Azurblau - Carina Schnell - E-Book
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Carina Schnell

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Beschreibung

Dieser Sommer verspricht nicht nur Sonne und azurblaues Meer, sondern auch prickelnde Begegnungen! Die ehrgeizige Köchin Alix hat im südfranzösischen Antibes ihren Traumjob ergattert. Als sie in eine unglückliche Situation gerät, hilft ihr der geheimnisvolle Léo, der auf einer der Luxusjachten im Hafen arbeitet. Es knistert gewaltig zwischen den beiden, und schon bald können sie sich dem Strudel der Leidenschaft nicht mehr entziehen. Alles könnte perfekt sein, wäre da nicht diese Dunkelheit, die Léo oft umgibt. Alix ahnt, dass seine Vergangenheit auch ihr Leben aus den Angeln heben könnte. Und wie kann sie mit ihm zusammen sein, wenn er alles in Gefahr bringt, was Alix sich aufgebaut hat? In ihrer neuen New-Adult-Dilogie entführt uns SPIEGEL-Bestsellerautorin Carina Schnell nach dem Erfolg von »When the Storm Comes«, »When the Night Falls« und »When the Stars Collide« an die romantische Küste Südfrankreichs.

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© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Anika Beer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

TEIL 1

Le coup de foudre

Kapitel 1

Alix

Kapitel 2

Léo

Kapitel 3

Alix

Kapitel 4

Léo

Kapitel 5

Alix

Kapitel 6

Léo

Kapitel 7

Alix

Kapitel 8

Léo

Kapitel 9

Alix

Kapitel 10

Alix

Kapitel 11

Léo

Kapitel 12

Alix

Kapitel 13

Léo

Kapitel 14

Alix

Kapitel 15

Léo

Kapitel 16

Alix

Kapitel 17

Alix

Kapitel 18

Léo

Kapitel 19

Alix

Kapitel 20

Léo

Kapitel 21

Alix

Kapitel 22

Alix

Kapitel 23

Léo

Kapitel 24

Alix

Kapitel 25

Léo

Kapitel 26

Alix

Kapitel 27

Léo

Kapitel 28

Alix

Kapitel 29

Alix

Kapitel 30

Alix

Kapitel 31

Léo

Kapitel 32

Alix

Kapitel 33

Léo

Kapitel 34

Alix

TEIL 2

L’amour fou

Kapitel 35

Alix

Kapitel 36

Yassim

Kapitel 37

Alix

Kapitel 38

Yassim

Kapitel 39

Alix

Kapitel 40

Yassim

Kapitel 41

Alix

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für alle, die in ein fremdes Land gegangen sind und dort die Liebe gefunden haben

TEIL 1

Le coup de foudre

Kapitel 1

Alix

Als die Stadt am Meer in Sicht kam, drückte ich meine Nase an der Fensterscheibe platt. Die Pilotin flog eine großzügige Schleife, sodass ich einen atemberaubenden Ausblick auf die Baie des Anges, die sogenannte Engelsbucht, bekam. Hier und dort war das azurblaue Meer mit weißen Booten gesprenkelt. Auf dem Wasser glitzerte die Sonne so stark, dass ich die Augen zusammenkneifen musste.

Am Ufer zog sich eine Promenade hinter einem breiten Strandabschnitt entlang, und dahinter erstreckte sich die Stadt. Strahlend weiße, terrakottafarbene, gelbe und rote Häuser – kein Gebäude glich dem anderen. Nizza war ein Flickenteppich, eine fröhliche Farbexplosion. Sich im Wind wiegende Palmen säumten die Promenade, auf vielen Dächern konnte ich grün bewachsene Dachterrassen erkennen. In der Ferne erhoben sich die Alpen, deren höchste Gipfel selbst jetzt, Mitte Mai, noch schneebedeckt waren. Berge und Meer – ein Kontrast, der überraschend gut zusammenpasste. Mein Herz schlug augenblicklich schneller. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Langsam verlor die Maschine an Höhe. Ich riss die Augen auf, als ich entdeckte, dass sich die Landebahn direkt im Meer befand. Oder vielmehr auf einer eigens dafür vorgesehenen Halbinsel, die künstlich angelegt worden sein musste. Bei dem Gedanken, dass wir gleich dort landen würden, wurde mir flau im Magen. Wenn die Pilotin die Länge der Landebahn falsch abschätzte, würden wir ins Wasser stürzen. Ich schluckte schwer, während wir der Meeresoberfläche immer näher kamen. Die Farbtöne changierten von Tiefblau zu Jadegrün und Türkis bis hin zu Hellblau – so kristallklar, dass ich teils dunkle Schemen am Meeresboden ausmachen konnte.

Als wir den Wellen so nah waren, dass ich gefahrlos aus dem Flugzeug hätte hineinspringen können, krallte ich meine Finger um die Armlehnen. Von der Landebahn war keine Spur mehr zu sehen. Das Wasser kam immer näher. Jeden Moment würden wir darin versinken. Innerlich verfluchte ich mich dafür, diesen Flug gebucht zu haben. Ich hätte den Zug nehmen können, doch das hätte mich neun Stunden gekostet – und dann hätte ich die Aussicht verpasst.

Reiß dich zusammen! Ich starrte weiter aus dem Fenster, den Blick nun auf den wolkenlosen Himmel gerichtet, dessen Farbe der des Meeres in nichts nachstand. Im Kopf zählte ich die Sekunden bis zum Kontakt mit dem Wasser. Drei, zwei, eins …

Es rumpelte und holperte, dann rollten wir über festen Boden. Kein Platschen, kein Sinken. »Willkommen an der Côte d’Azur«, dröhnte es aus den Lautsprechern.

Mir entwich ein erleichtertes Seufzen. Ich hatte den ersten Flug meines Lebens hinter mich gebracht, ohne vor Angst zu sterben – oder mich zu übergeben. Kurz verspürte ich den Drang, laut zu jubeln, stattdessen lockerte ich nur meinen Griff und atmete tief durch.

Als ich mich in der Flugzeugkabine umsah, wurden meine Wangen heiß. Auf keinem der Gesichter der anderen Passagiere zeigte sich dieselbe Erleichterung, die sich auf meinen Zügen abzeichnen musste. Der Anzugträger neben mir tippte ungerührt weiter auf seinem Laptop herum. Die drei jungen Frauen vor mir unterhielten sich angeregt, wie schon den ganzen Flug über. Irgendwo hinter mir lachte ein Kleinkind. Ich schluckte und wagte einen weiteren Blick aus dem Fenster. Palmen begrüßten mich, während sich unsere Maschine langsam dem Flughafengebäude näherte. Unwillkürlich breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Dies war der Moment, in dem mein neues Leben begann.

••

Ächzend hievte ich meinen riesigen Koffer vom Band. Er war viel zu schwer, doch da er so ziemlich alle meine Besitztümer enthielt, musste ich da durch. Man zog schließlich nicht nur mit einer kleinen Reisetasche einmal quer durchs Land. In Gedanken weinte ich meinem alten Zimmer mit den mintgrünen Wänden und weißen Fensterläden nach, das meine Eltern wahrscheinlich zu einem Yoga-Raum umfunktionieren würden – wenn sie sich jemals wieder zu Hause blicken ließen. Trotz allem freute ich mich jedoch darauf, zum ersten Mal in meinem Leben etwas nur für mich zu haben. Allein zu wohnen. So richtig ins Erwachsenendasein zu starten. Mit vierundzwanzig Jahren wurde es langsam Zeit.

Für Mitte Mai war es im Flughafengebäude unerwartet heiß. Klimaanlage? Fehlanzeige! Mein Pferdeschwanz klebte mir im Nacken, während ich mit Koffer und Umhängetasche beladen auf den Ausgang zusteuerte. Es half nicht, dass ich durch die gewagte Landung noch etwas wackelig auf den Beinen war.

