Korallenrosa - Carina Schnell - E-Book

Korallenrosa E-Book

Carina Schnell

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Beschreibung

Ein Sommer voller prickelnder Begegnungen Chloé verkauft Köstlichkeiten in einer Patisserie in Antibes und gönnt sich jeden Abend drei Himbeermacarons, während sie einen Liebesroman liest. Als der Engländer Ben in den Laden stolpert, stellt er Chloés beschauliches Leben gehörig auf den Kopf. Denn in seiner Nähe erlebt sie zum ersten Mal das Herzklopfen, von dem sie sonst immer liest. Doch Tech-Genie Ben ist nur für kurze Zeit in Frankreich, bevor er sein nächstes Projekt in London angeht. Außerdem scheint er Probleme mit sozialen Interaktionen zu haben, auch wenn Chloé sich sicher ist, dass seine Blicke mehr bedeuten könnten … In ihrer neuen New-Adult-Dilogie entführt uns SPIEGEL-Bestsellerautorin Carina Schnell nach dem Erfolg von »When the Storm Comes«, »When the Night Falls« und »When the Stars Collide« an die romantische Küste Südfrankreichs.

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© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Anika Beer

Sensitivity Reading: Leni Wambach

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

TEIL 1

Le savoir-faire

Kapitel 1

Chloé

Kapitel 2

Ben

Kapitel 3

Chloé

Kapitel 4

Ben

Kapitel 5

Chloé

Kapitel 6

Ben

Kapitel 7

Chloé

Kapitel 8

Ben

Kapitel 9

Chloé

Kapitel 10

Ben

Kapitel 11

Chloé

Kapitel 12

Ben

Kapitel 13

Chloé

Kapitel 14

Chloé

Kapitel 15

Ben

Kapitel 16

Chloé

Kapitel 17

Chloé

Kapitel 18

Chloé

Kapitel 19

Ben

Kapitel 20

Chloé

Kapitel 21

Ben

Kapitel 22

Chloé

Kapitel 23

Chloé

TEIL 2

Le savoir-être

Kapitel 24

Ben

Kapitel 25

Chloé

Kapitel 26

Ben

Kapitel 27

Chloé

Kapitel 28

Ben

Kapitel 29

Chloé

Kapitel 30

Ben

Kapitel 31

Chloé

Kapitel 32

Ben

Kapitel 33

Chloé

Kapitel 34

Ben

Kapitel 35

Chloé

Kapitel 36

Ben

Kapitel 37

Chloé

Kapitel 38

Ben

Kapitel 39

Chloé

Epilog

Chloé

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für alle, die schon immer ein bisschen »anders« waren und eine Person gefunden haben, mit der sie zusammen anders sein können

TEIL 1

Le savoir-faire

Kapitel 1

Chloé

Wie jeden Abend nahm ich meine bunt gefleckte Schürze um Viertel vor sieben ab und hängte sie an den Haken neben der Tür zur Backstube. Wie jeden Abend reinigte ich die Arbeitsflächen sorgfältig mit einem Lappen, schrubbte Puderzucker, Schokocreme und Puddingreste aus den Fugen. Und wie jeden Abend ging ich dann in den nun leeren Verkaufsraum, um auch den Tresen abzuwischen. Wir hatten zwar eine Reinigungskraft, die frühmorgens herkam, aber es hätte mir ein schlechtes Gewissen bereitet, ihr die gesamte Arbeit zu überlassen. Die routinierten Griffe gingen mir wie von selbst von der Hand, sodass ich in Gedanken bereits bei dem Liebesroman war, der zu Hause auf mich wartete.

Um Punkt sieben Uhr spähte ich durch die Ladentür, die im selben Rosa gestrichen war wie die Wände. Der Gehsteig war leer. Auf der Straße blitzten die Lichter des Feierabendverkehrs auf. Der Himmel erstrahlte in weichen Pastelltönen, die mich an meine meistbenutzten Lebensmittelfarben in der Backstube erinnerten.

»Das war’s für heute.« Ich drehte das altmodische Blechschild um, das nun verkündete, dass wir geschlossen hatten. Nach einem letzten Blick durchs Schaufenster ging ich zur verglasten Warenauslage neben dem Verkaufstresen, um nachzusehen, was übrig geblieben war. Ein guter Tag. Im unteren Regal lagen nur noch zwei einsame Erdbeer-Tartelettes, auf dem oberen waren ein paar Macarons verstreut wie eine Handvoll bunter Bonbons. Ich hatte Glück. Meine Lieblingssorte war dabei.

Als ich die Auslage auszuräumen begann, ertönte die Klingel über der Tür, die ich absichtlich noch nicht abgeschlossen hatte. Lächelnd blickte ich auf.

»Hallo, Herr Herrlich.«

Ich eilte zur Tür, um sie dem älteren Herrn aufzuhalten, der, schwer auf einen Gehstock gestützt, hereinkam. Er störte sich nicht an dem Geschlossen-Schild. Das tat er nie. Oft kam er ein paar Minuten nach Ladenschluss, weil er es nicht früher schaffte. Der Weg von seiner Wohnung war nicht weit, aber der leichte Anstieg den Hügel hinauf machte ihm immer mehr zu schaffen.

»Wie geht es Ihnen heute, Herr Herrlich?«

Schwer atmend winkte er ab. Ich nannte ihn Herr Herrlich statt Monsieur Herrlich, weil ihm das immer ein Lächeln entlockte. Manchmal korrigierte er meine Aussprache. Heute nicht. Vor zwanzig Jahren waren er und seine Frau Erna aus Deutschland hergezogen, um ihren Lebensabend im milderen Klima der französischen Riviera zu verbringen. Sie waren unsere treusten Stammkunden. Erna war allerdings vor ein paar Monaten verstorben, sodass mich Herr Herrlich nun jeden Tag allein aufsuchte – meistens, wie heute, zu spät. Doch wie immer hatte ich ihm seine Stammbestellung beiseitegelegt.

»Das Übliche?«, fragte ich allein der Form halber.

Ächzend nahm er an einem der drei runden Tische beim Schaufenster Platz und nickte. Seinen hölzernen Gehstock lehnte er an die Stuhllehne. Gegen einen Rollator hatte er sich vehement gewehrt, auch wenn ihm das Laufen mit jedem Tag schwerer zu fallen schien.

