A Whisper of Wings - Carina Schnell - E-Book

A Whisper of Wings E-Book

Carina Schnell

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Beschreibung

Wenn Freunde zu Feinden werden und Liebe zu Hass Band 2 der actionreichen Fantasy-Romance um eine Hexe in einer tödlichen Welt inspiriert von nordischer Mythologie. Als neue Anführerin der Wilden Jagd, der gefürchtetsten Söldnertruppe von Middangard, hat sich die Hexe Smilla einem Ziel verschrieben, das ihr Leben von nun an bestimmt: Sie will das Land von den mordlüsternen Walküren befreien. Denn diese nahmen ihr das, was sie am meisten geliebt hat. Um eine Chance in dem aussichtslos scheinenden Kampf gegen die übermächtigen Walküren zu haben, ersinnt die Wilde Jagd einen kühnen Plan: Sie werden die Götter aus ihrem Gefängnis in Addangard befreien, um die geflügelten Bestien mit ihrer Hilfe zu besiegen. Doch in Odins Hallen wartet mehr als eine Überraschung auf die Gefährten … »A Breath of Winter war mein absolutes Fantasy-Highlight im letzten Jahr und eigentlich nicht mehr zu toppen, aber Carina Schnell hat mit Band 2 noch einen drauf gesetzt. Es ist mystisch, düster und rasant und voller packender Wendungen und herzzerreißender Momente.« – Lilly Lucas, Bestsellerautorin von This could be love Carina Schnell, die Bestseller-Autorin der New-Adult-Reihe »Sommer in Kanada«, entführt zum zweiten Mal nach Middangard: eine düstere nordische Fantasy-Welt, die nur gerettet werden kann, wenn die Wilde Jagd die Monster in sich selbst besiegt und die Liebe einer Hexe den Tod überwindet. Band 1 der Rabenwinter-Saga, A Breath of Winter, wurde mit dem SERAPH für das Beste Buch 2024 ausgezeichnet. Die düster-romantische »Rabenwinter-Saga« ist in folgender Reihenfolge erschienen: - »A Breath of Winter« - »A Whisper of Wings«Noch mehr romantische Fantasy von Carina Schnell erwartet dich in: - Alba. Zwischen den Welten (Feen in Schottland 1) - Alba. Im Schatten der Welt (Feen in Schottland 2)

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Seitenzahl: 760

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Carina Schnell

A Whisper of Wings

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Als neue Anführerin der Wilden Jagd, der gefürchtetsten Söldnertruppe von Middangard, hat sich die Hexe Smilla einem Ziel verschrieben, das ihr Leben von nun an bestimmt: Sie will das Land von den mordlüsternen Walküren befreien und damit Rache üben. Denn diese nahmen ihr das, was sie am meisten geliebt hat. Um eine Chance in dem aussichtslos scheinenden Kampf gegen die übermächtigen Walküren zu haben, ersinnt Smilla einen kühnen Plan: Sie werden die Götter aus ihrem Gefängnis in Addangard befreien, um die geflügelten Bestien mit ihrer Hilfe zu besiegen. Doch in Odins Hallen wartet mehr als eine Überraschung auf die Gefährten …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Charakterillustration Skuld

Charakterillustration Smilla und Angerboda

Widmung

TEIL 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

TEIL 2

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

TEIL 3

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

TEIL 4

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

TEIL 5

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Danksagung

Glossar der Namen und Begriffe

LiebeLesende,

dies ist der zweite Band der Rabenwinter-Saga. Bevor ihr euch erneut mit der Wilden Jagd auf die Reise begebt, empfehlen wir die Lektüre von A Breath of Winter für ein bestmögliches Leseerlebnis.

Viel Freude beim Lesen wünschen euch

Carina Schnell und der Knaur Verlag

TEIL1

Schuld

Kapitel 1

Lautlos segelte eine Feder durch die klirrend kalte Morgenluft. Sie war schwarz wie die eines Raben, die Spitze jedoch so rot, als hätte jemand sie in Blut getunkt. Ein Windstoß wirbelte die Feder umher, ließ sie sich drehen und wiegen, als wäre sie eine harmlose Tänzerin und keine Unglücksbotin. Höher und höher stieg sie auf, bis sie schließlich langsam gen Boden trudelte. Da schnellte eine Hand vor und schnappte sie aus der Luft.

Vorsichtig fuhr Smilla mit den Fingern über den Schaft. Die Feder war so lang wie ihr Unterarm. Wunderschön. Samtweich. Und absolut tödlich.

Sie beugte sich vor, um über den Rand der Klippe zu spähen, auf der sie hockte. Im grauen Licht der Morgendämmerung war auf dem Felsvorsprung tief unter ihr zunächst nicht viel mehr zu erkennen als ein schwarzer Federhaufen. Es hätte ein schlafender Rabenschwarm sein können. Doch wenn Smilla genau hinsah, konnte sie bleiche Gliedmaßen in der Masse ausmachen. Gefiederte Beine. Glänzende Rüstungen. Tödliche Krallen. Ordentlich zusammengelegte Schwingen mit blutroten Spitzen.

Es war der Walkürentrupp, den die Wilde Jagd bereits seit Tagen verfolgte. Obwohl ihre Gefährten beschlossen hatten, die Nacht im Schutz einer Schlucht zu verbringen und sich erst am Morgen wieder an die Fersen der Bestien zu heften, hatte Smilla nicht warten können. Zum ersten Licht des Morgens war sie aus ihrem Zelt gekrochen und hatte eine gefährliche Kletterpartie durch die karge Felslandschaft auf sich genommen, um sich so nah wie möglich an ihre Feinde heranzuschleichen. Nichts ahnend schliefen die geflügelten Wesen nun direkt unter ihr in einem provisorisch errichteten Nest aus Zweigen, Moos und Federn. Das perfekte Ziel für einen Angriff aus dem Hinterhalt.

Kurz war sie versucht, einfach hinunterzuspringen. Die Walküren ihren Stahl spüren zu lassen, noch bevor die Sonne vollends aufgegangen war. Ihre Klingen wollten Blut kosten, Flügel brechen, Sehnen durchtrennen. Doch obwohl es verheißungsvoll in ihren Fingerspitzen kribbelte, war Smilla sich bewusst, dass sie es nicht allein mit zwanzig Walküren aufnehmen konnte. Schon gar nicht ohne Magie.

Sie zuckte zusammen, als ein scharfer Schmerz durch ihre Handfläche schoss. Verloren in ihren düsteren Gedanken hatte sie die Hand zu fest um die rasiermesserscharfe Spitze der Feder geschlossen. Als sie sie losließ, löste sich ein einzelner Blutstropfen von der frischen Wunde. Lautlos fiel er neben die Feder und hinterließ einen Fleck auf dem grauen Stein.

Smilla fluchte leise und sah sich nach allen Seiten um. Anfangs war sie dankbar für das Tosen des Windes gewesen, das so hoch oben alle anderen Geräusche überlagerte. Doch nun würde eine einzige Bö ausreichen, um den Geruch ihres Bluts zu unliebsamen Kreaturen zu tragen, die sich möglicherweise im Hochland herumtrieben. Allen voran jene, die kaum zehn Rabenschwingen unter ihr schliefen. Wenn sie jetzt aufwachten und sie entdeckten, war Smilla so gut wie tot.

Widerwillig zog sie sich vom Klippenrand zurück. Sie blieb wachsam, während sie geduckt zu den höheren Felsen ganz in der Nähe huschte. Zu ihrer Erleichterung blieb alles ruhig. Nichts als eisige Morgenluft und zerklüftetes Gestein. Von den Klippenrändern wallten Nebelschwaden, die sich langsam bis zu ihr herabsenkten. Obwohl es stetig heller wurde, radierte das wabernde Grau die Umgebung nach und nach aus, sodass sie bald kaum noch etwas erkennen würde. Sie musste sich beeilen, wenn sie es über das gefährliche Terrain unbeschadet zurück zum Lager schaffen wollte.

Seufzend schlüpfte Smilla zwischen die schützenden Felswände. Doch schon nach wenigen Schritten hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Täuschte sie sich, oder hatte sie eben wirklich das Knirschen von losen Steinen unter Stiefelsohlen vernommen? Durch das Heulen des Winds konnte sie ihren Ohren nicht trauen. Mit der unverletzten Hand zog sie eins der auf ihrem Rücken gekreuzten Schwerter. Langsam drehte sie sich im Kreis, auf alles gefasst.