Mit der freien Hand fächelte ich mir Luft zu, während ich den Doppeltüren, über denen in grünen Leuchtbuchstaben Sortie stand, immer näher kam. Sie öffneten sich automatisch, und dann trat ich hinter einer Frau in einem perfekt sitzenden Hosenanzug in den Empfangsbereich des Flughafens. Ich hatte eine große Menschenmenge erwartet, schließlich war Nizza ein beliebtes Ferienziel, doch in der überraschend kleinen Halle standen nur sechs Leute. Zwei davon waren Taxifahrer, die je ein Namensschild hochhielten. Ein älterer Herr steuerte direkt auf die Frau im Hosenanzug zu und nahm ihr die Laptoptasche ab. Die drei übrigen Personen winkten fröhlich und stürzten sich auf die Familie, die hinter mir durch die Tür kam.

Die herzliche Begrüßung versetzte mir einen unerwarteten Stich. Ich wurde von keinem bekannten Gesicht erwartet. Niemand würde mich in die Arme schließen. Ich war auf mich allein gestellt. Zumindest vorerst.

Kurz blieb ich stehen, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen. Langsam leerte sich die Halle, sodass neben dem Personal der verschiedenen Autovermietungs- und Informationsstände nur ich zurückblieb. Rasch zog ich meinen Hoodie aus, unter dem ich ein dünnes Top trug. Schon besser. Dann zückte ich mein Handy und öffnete Google Maps. Natürlich war ich vorbereitet. Das war ich immer. Ich musste nur noch auf Route starten klicken und den blauen Punkten in Richtung der nächsten Haltestelle folgen. Mit meinem Gepäck war das jedoch leichter gesagt als getan.

Quälend langsam zerrte ich das Monstrum von einem Koffer hinter mir her in Richtung Ausgang. Die Frau vom Infostand warf mir einen mitfühlenden Blick zu, doch ich schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln, pustete mir ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht und hängte mich noch verbissener rein. Schließlich ging ich fast jeden Tag joggen und regelmäßig zum Kickboxen. Da würde ich mich nicht von einem Koffer in die Knie zwingen lassen – auch wenn er drei Tonnen wog.

Als ich es endlich nach draußen geschafft hatte, schlug mir warme Luft entgegen. Hier war die Hitze jedoch viel erträglicher. Eine frische Brise wehte vom Meer herüber, und ich nahm mir einen Moment, um tief durchzuatmen.

Am Himmel drehten ein paar Möwen ihre Runden. Ihr Geschrei mischte sich mit dem Verkehrslärm der nahen Straße und dem Hupen eines Taxis auf dem Parkplatz vor dem Flughafengebäude. Auch hier standen überall Palmen. Rosa und weiße Blüten kletterten an der Wand des Flughafengebäudes hinauf, und es duftete nach Jasmin. Sofort fühlte ich mich, als wäre ich im Urlaub. Dass ich von nun an im Paradies leben und arbeiten würde, war definitiv etwas, woran ich mich erst gewöhnen musste.

Nachdem ich mir die blonden Haare mit den rosa Spitzen zu einem neuen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, ging es weiter. Google Maps führte mich mitten hinein in den bunten Trubel, der außerhalb des Flughafengeländes herrschte. Autos hupten, Leute brüllten sich durch heruntergelassene Scheiben Beleidigungen zu, und ich versuchte mittendrin, meinen Koffer an Fahrrädern, Passanten und Palmen vorbeizumanövrieren. Es war gar nicht so leicht, sich beim Gehen auf den Weg zu konzentrieren, denn auf der gegenüberliegenden Straßenseite erhob sich ein beeindruckendes Luxushotel neben dem anderen. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Trotz allem schaffte ich es wohlbehalten bis zum nächsten Bahnhof. Bereits zu Hause hatte ich mir eine Zugverbindung herausgesucht. Obwohl ich Nizza unbedingt erkunden wollte, musste die pulsierende Metropole erst einmal warten. Denn mein Ziel war um einiges kleiner, wenn auch doppelt so aufregend. Nächster Halt: Antibes stand in leuchtenden Lettern auf der Anzeige des Zugs, in den ich meinen Koffer hievte.

In dem Küstenörtchen mit dem größten Jachthafen Europas tummelten sich nicht nur die Reichen und Schönen, sondern es reihte sich auch ein Edelrestaurant an das nächste. Und ich hatte einen Job im besten Haus am Platz ergattert. Nachdem ich meine Ausbildung zur Köchin in Bordeaux abgeschlossen hatte, gab es keinen besseren Ort, um Berufserfahrung zu sammeln und mir hoffentlich meinen Traum, eines Tages Chef de Cuisine zu werden, zu erfüllen. Ich konnte es immer noch nicht ganz fassen, dass sie mich im Le Chat Noir als Jungköchin eingestellt hatten. Zugegeben, die Besitzerin des mit drei Michelin-Sternen ausgezeichneten Restaurants hatte meinem früheren Chef einen Gefallen geschuldet, doch ich war fest entschlossen, ihr zu beweisen, dass ich es nicht nur deshalb verdient hatte, in ihrer Küche zu arbeiten.

Nachdem ich einen freien Sitzplatz gefunden und meinen Koffer in der Gepäckablage verstaut hatte, lehnte ich mich zurück, um die zwanzigminütige Zugfahrt für ein Nickerchen zu nutzen. Schließlich war ich bereits seit fünf Uhr morgens auf den Beinen. Doch ich richtete mich ruckartig wieder auf, als wir um eine Kurve fuhren und das Meer plötzlich keine zehn Meter von der Fensterscheibe entfernt auftauchte. Mir blieb der Mund offen stehen. Die Gleise führten direkt an der Küste entlang! Erst der Landeanflug auf Nizza und jetzt das. Offenbar wartete so ein Ausblick an der Côte d’Azur an jeder Ecke.

Reflexartig griff ich nach meinem Handy und schoss ein paar Fotos von den azurblauen Wellen, die sanft an einen schmalen Strandabschnitt spülten. Wenn ich an dieser Stelle aus dem Zug sprang, würde ich weich landen und direkt ins einladende Meer weiterrollen können. Die Vorstellung brachte mich zum Lachen. Wie selbstverständlich drehte ich den Kopf, um mein Amüsement kundzutun, doch der Sitz neben mir war leer. Erneut überkam mich eine Welle der Einsamkeit, und ich musste schwer schlucken.

Es gab nur eine einzige Person, mit der ich diesen Moment teilen wollte: Magali, meine jüngere Schwester und beste Freundin. Um mich von dem Kloß in meinem Hals abzulenken, tippte ich eine Nachricht und schickte ein Foto vom Meer mit.

Bin gut angekommen. Die Aussicht ist schon mal herrlich! Würde am liebsten sofort reinspringen.

Seufzend lehnte ich mich wieder zurück und genoss die Fahrt. Während sich der Zug an der Küste entlangschlängelte, stellte ich mir vor, was Magali wohl sagen würde, wenn sie jetzt neben mir säße. Es fühlte sich merkwürdig an, sie nicht bei mir zu haben. Als würde mir ein lebenswichtiges Organ fehlen. Da unsere Eltern aufgrund ihrer Karriere größtenteils mit Abwesenheit glänzten, hatten wir einander großgezogen. Unser ganzes Leben lang hatten wir nur einander gehabt. Und in diesem Moment, als ich meinem Ziel mit jeder verstreichenden Minute näher kam und Nervosität in mir aufstieg, hätte ich alles dafür gegeben, Magali auch jetzt an meiner Seite zu haben.

Sehnsucht überkam mich. Sehnsucht nach ihrer tröstlichen Präsenz, ihrem Optimismus und ihrem unerschütterlichen Glauben an mich. Doch das hier war etwas, das ich allein durchziehen musste. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich dran. Mein Traum war zum Greifen nah, und wenn es einem Umzug ans andere Ende des Landes bedurfte, um ihn zu erfüllen, dann musste ich über meinen Schatten springen und es wagen. Magali würde mir sonst die Hölle heiß machen.

Als ich mir ihren strengen Blick vorstellte, musste ich leise lachen. Mit neu erwachter Zuversicht setzte ich meine Kopfhörer auf, drehte Magalis Lieblingssong auf – Happy von Pharrell Williams – und ließ mich vom sanften Schaukeln des Zugs und der wunderschönen Aussicht besänftigen.