»Zwei Eclairs mit Sahne und Vanillepuddingcreme, kommt sofort.«

Ich huschte um den Tresen herum und verschwand in der Backstube. Die Eclairs hatte ich in unserem begehbaren Kühlschrank kalt gestellt. Herr Herrlich kaufte nach wie vor zwei, wie früher, als seine Frau noch gelebt hatte. Ich trug die länglichen, mit dunkler Schokolade bestrichenen Gebäckstücke in den Verkaufsraum und holte eine Schachtel unter dem Tresen hervor, um sie hübsch zu verpacken. Dabei spähte ich durch den Laden zu Herrn Herrlich rüber, dessen keuchender Atem langsam wieder regelmäßiger ging. Er sah aus dem Fenster, hatte kein Auge für die verschnörkelten Stühle, den altmodischen Bonbonautomaten in der Ecke oder die Werbeplakate von Patisserien aus dem vergangenen Jahrhundert, die die Wände zierten.

»Wissen Sie, ich kann Ihnen die Eclairs nach Ladenschluss gern vorbeibringen«, versuchte ich, ein Gespräch zu beginnen. »Es liegt ja sowieso auf meinem Weg nach Hause.«

Das hatte ich ihm schon oft vorgeschlagen, und wie immer lehnte er ab. »Solange ich laufen kann, komme ich selbst her«, antwortete er mit seinem deutschen Akzent, den er nie abgelegt hatte. Die Treue zur Patisserie Y & Y rührte mich, auch wenn mir seine störrische Art Sorgen bereitete. Sollte ihm auf dem Weg hierher jemals etwas passieren, würde ich mir das nie verzeihen.

Nachdem ich die hübsch verzierte Schachtel geschlossen hatte, wickelte ich ein blaues Band darum und verknotete es obendrauf zu einer Schleife. Noch so eine Handbewegung, die ich im Schlaf hätte ausführen können. Gedankenverloren zupfte ich die Schleife zurecht. »Ich lege Ihnen noch zwei Erdbeer-Tartelettes dazu. Die essen Sie doch auch so gern.«

»Danke«, murmelte er zerstreut, während er aus dem Fenster blickte. »Wussten Sie, dass wir Eclairs im Deutschen auch als Hasenpfoten bezeichnen?«

Das erzählte er mir jeden Tag. Und jeden Tag tat ich so, als hörte ich es zum ersten Mal. »Das ist ja spannend«, antwortete ich lächelnd. »Sie sehen tatsächlich ein wenig wie Hasenpfoten aus.«

Die übrigen Tartelettes aus der Auslage wanderten in eine zweite Schachtel, und schließlich verfrachtete ich beide in eine kleine Papiertüte mit dem Logo der Patisserie – zwei verschnörkelte Ypsilons –, damit Herr Herrlich alles bequem nach Hause tragen konnte. Ich stellte die Tüte auf dem Tisch vor ihm ab. »Lassen Sie es sich schmecken.«

Er riss sich von seiner Betrachtung der Wasserfontänen auf dem Place Général de Gaulle los und sah mich an, als erinnerte er sich gerade erst daran, nicht allein hier zu sein. »Ich danke Ihnen vielmals, Chloé.« Mit überraschend feuchten Augen griff er nach meiner Hand und drückte sie. »Sie sind wirklich ein Engel, wissen Sie das? Das hat meine Frau auch immer über Sie gesagt.«

Ich drückte zurück. »Ja, ich erinnere mich.« Meine Kehle wurde eng, sodass ich mich räuspern musste. »Und sie war auch einer.«

Er nickte traurig, und seine Hand erschlaffte in meiner, als er tief seufzte. Dann war der Moment vorbei, und er ließ mich los, um nach seinem Gehstock zu greifen. Ich half ihm nicht beim Aufstehen, weil er darauf stets allergisch reagierte, reichte ihm aber die Tüte, nachdem er es allein geschafft hatte.

»Wie viel schulde ich Ihnen?«, fragte er, und wie jeden Tag berechnete ich ihm nur das Geld für die Eclairs.

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Herr Herrlich«, sagte ich, nachdem er mir die Münzen über den Tisch zugeschoben hatte. »Kommen Sie gut nach Hause.«

»Sie auch, Chloé. Bis morgen.«

Ich hielt ihm die Tür auf und entließ ihn mit der Tüte voller Köstlichkeiten in den lauen Sommerabend. Durch die Scheibe blickte ich ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Dann schloss ich ab und ließ die elektrischen Rollläden herunter.

Wie jeden Abend richtete ich die übrigen Macarons auf einem Teller an und ließ sie, versehen mit einer Nachricht für unsere Reinigungskraft Arabella, auf dem Tresen stehen. Alle außer drei.

Sie hatten die Farbe von Korallen. Nicht die abgestorbenen grauen Dinger, die man heutzutage oft beim Schnorcheln in der Nähe der Küste zu Gesicht bekam. Nein, sie waren von einem durchdringenden Rosarot, das fast einen leichten Orangestich hatte. Es hatte mich viel Zeit und viele missglückte Versuche gekostet, um diesen Ton zu treffen. Denn es war nur gerecht, dass ich meiner Lieblingsmacaronsorte – Himbeere – meine Lieblingsfarbe verpasste. Schließlich traf ich auch sonst so ziemlich alle Entscheidungen in der Patisserie. Außer die wirklich wichtigen.

Wie jeden Abend legte ich die drei korallenrosafarbenen Macarons in eine Tupperdose, die ich eigens dafür von zu Hause mitbrachte. Ich brauchte keine hübsche Schachtel und auch kein Schleifenband. Schließlich waren sie bloß für mich.

Wie jeden Abend ließ ich die Dose in meine Handtasche gleiten, löschte zu guter Letzt das Licht und zog die Hintertür zu. Sorgfältig schloss ich von außen ab und machte mich auf den Weg nach Hause.

Kinderlachen drang an meine Ohren. Auf der anderen Straßenseite hüpften die Kleinen fröhlich zwischen den Wasserfontänen auf dem Place Général de Gaulle umher. Die Abendsonne tauchte die umstehenden weißen Gebäude mit den blassblauen Fensterläden in warmes Licht. Ringsum saßen Leute vor den Restaurants. Weingläser klirrten aneinander, Besteck klapperte, und mir stieg der Duft von gebratenem Fisch, Thymian und Knoblauch in die Nase. Niemand nahm Notiz von mir, als ich vorbeilief. Die Leute unterhielten sich, lachten oder sahen einander tief in die Augen. Ein fröhliches Stimmengewirr, das sich mit dem langsam verebbenden Verkehrslärm verband.