Ein Zischen von links. Smilla duckte sich. Zu spät. Etwas schoss auf sie zu, wand sich um ihre Klinge und entriss ihr das Schwert, das in hohem Bogen davonflog und zwischen den Felsen verschwand. Erstarrt wartete Smilla auf den klirrenden Aufprall, doch der blieb aus. Sie verengte die Augen, machte einen Schritt in die Richtung, in die ihre Waffe verschwunden war, und griff nach ihrem zweiten Schwert.

»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun.« Worte, die sie schon einmal gehört hatte. An einem anderen Ort, von einer anderen Person. Smilla ließ nicht zu, dass der Schmerz der Erinnerung sie überwältigte. Stattdessen senkte sie die Hand und atmete erleichtert auf.

Blondes Haar schälte sich aus dem Nebel, als eine in schwarzes Leder gekleidete Gestalt zwischen den Felsen hervortrat. Probeweise stieß Frigga die schwarze Klinge ins Leere und nickte anerkennend. »Nicht übel, aber ich bleibe lieber bei meiner Peitsche.« Mit dem Heft voran gab sie Smilla das Schwert zurück.

Leise grummelnd verstaute Smilla es wieder auf ihrem Rücken. »Angeberin. Du kannst es nicht lassen, oder?«

Frigga grinste. »Hätte ich angeben wollen, wärst du auf dem Hintern gelandet.« Ihr Lächeln erstarb, als sie das Blut auf Smillas Handfläche entdeckte. »Du bist verletzt. Lass mal sehen.«

»Nur ein Kratzer.« Eilig wich Smilla ihrer Berührung aus.

Frigga hob eine Braue. »Du meinst, ein weiterer Kratzer. Hast du dir deine Hände in letzter Zeit mal angesehen?« Mit ihrem lockeren Gebaren konnte sie die Enttäuschung nicht überspielen, die für einen Sekundenbruchteil in ihren Augen aufgeblitzt war.

Smilla unterdrückte den Drang, die Hände in den Hosentaschen zu vergraben. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Zähflüssig verband sich die Stille mit dem Nebel, kroch in jede Gesteinsritze und schien die Distanz zwischen den beiden Frauen nur noch zu vergrößern. Nichts war zu hören als der Wind, der unbarmherzig zwischen den Felsen hindurchpfiff und Smilla Strähnen ihres weißen Haars ins Gesicht peitschte.

»Hier hast du also die ganze Zeit über gesteckt.« Frigga sprach das Offensichtliche aus, bevor das Schweigen zu unangenehm werden konnte. »Ich suche dich schon seit Stunden. Was hast du so früh am Morgen an diesem götterverlassenen Ort verloren?«

»Ich habe die Walküren gefunden, die wir gestern verfolgt haben. Sie schlafen dort drüben.« Vage deutete Smilla in die Richtung, aus der sie gekommen war.

Scharf stieß Frigga die Luft aus. »Du hast sie aufgespürt? Ganz allein?«

Smilla nickte grimmig. Erneut meldete sich das ungeduldige Kribbeln in ihren Fingerspitzen. Ein neuer Plan formte sich rasend schnell in ihrem Kopf. Vielleicht war sie doch nicht umsonst hier heraufgekommen. »Lass uns zurückgehen, du und ich.« Die Worte entschlüpften ihr, bevor sie länger darüber nachdenken konnte. »Es sind nur zwanzig. Zusammen können wir es mit ihnen aufnehmen.«

Entgeistert starrte Frigga sie an. »Nur zwanzig? Hörst du dich eigentlich reden?« Mit ihrer einen Hand packte sie Smilla an der Schulter. »Selbst mit der gesamten Wilden Jagd an unserer Seite wäre es ein Blutbad.«

Smilla schüttelte sie ab. »Wir haben keine Zeit, die anderen zu holen. Wenn die Sonne aufgeht, haben wir das Überraschungsmoment verpasst.« Eindringlich funkelte sie Frigga an. »Seit Monaten jagen wir Walküren, ohne Erfolg. Noch nie waren wir so nah dran. Lass mir wenigstens diesen Triumph. Ich habe zu lange auf so eine Chance gewartet, als sie jetzt ungenutzt verstreichen zu lassen.« Sie machte zwei Schritte von Frigga fort, war drauf und dran, zurück zu der Klippe zu laufen und mitten in das Vipernnest darunter zu springen. Ihre Zwillingsklingen würden den Walküren den Tod bringen, bevor diese wussten, wie ihnen geschah.

»Nein.«

Smillas Kopf ruckte zu Frigga herum. »Wie bitte?«

»Ich sagte Nein.« Stahl war in Friggas Augen gekrochen. »Das ist Selbstmord. So wie es Selbstmord war, überhaupt allein hier hochzukommen. Und das weißt du genau.« Sie ließ die Hand zu der Peitsche an ihrem Gürtel wandern. »Zwing mich nicht dazu, dich aufzuhalten.«

Einen Wimpernschlag lang fühlte Smilla sich, als würde sie fallen. Als wäre sie längst über den Rand gesprungen und raste nun dem tödlichen Aufprall entgegen. Nein, als hätte Frigga sie gestoßen – mitten zwischen die scharfen Krallen der Walküren. Der Verrat schmeckte bitter.

»Das würdest du nicht tun«, brachte sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

»Find’s raus.« Herausfordernd starrte Frigga sie an, während sie mit den Fingern über die Eisenspitzen an ihrer Peitsche fuhr. Sie wirkte vollkommen gefasst, doch Smilla entging nicht, dass jeder Muskel ihres Körpers angespannt war. Ohne zu zögern, würde Frigga sie außer Gefecht setzen, überzeugt, ihr damit das Leben zu retten. Sie warf einen raschen Blick über die Schulter. Wenn sie sich schnell genug herumwarf, könnte sie es vielleicht schaffen, sich hinter den nächsten Felsen zu ducken, bevor Frigga sie erwischte.

Doch als sie sich ihrer Waffenschwester wieder zuwandte, war der Stahl aus deren Augen gewichen. »Tief drin weißt du, dass es nicht richtig ist, die anderen dieser Chance zu berauben. Wir alle haben ein Recht auf Rache.« Sie rückte ein wenig auf Smilla zu und hob die Hand, um ihr zu signalisieren, dass sie nicht auf einen Kampf aus war. Ihre Miene versprach allerdings, dass sie immer noch bereit dazu war, sollte Smilla ihr keine Wahl lassen.

»Wir machen uns Sorgen um dich«, fuhr sie sanfter fort. »Wir alle. Seit der Schlacht unter den weißen Bäumen …« Sie räusperte sich, sah weg. »Seit Gents Tod bist du nicht mehr dieselbe. Ich verstehe dein Verlangen nach Vergeltung, Smilla, das tue ich wirklich, aber es blendet dich. Du hast nicht mehr das Beste der Truppe im Sinn. Manchmal glaube ich fast, du würdest uns alle bereitwillig opfern, wenn du dadurch die Walküren auslöschen könntest.«

Der bittere Geschmack breitete sich weiter in Smillas Mund aus, sodass sie am liebsten ausgespuckt hätte. »Nein, das … das würde ich niemals tun«, brachte sie mühsam hervor.

Als Frigga sich ihr wieder zuwandte, lag Trauer auf ihren Zügen. Trauer und ein stummer Vorwurf. »Das Schlimmste ist, dass ich dir das wirklich abnehme. Aber gleichzeitig habe ich Angst. Ich habe so große Angst davor, dass du mein Vertrauen in dich enttäuschen wirst. Dass du uns alle früher oder später ins Verderben führst und es nicht mal bemerkst, weil du so sehr mit dir selbst beschäftigt bist.«

Smilla schnappte nach Luft. Durch die Bitterkeit, die nun auch ihre Kehle hinunterkroch, schien nichts davon in ihrer Lunge anzukommen. Sie senkte den Kopf, konnte Friggas durchdringendem Blick nicht mehr standhalten.

»Wir möchten beim Frühstück mit dir reden«, fuhr Frigga gefasster fort. »Deshalb suche ich dich schon, seit du dich heute früh aus unserem Zelt geschlichen hast. Es ist an der Zeit, dass sich ein paar Dinge ändern.«

Aber wir sind so nah dran, wollte Smilla schreien. Was, wenn sich uns nie wieder so eine Chance bietet? Was wird dann mit uns passieren? Mit mir?

Stattdessen sagte sie nichts, seufzte lediglich ergeben. Da erst bemerkte sie, dass sie zitterte. Ihr gesamter Körper sträubte sich dagegen, sich von den schlummernden Walküren zu entfernen. Es wäre so einfach. Das drängende Prickeln in ihren Fingerspitzen rief sie, lockte sie, wollte sich endlich entladen. Da war dieser Durst, der ausschließlich mit Blut gestillt werden konnte.