••

Das mediterran anmutende rote Gebäude des Bahnhofs von Antibes war klein, sodass ich schnell den Weg zum Ausgang fand. In der Eingangshalle steuerte ich jedoch erst einmal einen Kiosk an und kaufte mir eine Flasche Evian. Wenn ich mich nicht schnell abkühlte, würde ich in Flammen aufgehen. Sobald ich die Flasche in der Hand hielt, drehte ich den Deckel auf und trank gierig. Dann spritzte ich mir ein wenig Wasser ins erhitzte Gesicht. Nach einem letzten großen Schluck drehte ich mich wieder zu meinem Gepäck um.

»Salut, bist du Alix?« Direkt vor mir stand eine hochgewachsene Person in einer buntgemusterten, an der Taille geknoteten Bluse und Skinny Jeans. Sie lächelte mich so breit an, dass ich einen Blick auf ihre strahlend weißen Zähne erhaschte. Ich nickte überrascht. Zu mehr war ich mit vollem Mund nicht fähig. Dann schluckte ich das Wasser geräuschvoll herunter und schenkte dem freundlichen Menschen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, ein breites Lächeln. »Ja, äh, und du musst Thibault sein.«

»Genau.« Die Person nickte, sodass ihr schwarzer Afro wippte und der jadegrüne Ohrring, der vom linken Ohr baumelte, leise klirrte. »Aber alle nennen mich Bo. Meine bevorzugten Pronomen sind sier/siem.«

»Schön, dich kennenzulernen, Bo. Meine sind sie/ihr.«

Bo trat vor, um mich mit La Bise zu begrüßen. Dabei steuerte sier allerdings zuerst auf meine linke Wange zu, was mich so sehr verwirrte, dass ich siem beinahe eine unfreiwillige Kopfnuss verpasst hätte. Statt den von mir erwarteten drei gab Bo mir dann zwei Wangenküsschen, sodass ich sien zu allem Überfluss fast auf den Mund geküsst hätte. Ich konnte das Desaster gerade noch abwenden und tat so, als wäre nichts geschehen, während mir Wasser aus meinen noch feuchten Wimpern in die Augen tropfte.

Nein, ich war definitiv nicht mehr in Bordeaux. Das bestätigte mir auch der Akzent, als Bo leise lachte und verschmitzt bemerkte: »Ach ja, ich habe ganz vergessen, dass du nicht von hier bist.« Mühelos schnappte sier sich mein Gepäck und machte eine auffordernde Handbewegung in Richtung Ausgang. »Willkommen in Antibes!«

Wir traten ins gleißende Sonnenlicht, und ich war froh, meinen Koffer nicht mehr ziehen zu müssen, da ich augenblicklich wieder zu schwitzen begann. Die Straße war von hohen Pinien gesäumt, die einen angenehmen Duft verströmten. Eine wahre Flut an Vespas und Motorrollern parkte unter den Bäumen. Schon wollte ich in den Schatten flüchten, doch Bo winkte mich zu einem Parkplatz neben dem Bahnhofsgebäude. »Hier entlang.« Sier öffnete die seitliche Schiebetür eines weißen Sprinters, auf der ein Logo prangte: die Silhouette einer schwarzen Katze vor dem Vollmond. Ich hätte es auch erkannt, wenn darunter nicht in elegant geschwungenen Buchstaben Le Chat Noir gestanden hätte. Mein Magen kribbelte verheißungsvoll. Irgendwie machte es das Ganze erst so richtig real, dass ich mit dem Firmenwagen abgeholt wurde.

So sehr war ich in die Betrachtung des Logos vertieft, dass ich kaum mitbekam, wie Bo mein Gepäck einlud. Erst als sier die Tür geräuschvoll schloss, erwachte ich aus meinem Freudentaumel. »Sorry, was hast du gesagt?«

»Ich habe gefragt, ob du eine gute Reise hattest.« Bo öffnete mir die Beifahrertür, und ich beeilte mich einzusteigen.

»Ja«, antwortete ich, während ich auf den hohen Sitz kletterte. »Der Landeanflug auf Nizza war atemberaubend.«

»Das glaube ich dir sofort.« Bo schlug die Tür zu, lief um den Wagen herum und stieg neben mir ein. »Ich bin hier in der Gegend aufgewachsen, aber von so hoch oben habe ich Nizza noch nie gesehen.« Sier ließ den Motor an, fuhr vom Parkplatz und reihte sich in den üppigen Verkehr ein.

»Ist Antibes denn ebenso schön?«, fragte ich.

»Ich finde, hier ist es noch tausendmal schöner.«

»Wirklich?«

Bo lachte, weil meine Augen verzückt zu leuchten begonnen haben mussten. »Das Städtchen hat es trotz Luxustourismus geschafft, sich seinen ursprünglichen Charme zu bewahren. Du wirst schon sehen.«

Gespannt starrte ich aus dem Fenster. Wir befanden uns im modernen Teil der Stadt, der sich nicht besonders von anderen französischen Kleinstädten unterschied. Von unzähligen Internetfotos wusste ich jedoch, dass die Altstadt eine ganz besondere Perle war. Und dort würde ich wohnen und arbeiten. Mein Herz schlug immer schneller, je näher wir meinem neuen Zuhause kamen.

»Ich bringe dich erst mal in deine Wohnung«, erklärte Bo. »Gern hätte ich dich heute schon mit ins Restaurant genommen, aber wir haben montags geschlossen, und die Chefin mag es nicht, wenn wir trotzdem aufkreuzen. Sie sagt immer, dass wir unsere Freizeit gefälligst sinnvoll nutzen sollen.« Sier rollte mit den Augen, doch der liebevoll verschmitzte Gesichtsausdruck verriet mir, dass Bo viel für Sylvie Lellouche, die Besitzerin des Le Chat Noir, übrighatte. »Komm morgen einfach eine Stunde vor Dienstbeginn, dann zeige ich dir alles und gebe dir deine Arbeitskleidung.«

Ich nickte. So viele Fragen schossen mir durch den Kopf, dass ich kaum entscheiden konnte, welche ich zuerst stellen sollte. »Ich bin so gespannt auf das Restaurant. Die Küche. Die Kollegschaft. Sind alle nett?«

»Ja, wir sind ein tolles Team.« Bo klang aufrichtig, hatte allerdings einen Augenblick zu lange gezögert. Stirnrunzelnd musterte ich sien von der Seite. Bevor ich nachfragen konnte, wurde ich von den wunderschönen alten Häusern abgelenkt, die plötzlich vor uns auftauchten. »Das ist Vieil Antibes, die Altstadt«, verkündete Bo.

Ich konnte meinen Blick nicht von den schattigen Gassen, steinernen Brunnen und weißen und gelben Gebäuden mit terrakottafarbenen Dachziegeln losreißen. Rosa Blumen rankten sich an Hausfassaden hinauf. Markisen, Tische und Stühle luden vor den Restaurants und Bars zum Verweilen ein. An jeder Ecke wurden Kunstwerke und Postkarten verkauft. Einige der gedrungenen Häuschen mussten Hunderte von Jahren alt sein, doch die Bewohner kümmerten sich offensichtlich liebevoll um die Instandhaltung. Vor jeder Tür standen Blumenkübel, und die farbenfrohen Fensterläden wirkten überall frisch gestrichen.

Ich konnte nicht anders, als die Scheibe herunterzulassen, um den Duft der Stadt in mich aufzunehmen. Blumig und salzig zugleich. Die Brise vom nahen Meer trug die Akkordeonklänge eines Straßenmusikers an meine Ohren. Wenige Meter weiter lief mir das Wasser im Mund zusammen, weil es plötzlich nach frischen Crêpes duftete, kurz darauf abgelöst von Lavendel und Thymian, als wir an einem Seifenlädchen vorbeifuhren. Am liebsten wäre ich sofort aus dem Auto gesprungen und hätte mich unter die Passanten gemischt.

Als die Gassen schließlich immer schmaler wurden, befürchtete ich, dass wir mit dem Sprinter bald nicht mehr weiterkommen würden, doch Bo manövrierte den Wagen geschickt durch die Altstadt. Wir bogen ab, holperten über Kopfsteinpflaster und hielten kurz darauf an.

»Wir sind da«, erklärte Bo fröhlich.