An der Straßenecke küsste sich ein eng umschlungenes Paar. Ich senkte den Blick, als ich mich an ihnen vorbeischob, fühlte mich auf einmal unheimlich erschöpft. Es war ein langer Arbeitstag gewesen.

Die von Platanen gesäumte Allee führte einen Hügel hinunter, an dessen Fuß ich einen blau glitzernden Streifen ausmachte. Eine laue Sommerabendbrise wehte vom Meer heran und spielte mit meinen Locken. Über mir rauschten die Wipfel der hohen Bäume. Kurz zog ich es in Erwägung, runter zum Strand zu gehen. Mir vielleicht eine Flasche Wein zu kaufen und mit den Füßen im Sand zu Abend zu essen. Doch dafür war ich einfach zu müde.

Schon kam meine Straße in Sicht. Ich bog erneut ab und trat in den kühlen Hauseingang, wo ich den Code eingab und die Tür aufdrückte.

Rotes Absperrband begrüßte mich. Einen Moment lang blieb ich im Treppenhaus stehen und musterte das Hors service-Schild am Aufzug missmutig, das heute früh noch nicht da gewesen war. Doch selbst mein finsterster Blick würde den Fahrstuhl nicht wieder zum Laufen bringen, also machte ich mich an den Aufstieg in den vierten Stock. Dabei spürte ich jeden einzelnen Knochen in meinem Körper.

Mein Apartment war nichts Besonderes. Gerade groß genug für eine alleinstehende Frau mit Katze. Immerhin befand es sich im Stadtzentrum, ich hatte einen Balkon und wohnte nicht weit von der Arbeit entfernt. Als ich die Tür aufschloss, kam mir Brigitte Bardot entgegen. Schnurrend rieb sich die rötlich getigerte Katze an meinem Bein. Ich hob sie hoch und gab ihr einen Kuss aufs Köpfchen. »Ich hab dich auch vermisst, minette.«

Ich fütterte Brigitte, die sich schmatzend über ihr Gourmetfutter mit Huhn und Lachs hermachte. Danach fehlte mir die Kraft zu kochen. Stattdessen holte ich bloß die Tupperdose mit den Macarons aus meiner Tasche. Ächzend ließ ich mich damit auf den Lesesessel neben der Fensterfront im Wohnzimmer fallen. Meine nächste Lektüre lag schon auf dem Beistelltisch bereit.

Seufzend kickte ich mir die Ballerinas von den geschwollenen Füßen und saß einen Moment einfach nur da, um ins Leere zu starren. Weder nahm ich die über und über mit Bücherregalen bedeckte Wand wahr noch den ebenfalls mit Büchern beladenen Esstisch, auf dem nach wie vor der Teller vom Frühstück stand. Nein, auf einmal sah ich wieder die lachenden Menschen vor mir, die in den Restaurants gemeinsam auf einen Erfolg anstießen, gutes Essen bestellten und flirteten. Da war plötzlich dieser Druck hinter meinen Augen. Sicher nur der Müdigkeit zuzuschreiben. Oder vielleicht brauchte ich eine Brille? Vermutlich sollte ich mal wieder zum Augenarzt gehen. Doch wann sollte ich die Zeit dafür finden?

Bedächtig öffnete ich die Tupperdose und betrachtete die Macarons. Drei perfekte kleine, runde Glücklichmacher. Doch auch nachdem ich sie gegessen hatte, verschwand der Druck hinter meinen Lidern nicht.

Brigitte Bardot sprang auf meinen Schoß und rollte sich schnurrend zusammen. Mit einer Hand kraulte ich sie hinter dem rechten Ohr, während ich mit der anderen den neuen Liebesroman vom Tisch nahm. Darauf hatte ich mich schon den ganzen Tag über gefreut.

Doch selbst der vertraute Geruch der frisch gedruckten Buchseiten entlockte mir heute kein Lächeln. Den ersten Satz musste ich dreimal lesen, bis die Bedeutung bei mir ankam. Ich rieb mir über die Augen. Die Zeilen verschwammen. Verärgert kniff ich die Lider zusammen und öffnete sie wieder, wollte mir dieses kleine Highlight des Tages um nichts in der Welt verderben lassen.

Nachdem sich meine Sicht geklärt hatte, begann ich zu lesen. Ich schaffte die ersten zwei Seiten, bis ich vor Erschöpfung im Sitzen einschlief.

Wie jeden Abend.

Kapitel 2

Ben

Warmer Wind pustete mir ins Gesicht. Einen Moment lang sah ich nichts als die Sonnenflecken, die vor meinen geschlossenen Lidern tanzten. Als ich die Augen öffnete, war da nur Blau. Blaues Meer, blauer Himmel, getrennt von einem kaum wahrnehmbaren Streifen Horizont.

Tief atmete ich die salzige Luft ein, ließ sie in meine Poren sinken und auch noch den letzten Rest der dreckigen Stadtluft herauswaschen, die sich mein Leben lang darin festgesetzt hatte wie ein Gift, das mich schleichend tötete.

Tröstlich streichelte die Sonne mein Gesicht, meine nackten Unterarme und die Hände, mit denen ich das Balkongeländer umfasste. Bedächtig stieß ich die Luft wieder aus. Nach einigen weiteren Atemzügen hatte sich mein schneller Herzschlag endlich beruhigt. Zum ersten Mal in … Ich konnte mich nicht erinnern. Das Rauschen der Wellen sorgte dafür, dass sich mein Körper quälend langsam entspannte, dass ich endlich mal einen Augenblick still stand. Ein seltsames Gefühl, das mir fast gänzlich fremd war. Aber laut meinem Arzt war es genau das, was ich jetzt brauchte.

Neugierig betrachtete ich die Promenade und den Strand, der sich unter mir in einer weiten Kurve schier endlos in beide Richtungen erstreckte. Vielleicht sollte ich einen Abstecher ins einladende Meer machen. Die Koffer konnte ich auch später noch auspacken. Schließlich hatte ich jetzt alle Zeit der Welt. Ein beängstigender Gedanke.

Bevor ich mich näher damit befassen konnte, was die Vorstellung meines vollkommen leeren Terminkalenders in mir auslöste, vibrierte mein Handy.

Als ich es aus der Hosentasche zog, leuchtete eine Google-Benachrichtigung auf dem Sperrbildschirm auf. Ich konnte nur die Headline und die ersten Sätze des Artikels aus The Daily Mail lesen.