Ob es ihr danach besser gehen würde? Ob sie sich dann nicht mehr ganz so leer und verloren fühlen würde? Sie wusste es nicht. Aber wie konnte sie damit leben, es nicht wenigstens versucht zu haben?

Friggas warnendes Funkeln ließ sie allerdings jeglichen Gedanken an Rebellion vergessen. Es war vorbei. Die anderen wollten mit ihr reden. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Mit einem Schlag wich alle Kraft aus Smillas Gliedern. Sie fühlte sich so schwer. Als stünde sie in einem Sumpf, der sie unaufhaltsam nach unten zog. Am liebsten hätte sie sich ergeben. Hätte sich unter die Oberfläche zerren lassen, um endlich nicht mehr kämpfen zu müssen.

Frigga reichte ihr die Hand, als spürte sie die Veränderung in ihr. Einen schier endlosen Moment lang starrte Smilla darauf, dann in Friggas Gesicht. Plötzlich lag da so viel Verständnis in den blauen Augen, so viel Hoffnung. Durch den Wind hatten sich Strähnen aus ihrem blonden Haarkranz gelöst, die nun ihr Gesicht umtanzten. Nach einem letzten Blick über die Schulter verwob Smilla ihre Finger mit Friggas und ergab sich ihrem Schicksal.

Kapitel 2

Schon von Weitem entdeckte Smilla den Flammenschein, der über die hoch aufragenden Schluchtwände flackerte. Er wurde heller, je näher sie dem Lager kamen, das sie erst in der Nacht zuvor aufgeschlagen hatten. Durch den Nebel drangen die Stimmen der anderen gedämpft an ihre Ohren. Bald konnte sie dunkle Silhouetten ausmachen, die sich ums Feuer gruppiert hatten. In der Luft lag der Duft von frisch aufgebrühtem Kräutertee und Frühstücksgrütze.

Zu Hause, schoss es ihr durch den Kopf.

Sogleich versetzte ihr der Gedanke einen Stich. Bilder anderer friedlicher Szenen drängten sich ihr auf. Ein Weiher im Mondschein. Dutzende Hände, die sich in einer sternenklaren Nacht ehrerbietend gen Himmel reckten. Kühles Moos unter ihren nackten Füßen und Knochen, die zu Staub zerfielen, während säuselnde Stimmen Zauber sprachen. Smilla bohrte die Fingernägel in ihre wunden Handflächen und zuckte vor Schmerz zusammen. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt für Sentimentalitäten. Wenn sie ihren Platz an diesem Feuer behalten wollte, musste sie jetzt Stärke an den Tag legen.

Aber wie sollst du die Truppe anführen, wenn du selbst so fehlgeleitet bist?, flüsterte die Stimme in ihrem Inneren. Wenn du den richtigen Weg schon vor langer Zeit verlassen hast?

Als sich einmal mehr der bittere Geschmack in ihrem Mund auszubreiten begann, wandte Smilla sich an Frigga, die neben ihr ging. »Gebt ihr mir einen Moment?«

»Natürlich. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Wir warten am Feuer auf dich.« Sorge tanzte in ihren Augen, doch sie ließ Smilla ziehen.

Schnurstracks steuerte Smilla ihr Zelt an. Das spärliche, mit Raureif überzogene Gras knirschte unter ihren Sohlen. Viel zu schnell war die lichte Jahreszeit gekommen und wieder gegangen. Unten im Tal war die Landschaft bereits frostgeküsst. Stürme hatten die Äste der meisten Bäume in kahle Knochenfinger verwandelt. Bald würden die grünen Hügel und eisfreien Fjorde nur noch eine ferne Erinnerung sein. Vor dem ersten Schnee wollte Smilla aus dem südwestlichen Hochland verschwunden sein, jedoch nicht, ohne wenigstens einen einzigen Erfolg bei der Walkürenjagd verzeichnet zu haben. Sie hatte geglaubt, dass es den anderen ebenso ging, aber da hatte sie sich wohl getäuscht.

Gedankenverloren hockte sie sich vor den Wassereimer, der neben ihrem Zelt stand. Als sie sich darüber beugte, mied sie sorgsam ihr Spiegelbild. Schon lange ertrug sie es nicht mehr, sich in die Augen zu schauen. So voller Narben war sie, dass sie nichts anderes sah, auch wenn diese unsichtbar für alle anderen waren.

Kälte schoss durch ihre Fingerspitzen, als sie sie ins Wasser tauchte. Die vielen kleinen Wunden brannten, doch Smilla rubbelte unermüdlich weiter und hieß den Schmerz willkommen. Feuerrot leuchtete ihre geschundene Haut, während sie versuchte, sich reinzuwaschen von all den schlimmen Dingen, die sie getan hatte, von den Gedanken, die einen unablässigen Krieg in ihrem Inneren ausfochten, und den verwirrenden Gefühlen, die sie nach wie vor für einen Mann hegte, der für immer am Feuer der Wilden Jagd fehlen würde. Der nie zurückkehren würde, um mit seiner Truppe zu scherzen, barsche Befehle zu brummen oder Smilla im Arm zu halten, nachdem die anderen schlafen gegangen waren. Ein Mann, der seine wahre Identität vor ihr verborgen und ihre Liebe nicht verdient hatte.

Als der Schmerz der Erinnerung sie einmal mehr in die Knie zu zwingen drohte, schrubbte sie noch kräftiger, konzentrierte sich ganz auf das Brennen ihrer Haut. Blut mischte sich unter das Wasser. Blut, das auf ewig an ihren Händen kleben würde, egal, wie oft sie sie wusch. Das Blut ihres Zirkels, das Blut all jener Hexen, die dem Knochenmesser des Schlächters zum Opfer gefallen waren. Es haftete an ihr, auch wenn sie es nicht gewesen war, die ihnen den Todesstoß versetzt hatte.

Als Übelkeit in ihr aufstieg, griff Smilla nach dem dünnen Stück Seife neben dem Eimer. Zu dem Brennen der Wunden gesellte sich der Biss der Lauge in den aufgeriebenen Stellen. Smilla schloss die Augen. Weiter und weiter rieb sie, gegen die Galle anschluckend, bis sie allmählich ruhiger wurde.

**

Mit frisch bandagierten Händen stapfte Smilla an den Zelten vorbei auf die einzige Lichtquelle im Lager zu. Die ersten Sonnenstrahlen hatten es noch nicht bis in die Schlucht geschafft, auch wenn der anbrechende Tag die Schatten stetig vertrieb.

Als sie zu den anderen ans Feuer trat, verstummte deren Gespräch. Alle hoben die Köpfe, sahen ihr entgegen. Das Misstrauen in ihren Blicken bohrte sich in Smillas Brust wie Rabenstahl. Musterte die Truppe sie schon länger auf diese Weise? Wie war ihr das vorher nicht aufgefallen? Waren ihre Tage als Anführerin der Wilden Jagd gezählt? Und wenn ja, was blieb ihr dann noch?

Mühsam schluckte sie die aufsteigende Panik herunter. Die Regel besagte, dass ein neuer Anführer den alten besiegen musste. Würden sie sie herausfordern? Oder einfach davonjagen? Schließlich hatte sich Smilla ihren Posten nicht erkämpft. Die anderen hatten ihn ihr nach ihrem Sieg über die Walküren verliehen. Sie hatten all ihr Vertrauen in sie gesetzt. Und Smilla? Sie hatte sie enttäuscht. Hatte ihre Familie im Stich gelassen. Zum zweiten Mal in ihrem Leben.

Die Wilde Jagd hatte jedes Recht, sie zu ersetzen. Aber kämpfen … nein, kämpfen würde Smilla niemals. Gegen keinen von ihnen. So weit durfte sie es nicht kommen lassen. Sie musste dringend Ruhe bewahren und die anderen irgendwie davon überzeugen, dass sie ihren Nutzen für die Truppe noch nicht völlig eingebüßt hatte.

Mit einem unterdrückten Seufzen ließ sie sich zwischen Óinn und Jofur am Feuer nieder.

»Smilla …«, begann Andórr, der zu Jofurs Rechter saß, doch sie kam ihm zuvor.

»Ich weiß, dass ich in letzter Zeit keine gute Anführerin war«, begann sie mit beherrschter Stimme, auch wenn in ihrem Inneren ein Sturm tobte. Mittlerweile benutzte sie beim Sprechen wie selbstverständlich ihre Hände, sodass auch Jofur ihr mühelos folgen konnte. »Dass ich euch keine gute Gefährtin war.«

Óinn machte Anstalten, ihr zu widersprechen, doch sie brachte ihn mit einer Geste zum Verstummen.