Als ich ausstieg, riss der starke Wind Strähnen aus meinem Zopf. Wir standen vor einem schmalen, dreistöckigen Haus mit ockerfarbener Steinfassade und türkis gestrichenen Fensterläden. Davor blühte ein Busch in einem intensiven Pinkton. Die altmodische Eingangstür wurde von zwei Olivenbäumchen in Terrakottakübeln flankiert. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite trennten uns nur wenige Schritte von der hellen Stadtmauer, die die Altstadt umgab. Wir befanden uns auf einem Hügel. Deshalb war die Mauer hier so niedrig, dass ich mühelos drüberschauen konnte. Dahinter erstreckte sich das Meer bis zum Horizont.

»Hier soll ich wohnen?«, entfuhr es mir. »Das ist einfach … wow!«

»Freu dich nicht zu früh.« Bo lud mein Gepäck aus. »Deine Wohnung hat leider keinen Meerblick, sondern geht auf den Innenhof raus. Eine Klimaanlage gibt es nicht, und die Wände sind dünn.«

»Aber wenn ich morgens aus dem Haus gehe, habe ich diesen Ausblick! Das ist unschlagbar.« Ich schoss ein Foto und schickte es an meine Schwester, die bisher nicht geantwortet hatte. Darunter kam ein Herzaugen-Emoji, gefolgt von:

Mein neues Zuhause: Jackpot!!!

Gemeinsam schleppten wir meinen Riesenkoffer die enge Treppe bis in den dritten Stock hinauf. Das letzte Stück des Wegs wirkte eher, als würden wir zu einem Dachboden raufsteigen, so niedrig wurde die Decke. Es gab keinen Platz mehr für zwei Personen nebeneinander, sodass Bo mir den Vortritt ließ. Die ausgetretenen Stufen endeten vor einer Holztür, die schon bessere Tage gesehen hatte. Bo reichte mir einen gusseisernen Schlüssel und forderte mich auf, mein neues Reich als Erste zu betreten. Mit zitternden Fingern steckte ich das leicht rostige Ding ins Schloss und brauchte zwei Versuche, bis es sich umdrehen ließ. Dann endlich schwang die Tür auf.

Ich musste den Kopf einziehen, um über die Schwelle zu treten. Der Parkettboden knarzte willkommen heißend, als ich einen Fuß daraufsetzte und mich staunend umsah. Wie bereits mehrmals an diesem Tag blieb mir die Luft weg. Die helle Einzimmerwohnung hatte blassgelb gestrichene Wände, eine schmale Küchenzeile und zusammengewürfelte Möbel, die von Flohmärkten und Antiquitätenläden stammen mussten. Holzbalken zogen sich über die Decke, und zwei der Wände waren unverputzt. Die rohen Steinmauern, die dadurch zum Vorschein kamen, verliehen der Wohnung einen rustikalen Charme.

Das eiserne Gestell quietschte leise, als ich meine Tasche auf dem Bett abstellte, das den kleinen Raum dominierte. Langsam drehte ich mich im Kreis, um alles in mich aufzunehmen. Von den weiß gestrichenen Fensterrahmen über den winzigen Esstisch beim Fenster, auf dem ein frischer Blumenstrauß in einer Vase stand, bis hin zu den beigefarbenen Leinengardinen, die sich im Wind blähten.

Bo hatte den Koffer neben der Tür abgestellt und zog nun entschuldigend die Schultern hoch. »Ich weiß, es ist klein, aber das Apartment ist gar nicht mal so übel, wenn du dich daran gewöhnt hast.«

»Gar nicht mal so übel?«, wiederholte ich. Es war klein, es war alt, es war wunderschön. »Ich bin schockverliebt.«

Bo lachte, ein rauer Laut, der ansteckend war. »Dann ist ja gut. Die Kühlschranktür klemmt manchmal, und das Bett quietscht, aber das wirst du bald selbst herausfinden. Wenn du Fragen hast, ruf mich einfach an. Ich habe vor dir hier gewohnt, deshalb kenne ich mich aus. Meine Nummer hast du ja.«

»Danke, Bo!« Viel mehr brachte ich nicht über die Lippen, da ich vollkommen verzaubert durch die Wohnung huschte und ehrfürchtig über die Holzmöbel strich. Vor dem gerahmten Gemälde eines Segelboots über der altmodischen Kommode blieb ich stehen.

»Den nächsten Supermarkt kannst du in zehn Minuten zu Fuß erreichen, und Anfang Juni öffnet der Marché Provençal gleich um die Ecke. Von Dienstag bis Sonntag kannst du dort frisches Obst und Gemüse, Käse, Kräuter und Gewürze kaufen.«

Ich seufzte verzückt. »Das klingt perfekt. Kaum zu glauben, dass der Job mit dieser Wohnung kommt.«

»Na ja, Miete musst du zwar zahlen, aber da das Gebäude der Chefin gehört, ist der Preis echt in Ordnung. Sonst wohnen hier unsere Azubis. Gerade haben wir keine, deshalb darfst du einziehen.«

Ich strahlte. »Natürlich werde ich mir auf lange Sicht etwas Eigenes suchen, aber für den Anfang könnte ich mir nichts Schöneres vorstellen.«

Aufgrund meiner Begeisterung grinste Bo von einem Ohr zum anderen. »Schön, dass es dir so gut gefällt.« Sier ging zur Tür. »Dann lasse ich dich erst mal auspacken und richtig ankommen.«

»Danke, dass du mich so lieb willkommen geheißen hast, Bo. Es beruhigt mich, dass ich an meinem ersten Arbeitstag schon jemanden kennen werde.«

Sier musterte mich mit plötzlich besorgt gerunzelter Stirn. »Bist du denn sehr aufgeregt?«

Meine Wangen wurden heiß. Das sah mir gar nicht ähnlich, also fummelte ich an meinem Pferdeschwanz herum, um meine Verlegenheit zu überspielen. »Es geht. Dieser Job ist eine Riesenkarrierechance für mich. Ich will es nicht vermasseln.«

»Verständlich. Das ging mir auch so, als ich im Le Chat Noir angefangen habe.« Bo nickte wissend, dann hellte sich siese Miene wieder auf. »Ich habe es aber so im Gefühl, dass du es rocken wirst.«

Als die Nervosität durch die lieben Worte mit einem Schlag von mir abfiel, atmete ich erleichtert auf. Dann grinste ich Bo an. »Du meinst wohl, dass wir es gemeinsam rocken werden?«

»O ja, mit mir an deiner Seite kann nichts schiefgehen.« Bo winkte zum Abschied. »Wir sehen uns morgen, Alix!«

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, legte sich Stille über die Wohnung. Mein Lächeln erstarb, und kurz befürchtete ich, dass mich erneut dieses erdrückende Gefühl der Einsamkeit überkommen würde. Doch dann drangen Möwenschreie durch das offene Fenster zu mir herein. Ich hörte das Rauschen der Wellen, die gegen die Felsen vor der Stadtmauer brandeten, und die Stimmen von sich leise im Hinterhof unterhaltenden Menschen. Der Sound meiner neuen Heimat.

Kaum konnte ich fassen, dass ich wirklich hier war. An einem der schönsten Orte der französischen Riviera. In diesem urigen Apartment am Meer. Um meinem Traum hinterherzujagen.

Der Gedanke war so gewaltig, dass ich mir einen Moment nehmen musste, um mich zu fangen. Erschöpft von der langen Reise, ließ ich mich auf das kleine Ecksofa fallen. Erschöpft, aber glücklich.

Kapitel 2

Léo

Wie hypnotisiert starrte ich aufs Meer. Die Oberfläche wurde in der Ferne von heftigen Böen gepeitscht. Tausendfach brach sich die Sonne darauf, sodass ich für einen Moment Regenbögen sah. Am liebsten hätte ich mir aufgrund des Lärms die Hände auf die Ohren gepresst, stattdessen biss ich die Zähne zusammen und verfolgte den Anflug des Hubschraubers auf den hafeneigenen Helikopterlandeplatz. Die aufkommenden Wellen brachten die kleineren der umliegenden Boote zum Schaukeln, und einer Frau, die in der Nähe spazieren ging, wurde der Sonnenhut vom Kopf gefegt.

