitet (vgl. Theunissen 2020). Darüber hinaus wurde noch ein achter Aspekt hervorgehoben, der emotionale Besonderheiten betrifft (vgl. Theunissen & Sagrauske 2019, 61 ff.). Dieses Merkmal tritt bereits in den Erstbeschreibungen über Autismus recht deutlich zutage, ferner wird es aber auch von einigen autistischen Personen beschrieben. Aus der Vielfalt der emotionalen Besonderheiten möchten wir zunächst eine autistischen Kindern und Jugendlichen oftmals nachgesagte „Gemütsarmut“ oder „Gefühlskälte“ aufgreifen, die nach H. Asperger (1944, 121) mit raffinierten „Bosheitsakten“ verknüpft sein kann (bewusstes Wehtun anderer). Ein solches Verhalten kann aus Gerechtigkeitsgründen eine Form von Bestrafung in Anbetracht eines (von Erwachsenen ungeahndeten) Regelverstoßes sein. Nicht selten ist es aber eine Reaktion auf Ablehnung, Hänseleien oder Denunzierung, die von nicht-autistischen Kindern oder anderen Personen ausgehen. Darunter haben Menschen aus dem Autismus-Spektrum erheblich zu leiden.

Dass autistische Personen wie andere Menschen Emotionen zeigen können, sollte unstrittig sein. So zieht Michaela Hartl (2010, 142) aus ihrer Forschungsarbeit den Schluss:

„Auf ein eingeschränktes, wenig differenziertes Repertoire an Emotionen im Erleben von Menschen mit Autismus kann nicht geschlossen werden. Die Analyse der Texte hat gezeigt, dass Menschen mit Autismus nicht weniger unterschiedliche Emotionen kennen und erleben können wie andere Menschen auch. Sie empfinden nicht nur Freude und Traurigkeit, Ärger und Angst oder Zuneigung, sondern viel mehr sehr differenzierte Emotionsqualitäten und unterscheiden in ihren Berichten auch Nuancen ähnlicher Gefühle wie Vertrauen und Liebe oder Freude, Glück und Begeisterung.“

Jedoch fällt es vielen schwer, eigene Gefühle auszudrücken, zu beschreiben, einzuordnen oder zu kontrollieren. Das betrifft z. B. P. Schmidt, der über seine „Blindheit für eigene Gefühle“ (Schmidt 2020, 36) berichtet. Schätzungen zufolge zeigen etwa 50 % aller autistischen Menschen eine „Gefühlsblindheit“ (Alexithymie). Ebenso bestehen Schwierigkeiten, insbesondere komplexe Gefühle (Trauer, Scham o. Ä.) anderer Personen zu erspüren. Einfache Emotionen wie Freude, Ärger oder Wut werden hingegen leichter erfasst. Für P. Schmidt, der die Gefühle nicht-autistischer Personen kaum nachvollziehen kann, ist es daher „ganz wichtig, dass andere Menschen ihre Emotionen verbal mitteilen“, wenn sie sicherstellen wollen, dass er bzw. ein betroffener autistischer Mensch ihren emotionalen Zustand verstanden hat (ebd., 44).

Ein auffälliges Moment sind unwillentliche Gefühlsausbrüche mit mangelnder Impulskontrolle, die als „Meltdown“ bezeichnet werden. Demgegenüber gibt es auch den „Shutdown“, indem sich eine autistische Person in eine Zimmerecke begibt, sich eine Decke über den Kopf zieht, emotional abschaltet, erstarrt, „komplett blockiert und gelähmt ist, sich weder bewegen noch sprechen kann“ (Bornhak 2021, 86) und eine Weile (bis hin zu mehreren Stunden) nicht ansprechbar ist (vgl. Schmidt 2020, 57 ff.; Vero 2020, 84 ff.).

Pädagogischer Hinweis

Bei einem Meltdown, der im Unterschied zu einem Wutanfall unbeabsichtigt geschieht, oft aus Reizüberflutung resultiert und mit Verzweiflung einhergeht, am besten Ruhe bewahren, sich und andere in Sicherheit begeben, abwarten und dann behutsam einen validen Kontakt zur Person herstellen sowie ein klärendes Gespräch (Nachbereitung) anbieten. Ähnlich sollte bei einem extremen sozialen Rückzug (Shutdown) verfahren werden. Möglicherweise kann eine Gewichtsdecke hilfreich sein (Bornhak 2021, 88). Ferner sollten Möglichkeiten einer Stressprävention erkundet und in ein Unterstützungsprogramm eingearbeitet werden. Z. B. kann ein Meltdown- oder Shutdown-Tagebuch geführt werden, um vielleicht auslösende Momente und immer wiederkehrende Muster zu entdecken. Im Hinblick auf emotionales Lernen bietet sich für autistische Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen das Software-Programm „Transporters“ (www.thetransporters.com) an. Dieses enthält kleine Geschichten von personifizierten Fahrzeugen, die durch zugängliche Bilder und in einfacher Sprache emotionales und soziales Lernen ermöglichen (weitere Anregungen siehe Hartl 2010; Conargo 2019).