»Ich habe meine eigenen Ziele vor die Bedürfnisse der Truppe gestellt, und das tut mir leid. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass ich euch auf der Spur einer kalten Fährte durchs halbe Land gejagt habe, ohne dass wir je auf die Walküren gestoßen sind, die …« Sie unterbrach sich, biss sich auf die Unterlippe. Niemals sprach sie seinen Namen aus. Sie erlaubte sich nicht einmal, ihn zu denken. »… die uns so einen großen Verlust beschert haben.«

Unbehaglich verlagerte Jofur neben ihr sein Gewicht, während Óinn ein leises Gebet an die Leuchtenden sprach.

»Eine Abstimmung ist nicht notwendig«, fuhr Smilla fort. »Ich trete freiwillig zurück und werde unterstützen, wen auch immer ihr als neuen Anführer oder neue Anführerin wählt.« Während sie den Blick über die Truppe schweifen ließ, mied sie Frigga, die ihr gegenübersaß und deren Worte noch immer in ihr nachklangen.

»Du hast nicht mehr das Beste der Truppe im Sinn. Es ist an der Zeit, dass sich ein paar Dinge ändern.«

So dachten offenbar auch die anderen, und Smilla konnte es ihnen nicht verdenken. Wenn sie die einzige Familie, die ihr geblieben war, nicht verlieren wollte, musste sie sich jetzt verdammt noch mal zusammenreißen.

»Ich habe euch enttäuscht und verstehe, wenn ihr mir nicht mehr vertrauen könnt. Welche Konsequenz ihr auch immer für richtig haltet, ich werde mich eurer Entscheidung fügen«, schloss sie.

Stille setzte ein, nur unterbrochen vom Knistern des Feuers. Smilla spürte die Wärme auf ihrem Gesicht kaum. Dafür war ihr Inneres schon viel zu lange viel zu frostig.

»Bist du endlich fertig?« Andórrs Stimme riss sie aus der Betrachtung der Flammen. Überrascht wandte sie sich ihm zu. Seine schneeweißen Zähne blitzten auf, als er sie angrinste. »Das ist ja wirklich nobel von dir, Smilla, aber wir wollen dich gar nicht absägen.«

»N-nicht?« Sie blinzelte.

»Nein. Und selbst wenn, würde es eine ordentliche Abstimmung geben. Du glaubst doch nicht wirklich, dass wir so etwas einfach über deinen Kopf hinweg entscheiden würden.« Er schnaubte. »Wir sind schließlich nicht irgendeine dahergelaufene Söldnertruppe. Wir sind die Wilde Jagd.«

Die anderen murmelten zustimmend, während Smillas Schultern vor Erleichterung herabsackten.

»Aber«, warf Óinn ein, »wir diskutieren nun schon seit Längerem, ob es überhaupt nötig ist, eine einzige Führungsperson zu haben. Wir treffen sowieso bereits alle Entscheidungen gemeinsam, und«, er warf Smilla einen verständnisvollen Seitenblick zu, »der Druck, der auf dieser einen Person lastet, ist enorm.«

Smillas Wangen brannten. So sehr war sie mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie diese Diskussionen nicht einmal mitbekommen hatte. Gleichzeitig wallte Dankbarkeit in ihr auf. Offenbar war den anderen nicht entgangen, wie schwer die Verantwortung auf ihren Schultern lastete – gemeinsam mit anderen, düstereren Dingen.

Jofur legte ihr eine Hand auf den Unterarm. Als sie seinem Blick begegnete, lächelte er ihr aufmunternd zu. Beruhigend strich er über ihre vom Waschen gerötete Haut, bevor er beide Hände hob. Wie immer bewegte er seine Finger für sie ein wenig langsamer als für die anderen, damit sie seinen Worten folgen konnte. »Es hat nichts mit dir zu tun. Die Bürde wiegt schwer.«

Dankbar nickte Smilla ihm zu.

»Was hältst du von der Idee?«, wandte sich Frigga an sie.

»Das … das ist …«, stammelte Smilla, noch immer überrumpelt, aber gleichzeitig erleichtert. Ihre Familie wollte sie nicht loswerden. Sie würden sie nicht nach Helheim jagen. Hier war es ihr erlaubt, Fehler zu machen. Auch wenn sie sich ihre vielen Fehler niemals selbst vergeben würde. Hinter ihren Lidern brannte es verräterisch, sodass sie kurz die Augen zusammenkniff. »Es ist wohl die beste Lösung«, brachte sie schließlich hervor.

»Das finden wir auch«, fuhr Andórr fort. »Gents Tod war ein großer Verlust.« Bei der Nennung seines Namens zuckte Smilla zusammen. »Wir werden ihn nie ersetzen können.«

»Und das wollen wir auch nicht«, fügte Óinn hinzu.

Die anderen nickten. Sie hatten nach wie vor keine Ahnung, was ihr ehemaliger Anführer getan hatte. Dass Smilla zwar seinen Tod betrauerte, ihn aber gleichzeitig mit jeder Faser ihres Seins hasste. Sie hatte es nicht über sich gebracht, ihnen von seiner wahren Identität zu erzählen. Nur Leif musste von Anfang an eingeweiht gewesen sein. Er musste all die Gräueltaten vertuscht und die Truppe monatelang belogen haben. Doch Leif war schon lange fort. Und Smilla war keinen Deut besser als er, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Ja, die Truppe kannte seit der Schlacht unter den weißen Bäumen ihr Geheimnis, doch es gab nach wie vor so vieles, das die anderen nicht einmal ahnten. Das Wissen über die wahre Identität ihres ehemaligen Anführers und Freunds würde Smilla mit ins Grab nehmen. Sie würde es nicht ertragen, ihre Gefährten deshalb leiden zu sehen. Es reichte, dass sie sich deswegen grämte. Dass sie Nacht für Nacht wach lag und sich fragte, wie sie es nicht hatte sehen können. Wie sie sich in diesen Mann hatte verlieben können. Wie sie hatte zögern können, als ihre Klinge seine Kehle geküsst hatte.

Mit brennenden Wangen sah Smilla auf ihre Finger hinab. Frisches Blut war durch die Verbände gesickert. Rot auf Weiß. Wie in jener ersten Nacht, als sie die Seele eines Raben geopfert hatte, um einem Mörder das Leben zu retten. Angewidert wandte sie den Blick ab. So war es jeden götterverdammten Tag. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, kehrten immer wieder zu diesem Mann zurück. Dem Schlächter. Sie konnte rein gar nichts dagegen tun. Selbst nach all den Monaten, die seitdem verstrichen waren, war sie eine Gefangene in ihrem eigenen Kopf. Die anderen glaubten, dass es ihr bei der Walkürenjagd um Rache ging, doch das stimmte nicht ganz. Ihr Geist kam nur zur Ruhe, wenn sie etwas zu tun hatte. Wenn sie Pläne schmiedete, Walküren bekämpfte, wenn sie all ihre Kraft auf eine Aufgabe richtete, die zwar aussichtslos erscheinen mochte, sie aber wenigstens beschäftigt hielt.

»Also ist es beschlossen?« Friggas Stimme drang durch den wirren Strudel in ihrem Kopf. Smilla rieb sich über das Gesicht und versuchte zuzuhören. »Wir sind uns einig? Eine Abstimmung ist nicht nötig?«

Alle taten ihre Zustimmung kund. Alle bis auf Smilla. Erwartungsvoll sahen ihre Gefährten sie an. War da wieder Misstrauen in ihren Mienen, oder bildete Smilla es sich nur ein? Sie räusperte sich, sah jedem einzeln in die Augen. Obgleich sie sich vor der Reaktion der anderen fürchtete, musste sie die nächsten Worte aussprechen. Denn die Angst davor, dass die Wilde Jagd nun, da Smilla nicht mehr das Sagen hatte, einen anderen Kurs einschlagen würde, wog schwerer.

»Ich bitte euch nur um eine einzige Sache.« Nun zitterte ihre Stimme doch. »Gebt den Kampf gegen die Walküren nicht auf. Meine Gründe dafür mögen egoistisch sein, aber das Land braucht uns trotzdem.«

Neben ihr stieß Andórr scharf die Luft aus. Frigga ließ den Kopf hängen. Jofur löste seine Hand von ihrem Arm. Nur Óinn zeigte keine Regung.