Kurz darauf war das Schauspiel schon wieder vorbei. Der ohrenbetäubende Lärm verebbte, und die Rotorblätter des silbernen Ungetüms drehten sich nur noch träge. Wellen brandeten gegen die Hundertfünfzig-Meter-Jacht, auf deren Hauptdeck ich stand. Sie konnten ihr jedoch nichts anhaben. Die Aurora schaukelte kein bisschen – oder vielleicht bemerkte ich es nach Jahren auf See bloß nicht mehr.

Während die Fluggäste einer nach dem anderen aus dem Hubschrauber kletterten, ließ ich den Blick über den Jachthafen von Antibes schweifen. Durch seine perfekte Lage zwischen Cannes und Nizza war das hübsche Städtchen ein beliebtes Urlaubsziel für französische und internationale Reisende gleichermaßen. Nur die Reichsten der Reichen konnten es sich allerdings leisten, hier eine Jacht vor Anker liegen zu haben. Die meisten Schiffe blieben den Großteil des Jahres über unbenutzt, bis ihre Besitzer über die Sommermonate herkamen. Unbenutzt, aber nicht unbewohnt. Denn es brauchte eine große Crew, um eine Hundertfünfzig-Meter-Jacht instand zu halten. Menschen wie ich – ohne Familie, ohne Bindung – lebten und arbeiteten auf den Luxusschiffen und standen stets auf Abruf bereit, falls die reichen Arbeitgeber kurzfristig Lust auf einen Abstecher nach St. Tropez oder Monaco bekamen. Deshalb fühlte sich der Port Vauban das ganze Jahr über wie ein eigenes kleines Dorf an. Außerhalb der Altstadt von Antibes, aber in Laufnähe zu Geschäften, Restaurants und Bars gelegen, war er unser Heim auf dem Meer.

Auch wenn ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen musste, dass dieses »Heim« nicht wirklich mir gehörte. Ich war nur eine geduldete Arbeitskraft, doch das störte mich meistens nicht. Denn wenn der Chef nicht da war und wir die Aurora für uns hatten, wirkte es oft so, als wäre die schnittige Lady genau das: mein Zuhause. Meine wahre Heimat hatte ich seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen, doch die Luxusjacht war kein schlechter Ersatz.

Heute war einer dieser Tage, an denen ich mir keine Illusionen darüber machen konnte, wo mein Platz war. Scheich Hamdan bin Jabir Al Nahyan war soeben aus dem Helikopter gestiegen. Nun glich die Jacht einer Wabe voller fleißiger Bienen, die umhereilten, um die Aurora ablegebereit zu machen. In drei Stunden wurde der Scheich in Cannes erwartet. Ich freute mich darauf, endlich wieder aufs Meer rauszufahren. Ohne Genehmigung des Chefs war das verboten.

Als ich sah, dass die Gäste bereits über den Pier auf die Aurora zukamen, wandte ich mich vom Anblick des Hafens ab und umrundete den Pool mit großen Schritten, um mich zu meiner Kollegschaft zu gesellen. Fast alle Mitglieder unserer knapp siebzigköpfigen Crew hatten ihre sorgfältig gebügelten, weißen Uniformen angelegt und sich in ordentlichen Reihen aufgestellt, um den Scheich und seine Gäste zu begrüßen. Die Gläser waren poliert, der Champagner war gekühlt und die Jacht bereit für die erste Fahrt der Saison.

Amir, mein bester Freund und Kollege, stieß mich mit der Schulter an, als ich mich neben ihn stellte. Er grinste breit, und ich erwiderte sein Lächeln. In seinen braunen Augen funkelte dieselbe Vorfreude, die auch durch meinen Körper jagte. In der Nebensaison bekamen wir dann und wann Gäste – Freunde des Scheichs oder Leute, die die Jacht für ein Wochenende mieteten –, doch in den letzten Monaten hatte es wenig zu tun gegeben. Umso heißer war ich darauf, wieder Seeluft zu schnuppern. Für diese Saison hatte ich eine fabelhafte Crew ausgewählt. Mir unterstanden die Deckhände, mit deren Hilfe ich dafür sorgte, dass das Deck stets blitzblank und das Äußere der Jacht in einwandfreiem Zustand war. Es war meine erste Saison als Erster Offizier, und ich würde alles geben, um diesem Posten gerecht zu werden.

Die Begrüßung der frisch eingetroffenen Gäste lief routiniert ab. Lächeln, Händeschütteln, einen Witz reißen. Dann ging es an die Arbeit. Und zwar so diskret, dass die Gäste so wenig von unserer Anwesenheit mitbekamen wie möglich.

»Hast du gesehen, wie viel Gepäck die wieder dabeihaben?«, fragte Amir, als wir wenig später gemeinsam den riesigen Anker lichteten. »Wenn die Stewardessen das alles auspacken, bügeln und aufhängen sollen, sind sie erst fertig, wenn die Gäste schon wieder abreisen.«

Ich lachte. »Da haben wir aber schon Schlimmeres gesehen. Weißt du noch, als Mariah Carey vor zwei Jahren für ein Wochenende an Bord war?«

Amir nickte grinsend. »Sie hat gutes Trinkgeld gegeben.«

Ich verdrehte die Augen. »Weil du schamlos mit ihr geflirtet hast.«

»He! Das ist schließlich mein Job. Soweit ich weiß, hast du dich nicht über die Extrakröten beschwert.«

»Dein Job ist es, meine Befehle zu befolgen«, erinnerte ich ihn in gespielt strengem Tonfall.

»Aye, aye, Erster Offizier, Sir.« Amir salutierte spöttisch. »Lass dir die Beförderung mal nicht zu Kopf steigen. Letztes Jahr warst du noch ein einfacher Bootsmann wie ich.«

Die Ankerkette klirrte, als ich sie mithilfe eines Hebels festzog und dem Kapitän ein Handzeichen gab, dass es losgehen konnte. Dann versetzte ich Amir einen Stoß vor die Brust. »Los jetzt, an die Arbeit, du Faultier!«

Er revanchierte sich mit einer vulgären Geste. »Lässt du mich wenigstens das Gepäck der Tochter vom Scheich in ihre Kabine tragen?«

Ich schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Du spielst mit dem Feuer, Mann.«

»Aber sie wird jedes Jahr hübscher. Wie könnte ich da widerstehen?!« Amir sah mich mit flatternden Lidern und geschürzten Lippen an. Zu seinem Hundeblick hatte ich in den fünf Jahren, die wir nun schon zusammenarbeiteten, noch nie Nein sagen können. »Na schön, aber beeil dich. Die Stewards haben längst angefangen, das Gepäck auf die Schlafzimmer zu bringen.« Ich sah ihm hinterher, als er über das Deck flitzte und im Schatten der hoch aufragenden Kommandobrücke verschwand.

Plötzlich kribbelte mein Nacken auf unangenehme Weise. Ich warf einen Blick zurück zum Pier, auf dem sich eine Menschentraube versammelt hatte, um uns ablegen zu sehen. Jedes Mal war es ein großes Spektakel, das viele Schaulustige anzog. Einige Touristen schossen Fotos. Ich duckte mich eilig, setzte meine verspiegelte Sonnenbrille auf und entfernte mich von der Reling. Auch wenn ich mich hier zu Hause fühlte, hatte ich nicht aufgehört, über die Schulter zu schauen. Das würde sich nie ändern.

Nachdem wir die den Jachthafen umgebende Mauer umschifft hatten, nahm die Aurora schnell an Fahrt auf, und bald waren wir mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Knoten um das Cap D’Antibes herum auf dem Weg nach Cannes. Erst als die Küste nur noch ein ferner Streifen war, gelang es mir, wieder frei durchzuatmen.

Kapitel 3

Alix

Vor lauter Nervosität hatte ich während meiner ersten Nacht in Antibes kaum geschlafen. Stattdessen hatte ich beobachtet, wie das Morgenlicht Schatten an die Wand meiner neuen Wohnung malte. Wie sich die Vorhänge in der Meeresbrise bauschten. Und schließlich, wie das graue Zwielicht vor den Fensterläden einem zarten Rosa wich. Um kurz vor fünf hielt ich es nicht länger aus und schwang die Beine aus dem Bett. Eine kribbelige Unruhe hatte Besitz von meinem Körper ergriffen, und wenn ich nicht sofort etwas dagegen unternahm, würde ich wahrscheinlich schon um sechs Uhr vor dem Restaurant aufkreuzen und sowohl meine neue Kollegschaft als auch meine Chefin vergraulen. Nein, ich wollte auf keinen Fall die übereifrige Neue sein. Die Überpünktliche, die sich einzuschleimen versuchte. Also musste ich mich bis sieben Uhr ablenken. Wenigstens hatte Bo mir gesagt, ich solle früher kommen, sodass ich nicht warten musste, bis die Frühschicht offiziell begann.