Selfmade-Milliardär Benjamin Tailor flieht außer Landes

Nach dem Verkauf seiner erfolgreichen Tech-Firma für satte 1,7 Milliarden hat sich der viel umworbene Bachelor nun offenbar vollkommen aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Er wurde am Privatflughafen Farnborough dabei abgelichtet, wie er in seinen Privatjet stieg. Um seiner Wahlheimat London endgültig den Rücken zu kehren? Nach den letzten mit seinem Namen verbundenen Schlagzeilen täte er gut daran, sein Image aufzupolieren, statt …

Sofort war es vorbei mit der vermeintlichen Ruhe. Mein Herz raste erneut, während meine Hände plötzlich so feucht waren, dass mir das Handy beinahe aus den Fingern gerutscht wäre. Mir war es schon immer scheißegal gewesen, was die Klatschpresse über mich schrieb. Aber meine Abreise aus London war ein gut gehütetes Geheimnis, von dem außer meinem Bruder nur mein Chauffeur, der Pilot und das Flughafenpersonal wussten. Und das hatte auch so bleiben sollen.

Bevor ich mich dazu hinreißen ließ, auf den Artikel zu klicken, um nachzusehen, ob sie bereits in Erfahrung gebracht hatten, wo ich mich nun aufhielt, ballte ich die Hand so fest zur Faust, dass das Handy darin knirschte. Nein, das hier war ein Neuanfang. Kein Rückfall in alte Verhaltensmuster.

Mein Blick fiel wieder aufs Meer. Kurz entschlossen fuhr ich herum und eilte durch die Balkontür in mein neues Apartment. Ich durchquerte die offene Wohnküche, schnappte mir den Wohnungsschlüssel vom Esstisch und war im nächsten Moment zur Tür hinaus. Den Fahrstuhl würdigte ich keines Blickes, sondern flitzte daran vorbei und nahm die einhundertacht Stufen ins Erdgeschoss, wobei ich, wie schon beim Aufstieg, jede einzelne zählte.

Mein Atem ging kaum schneller, als ich aus der Haustür trat. Den Blick fest auf mein Ziel gerichtet, überquerte ich den Gehsteig und die Straße. Auf der Promenade schlängelte ich mich an den vielen Passanten vorbei. An der Treppe angekommen, riss ich mir die Loafers von den Füßen und ließ sie an den Stufen liegen, die zum Strand hinunterführten.

Der Sand war warm unter meinen nackten Sohlen. Bei jedem Schritt versank ich ein wenig, versuchte aber, mich davon nicht beirren zu lassen. Erst als die Wellen meine Zehen umspülten, blieb ich stehen. Ich nahm mir einen Moment, um mich an das kühle Wasser auf meiner Haut zu gewöhnen. Dann machte ich mit dem rechten Fuß einen weiten Schritt zurück, holte aus und schleuderte mein Handy ins Meer.

Es fühlte sich an, als würde ich ein unglaubliches Gewicht von mir werfen. Ein Gewicht, das mich seit Jahren erdrückte, auch wenn ich es immer ignoriert und trotz allem weiterfunktioniert hatte. Damit war jetzt Schluss.

Der Moment des Triumphs währte nicht lange. Als das Handy ins Wasser platschte, fiel mir auf, dass ich gerade zur Verschmutzung des Meeres beigetragen hatte. Ironisch, da ich erst letztes Jahr eine halbe Million Pfund zur Rettung der Ozeane gespendet hatte. Fluchend watete ich ins Wasser, während ich nach dem Handy Ausschau hielt. Das Mittelmeer war überraschend frisch, ein starker Kontrast zur Sonne, die auf mich niederbrannte, als wollte sie mich für die Umweltverschmutzung bestrafen.

Die Wellen schwappten über meine Knie, der Saum meiner beigefarbenen Shorts sog sich voll Wasser, doch ich watete weiter. Da entdeckte ich das glänzende schwarze Ding, das gerade von einer Welle zurück an den Strand gespült wurde. Ich warf mich herum und machte mich auf den Weg zu der Stelle, wo das Handy fast schon höhnisch im Sand auf mich wartete.

Netter Versuch, schien es mir zuzurufen.

Ich hob es auf. Zum Glück war der Bildschirm schwarz. Keine Google-Benachrichtigungen, keine E-Mails, keine Anrufe. Mit einem Zipfel meines Hemds wischte ich es ab und stopfte es mir in die Hosentasche. Morgen würde ich mich erkundigen, wo ich es in dieser Gegend fachgerecht entsorgen konnte, ohne die Umwelt zu belasten.

Plötzlich zutiefst erschöpft, ließ ich mich in den Sand fallen, zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. Meine Waden fühlten sich von der Radtour am Vormittag schwer an. Ein vertrautes Gefühl, das mich wieder ein wenig erdete.

Ich schloss die Lider, dachte an den ruhigen Augenblick auf dem Balkon zurück, der ein so abruptes Ende gefunden hatte. Erneut versuchte ich, tief durchzuatmen. Wind und Sonnenstrahlen einfach über mich hinwegbranden zu lassen. Die Geräusche der Autos auf der Straße und der Leute auf der Promenade sowie meine feuchten Hosenbeine und die darunter kratzenden Sandkörner auszublenden. Ein und aus atmete ich, bis ich nur noch das Rauschen der Wellen hörte. Die Hände vergrub ich im Sand, der unten kühler war, und hielt mich daran fest wie ein Baum, der seine Wurzeln in die Erde schickt. Halt suchend. Hoffnungsvoll.

Als ich die Augen öffnete, war da wieder nur Blau. Noch nie zuvor hatte ich so klares Wasser gesehen. Vorne kristallblau, nach hinten hin immer dunkler, am Horizont ein tiefes Tintenblau. Die Sonne funkelte darauf, sodass ich die Lider zusammenkneifen musste.

Ja, vielleicht war das hier genau der richtige Ort für einen Neuanfang.

Kapitel 3

Chloé

Als ich am nächsten Morgen die Patisserie aufschloss, wehte mir der frische Zitronenduft von Oberflächenreiniger entgegen. Der Teller mit den Macarons war verschwunden. Wie immer hatte Arabella ihn abgespült und an seiner Stelle einen Zettel hinterlassen, auf dem Merci, Chloé stand.

Lächelnd räumte ich den Zettel weg und machte mich daran, die Rollläden hochzulassen und die Patisserie für den Tag vorzubereiten.