»Meinst du nicht, dass wir es langsam gut sein lassen sollten?«, fragte Andórr. Sein ungeduldiger Tonfall verriet Smilla, dass die anderen dieses Thema ebenfalls bereits unter sich besprochen hatten. »Sie bewegen sich in unzähligen Schwärmen. Ihr Hauptversteck haben wir bis heute nicht gefunden. Sie sind uns zahlenmäßig haushoch überlegen. In der Luft sind sie so gut wie unerreichbar, und wir sind seit Wochen keinen Schritt weitergekommen. Sieh es ein, Smilla, es ist ein aussichtsloses Unterfangen.«

»Wir sind es müde, Phantomen hinterherzujagen«, fügte Jofur hinzu.

»Aber es sind keine Phantome«, gab Smilla mühsam beherrscht zurück. »Die Walküren sind sehr real, das wisst ihr so gut wie ich. In diesem Moment schläft der Schwarm, den wir zuletzt verfolgt haben, nur einen Rabenflug von unserem Lager entfernt.«

Die anderen wechselten alarmierte Blicke.

»Dann sollten wir schleunigst von hier verschwinden«, knurrte Andórr. Er warf einen unheilschwangeren Blick zum Himmel, als könnten sich jeden Moment tödliche Krallen auf ihn herabsenken. »Der Schwarm ist zu groß, als dass wir es ohne einen gut durchdachten Plan mit ihm aufnehmen könnten.«

Smilla runzelte die Stirn. Seit wann ging Andórr einem Kampf aus dem Weg? Die Erkenntnis traf sie unvorbereitet, sodass sie beinahe laut nach Luft geschnappt hätte. Das war also der wahre Grund, warum die anderen sie nicht länger als Anführerin wollten. Sie hatten die Jagd satt.

Es schmerzte Smilla, dass sie sich offenbar hinter ihrem Rücken darüber unterhalten hatten, doch sie würde nicht kampflos aufgeben. »Die Walküren haben einen der Unseren auf dem Gewissen«, erinnerte sie die Truppe. »Das kann euch doch nicht plötzlich egal geworden sein.«

»Ist es auch nicht«, meldete sich Frigga zu Wort. »Aber wir haben es versucht, Smilla. Wir haben es wirklich versucht. Irgendwann müssen wir einsehen, dass dieser Rachefeldzug zu nichts führt.«

Andórr und Jofur nickten zustimmend. Ihre Mienen waren hart und verschlossen. Unnachgiebig.

So schnell wollte sich Smilla jedoch nicht geschlagen geben. Was dieses Thema anging, konnte sie sich nicht fügen, sonst würde sie über kurz oder lang den Verstand verlieren. »Wenn wir die Walküren nicht besiegen, wird Middangard untergehen«, sagte sie mit eisiger Stimme. »Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Das wisst ihr so gut wie ich.«

Frigga wich ihrem Blick aus, Jofur senkte den Kopf. Ihnen war ganz offensichtlich bewusst, dass Smilla recht hatte. Vielleicht war noch nicht alles verloren.

»Langsam müssen wir an unser eigenes Überleben denken«, entgegnete Andórr. »Wir sind Söldner, keine Helden. Seit Monaten haben wir keinen einzigen Rabensilbertaler verdient. Wovon sollen wir langfristig leben?«

Smilla lachte freudlos auf. »Und was willst du mit Rabensilber, wenn keine Gasthäuser mehr da sind, um es auszugeben? Wenn es kein Essen mehr gibt, weil die Felder nicht mehr bestellt werden? Wenn die Bauern, Fischer und Händler alle tot sind? Willst du mit den Walküren Handel treiben? Denn über kurz oder lang werden sie die einzigen Geschöpfe sein, die in Middangard noch übrig sind.«

Andórr schlug die Hände vors Gesicht und rieb sich über die Augen. »Aber du musst doch einsehen, dass diese kopflose Jagd unser Untergang sein wird«, grummelte er in seine Handflächen, bevor er wieder aufsah. »Selbst wenn wir noch vollzählig wären, hätten wir nicht genug Männer und Frauen, geschweige denn Waffen, um uns gegen eine solche Übermacht zur Wehr zu setzen. Alle Söldnertrupps, die wir gebeten haben, sich uns im Kampf gegen die Walküren anzuschließen, haben uns ins Gesicht gelacht. Wir stehen allein auf weiter Flur.«

»Du hast recht damit, dass wir bisher keinen wirkungsvollen Plan verfolgt haben«, gab Smilla zu. »Das ist meine Schuld. Aber wenn wir uns die Zeit nehmen, um einen auszuarbeiten –«

»Kein Plan der Welt wird die zahlenmäßige Überlegenheit der Walküren wettmachen.«

»Aber mithilfe meiner Magie –«

»Selbst mit Magie können wir nicht Tausende besiegen. Die Einzigen, die das könnten, sind die Götter.«

»Und was, wenn wir die Götter um Hilfe bitten?«, meldete sich Óinn zu Wort, der bisher still geblieben war.

Überraschtes Schweigen setzte ein, bis Andórr hart auflachte. »Mit Gebeten werden wir nicht weit kommen.«

»Ich spreche nicht von Gebeten.«

»Von was sonst?«

»Die Leuchtenden haben dieser Welt den Rücken gekehrt«, fuhr Frigga verächtlich dazwischen, bevor Óinn antworten konnte. »Sie haben ihre Schöpfung im Stich gelassen. Es ist ihnen egal, was mit uns geschieht.«

»Das ist eine Theorie. Ich glaube an eine andere.«

Ein Funkeln war in Óinns Augen getreten. Ein Funkeln, das Smilla Mut machte.

»Nicht schon wieder diese alte Leier«, brummte Andórr.

Óinn beachtete ihn nicht. »Wir müssen den Göttern die Chance geben, sich uns im Kampf anzuschließen. Wir müssen sie befreien.«

»Befreien?«, wiederholte Frigga so resigniert, als wäre ihr bewusst, dass Óinn es sowieso erklären würde, ob sie nachfragte oder nicht.

»Denk doch mal nach. Warum sollte der Einäugige tatenlos dabei zusehen, wie die Walküren seine eigene Schöpfung ausrotten? Die Leuchtenden sind bisher nur aus einem einzigen Grund nicht eingeschritten: Weil sie nicht können. Die Walküren haben sich gegen sie aufgelehnt. Irgendwie ist es ihnen gelungen, die Götter in ihren Hallen einzuschließen. Das ist die einzige logische Erklärung.« Er warf einen triumphierenden Blick in die Runde. »Aber wenn wir sie befreien …«

»Gewinnen wir sie als Verbündete im Kampf gegen die Walküren«, beendete Smilla seinen Satz. Hoffnung wallte in ihr auf. Aus Óinns Mund klang das alles so logisch. So vielversprechend. Sie musste daran glauben.

»Die Sache hat nur einen Haken.« Andórr feixte. »Wie willst du in die Hallen der Götter gelangen? Allein die Toten genießen dieses Privileg. Und zwar nur die, die zu Lebzeiten Gutes getan haben. Für Söldner wie uns gibt es ein hübsches warmes Plätzchen an Helheims Feuern.« Er tätschelte den Dolch an seinem Gürtel.

»Und außerdem«, warf Frigga ein, »wenn die Götter eingeschlossen sind und nicht rauskönnen, was lässt dich davon ausgehen, dass wir zu ihnen reinkommen?«

»Es gibt einen Weg«, sagte Óinn. »Ich denke schon länger darüber nach. Bevor ich zur Wilden Jagd stieß, habe ich auf meinen Reisen mehrere Barden getroffen, die behaupteten, früher sei es Menschen gelungen, zu den Göttern und wieder zurück nach Middangard zu reisen. In den Geschichten herrscht allerdings keine Einigkeit darüber, wie sie das angestellt haben.«

»Was für ein Haufen Koboldscheiße«, brauste Andórr auf. »Und was haben die angeblich in den Hallen der Götter getrieben? Ein Kämpfchen mit dem Krieger ausgefochten? Einen Krug Wein mit dem Narren getrunken? Der Großen Mutter unter den Rock gelunzt? Oder gar dem Allvater höchstpersönlich den Bart geflochten?«

Niemand lachte.