Seufzend fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht und band meine Haare mit dem stets an meinem Handgelenk wartenden Haargummi im Nacken zusammen. Die prickelnde Unruhe, die meine Haut zum Jucken brachte, kannte ich gut. Dagegen half nur eins. Also holte ich meine Laufschuhe aus dem halb ausgepackten Koffer. Leise vor mich hin summend, putzte ich mir die Zähne, schlüpfte dann in meine alte pinke Leggings, einen Sport-BH und ein weißes Shirt und zog meine Kopfhörer auf.

In das tröstlich vertraute Outfit gekleidet, verließ ich kurz darauf die Wohnung. Die Holztreppe knarzte unter den Sohlen meiner weiß-pinken Nikes. Ich brauchte zwei Anläufe, um die schwere Haustür aufzudrücken. Sanft strich dann kühle Morgenluft über mein Gesicht.

Als ich ins Freie trat, wäre ich fast rückwärts getaumelt, so atemberaubend war der Ausblick. »Autsch!« Die hinter mir zufallende Tür traf mich in den Rücken, doch ich spürte den Schmerz kaum. Mit offenem Mund setzte ich mich in Bewegung, um die Straße zu überqueren. An der Stadtmauer angekommen, legte ich die Hände auf die rauen Steine und betrachtete die Farbexplosion, die den Himmel über dem Meer zum Glühen brachte.

Wolkenstreifen wurden von der aufgehenden Sonne angestrahlt und zogen sich als rosa- und lilafarbene Schlieren über den Himmel. Das Meer war ein beinahe glatter Silberspiegel, nur am Horizont, wo die ersten Sonnenstrahlen darauf trafen, glänzte es in allen erdenklichen Rosaschattierungen.

Ich fühlte mich wie in einem Traum. Als stünde die Zeit einen kostbaren Augenblick lang still. Die Welt um mich herum schlief noch. Keine Menschen waren auf der Straße unterwegs, nichts als das Rauschen der Wellen, die sich unter mir sanft an der Stadtmauer brachen, drang an meine Ohren. Tief atmete ich die salzige Luft ein, füllte meine Lungen bis zum Bersten damit. Zweimal. Dreimal.

Ich war bereits vorher wach gewesen, doch nun fühlte ich mich geradezu belebt. Voller Taten- und Entdeckungsdrang. Nach einem letzten ergriffenen Blick zum Horizont wandte ich mich ab und begann, an der Stadtmauer entlangzujoggen.

Schnell fand ich in meine vertraute Routine. Arme. Beine. Atmung. Mit jedem federnden Schritt fiel ein wenig mehr Anspannung von mir ab, bis die Nervosität nur noch ein fernes Vibrieren in meinem Hinterkopf war.

Ein Blick auf meine Apple Watch sagte mir, dass mein Puls in Ordnung war. Ich war gespannt, wie viele Kilometer ich schaffen und was ich auf meinem Weg entdecken würde. Da die Straßen wie ausgestorben waren, schien dies die beste Tageszeit, um das Städtchen auf eigene Faust zu entdecken und mögliche Laufrouten zu erkunden.

Lächelnd verband ich meine Kopfhörer über Bluetooth und spielte meine Jogging-Playlist ab. Während Beyoncé mir zubrüllte, dass Frauen die Welt regierten, ließ ich mich ganz in meinen Rhythmus fallen und vergaß alles, bis auf das Meer zu meiner Rechten und die sich windende Küstenstraße, die mich offenbar zum Hafen von Antibes führte, wenn ich die in der Ferne aufragenden Masten richtig deutete.

Kapitel 4

Léo

Ich rieb mir die brennenden Augen. Für einen kurzen Moment sah ich alles verschwommen, dann blinzelte ich und kniff mir in die stoppelige Wange. Nur ein paar Minuten. Halte noch ein bisschen durch.

Nach der durchwachten Nacht lief ich wie ein Schlafwandler umher. Wir waren erst spät – oder früh? – aus Cannes zurückgekehrt. Nun drehte ich eine letzte Runde, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war, bevor ich mir hoffentlich ein wenig Schlaf gönnen konnte. Die Gäste hatten sich erst vor einer Stunde auf ihre Zimmer zurückgezogen. Zwar musste ich sie nicht bedienen, das blieb den Stewardessen und Stewards überlassen, dennoch musste jedes Mitglied der Crew stets auf Abruf bereitstehen. Und da mir ein großer Teil der Crew unterstand, musste ich mit gutem Beispiel vorangehen.

Schwankend stieg ich die Treppe zum Hauptdeck hinauf und umrundete Céleste und Loïc, die das Deck an der Stelle schrubbten, wo ein Gast Rotwein verschüttet hatte. »Gute Arbeit, ihr zwei. Aber geht schlafen, wenn ihr fertig seid. Es wird früh genug weitergehen.«

Die beiden nickten mir zu. Ihr Lächeln wirkte gequält. Sie sahen so müde aus, wie ich mich fühlte. Trotzdem fiel mir auf, dass ihnen das Schrubben nach meinem Lob etwas leichter von der Hand ging, dass sich ihre Schultern strafften und die Bewegungen beschwingter wirkten. Das entlockte mir ebenfalls ein Lächeln.

»He, Léo!« Beinahe wäre ich gegen die mit einem Bullauge versehene Tür gelaufen, die sich ohne Vorwarnung vor mir öffnete. »Kannst du das kurz für mich entsorgen?« Ernesto, unser Bordkoch, hielt mir einen Eimer Wasser hin, in dem stinkende Fischreste schwammen. Ich verzog das Gesicht.

»Reste vom Abendessen.« Er hob entschuldigend die Schultern. »Kipp’s einfach über Bord, ist bloß Fisch. Ich komme zu nichts. Sie haben sich Hummer zum Frühstück gewünscht. Hummer! Zum Frühstück!«

Ich seufzte. Egal, welche Sonderwünsche die Gäste hatten, es war unser Job, alle zu erfüllen. Und zwar immer mit einem Lächeln im Gesicht.

»Okay.« Ich nahm ihm den Eimer ab. Das war das Letzte, was ich tun würde, bevor ich mich endlich in meine Kabine zurückzog. Kaum noch konnte ich die Augen offen halten.

»Du bist der Beste!« Ernesto warf mir eine Kusshand zu, rückte seine Kochmütze zurecht und verschwand sofort wieder hinter der Tür zur Kombüse. Er war ein begnadeter Maître de Cuisine und zauberte auf See regelmäßig Fünf-Sterne-Menüs, die jedes Edelrestaurant vor Neid erblassen lassen würden.

Der Eimer war randvoll und überraschend schwer. Als ich mich damit in Bewegung setzte, schüttete ich ein wenig von der stinkenden Flüssigkeit auf meine weiße Uniform. Fluchend stellte ich den Eimer ab, öffnete die goldenen Knöpfe und schlüpfte aus der Jacke. Nun trug ich nur noch mein weißes Achselshirt, was ein absolutes No-Go an Bord war, doch ich wusste mit Sicherheit, dass alle Gäste schliefen, und würde das nur schnell erledigen, bevor ich endlich …

Mein Blick fiel auf eine einsame Gestalt am Hafen. Ich erstarrte, die ruinierte Uniformjacke in meiner Hand war vergessen. So sehr stach die Person aus den Weiß- und Grautönen des Hafens heraus, dass ich mehrmals blinzeln musste, um sicherzugehen, dass sie wirklich dort war. Keine Menschenseele war um diese Uhrzeit unterwegs. Die Sonne lugte gerade so über den Horizont, sodass alles in weiches Licht getaucht wurde. Doch da war sie. Eine Frau. In einer knallpinken Leggings.