Alles in allem zeigt das obige Autismus-Spektrum-Konzept auf, Autismus nicht nur einseitig auf Defizite und Fehlverhalten auszurichten, sondern ebenso positive Seiten, Stärken, besondere Begabungen und Fähigkeiten zu beachten. Darauf legt das ASAN großen Wert. Dieser „Doppelaspekt“ ist jedoch nicht neu. So lesen wir bereits bei H. Asperger (1944, 135), dass der „autistische Charakter“ Vorzüge und Mängel aufweist und „daß Positives und Negatives zwei Seiten sind, die man nicht ohne weiteres voneinander trennen kann“. Daher werden von ihm neben dem unüblichen Lernverhalten autistische Fähigkeiten und Intelligenz betont; und ebenso verweist L. Kanner (1943) auf Stärken der von ihm untersuchten Kinder mit „frühkindlichem Autismus“ (vgl. Theunissen 2021a, 34 ff.).

Somit darf das Fazit gezogen werden, dass mit Blick auf die beiden „Klassiker“ und die Betroffenen-Perspektive die psychiatrischen Klassifikationssysteme sowie die herkömmliche klinische Sicht auf Autismus unzureichend sind. Die Gefahr besteht, dass sie autistischen Menschen eher schaden als nutzen.

Um dies zu vermeiden, orientieren wir uns an dem skizzierten Autismus-Konzept. Bezüglich unserer Einteilung ist anzumerken, dass die acht genannten Merkmale, vor allem jene, bei denen die Selbstbezogenheit deutlich zutage tritt, zwar typisch für Autismus sind, jedoch bei jeder autistischen Person in unterschiedlich ausgeprägter Form in Erscheinung treten können. Ferner stehen die Merkmale in einer engen Verbindung, indem sie sich häufig gegenseitig bedingen und überlappen können.

Zu diskutieren wäre, wann nach dem skizzierten Modell eine Person als autistisch bezeichnet werden kann.

Treten nur wenige autistische Merkmale ausgeprägt in Erscheinung, hätten wir es mit Sicherheit nicht mit einem „Vollbild“ zu tun. Bei nur leichten Ausprägungen mehrerer Merkmale und insbesondere beim Fehlen einer deutlichen Selbstbezogenheit verschwimmen die Grenzen zur Normalität, sodass in dem Fall autistisches Verhalten eher als ein „normales Verhalten“ betrachtet werden sollte.

Diese Sicht entspricht weithin der Auffassung aus dem Lager der modernen Autismusforschung, autistische Eigenschaften als dimensional (wie z. B. das Merkmal „Körpergröße“) anzusehen: „Aus der dimensionalen Struktur von Autismus ergibt sich, dass es keine natürliche Grenze zwischen autistischen Zügen als Normvariante und ASS (Autismus Spektrum Störung) als Diagnose gibt – diese Grenze muss immer mit einem gewissen Maß an Willkür festgelegt werden“ (Riedel, Tebartz van Elst & Clausen 2020, 30).

Treten weithin alle der acht genannten Merkmale mehr oder weniger stark (selbstbezüglich) ausgeprägt in Erscheinung, sprechen wir von Autismus. Da das von uns favorisierte Konzept nur qualitativ erschlossen wurde, hat es keine statistisch-empirische, wohl aber eine heuristische (entdeckende) Bedeutung. Neuerdings ist ASAN bestrebt, sein Autismus-Konzept in einfacher Sprache aufzubereiten. Diesbezüglich wird auf dem Hintergrund der fließenden Übergänge zwischen autistischem und vermeintlich normalem Verhalten ein „anderes“ Wahrnehmen, Denken, Bewegen, Kommunizieren und Sozialisieren herausgestellt. Ferner werden Schwierigkeiten bei Verrichtungen des alltäglichen Lebens als potenzielles Problem bei Autismus (v. a. im Erwachsenenalter) mit in Betracht gezogen.

Abschließend möchten wir anmerken, dass jede Merkmalsausprägung nicht allein durch eine Person zustande kommt, sondern sich aus der Interaktion zwischen der autistischen Person und deren Umwelt ergibt. Daher geht es uns um eine verstehende Sicht, bei der jedes autistische Verhalten im Zusammenhang mit einer Situation funktional betrachtet wird.