Aus irgendeinem Grund ging mir heute jedoch alles schwerer von der Hand als sonst. Die Tür zum Kühlschrank klemmte, als ich Eier herausholen wollte. Die Marzipanmasse wollte sich einfach nicht zu kleinen Röschen formen lassen. Und zu allem Überfluss hatte ich in den letzten drei Tagen vergessen, meine Ersatzschürze zum Waschen mit nach Hause zu nehmen, sodass ich nun die von gestern tragen musste – inklusive der bunten Flecken vom Vortag.

Als die ersten Macaron-Hälften endlich im Ofen backten und die Luft mit ihrem Duft erfüllten, atmete ich erleichtert aus. Wenigstens das war mir gelungen. Ich hatte schon gefürchtet, die Patisserie heute später öffnen zu müssen, weil nicht alles rechtzeitig fertig werden würde.

Gerade hielt ich einen Spritzbeutel in der Hand, um die Choux à la Crème, die auf den Blechen vor mir lagen, mit Sahne zu füllen, da öffnete sich unvermittelt die Hintertür der Backstube. Vor Schreck entfuhr mir ein leiser Schrei, und ich spritzte Sahne quer durch den Raum. Sie blieb am Ofen hängen und tropfte in Zeitlupe von dessen Scheibe.

»Merde!« Mit dem Spritzbeutel in der Hand fuhr ich zu dem unerwarteten Besuch herum.

»Chloé!« Yoshua, mein Chef, kam zur Tür herein.

»Wie schön, dich zu sehen.« Yannick, ebenfalls mein Chef, betrat die Backstube hinter ihm. Merkwürdigerweise klangen beide, als wären sie überrascht, mich in der Patisserie anzutreffen, die ich bereits seit mehreren Wochen so gut wie allein führte. Aktuell war ich ausschließlich hier anzutreffen. Hier oder zu Hause.

»Guten Morgen. Wie schön, euch zu sehen, ihr zwei.« Ist lange her, fügte ich in Gedanken hinzu und ersetzte meinen entgeisterten Gesichtsausdruck schnell mit einem Lächeln.

»Wir haben großartige Neuigkeiten!« Aufgeregt gestikulierend, umrundete Yoshua die große Arbeitsfläche in der Mitte des Raums, während Yannick mich mit zwei raschen Wangenküsschen begrüßte.

Für mich oder für euch?, dachte ich mit einem Anflug von Panik, bekam aber sofort ein schlechtes Gewissen. Die beiden hatten gute Neuigkeiten mehr als verdient, nachdem sie seit Monaten versuchten, sich durch den chaotischen Prozess zu kämpfen, der nötig war, um als gleichgeschlechtliches Paar in diesem Land ein Kind zu bekommen.

Ich legte den Spritzbeutel ab, um den beiden meine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Yoshua stemmte seine Ellbogen auf die Edelstahlarbeitsplatte und beugte sich mit leuchtenden Augen zu mir vor. Er kleidete sich gern wie ein stereotypischer Franzose, auch wenn er, im Gegensatz zu seinem Ehemann, keiner war. Heute trug er wieder ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt mit Brusttasche, dazu weinrote Hosenträger und ein geknotetes Halstuch im selben Rotton. Fehlten nur noch eine Baskenmütze, ein Baguette unter dem Arm und die obligatorische Zigarette. Allein sein rötliches, ordentlich gescheiteltes und gegeltes Haar fiel ein wenig aus dem Rahmen. »Wir haben eine Leihmutter in meinem Heimatstaat in den USA gefunden.«

Echte, ungefilterte Freude überkam mich. »Das ist ja großartig! Herzlichen Glückwunsch.« Ich drückte Yannicks Arm.

Seine stille Präsenz stellte einen starken Kontrast zum lauten Wesen seines Ehemanns dar. »Sie wirkt sehr sympathisch und freut sich darauf, unser Kind auszutragen, aber …«, begann er, wurde jedoch sofort von Yoshua unterbrochen.

»Wir möchten sie gern persönlich kennenlernen, bevor wir irgendetwas unterschreiben.« Vor Aufregung war Yoshua eine zarte Röte in die Wangen gekrochen. Seine Haut war fast ebenso blassrosa und sommersprossig wie meine.

Ich nickte. »Das kann ich gut verstehen.«

»Also fliegen wir nächsten Samstag für drei Wochen nach Florida«, schloss Yannick.

Drei Wochen? Ich versuchte, mir meinen Schock nicht anmerken zu lassen. Hastig senkte ich den Blick, griff wieder nach dem Spritzbeutel und füllte die letzten drei Choux à la Crème mit Sahne.

»Entschuldige, dass das so kurzfristig kommt«, sagte Yannick neben mir. Als ich ihn ansah, hatte er die umbrabraune Stirn gerunzelt. »Die Reise ist für uns auch sehr spontan, aber die Entscheidung muss schnell getroffen werden.«

»Das ist … schon okay.« Unbehaglich räusperte ich mich. »Ich freue mich sehr für euch.«

»Danke für dein Verständnis, Sweetie.« So nannte Yoshua mich immer. Honey war seinem Ehemann vorbehalten.

»Mein … Verständnis?«

»Uns ist bewusst, dass das viel Arbeit für dich bedeutet. Aber in den letzten Wochen hast du den Laden großartig am Laufen gehalten. Wir wissen das wirklich zu schätzen.« Yoshua wandte sich ab, um einen Blick in den Backofen zu werfen. »Du bist unsere Heldin«, schob er hinterher, ohne mich anzusehen.

Also gingen sie einfach davon aus, dass es in ihrer Abwesenheit so weitergehen würde wie bisher? Würde der Ausnahmezustand der letzten Wochen jetzt zum Normalzustand werden? Früher hatte Yoshua den Großteil des Verkaufs übernommen, während ich alle Backwaren zubereitet und Yannick sich um die Buchhaltung und alles Administrative gekümmert hatte. Doch ich hatte beide seit Wochen nicht zu Gesicht bekommen. Natürlich konnten sie sich auf mich verlassen, natürlich half ich in schweren Zeiten gern aus. Aber schließlich war ich hier als Patissière angestellt und nicht als Managerin, Verkaufskraft, Buchhalterin, Putzkraft und Patissière in einem – mit einem einzigen Gehalt.

Ich wollte ihnen sagen, dass ich es nicht schaffen würde, ohne mich kaputt zu arbeiten. Dass sie dringend eine Aushilfe einstellen oder wenigstens die Öffnungszeiten reduzieren mussten, damit ich nicht mehr zwölf Stunden am Tag schuften musste, um nicht nur die Waren selbst zu backen, sondern sie auch zu verkaufen.