Ich befand mich so hoch oben, dass ich keine Details erkennen konnte. Nur ihren blonden Pferdeschwanz, der beim Laufen auf und ab hüpfte. Die schwarzen Kopfhörer. Und ihre entschlossenen Schritte, mit denen sie am Hafen entlangjoggte. So leichtfüßig, als würde sie tanzen.

Sie hatte den Blick auf den Sonnenaufgang gerichtet, schien direkt darauf zuzusteuern und nichts um sich herum wahrzunehmen. Irgendetwas an ihr faszinierte mich. Ich starrte sie an, ihre starken Bewegungen, den wippenden Pferdeschwanz. Mir war sofort klar, dass ich sie hier noch nie gesehen hatte. Sonst wäre sie mir längst aufgefallen. Höchstwahrscheinlich war sie keine Einheimische. Vielleicht eine Touristin? Möglich, auch wenn die gewöhnlich nicht so früh am Hafen joggen gingen. Die meisten schliefen gerade ihren Rausch vom Vorabend aus, bevor sie spätnachmittags wieder in den vor dem Hafen gelegenen Bars auftauchten, um nach reichen Jachtbesitzern Ausschau zu halten, die sie mit auf ihre Boote nahmen und ihnen Champagner spendierten.

Selbst als die Frau längst an der Aurora vorbeigejoggt war und ich sie nur noch als pinken Fleck ausmachen konnte, starrte ich ihr weiter hinterher.

»He, Chef, bist du etwa im Stehen eingeschlafen?« Amir bohrte mir einen Ellbogen in die Rippen, sodass ich zusammenfuhr. »Und deine Uniform brauchst du wohl auch nicht mehr, was? Lass das nicht die anderen Deckhände sehen. Sie suchen sowieso ständig nach Ausreden, um ihre Muskeln zur Schau zu stellen. Dazu musst du sie nicht auch noch ermutigen.« Er wackelte mit den dichten schwarzen Brauen. »Nicht dass dir jemand das Wasser reichen könnte, was das angeht.«

Ich rieb mir über meinen Buzz Cut. »Geschlafen habe ich nicht, aber ich muss echt dringend ins Bett. Warum bist du noch auf?«

Er deutete mit dem Daumen hinter sich. »Bin gerade auf dem Weg in die Kabine.«

»Dann bis gleich.«

»Gute Nacht!« Er gähnte lautstark und winkte zum Abschied. Natürlich hätte ich Amir oder einen meiner Deckhände damit beauftragen können, sich um die Abfälle zu kümmern, doch alle waren mindestens ebenso müde wie ich. Sie hatten eine Ruhepause verdient. Also hob ich das schwere Ding wieder auf und machte mich daran, den Eimer zu einem der unteren Decks zu schleppen, um die Fischreste eigenhändig zu entsorgen.

Kapitel 5

Alix

Ich war völlig in den Anblick des Sonnenaufgangs versunken. Der Port Vauban war wunderschön. In der Ferne erhob sich eine alte Festung auf einem Hügel, als wachte sie über die im Hafen liegenden Boote. Während ich über einen asphaltierten Weg an beeindruckenden Jachten vorbeijoggte, ragte rechts neben mir die allgegenwärtige Stadtmauer auf, die an dieser Stelle über Treppen zu erklimmen war. Gerade überlegte ich, ob ich einen Sprint die Stufen hinauf einlegen sollte, da fiel mein Blick auf meine Apple Watch – und die Uhrzeit.

Vor lauter Schreck geriet ich aus dem Tritt und wäre fast gestolpert. Ich fing mich gerade noch und blieb erst einmal stehen, um den Schock zu verdauen.

Durch die schöne Aussicht und die routinierten Bewegungen hatte ich die Zeit völlig vergessen. Mir war nicht aufgefallen, wie weit ich mich von meiner Wohnung entfernt hatte, und nun wurde mir umso bewusster, dass ich den ganzen Weg zurückjoggen musste, um zu duschen und mich für die Arbeit fertig zu machen. Dafür blieb mir nun gerade mal eine Stunde – vorausgesetzt, ich verlief mich nicht auf dem Rückweg.

Auf der Stelle tänzelnd, überlegte ich, was ich tun sollte, doch im Endeffekt blieb mir keine Wahl. Ich musste es nach Hause schaffen. An meinem ersten Arbeitstag zu spät aufzukreuzen, war vollkommen inakzeptabel.

Eilig tippte ich auf der Smartwatch herum, um die Adresse einzugeben und auf schnellstem Weg zurück in die Wohnung zu gelangen. Den blauen Punkten von Google Maps folgend, joggte ich nicht wie ursprünglich geplant bis zum anderen Ende des Jachthafens, sondern drehte abrupt um. Die Sonne war höher geklettert, sodass ich mich dicht im Schatten der Superjachten hielt, die den Kai säumten. Es war überraschend schnell wärmer geworden, sodass ich mir im Laufen Schweiß von der Stirn wischte. Vermutlich wäre es eine gute Idee, von nun an immer so früh joggen zu gehen, um die Hitze zu vermeiden. Allerdings würde ich dabei nie wieder die Zeit aus den Augen verlieren dürfen.

Ich lief schneller als vorher, hatte kein Auge mehr für meine Umgebung. Google Maps verriet mir, dass die Zeit wirklich knapp war, wenn ich zu Hause duschen und mich fertig machen wollte. Wie hatte ich nur so gedankenlos sein können?

Den Blick verbissen auf den Ausgang des Hafens gerichtet, eilte ich so dicht an den Jachten vorbei, dass ich dann und wann den Körben ausweichen musste, in denen die Gäste ihre Schuhe zurückließen, bevor sie an Bord gingen. Zuvor hatte ich die riesigen Schiffe bewundert, nun verschwammen sie zu einem strahlend weißen Aufblitzen in meinem Augenwinkel. Dabei war ich ihnen so nah, dass ich mit nur einem Satz selbst hätte an Bord springen können.

Ich beschleunigte meine Schritte. Der Torbogen in der Stadtmauer, durch den ich den Hafen betreten hatte, wirkte immer noch viel zu fern. Um einem besonders weit auf dem Kai stehenden Schuhkorb auszuweichen, trat ich unbedacht noch näher an den Rand des Piers, sodass mir der salzige Duft des Meerwassers in die Nase stieg.

Im nächsten Moment klatschte mir etwas Eiskaltes ins Gesicht.

Ich schrie auf und sprang zur Seite, doch es war zu spät. Ein Schwall Wasser hatte sich von oben über meinen Kopf und Oberkörper ergossen. Zu allem Überfluss landete auch etwas davon neben mir im Meer, sodass mich das aufspritzende Wasser von unten durchnässte. Die eiskalte Brühe lief mir in den Nacken, sickerte in meine Schuhe und drang mir in den Mund. Ein abgestandener, fischiger Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus. Ich würgte und spuckte aus.

»Was zum …« Reflexartig riss ich mir die Kopfhörer von den Ohren, damit sie nicht zerstört wurden.

»Putain de merde!«, ertönte es von irgendwo über mir. Einen Wimpernschlag später näherten sich eilige Schritte. Ich blickte auf, konnte jedoch nichts erkennen, weil das Salzwasser höllisch brannte und mir der Fischgestank Tränen in die Augen trieb. Wo kam nur dieser Mief her? Blinzelnd blickte ich ins Wasser und erkannte, dass einige tote Fische auf der Oberfläche trieben. Hatte ich etwa … Waren die mir auf den Kopf gefallen?

Vor lauter Ekel fuhr ich mir durch die triefenden Haare und rieb mir über die nackten Arme, als könnte ich so den Gestank loswerden, der sich in meine Nasenschleimhaut ätzte. Dabei taumelte ich rückwärts. Nur weg vom Wasser und den widerwärtigen Fischkadavern.

Da prallte ich mit dem Rücken gegen etwas Hartes. Eine Hand packte mich am Arm und zog mich noch weiter vom Rand weg, wahrscheinlich, damit ich zu allem Überfluss nicht auch noch ins Meer stürzte. Obwohl das vielleicht den Gestank vertrieben hätte.