Jofur legte ihm eine beschwichtigende Hand aufs Knie, doch Andórr schüttelte sie ab und sprang auf, um vor dem Feuer auf und ab zu laufen. »Kann mich mal jemand kneifen? Ich kann nicht glauben, dass wir dieses Gespräch wirklich führen.«

»Du brauchst gar nicht zu sprechen«, entgegnete Óinn sanft. Die eingeflochtenen Federn, Scherben und Perlen klirrten leise, als er sich das lange rote Haar hinters Ohr schob. »Hör einfach zu. Ich werde euch eine Geschichte erzählen, die ich in diesem Zusammenhang oft gehört habe.«

»Das kann nicht dein Ernst sein«, brauste nun auch Frigga auf. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass sich die Lösung für unser Problem in einer Legende finden lässt.«

»In jeder Legende steckt ein Funken Wahrheit.« Mit eifrig glänzenden Augen wandte sich Óinn an Smilla, die längst gebannt an seinen Lippen hing. »Kennst du die Erzählungen über die Erste Hexe?«

Überrascht runzelte Smilla die Stirn, nickte dann aber. »Natürlich. Sie ist die Mächtigste von uns, die Vorfahrin aller Hexen. Selbst die Leuchtenden fürchten ihre Kräfte.«

»Aber nicht schon immer.« Óinn schüttelte den Kopf. »Einst war der Allvater so fasziniert von ihr, dass er sie einlud, sich den Göttern in ihren Hallen anzuschließen. Natürlich nicht ohne Hintergedanken. Er wollte all ihre Geheimnisse erforschen, damit die Erste Hexe ihre Kräfte nicht eines Tages gegen die Götter einsetzen würde.«

Ergeben verdrehte Andórr die Augen und ließ sich wieder neben Jofur plumpsen. »Wir stecken schon mitten in der Geschichte, nicht wahr?«

Jofur unterdrückte ein Grinsen. »Hör einfach zu.«

Óinn ignorierte sie beide. Eindringlich sah er Smilla an, die versuchte, alles abzurufen, was sie je über die Erste Hexe gelernt hatte. Noch sah sie nicht, worauf Óinn hinauswollte, doch sie vertraute ihm voll und ganz.

»Leider ist ihr Name in den Überlieferungen verloren gegangen, also ist sie lediglich als die Erste Hexe bekannt – weil sie die Erste war, die die Große Mutter aus Rauch und Asche erschuf. Sie kam nach Middangard, als die Welt jung war und noch keine Menschen auf ihr wandelten. Es gab nur Tiere und Kreaturen, denen die Erste Hexe mit ihren Gaben half, wo sie konnte. Sie war als gütig und weise bekannt. Aufgrund der Wunder, die sie wirkte, wurde der Einäugige eines Tages auf sie aufmerksam.«

Óinn verstellte seine Stimme, um den Bariton des Allvaters zu imitieren. »›Wer ist diese Frau, die du vor mir geheim zu halten versuchst‹, wandte er sich an seine Frau, die Große Mutter. ›Ich werde sie einladen, um bei uns zu leben. Sicher können selbst wir Götter noch viel von ihr lernen.‹ In Wahrheit strebte er jedoch danach, die Kräfte der Ersten Hexe für seine eigenen Zwecke zu nutzen, denn kein Geschöpf der Welt durfte mächtiger sein als er. Dass seine Frau es gewagt hatte, heimlich ein Wesen zu erschaffen, das seine eigene Schöpfung in den Schatten stellte, machte ihn rasend. So wurde die Erste Hexe mit allen Ehren bei den Göttern aufgenommen. Nachdem der Allvater ihre Kräfte eingehend erforscht hatte, erschuf er die Menschen nach ihrem Ebenbild, doch es gelang ihm nicht, sie mit ebensolcher Macht auszustatten, wie seine Frau es bei der Ersten Hexe geschafft hatte.«

»Moment mal, das ist aber nicht die Schöpfungsgeschichte, wie ich sie kenne«, warf Frigga ein.

Óinn bedachte sie mit einem missbilligenden Blick. »Erzähle ich hier die Geschichte oder du?«

Frigga hob beide Hände. »Ich meine ja nur, dass allgemein bekannt ist, dass der Allvater uns Menschen nach seinem Ebenbild erschuf.«

»Dass ich nicht lache.« Óinn schnaubte. »Wie arrogant kann ein ganzes Volk sein?«

Smilla musste sich ein Grinsen verkneifen. Sogleich hob sie erstaunt eine Hand an ihre Mundwinkel, die sich kaum merklich verzogen hatten. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal gelächelt hatte. Natürlich war sie mit Óinns Version der Geschichte aufgewachsen und fragte sich nun einmal mehr, warum Óinn so viel über Hexen wusste. Vielleicht war die Zeit gekommen, ihn danach zu fragen. In den letzten Monaten war sie viel zu sehr in ihrem eigenen Kummer versunken, um sich Gedanken um solcherlei Dinge zu machen.

»Der Einäugige wollte es seiner Frau gleichtun und hat dabei kläglich versagt«, fuhr Óinn fort. »Lasst ihr mich jetzt ohne Unterbrechung weitererzählen oder werdet ihr mir auch nicht glauben, dass sich die Erste Hexe unter den Göttern nicht wohlgefühlt hat?«

»Nicht wohlgefühlt?«, wiederholte Andórr. »Was gibt es an so einem Leben schon auszusetzen? Der Met fließt in Strömen, und die gefallenen Helden fechten zur Unterhaltung eine große Schlacht nach der anderen aus, ohne je müde zu werden.«

»Du vergisst, dass es zu diesem Zeitpunkt noch kaum Menschen und deshalb auch noch keine gefallenen Helden gab«, korrigierte Óinn ihn.

»Und auch keine Walküren, nicht wahr?«, fragte Smilla.

»Genau.« Óinn nickte mit Grabesmiene. »Denn die Walküren erschuf der Allvater erst, nachdem er durch eine unbedachte Tat den ersten Krieg auslöste.«

»Den göttlichen Krieg«, ergänzte Smilla.

»Jaja, wir kennen die Geschichte.« Andórr winkte ab. »Der Einäugige warf bei einer Meinungsverschiedenheit mit einem anderen Gott den ersten Speer und erfand so den Krieg.«

»So oder so ähnlich.« Óinn sah aus, als würde er nun gern diese Geschichte erzählen, fing sich aber wieder. »Wo waren wir stehen geblieben? Die Erste Hexe lebte also unter den Leuchtenden und genoss alle Vorteile, die damit einhergingen, doch sie fühlte sich nicht wohl. Ständig stand sie unter Beobachtung, und es war nur zu offensichtlich, dass sie anders als die Götter war. Es gab niemanden wie sie. Noch nicht.«

Óinn machte eine Kunstpause und befeuchtete sich die Lippen. »Als die Erste Hexe schließlich eine Liebschaft mit dem Narren einging und schwanger von ihm wurde, fühlte sich der Allvater noch mehr bedroht. Wer konnte schon ahnen, welche Macht die Kinder eines Gottes und einer Hexe haben würden? Also verbannte er die Erste aus den Hallen der Götter und verbot ihr, mit den Leuchtenden zu interagieren. Seitdem fristete sie ein einsames Dasein in Middangard. Die Große Mutter schuf daraufhin das Volk der Hexen aus Asche und Rauch, um ihrer Tochter Gesellschaft zu leisten. Doch selbst diese weisen Frauen, so mächtig sie auch sind, können ihre Kräfte nicht mit denen der Ersten Hexe messen. So ist sie bis in alle Ewigkeit dazu verdammt, anders zu sein, nirgends dazuzugehören – und es ist sicher kein leichtes Schicksal, vom Allvater höchstpersönlich im Auge behalten zu werden.«

»Was wurde aus ihrem Kind mit dem Narren?«, fragte Frigga.

»Das ist nicht überliefert.« Traurig schüttelte Óinn den Kopf. »Ich nehme an, dass es ihr nicht erlaubt war, es zu behalten. Der Einäugige hätte es nicht zugelassen.«

»Das ist eine furchtbare Geschichte«, merkte Jofur an.

Frigga nickte. Als sie Óinn zustimmend murmeln hörte, blickte sie ihn entgeistert an. »Und warum hast du sie uns dann erzählt?«

»Liegt das nicht auf der Hand?« Er seufzte. »Wenn jemand weiß, wie wir zu den Göttern gelangen können, dann ist es die Erste Hexe. Schließlich hat sie einst bei ihnen gelebt.«

»Und sie ist unvorstellbar mächtig«, fügte Smilla hinzu.

»Aber wie sollen wir sie finden?« Frigga blieb hartnäckig. »Es ist bloß eine Legende. Wer weiß schon, ob diese Frau überhaupt wirklich existiert.«

»Nur die Hexen wissen, wo sie sich aufhält, seit sie von den Göttern verstoßen wurde. Und vermutlich der Allvater, der sein argwöhnisches Auge sicher nie von ihr gelassen hat.« Óinn wandte sich Smilla zu. »Was weißt du darüber?«

Während er die Geschichte erzählt hatte, hatte sich etwas in Smillas Hinterkopf geregt. Das Echo einer Erinnerung, so schwach, dass sie sich darauf konzentrieren musste, damit es ihr nicht entschlüpfte.