Merkbox

Autistische Verhaltensweisen sind funktional bedeutsam und sinnvoll. Sie resultieren aus einem autistischen Merkmal. Je nach Situation kann das autistische Verhalten für die nicht-autistische Bezugswelt unproblematisch sein oder zu einem herausfordernden Verhalten führen. Stellen wir uns folgende Situation vor: Martin, ein autistischer Junge, kann keine Reißverschlussgeräusche aushalten. Dies ist eine Wahrnehmungsbesonderheit in Form akustischer Hypersensitivität. Daraufhin meidet Martin Kleidung mit Reißverschlüssen. Dies ist sein zweckmäßiges autistisches Verhalten. Seine Mutter besteht jedoch darauf, Anoraks, Mäntel oder Pullover mit Reißverschluss anzuziehen. Daraufhin kommt es immer wieder zu erheblichen Auseinandersetzungen mit seiner Mutter, indem Martin mit Schreien, Treten, Trampeln und Wegrennen reagiert. Dies ist das herausfordernde Verhalten, für Martin ein Problemlösungsversuch. Unsere Analyse und Betrachtung des Beispiels nennen wir funktionale Problemsicht. Sie macht deutlich, dass autistische und herausfordernde Verhaltensweisen für eine Person eine Funktion haben, subjektiv bedeutsam sind. Wenn wir den Sinn oder Zweck eines Verhaltens erkennen, können wir die Person besser verstehen und unterstützen. Dafür steht das Konzept der Positiven Verhaltensunterstützung (vgl. Theunissen 2021a).

Komplexe Beeinträchtigungen

Wie im Vorwort bereits erwähnt, ist es unser Anliegen, Erkenntnisse, die besondere Situation sowie den Unterstützungsbedarf autistischer Menschen aufzugreifen, die erhebliche Schwierigkeiten haben, sich als „empowered persons“ selbst zu vertreten oder von denen nur wenige in der Lage sind, als „Expert:innen in eigener Sache“ für sich selbst zu sprechen. Das betrifft Autist:innen mit „komplexen Beeinträchtigungen“. Gemeint sind damit in erster Linie Personen, denen zusätzlich zu ihrem Autismus hierzulande eine „geistige Behinderung“, international eine „intellectual disability“ oder (insbesondere in Nordamerika) eine „developmental disability“ nachgesagt wird. Darüber hinaus gibt es noch weitere Parallelbezeichnungen, die sich nicht selten auf mehrfache Behinderungen oder eine Komplexität an Beeinträchtigungen beziehen, die das Zusammenwirken biologischer (hirnorganischer) Ursachen, externer (sozialer) Einflussfaktoren sowie das subjektive Erleben betreffen. Die Fülle unterschiedlicher Parallelbegriffe resultiert hierbei nicht nur aus der wissenschaftlichen Debatte, sondern ist ebenso ein Ergebnis der Diskussion im Lager der Selbstvertretungsgruppen (Betroffenen), die den Begriff der „geistigen Behinderung“ als diskriminierend erleben und ihn daher durch „Lernschwierigkeiten“ ersetzt haben. Diese Begriffsvielfalt und Diskussion soll im Folgenden kurz aufgegriffen und reflektiert werden.

Zum Begriff der „geistigen Behinderung“

Seit der Einführung durch die Elternvereinigung „Lebenshilfe“ in den späten 1950er-Jahren ist die Bezeichnung „geistige Behinderung“ ein gesellschaftlich weit verbreiteter Fach- und Leitbegriff im deutschsprachigen Raum. Ziel war es, damalige Bezeichnungen wie „Schwachsinn“, „Oligophrenie“ „Idiotie“ oder „Blödsinn“ durch einen weniger stigmatisierenden Begriff abzulösen (vgl. dazu Theunissen 2021b).

Inzwischen steht jedoch auch „geistige Behinderung” als Fach- und Leitbegriff in der Kritik. So können wir seit den 1990er-Jahren immer mehr Stimmen verzeichnen, die auf den diskriminierenden Charakter des Begriffs sowie auf stigmatisierende Zuschreibungen verweisen und daher für seine Abschaffung plädieren. Im schulischen Bereich wurde darauf reagiert, indem offiziell statt „geistige Behinderung” die Bezeichnung „Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“ eingeführt wurde. Diese bezieht sich sowohl auf die betreffenden Schüler:innen als auch auf das Erziehungs- und Bildungssystem.