Stattdessen sagte ich nichts. Wie immer hielt ich den Mund, um keine Probleme zu bereiten, um das Leben anderer Leute bloß nicht zu verkomplizieren – während ich meins nur allzu bereitwillig sabotierte.

»Natürlich bezahlen wir dir mehr Geld.« Ich spürte, wie Yannick mich von der Seite musterte. Offenbar waren mir meine Züge doch für einen Moment entgleist. »Du steigst ja sozusagen zur Managerin auf.«

»Danke. Ich fühle mich geehrt, dass ihr mir so viel Vertrauen entgegenbringt.« Ich schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln, nahm dann eilig das Blech mit den Choux à la Crème und trug es zum begehbaren Kühlschrank, um die Windbeutel zu kühlen, bis sie in die Auslage im Verkaufsraum kamen. Und um einen Moment für mich zu haben, damit ich alles verdauen konnte. Mir schwindelte von den ganzen Neuigkeiten, die an diesem Morgen auf mich einprasselten. So viele Veränderungen.

Ich muss dankbar sein, ich muss dankbar sein, wiederholte ich in einer Endlosschleife in Gedanken.

Während Yannick und Yoshua mir weitere Details über ihre anstehende Reise erzählten, nickte und lächelte ich, lächelte und nickte, bis meine Wangen vom vielen Lächeln schmerzten. Keiner von beiden rührte einen Finger, um mir bei den Vorbereitungen für die Ladenöffnung zur Hand zu gehen.

»Wir sollten dann los, es ist ja schon gleich halb zehn«, sagte Yoshua schließlich mit einem vielsagenden Blick auf die Wanduhr.

Ein Gefühl des Versagens grub sich scharfkantig in meinen Magen. Eigentlich öffneten wir um Punkt zehn. Ich hatte längst nicht alles fertig gebacken und musste noch meine tägliche Macaron-Lieferung an unseren besten Kunden, das Edelrestaurant Le Chat Noir, ausfahren. Unter normalen Umständen hätte ich mich dafür schon längst auf den Weg gemacht.

»Oh, entschuldigt bitte.« Ich pustete mir eine Locke aus dem Gesicht, weil meine Finger gerade voll Mehl waren. »Vor lauter Neuigkeiten muss ich die Zeit vergessen haben.«

Yannick legte mir seine große Hand auf die Schulter. »Fahr nur. Wir holen die letzten Bleche aus dem Ofen und bereiten den Verkaufsraum vor, sodass du nur noch vorne aufschließen musst, wenn du zurück bist.«

»Danke.«

Er verabschiedete sich mit Wangenküsschen, und diesmal eilte auch Yoshua zu mir, um mich einmal fest an sich zu drücken. An die französischen Bises hatte er sich in den sechs Jahren, die er schon hier lebte, nie gewöhnt.

»Wir werden dich vermissen, Sweetie.« Durch seinen amerikanischen Akzent klangen die Rs immer so, als hätte er einen vollen Mund.

»Also kommt ihr vor eurer Abreise nicht noch mal hier vorbei?«

»Ich denke nicht.« Yannick schüttelte bedauernd den Kopf.

Schnaubend warf Yoshua die Arme in die Luft. »Es gibt noch unglaublich viel zu tun.«

»Das glaube ich euch sofort.« Ich lächelte nachsichtig, doch mein Blick haftete an dem Chaos aus halb fertigen Macarons, unförmigen Marzipanblumen und noch nicht mit Schokolade bestrichenen Eclairs, das sich auf der Arbeitsfläche ausbreitete. »Gute Reise, und ich hoffe, alles läuft gut mit der Leihmutter.«

»Danke, das wird es bestimmt«, flötete Yoshua und verschwand im Verkaufsraum.

Yannick beugte sich zu mir vor, sodass ich ihm in die warmen braunen Augen sehen musste. »Du schaffst das, Chloé. Ich glaube fest an dich.«

»Danke«, brachte ich gerade noch heraus, bevor auch er die Backstube verließ. Er nahm die fertigen Bleche mit, und ich hörte, wie er die Waren in die Auslage zu legen begann, während Yoshua die Stühle von den Tischen nahm.

Ehe ich mit den Macarons zur Hintertür hinauseilte, um mich auf meine türkisblaue Vespa namens Vespa zu schwingen, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Wand und schloss einen Moment die Augen.

Ich musste dankbar sein. Mehr Verantwortung. Mehr Geld. Es war fast, als würde ich von jetzt an meine eigene Patisserie führen. Das war doch immer mein Traum gewesen …

Doch warum fühlte ich mich dann, als wäre ich gerade von einem Bulldozer überfahren worden?

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Der restliche Vormittag schien ebenso verhext zu sein wie der Morgen. Eine wahre Kundenflut stürmte den kleinen Verkaufsraum, sodass ich unablässig zwischen Tresen und Backstube hin- und hereilen musste, um Gebäck aus dem Ofen zu holen und Leute zu bedienen. Das einstige Weiß meiner Schürze war mittlerweile unter all den Flecken kaum noch zu erkennen. Ständig fielen mir einzelne Locken ins Gesicht, die ich mit einer Spange mehr schlecht als recht zu bändigen versuchte. Dabei schmierte ich mir wahrscheinlich jedes Mal Mehl, Puderzucker und andere Substanzen ins Haar.

Mein Gesicht war heiß vom vielen Hin- und Herlaufen. Vermutlich war ich so rot wie die Erdbeeren auf den frischen Tartelettes, die ich gerade in der Warenauslage anrichtete. Ich seufzte, als mir auffiel, dass die Eclairs bereits ausverkauft waren. Für den Nachmittag würde ich neue backen müssen, damit Herr Herrlich seine am Abend bekam.

Als ich das letzte Törtchen vorsichtig vom Blech hob, fiel es mir aus der Hand und platschte zu Boden. Es blieb nur ein trauriges Häufchen aus Pudding, Erdbeeren und Gelatine übrig.

»Verdammt noch mal!« Heute lief aber auch wirklich alles schief. Vor lauter Wut und Verzweiflung brannten meine Augen, und ich blinzelte mehrmals. Hastig ging ich in die Hocke, um die Törtchenüberreste aufzusammeln. Und vielleicht auch, um mich einen Moment vor möglichen Blicken durchs Schaufenster zu verstecken. Eine aufgelöste Patissière hinter dem Tresen war nicht gerade ein Kundenmagnet.