»Am Ende der Welt«, flüsterte sie, schloss die Lider und horchte in sich hinein. »Am äußersten Rand.« Eine Melodie stieg aus den Tiefen ihres Gedächtnisses empor. Erstaunt riss sie die Augen auf. »Es gibt ein Lied«, fuhr sie lauter fort. »Meine Mutter hat es mir manchmal zum Einschlafen vorgesungen. In einer Strophe heißt es …« Sie sprach die Worte, statt sie zu singen, weil sie wusste, dass die Tränen, die sie verbissen zurückhielt, dann doch fließen würden.

 

»Am Ende der Welt, am äußersten Rand,

haust sie im schwarzen Niemandsland.

Bewacht von Feuer speiendem Getier,

umstanden von der Gipfel vier.

Ein einsames Dasein fristet sie,

bis in alle Ewigkeit ohne Magie.«

 

»Ohne Magie?« Óinn kratzte sich nachdenklich an der sommersprossigen Schläfe. »Das könnte ein Problem darstellen.«

Smilla ignorierte den Stich, den ihr seine Worte versetzten, als sie dadurch an ihr eigenes Versagen erinnert wurde.

»Und wo soll dieser Ort sein?«, fragte Frigga skeptisch. »Ein karges Niemandsland am äußersten Rand der Welt? Mit Feuer speienden Geschöpfen und vier Gipfeln? Klingt nach einem Hirngespinst.«

»Das Tal des Feuers«, raunte Andórr. Alle drehten sich mit großen Augen zu ihm um.

»Was hast du gesagt?«, entfuhr es Frigga.

»Ich kann es selbst nicht glauben …« Andórr rieb sich mit einer Hand über das Gesicht. »Aber ich weiß, wo die Erste Hexe lebt.«

Kapitel 3

Ein Tumult brach los.

»Was hast du gesagt?«, wiederholte Óinn Friggas Worte mit einem spitzbübischen Grinsen, während Smillas Aufregung ins Unermessliche wuchs.

Jofur hatte sich Andórr zugewandt und gebärdete so schnell, dass Smilla nicht folgen konnte. Selbst wenn doch, hätte sie sich nicht darauf konzentrieren können, da sie Andórr so gebannt anstarrte.

Frigga war derweil erzürnt aufgesprungen. »Jetzt fang du nicht auch noch damit an, Andórr!«

Der Hüne hob die Schultern. »Ich meine ja nur … Das Lied ist ein Rätsel, und … ich kenne die Lösung.«

»Er mag Rätsel«, erklärte Jofur lächelnd.

Liebevoll legte Andórr ihm eine Hand an die Wange. »Das tue ich.« Die beiden sahen sich einen Moment in die Augen, dann wandte Andórr sich wieder an die Truppe. »Und deshalb habe ich einem guten Rätsel noch nie widerstehen können.«

»Das heißt aber nicht, dass du daran glaubst, dass es diesen Ort wirklich gibt.« Frigga klang geradezu verzweifelt. »Oder?«

»Doch«, entgegnete Andórr. »Das Tal des Feuers existiert. Auf einer Landzunge im äußersten Süden. Ich war vor vielen Jahren dort. Gruseliger Ort.« Er schüttelte sich.

Ungläubig blinzelte Frigga ihn an.

»Meine Eltern waren Kartografen«, erklärte Andórr. »Wir sind durch ganz Middangard gereist, in jeden entlegenen Winkel. Darunter auch das Tal des Feuers. Na ja, so weit wir eben kamen.«

Nun verengte Frigga die Augen zu Schlitzen. Smilla glaubte, sie würde jeden Moment ihre Peitsche zücken, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Andórr grinste nur. »Besorg mir eine Karte, und ich zeige es dir.«

»Na schön, dieses Feuertal existiert wirklich.« Ergeben warf Frigga ihren Arm in die Luft. »Aber das heißt noch lange nicht, dass wir –«

»Ich werde dorthin gehen«, fiel Smilla ihr ins Wort. Endlich hatte sie wieder ein Ziel, etwas, worauf sie ihr ganzes Streben richten konnte. Entschlossen erhob sie sich. Sie hatten bereits genug Zeit verloren. »Egal, ob ihr euch mir anschließt oder nicht.«

Frigga stöhnte auf.

»Es mag aussichtslos erscheinen, aber ich …« Smilla biss sich auf die Lippe. »Ich bin es mir schuldig. Ihr könnt selbst entscheiden, ob ihr mitkommen wollt.«

»Ich begleite dich«, antwortete Óinn, ohne zu zögern. »Womöglich ist dies der einzige Weg, Middangard vor einem grausigen Schicksal zu bewahren. Wir sollten es wenigstens versuchen.«

»Aber es ist doch nur eine Legende!«, brüllte Frigga nun völlig außer sich. Hilfe suchend sah sie Andórr an.

Er zuckte nur mit den Schultern, suchte Jofurs Blick. Dieser hob lächelnd die Hände. »Eine letzte unbezahlte Queste?«

Andórr seufzte schwer und nickte. Mit wachsamem Gesichtsausdruck wandte er sich an Smilla. »Versprichst du, dass es das letzte Mal ist? Wenn wir ins Tal des Feuers reiten und dort nichts finden, lässt du es gut sein? Gibst die Walkürenjagd endgültig auf, und wir suchen uns einen neuen bezahlten Auftrag?«

Zögernd sah Smilla ihm in die tiefbraunen Augen, doch dann nickte sie. »Wenn wir die Erste Hexe dort nicht antreffen, wenn es uns nicht gelingt, zu den Göttern zu reisen und einen Weg zu finden, wie wir die Walküren aufhalten können, dann werde ich meine Fehde ein für alle Mal beilegen.«

Andórr wirkte skeptisch, nickte aber. »Dann bin ich dabei.«

»Ich auch«, verkündete Jofur.

Aller Augen richteten sich auf Frigga. Sie hatte die Finger in ihrem Haar vergraben, sodass der geflochtene Kranz vollkommen auseinanderfiel. Lange blonde Strähnen hingen ihr ins Gesicht. So sah sie viel jünger aus, viel verletzlicher.

Smilla ging ums Feuer herum, bis sie dicht vor ihr stand. »Bitte«, flüsterte sie. »Von allen brauche ich dich am meisten.«

Frigga löste die Finger aus ihren Haaren und spähte zwischen den wirren Strähnen hindurch. »Das ist nicht … du kannst nicht …«

Smilla wusste, dass es nicht gerecht war, diese Karte auszuspielen. Gleichzeitig war es die Wahrheit. Sie konnte sich ein Leben ohne Frigga tatsächlich nicht mehr vorstellen. Das galt für die gesamte Wilde Jagd. Diese raubeinigen Söldner, die ihr im letzten Jahr so sehr an ihr frostiges Herz gewachsen waren. Ja, sie würde allein losziehen, wenn es sein musste, doch sie würde es nicht gern tun. Denn sie würde ihre neue Familie schrecklich vermissen. Allen voran Frigga, die nun etwas Unverständliches grunzte. Ergeben seufzend sackte sie kurz darauf in sich zusammen.

»Na schön, ich komme mit. Ist ja nicht so, als hätte ich etwas Wichtigeres zu tun.«

»Gut. Wir würden dich nämlich niemals zurücklassen.« Andórr schlug sich auf die Schenkel. »Ich hätte dich eigenhändig auf dein Pferd gebunden, hättest du es so weit kommen lassen.«

»Und es ist ja nicht so, als gäbe es etwas Wichtigeres, als die Welt vor dem drohenden Untergang zu bewahren«, fügte Óinn hinzu, der so aussah, als würde er sein triumphierendes Lächeln nie wieder ablegen.

»Du solltest dich in Acht nehmen, Barde.« Frigga deutete auf ihn. »Ich werde nicht vergessen, dass es deine absurden Geschichten waren, die uns in dieses Schlamassel geritten haben.« Mit drohender Miene drehte sie den Kopf, um die gesamte Truppe zu taxieren. »Euch alle werde ich es nie vergessen lassen, wenn wir in diesem Feuertal nichts als Staub vorfinden.«

Óinn lachte vergnügt. »Ach, hab ein bisschen Vertrauen, Frigga.«

Als Frigga daraufhin erneut aussah, als würde sie sich jeden Moment auf ihn stürzen, legte Smilla ihr eine Hand auf den Arm. Sie mobilisierte ihre verbliebenen Kräfte, um Frigga ein Lächeln zu schenken. Es fühlte sich fremd an. »Danke«, murmelte sie. »Das wird schon werden. Solange wir alle zusammen sind.«

Frigga nickte knapp. »Solange wir alle zusammen sind«, wiederholte sie. Nach einem letzten drohenden Blick in Óinns und Andórrs Richtung stapfte sie davon.