»Es tut mir unglaublich leid«, sagte eine tiefe Stimme nah an meinem Ohr. In diesem Moment fiel mir auf, dass ich an einem Mann lehnte. Einem großen Mann, dessen feste Brust sich gegen meinen feuchten Rücken presste. Und dessen Hand meinen Oberarm noch immer umklammert hielt.

Ich erstarrte. Quälend langsam hob ich den Kopf – und blickte in braune Augen. Wunderschöne braune Augen. Auch wenn die schwarzen Brauen vor Sorge zusammengezogen waren. Einen Augenblick lang blieb mir die Luft weg. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich triefend nass war und nach totem Fisch stank. Und dass dieser Mann höchstwahrscheinlich dafür verantwortlich war.

Ich machte mich von ihm los und trat einen großen Schritt zurück. »Was zum Teufel war das gerade?« Meine Stimme klang fünf Oktaven zu hoch.

»Das ist alles meine Schuld.« Mit zerknirschter Miene fuhr sich der Mann mit der Hand übers Gesicht. Eine sehr große Hand und ein sehr hübsches Gesicht, wie ich zähneknirschend feststellte, auch wenn meine Sicht durch das Salzwasser in meinen Augen immer noch leicht verschwommen war. »Ich habe nicht richtig hingesehen und … sonst geht niemand so nah an den Booten vorbei.«

Boote? Meinte er damit etwa die Superjachten? Und hatte er gerade zuerst die Schuld auf sich genommen, nur um sie mir dann irgendwie doch in die Schuhe zu schieben?

Ich schnaubte. »Schon klar. Dann ist es also meine Schuld, dass ich unfreiwillig in Fischkadavern und Abwasser gebadet wurde?«

»Das wollte ich damit nicht sagen.«

Hektisch rieb ich mir die Augen und blinzelte mehrmals. Als ich mein Gegenüber endlich gestochen scharf sah, wäre ich beinahe schon wieder rückwärts getaumelt und diesmal bestimmt wirklich ins Wasser geplumpst. Im letzten Moment stemmte ich die Fersen in den Boden und blieb an Ort und Stelle stehen, auch wenn meine durchweichten Laufschuhe dabei ein höchst unattraktives Schlürfen von sich gaben. Es hätte mich nicht kümmern dürfen – schließlich war ich nun einmal von Kopf bis Fuß durchnässt, doch in Gegenwart dieses Kerls wurden meine Wangen heiß. Denn er war … wow.

Seine Haut hatte einen warmen Bronzeton, der, soweit ich es erkennen konnte, nicht nur vom Sonnen an Deck der Jacht stammte. Gerade rieb er sich über die kurzen schwarzen Haarstoppeln. Aus unerfindlichen Gründen sandte das kratzige Geräusch, das dabei entstand, ein Kribbeln durch meinen Bauch. Was war verdammt noch mal in mich gefahren?

Rasch wandte ich den Blick von dem Gesicht mit den langen, dunklen Wimpern und den wie in Stein gemeißelten Wangenknochen ab. Doch es wurde nicht besser. Durch seinen muskulösen Oberkörper wirkte das weiße Achselshirt des Kerls geradezu winzig.

Wie kann ein Kleidungsstück so winzig sein?, fragte sich mein eindeutig vom Schock der unfreiwilligen Begegnung benebeltes Gehirn. Ich schrieb es außerdem meinem Schockzustand zu, dass mein Blick wie von selbst tiefer wanderte. Über die Wölbungen seiner Brust, die von oben bis unten tätowierten Arme und die strahlend weiße Hose, die unfassbar tief saß. So tief, dass ich einen Blick auf seine äußerst definierten Leistenmuskeln erhaschte.

Wie tief konnte eine Hose sitzen, ohne dass es obszön wurde? Doch an diesem Kerl war nichts Obszönes. Er strahlte eine dermaßen selbstverständliche Gelassenheit aus, als würde er völlig in sich ruhen – was mich zur Weißglut trieb, da er gerade Abwasser über mir ausgekippt und deshalb verdammt noch mal reumütiger auszusehen hatte. Doch bereits auf den ersten Blick war mir klar, dass dies einer dieser Typen war, die wussten, wie gut sie aussahen. Was ihn ärgerlicherweise nur noch heißer machte.

Ich zwang mich, ihm wieder in die Augen zu sehen, und funkelte ihn mit all der geballten Empörung an, die in mir brodelte. »Du hast also wirklich gerade zwölf Tonnen Fisch über mir ausgekippt?«

»Zwölf Tonnen?« Er warf dem zugegeben recht kleinen Eimer in seiner Hand einen skeptischen Blick zu.

»Du weißt schon, was ich meine.« Ungeduldig wedelte ich mit der Hand in der Luft herum, was nur dazu führte, dass mir eine weitere Welle Fischgestank in die Nase stieg. Ich unterdrückte ein Würgen.

»Das muss wohl ich gewesen sein. Schließlich habe ich mich gerade dafür entschuldigt.« Zuckten seine Mundwinkel etwa? Verzog er die vollen Lippen gerade wirklich zu einem amüsierten Grinsen?

Ich unterdrückte ein Schnauben. Diese Selbstgefälligkeit konnte er sich sonst wo hinstecken. Mir entging nicht, dass sein Blick tiefer wanderte. Das war wohl nur fair, denn ich hatte ihn meinerseits schamlos angestarrt. Im selben Moment fiel mir allerdings wieder ein, dass ich völlig durchnässt war. Genauer gesagt: Mein weißes Shirt war völlig durchnässt. Ein rascher Blick nach unten bestätigte meine böse Vorahnung. Der mittlerweile durchsichtige Stoff klebte mir am Körper und überließ nichts der Fantasie. Innerlich dankte ich mir dafür, mich heute Morgen für den schwarz-pinken und nicht den weißen Sport-BH entschieden zu haben.

Die Stimme von Google Maps dröhnte aus den Kopfhörern, die ich nach wie vor in der Hand hielt, und riss mich in die Gegenwart zurück. »Biegen Sie in fünfzig Metern links ab.«

Erschrocken starrte ich auf meine Apple Watch. Vor lauter Fischgestank – und hübschen braunen Augen – hatte ich vollkommen vergessen, wie spät ich dran war. Jetzt noch viel später als vorher.

»Oh Gott«, entfuhr es mir. »Ich bin so was von geliefert! Ich muss duschen und dann zur Arbeit und …« Bei dem Gedanken daran, dass ich nun definitiv zu spät im Restaurant aufkreuzen würde, brannten meine Augen.

Herzlichen Glückwunsch, Alix. Du hast es vollkommen verkackt.

Ich blinzelte mehrmals, ärgerte mich über den plötzlichen Emotionsausbruch. Schließlich wollte ich nicht vor einem Kerl in Tränen ausbrechen, der mich sowieso bereits nicht ernst nahm. Wut stieg in mir auf. Wut auf diesen selbstgefälligen, gut aussehenden Matrosentypen, der an allem schuld war. Doch als ich wieder aufsah und seinem Blick begegnete, war dieser weicher geworden. Das dunkle Braun seiner Augen wirkte auf einmal warm und einladend, und als er den Mund öffnete, klang seine Stimme um einiges freundlicher.

»Wenn du wirklich so dringend zur Arbeit musst, könntest du hier duschen.« Er deutete auf die Jacht. »Um Zeit zu sparen. Ich kann dir auch Klamotten leihen. Das ist das Mindeste.« Mit gerunzelter Stirn hob er den Eimer an, als stünde der für alles, was an diesem Morgen schiefgelaufen war. Dabei war er es doch, der mir dessen Inhalt über den Kopf gekippt hatte.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich irgendwohin begleite, nachdem du mich bereits einmal attackiert hast.«

»Attackiert?« Nun hob er eine Braue. »Es war ein Versehen. Das sagte ich doch bereits.«

Ich schnaubte. »Und wenn schon. Ich lasse mich nicht von einem Fremden auf eine Jacht locken. Das klingt wie der Anfang eines besonders blutigen Vermissten-Thrillers.«

Mit zusammengezogenen Brauen musterte er mich. Ich musste ein Bild für die Götter abgeben. Strähnen klebten mir im Gesicht, meine klamme Kleidung war zu einer zweiten Haut geworden, und langsam begann ich, im Schatten der Jacht zu zittern.

Ende der Leseprobe