Mein leerer Magen knurrte, und mir wurde kurz schwindelig, sodass ich mich an der Glasverkleidung der Warenanrichte festhalten musste. Heute war keine Zeit für eine Mittagspause gewesen. Ich konnte dankbar sein, dass der Kundenstrom gerade etwas abgeflaut war. Das würde allerdings nicht lange so bleiben. Die Nachmittage waren immer die bestbesuchte Zeit des Tages.

Ich wischte mir über die Augen und lehnte die Stirn an das kühle Glas. Meine Laune war am absoluten Tiefpunkt angekommen, selbst mein Körper teilte mir unmissverständlich mit, dass ich dringend eine Pause brauchte. Da klingelte die Glocke über der Tür.

Das kann doch nicht wahr sein, dachte ich, halb verzweifelt, halb resigniert.

Einen Moment lang rührte ich mich nicht. Alles in mir sträubte sich dagegen, ein Lächeln aufzusetzen und die Kunden freundlich zu begrüßen. Doch ich konnte schließlich nicht ewig hinter dem Tresen hocken bleiben. Sie würden mich früher oder später entdecken. Ich musste ein tolles Bild abgeben, wie ich mich hier mit tränenfeuchten Augen versteckte und mich selbst bemitleidete, weil mir eine Tartelette heruntergefallen war. Allein bei dem Gedanken daran, dass mich jemand so sehen könnte, wurden meine Wangen heiß vor Scham.

Also fuhr ich mit den Fingerspitzen unter meinem unteren Wimpernkranz entlang, um verschmierte Wimperntuschereste zu beseitigen, und atmete tief durch. Bevor ich mich erhob, spähte ich verstohlen zwischen den Gebäckstücken in der Auslage hindurch, um zu sehen, mit wem ich es zu tun hatte.

Das Erste, was ich sah, waren Waden. Überraschend beeindruckende Waden. Dieser Kunde musste Profiradler sein. Als mir auffiel, dass ich unverhohlen starrte, riss ich mich vom Anblick der muskulösen Beine los und strich meine fleckige Schürze glatt. Ich bemühte mich um ein Lächeln und richtete mich endlich auf, um den Kunden zu begrüßen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken.

Nicht nur seine Waden waren beeindruckend. Das wellige Haar war windzerzaust, an den Seiten etwas kürzer, oben länger. Es hatte die Farbe von reifem Korn. Die Stoppeln seines Dreitagebarts waren eine Spur dunkler. Sein Gesicht wies die gesunde Bräune einer Person auf, die viel Zeit im Freien verbrachte. Unter seinem dunkelblauen Poloshirt zeichnete sich ein ebenso gebräunter Bizeps ab. Zwar trug der Mann kein professionelles Radleroutfit, doch ein Blick durchs Schaufenster bestätigte meine Vermutung. Dort lehnte ein teuer anmutendes Rennrad. Vom Lenker baumelte ein Helm.

»Guten Tag.« Der Mann trat vor den Tresen. Er war groß, eher sehnig als breit gebaut, trotz der Muskeln, die sich überall unter seiner Kleidung abzeichneten und meine Aufmerksamkeit ständig von seinem Gesicht ablenkten. Was zum Teufel war nur mit mir los? Seit wann starrte ich Kunden an, nur weil sie … unglaublich gut aussahen?

»Äh, guten Tag«, beeilte ich mich zu sagen. Meine Stimme klang hoch und piepsig, und meine Wangen waren mittlerweile so heiß, dass sie flammend rot sein mussten. »Was kann ich für Sie tun?«

Der Mann musterte mich einen Moment. Mir war nicht entgangen, dass er mich mit einem starken englischen Akzent begrüßt hatte. Sein Blick war so einnehmend, dass ich nicht wegsehen konnte. Die Augen waren von einem durchdringenden Blau, das mich an den Frühlingshimmel erinnerte. Wie am ersten warmen, wolkenlosen Tag des Jahres, an dem alles möglich erschien.

»Ich bin zum ersten Mal hier. Können Sie mir etwas empfehlen?«, fragte er. Seine Stimme war tief und weich. Er strahlte eine unglaubliche Ruhe und Gelassenheit aus. Jetzt sprach er auf Englisch. Das war kein Problem für mich, da ich das Fach in der Oberstufe als Leistungskurs gewählt hatte und die Bücher meiner Lieblingsautorinnen im englischen Original verschlang, sobald sie erschienen. Es überraschte mich trotzdem, weil sich die meisten Touristen wenigstens ein oder zwei Sätze auf Französisch aneigneten, um etwas zu bestellen.

Nicht aber dieser Mann. Nach zwei langen Schritten stand er vor der Anrichte neben dem Tresen und wirkte dabei so selbstbewusst, wie ich mich an keinem einzigen Tag meines Lebens gefühlt hatte. Ich konnte ihn mir kaum vorstellen, wie er sich stotternd mit einer Fremdsprache abmühte – oder vielleicht hätte er selbst das nonchalant weggelächelt.

Als ich mich daran erinnerte, dass er mir eine Frage gestellt hatte, folgte ich ihm auf meiner Seite des Tresens zur Anrichte und warf ihm über die Glasverkleidung hinweg einen prüfenden Blick zu. Gewöhnlich war ich sehr gut darin, meine Kunden zu lesen, doch ihn konnte ich nur schwer einschätzen. War er eher der süße oder der herzhafte Typ? Würde er etwas mit Obst vorziehen oder etwas mit Schokolade?

»Die Tartelettes sind bei den Kunden sehr beliebt«, sagte ich, in dem Versuch, meine viel zu hohe Stimme wieder unter Kontrolle zu bringen. Dabei war ich mir des kläglichen Häufchens, das nach wie vor auf dem Boden lag, nur allzu bewusst. Ohne hinzusehen, versuchte ich es zu umgehen, während ich auf die verschiedenen Gebäckstücke in der Auslage deutete.

»Wenn Sie Zeit haben, um vor Ort zu essen«, ich deutete auf die Tische und Stühle vor dem Schaufenster, »würde ich Ihnen ein warmes Moelleux au Chocolat mit flüssigem Schokoladenkern empfehlen. Und wenn Sie gern verschiedene Geschmacksrichtungen probieren, kann ich Ihnen eine bunte Mischung Macarons zusammenstellen.«

»Was ist denn Ihr persönlicher Favorit?«

»Mein … Was?« Überrumpelt blickte ich zu ihm auf. Das hatte mich noch niemand gefragt.