Aus der fachwissenschaftlichen Debatte gibt es den Vorschlag, von „komplexer Behinderung“ zu sprechen, da Menschen, die bisher als „geistig behindert” bezeichnet werden, zumeist in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigt sind (kognitiv, motorisch, sensorisch) und insbesondere unter sozialen Erfahrungen leiden, von ihrer Umwelt diskriminiert, ausgegrenzt und benachteiligt, vor allem in ihren Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten durch sprachliche und strukturelle Barrieren behindert zu werden (vgl. Fornefeld 2008; Theunissen 2021b).

International gab es seit den 1950er-Jahren die Bezeichnungen „mental retardation“ oder „mental handicap“, die vor geraumer Zeit gleichfalls als diskriminierend erkannt und von der klinischen Fachwelt durch den Begriff der „intellectual disability“ ersetzt wurden. Während sich diese neue Bezeichnung international durchsetzen konnte, gilt dies nicht für die Übersetzung „intellektuelle Behinderung” (Weber 1997) im deutschsprachigen Raum.

Da Betroffene, die sich weltweit unter dem Organisationsnamen People First in Selbstvertretungsgruppen zusammengeschlossen haben, sowohl die alten Bezeichnungen als auch die Neuerung durch „intellectual disability” als diskriminierend erleben, geben sie Begriffen wie „developmental disability” oder „learning difficulties” den Vorzug.

In Nordamerika haben Fachwelt und Politik „developmental disability” als Oberbegriff für organisch bedingte „geistige Behinderung”, für Autismus und für schwerste mehrfache Behinderungen eingeführt; und in Großbritannien wurde mit Blick auf die Betroffeneninitiative neben „intellectual disability” der Begriff „learning disabilities“ zugelassen (vgl. Ramcharan 2002).

Hierzulande plädieren Vertreter:innen der Selbsthilfevereinigung People First für „Lernschwierigkeiten“ als direkte Übersetzung des englischen Begriffes „learning difficulties“. In Anbetracht der Einengung auf Lernprozesse sowie der Abgrenzungsschwierigkeit zum deutschsprachigen Begriff der „Lernbehinderung” hat sich dieser Vorschlag in der Fachwelt und Politik nicht durchsetzen können (vgl. Theunissen 2021b).

Gleichwohl gibt es aus der Empowerment-Perspektive (vgl. Theunissen 2013) Sympathien für die Bezeichnung „Lernschwierigkeiten”, weil sie von Betroffenen stammt, wohl den geringsten Stigmatisierungseffekt hat und es letztlich keinen Grund dafür gibt, einen aus der Fachwelt favorisierten Begriff zu nutzen, der selbstkritisch als unzulänglich und normativ betrachtet wird. Das damit verknüpfte Argument, „geistige Behinderung” der Verständigung halber weiter zu nutzen solange es keinen tragfähigen Alternativbegriff gebe, überzeugt uns nicht.

Alles in allem führt uns die bisherige Diskussion über den geeigneten Begriff zu dem Schluss, Bezeichnungen wie „Lernschwierigkeiten” gegenüber „geistige Behinderung” den Vorzug zu geben und insbesondere beim Vorliegen einer schweren intellektuellen Entwicklungsstörung (Intelligenzminderung) und bei „mehrfachen Behinderungen” unter „komplexe Beeinträchtigungen” zu subsumieren. Zugleich sollen unter der Komplexität aber auch soziale Behinderungserfahrungen und psychosoziale Probleme oder psychische Begleitstörungen mitgedacht werden, die nicht selten einen Leidensdruck und gesellschaftliche Benachteiligung erzeugen.

Die Suche nach einem geeigneten neuen Fachbegriff hat die Weltgesundheitsorganisation dazu veranlasst, in ihrem soeben auf den Weg gebrachten Klassifikationssystem ICD-11 die Bezeichnung „Störung der intellektuellen Entwicklung“ (disorders of intellectual development) für klinische Bilder (Symptome und Syndrome) zu benutzen, die sich bisher auf „Intelligenzminderung” bezogen (vgl. Sappok; Georgescu & Weber 2023). Ähnlich verfährt das US-amerikanische Klassifikationssystem DSM-5, welches den Begriff „intellectual disability” verwendet und in Klammer „intellectual developmental disorder” ergänzt hat, wodurch eine Verbindungslinie zur ICD-11 hergestellt wurde (vgl. APA 2013).

Abschließend sei erwähnt, dass es bislang im Kontext der Diagnostik und Vergabe von Diagnosen die Gepflogenheit gibt, am Intelligenzquotienten orientierte Zuschreibungen vorzunehmen. Diesbezüglich werden im internationalen Raum „Störungen der intellektuellen Entwicklung“ (Intelligenzminderung) bereits unterhalb des IQ-Wertes von 75/70 angesetzt.

Im deutschsprachigen Raum gibt es hingegen eine Irritation, die die Verständigung und einen Vergleich mit anderen Ländern zum Teil erheblich erschwert. Denn hierzulande wurde mit Einführung von Hilfsschulen, die später als Lernbehindertenschulen umbenannt wurden, eine Gruppe der sogenannten lernbehinderten Schüler:innen konstruiert, von denen „etwa 30 Prozent (…) aus internationaler Sicht als intellektuell behindert bezeichnet werden könnten” (Geiling & Theunissen 2009, 340 [kursiv im Original]). Das bedeutet, dass in Deutschland „geistige Behinderung” aus IQ-bezogener Sicht enger (nämlich erst unterhalb von IQ 60/55) als üblicherweise gefasst wird und dass für IQ-Werte im Rahmen der „leichten Intelligenzminderung” die Bezeichnung „Lernbehinderung” benutzt wird.

Dieser Begriff wirkt auf den ersten Blick weniger diskriminierend als „geistige Behinderung”, dennoch hat er zu einer erheblichen Stigmatisierung und negativen Konnotation geführt, da „etwa 80 bis 90 Prozent aller lernbehinderten Kinder und Jugendlichen in sozial benachteiligten Milieus leben” (ebd., 340). Hinzu kommt, dass „Lernbehinderung” letztlich nur im schulischen Bereich geläufig ist und nicht wie „geistige Behinderung” im System der Eingliederungshilfe (SGB IX, XII; BTHG) verankert wurde. Dies hat in den letzten Jahren dazu geführt, Absolvent:innen von Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen (sogenannten Lernbehindertenschulen) von „lernbehindert” zu „geistig behindert” umzudefinieren oder mit „Summationsdiagnosen” (Wüllenweber 2012, 95) zu versehen (Lernbehinderung plus schwere Störungen im Sozialverhalten oder seelische Behinderungen). Dadurch sollen mit einer sogenannten „wesentlichen Behinderung” die gesetzlichen Bestimmungen zur Aufnahme in eine Werkstatt für behinderte Menschen erfüllt werden. An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass es bei den genannten Leitbegriffen nicht um objektive Tatbestände, sondern stets um Zuschreibungen handelt.

Zur Klassifikation von „Intellektueller Entwicklungsstörung/kognitiver Beeinträchtigung” nach DSM-5 und ICD-11

Im DSM-5 wird „intellectual disability (intellectual developmental disorder)“ unter drei zentralen Gesichtspunkten aufbereitet:

1. Im Hinblick auf Defizite in der „intellektuellen Funktionsfähigkeit“ (intellectual functioning)

Das betrifft vor allem logisches, problemlösendes und abstraktes Denken, Planen, Urteilen, akademisches und experimentelles Lernen, Lernen aus Erfahrung oder Beobachtung. Zur Erfassung der „intellektuellen Funktionsfähigkeit“ werden neben einem klinischen Assessment und Intelligenztests gleichfalls soziale Einflussfaktoren (sozio-kultureller Hintergrund, Muttersprache) sowie zusätzliche kommunikative, motorische oder sensorische Beeinträchtigungen mit in Betracht gezogen.

2. Im Hinblick auf Defizite in der „adaptiven Funktionsfähigkeit“(adaptive functioning)

Hier geht es um die Erfassung von Beeinträchtigungen im:

(1) Konzeptionellen Bereich, bezogen auf sogenannte Kulturtechniken wie sprachliche Fähigkeiten, Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen, Urteilsfähigkeit, Wissen und Gedächtnisleistung;

(2) Sozialen Bereich, bezogen auf sogenannte Kulturtechniken wie Kompetenzen wie Empathie, Erfassung und Beurteilung sozialer Situationen, zwischenmenschliche Kommunikation, Bildung und Pflege von Freundschaften u. a. m.;

(3) (Alltags-)praktischen Bereich, bezogen auf Selbstmanagement bzw. Selbstversorgung (persönliche Pflege), verantwortliches Arbeitsverhalten, Umgang mit Geld, Freizeitgestaltung oder Erfüllung bestimmter Pflichten wie Schularbeiten oder Arbeitsaufgaben.

Das entsprechende Assessment soll wiederum breit angelegt sein, Skalen zur Einschätzung des adaptiven Verhaltens, anamnestische Gespräche und Informationen von Bezugspersonen beinhalten.

3. Im Hinblick auf einen zeitlichen Aspekt, indem sich eine