»Was essen Sie am liebsten?« Er sah mich schon wieder mit diesem intensiven Blick an. Fast wäre ich in die Backstube geflohen, weil ich glaubte, er würde zu viel über mich erfahren, wenn er mich weiter so eindringlich musterte. Als könnte er damit die Fassade durchdringen, die ich der Welt präsentierte. Aber das war natürlich Quatsch. Oder?

Ich war es wohl einfach nicht gewohnt, dass mir eine andere Person so lange ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, ohne einen Gefallen zu erbitten oder sonst etwas von mir zu verlangen.

»Ich, also, ich …« Unentschlossen ließ ich den Blick über die Auslage schweifen. Alle Waren konnte ich ausnahmslos empfehlen. Schließlich hatte ich sie eigenhändig mit viel Liebe – wenn heute auch unter enormem Zeitdruck – zubereitet. Ich blieb an den korallenrosafarbenen Macarons hängen. Wenn er eine ehrliche Antwort wollte, sollte er sie bekommen.

»Die Himbeermacarons sind meine Favoriten.« Ich deutete darauf. »Ich habe lange daran gearbeitet, die Farbe so hinzubekommen. Jeden Abend nehme ich drei davon mit nach Hause und genieße sie ganz in Ruhe.« Erschrocken biss ich mir auf die Unterlippe. Zu viel Information! Warum erzählte ich ihm nicht gleich, welche Farbe meine Schlafzimmerwände hatten?

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Ich bemühte mich, nicht darauf zu starren, als sich dabei ein einzelnes Grübchen in seiner rechten Wange zeigte. Kurz zuckte sein Blick zu der Wand hinter mir, wo die Preise für vier, sechs, neun oder zwölf Macarons an einer Tafel angeschlagen waren. »Dann hätte ich gern drei davon. Und drei von den grünen, zum Mitnehmen bitte.«

»Pistazie, eine hervorragende Wahl.«

Als er mich wieder ansah, ertappte ich mich dabei, wie ich ebenfalls lächelte. Es war ein echtes Lächeln, keins dieser aufgesetzten, die ich den Kunden gewöhnlich präsentierte. Etwas zupfte schmerzhaft an meinem Herzen, als mir bewusst wurde, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, wann ich das letzte Mal derart aufrichtig gelächelt hatte.

Zerstreut wandte ich mich ab und wollte zum Tresen gehen, um eine Schachtel für die Macarons zu holen. Dabei vergaß ich die Tartelette am Boden. Im nächsten Moment war ich bereits auf Puddingmasse und Erdbeeren ausgerutscht und schlitterte wild mit den Armen rudernd vorwärts.

Plötzlich war der Mann dicht neben mir. Seine Hand schnellte vor und schloss sich um meinen Oberarm, um mich davon abzuhalten, gegen die nahe Wand zu krachen.

Einen atemlosen Augenblick lang stand die Zeit still. Mein Herz pochte so laut und heftig in meiner Brust, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Langsam drehte ich den Kopf. Der Mann hatte sich weit über den Tresen gebeugt, um mich festzuhalten. Die Brauen hatte er fragend zusammengezogen, als wollte er sich vergewissern, dass es mir gut ging. Über die altmodische Kasse hinweg sahen wir uns in die Augen.

Die Hitze, die sich bereits seit seiner Ankunft in der Patisserie in meinen Wangen festgesetzt hatte, breitete sich rasend schnell über mein Dekolleté aus. Warum musste mein Körper auch immer preisgeben, was ich gerade empfand?

Verlegen wollte ich mich abwenden, doch sein Blick nahm mich weiterhin gefangen. »Alles in Ordnung?«, raunte er.

Meine Stimmbänder hatten kurzzeitig den Geist aufgegeben, deshalb nickte ich nur. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich nicht. Nahm er mir die Antwort nicht ab? Nach wie vor sah er mir prüfend in die Augen. Mein Herz hämmerte weiterhin schmerzhaft in meiner Brust. Ich konnte mich nicht rühren. Das musste an dem Schock liegen. Oder … war er mir etwa noch näher gekommen?

Erst als er langsam den Griff lockerte, erwachte ich aus meiner seltsamen Trance. Nervös räusperte ich mich und trat einen Schritt zurück. »Ich … äh, danke.«

»Gern.« Mehr sagte er nicht, doch ich spürte seine Aufmerksamkeit weiterhin auf mir, während ich mich mit gesenktem Kopf daran machte, die Schachtel für die Macarons unter dem Tresen zu suchen. Ich brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich endlich die passende ertastete. Meine völlig inkohärenten Gedanken halfen nicht. Was war da gerade passiert?

Mit zitternden Fingern fischte ich ein Macaron nach dem anderen mit der dafür vorgesehenen Zange aus der Auslage und legte sie in die Schachtel.

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte ich, während ich seine Bestellung verpackte. Hauptsächlich, um meine Unsicherheit zu überspielen, aber auch, um die Stille zu füllen, die sich klebrig wie Sirup zwischen uns ausbreitete, nachdem wir uns eben unfreiwillig nahe gekommen waren. Insgeheim hoffte ich, dass er noch etwas kaufen würde. Dass ich seine Gesellschaft noch ein kleines bisschen länger genießen konnte.

»Das ist alles.« Seine Stimme drang wie aus weiter Ferne an meine Ohren, weil die damit einhergehende Enttäuschung meinen ganzen Körper in dicke Zuckerwatte packte. Mit schwerfälligen Bewegungen bediente ich die Kasse, rechnete die Macarons ab und nahm kaum wahr, wie er mit Kreditkarte bezahlte.

»Lassen Sie es sich schmecken und kommen Sie bald wieder.« Der viel gesagte Satz kam mir mechanisch über die Lippen, während ich den Kunden in Gedanken beschwor, doch noch zu bleiben, vielleicht an einem der Tische Platz zu nehmen und die Macarons hier zu essen.

»Das habe ich vor.« Sein plötzlich veränderter Tonfall riss mich aus meiner Lethargie. Er klang irgendwie … verheißungsvoll? Als ich seinem Blick begegnete, schenkte er mir das Grübchenlächeln, das mich einmal mehr umhaute. »Vielleicht schon morgen.«

Mein Herz machte einen aufgeregten kleinen Hüpfer. Und bevor ich darüber nachdenken konnte, was ich hier eigentlich tat, überkam mich ein bis dato unbekannter Übermut, und ich erwiderte: »Das würde mich freuen.«