Während sich die anderen wieder ihrem Frühstück widmeten, fühlte sich Smillas Herz ein winziges bisschen leichter an. Nicht mehr ganz so sehr wie ein frostiger Klumpen, der Kälte in ihre Glieder ausstrahlte.

Ein verheißungsvolles Knistern lag in der Luft. Dieses Gefühl, das gewöhnlich etwas Bedeutsamem vorausging. Die Wilde Jagd hatte wieder ein Ziel. Obwohl die Aussicht auf Erfolg denkbar schlecht war, schienen alle froh, die Walkürenjagd erst einmal einzustellen. Auch Smilla musste zugeben, dass sie die ständigen Enttäuschungen in den letzten Monaten zermürbt hatten. Sie alle brauchten endlich mal wieder einen Sieg. Smilla konnte nur hoffen, dass sie im Tal des Feuers auf etwas stoßen würden, das sie einen Schritt weiterbrachte. Wenn nicht, würde sich die Wilde Jagd endgültig vom Pfad der Rache abwenden, und ob sie das verkraften würde, wusste sie nicht.

Kapitel 4

Ein Stöhnen entschlüpfte seinen spröden Lippen. Zu mehr war er nicht imstande. Über ihm raschelte Laub. Er spürte Wind auf der Haut wie eine sanfte Liebkosung. Abgesehen davon war da nichts als der Schmerz, der ihn in regelmäßigen Wellen so heiß durchzuckte, dass er jedes Mal glaubte, es wäre nun endlich vorbei. Doch das war es nie.

Er heilte. Sein Körper, der Verräter, kämpfte gegen die schleichende Zerstörung an. Es war ihm nicht vergönnt zu sterben. Noch nie hatte er den Tod so flehentlich herbeigesehnt wie jetzt, und noch nie war er ihm ferner gewesen.

Etwas tropfte auf seine Stirn. Es zischte. Gleißend hell blitzte der Schmerz hinter seinen geschlossenen Lidern auf. Das, was ein Schrei hätte sein sollen, entwich ihm als schwaches Röcheln. Der Gestank von verätzter Haut drang ihm in die Nase, ließ ihn würgen.

Etwas lief zwischen seinen Augen entlang, über seine Nase und Wange, tropfte von seinem Kinn. Es hinterließ eine glühend heiße Spur, die sich tief in ihn hineinfraß. Unerbittlich. Unerträglich.

Von allen Seiten kroch Schwärze auf ihn zu. Kühle, glückselige Dunkelheit. Er hieß sie willkommen, stürzte sich hinein, in dem Wissen, dass er lediglich diesen flüchtigen Moment der Erleichterung bekommen würde, bevor alles wieder von vorne begann.

Kapitel 5

In Rekordzeit hatte Smilla ihr Zelt abgebaut. Sie konnte es ebenso wenig erwarten wie die anderen, die Enge der Schlucht endlich hinter sich zu lassen. Nun, da sie die Wilde Jagd nicht mehr offiziell anführte, waren ihre Schritte beschwingter. Unter das vorfreudige Kribbeln in ihrem Magen mischte sich jedoch auch ein unbehagliches Ziehen, während sie Tófa, ihre Fuchsstute, sattelte. Fast fühlte es sich an, als würde ihre gesamte Zukunft von dem Gelingen ihres neuen Vorhabens abhängen. Je verbissener Smilla versuchte, diesen beängstigenden Gedanken von sich zu schieben, desto fester verhakte er sich in ihr. Tófa schien ihre Unruhe zu spüren, denn sie schnaubte leise und rieb den Kopf an Smillas Schulter.

»Na, meine Schöne.« Tief vergrub Smilla die Finger in ihrer Mähne und atmete den Pferdegeruch ein. Sie schmiegte sich an Tófa, schlang beide Arme um den Hals der Stute und schloss für einen Moment die Augen. Das ferne Gemurmel und Geklapper der anderen, die das Lager abbauten, versuchte sie auszublenden. Ihre Welt wurde kleiner und kleiner, bis da nur noch die leisen Atemzüge und der warme Körper des Tiers waren. Es vermittelte Smilla ein verloren geglaubtes Gefühl von Geborgenheit. Sie drückte ihr Gesicht in das weiche Fell und versuchte, die in ihr aufsteigenden Tränen zurückzudrängen.

Da näherten sich Schritte, und sie fuhr auf. Hektisch wischte sie sich über die feuchten Wimpern. Ein erleichtertes Seufzen entwich ihr, als sie erkannte, dass es Óinn war. Auch wenn sie sich in den letzten Monaten stetig mehr in sich selbst zurückgezogen hatte, hatte sie zu ihm noch immer eine besondere Verbindung.

Er hatte seine gepackte Satteltasche im Schlepptau, die er neben ihr am Boden abstellte. »Alles in Ordnung?« Wie selbstverständlich begann er, Tófas Mähne zu flechten.

»Ja.« Smilla nickte eilig.

Óinns gerunzelte Stirn verriet ihr, dass er ihr die Antwort nicht abnahm. »Das Gespräch vorhin kann nicht leicht für dich gewesen sein, aber dir ist doch klar, dass wir nur dein Bestes im Sinn haben, oder?«

»Natürlich.« Da sie nicht wusste, wohin mit ihren Händen, schickte Smilla sich an, Óinn beim Flechten zu helfen. »Mach dir um mich keine Sorgen.«

»Ich weiß, dass du einiges aushältst, Smilla. Das hast du in den letzten Monaten bewiesen. Aber du musst da nicht allein durch.«

Wenn du nur wüsstest, dachte sie. Wenn du nur wüsstest, wie allein ich tatsächlich bin mit dem Gewicht, das ich Tag für Tag mit mir herumschleppe.

Stattdessen sagte sie: »Warum hast du so lange gewartet, uns von deinem Plan zur Befreiung der Götter zu erzählen?«

Sie spürte seinen Seitenblick, tat aber so, als wäre sie vertieft in ihre Arbeit.

Nach kurzem Schweigen schien Óinn ihren abrupten Themenwechsel zu akzeptieren. »Mir war klar, dass mich niemand ernst nehmen würde. Aber als du die anderen vorhin angefleht hast, den Kampf gegen die Walküren nicht aufzugeben, musste ich dir zu Hilfe eilen. Es war die Gelegenheit, auf die ich gewartet habe. Die Götter haben sie geschickt, dessen bin ich mir sicher.« Seine Hand schoss zu dem Trollkreuz, das an der Kette um seinen Hals baumelte – ein Bogen, dessen untere Enden sich überkreuzten und sich nach innen hin zu je einem Kreis eindrehten. Kurz richtete er den Blick gen Himmel und bewegte lautlos die Lippen. Ein Dankesgebet an die Leuchtenden.

»Also glaubst du, dass die Götter ihre Macht weiterhin in unserer Welt wirken können, obwohl sie in ihrer eingesperrt sind?«

Óinn nickte. »Bis zu einem gewissen Grad, ja. Ich zumindest habe nie aufgehört, um ihre Führung zu bitten.«

»Ich auch nicht.« Endlich hob Smilla den Blick und begegnete seinem.

Er lächelte. Seine warmen Finger streiften ihre, als er zum nächsten Zopf überging. »Uns ist beiden klar, dass die Erste Hexe nicht nur eine Legende ist«, fuhr er fort. »Die anderen werden es schon noch herausfinden.«

Smilla fragte sich einmal mehr, woher er diese enge Verbindung zum Übernatürlichen hatte. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, sprach sie die Frage laut aus. »Warum weißt du so viel über Hexen und Magie?«

Obwohl Óinns sommersprossiges Gesicht nichts preisgab, verriet er seine Überraschung, als er die Stränge beim nächsten Zopf vertauschte und neu anfangen musste. Er senkte die Stimme und warf einen Blick über die Schulter, als wollte er sich vergewissern, dass niemand in Hörweite war. »Ich wurde von Hexen aufgezogen.«

Smillas Augen weiteten sich. »Bist du etwa …?« Nein, das konnte nicht sein. Würde Hexenblut durch seine Adern fließen, hätte sie es längst gespürt.

Er schüttelte den Kopf, löste die Finger von Tófas Mähne und deutete auf sein fuchsrotes Haar, das keinerlei weiße Strähnen aufwies. »Nicht einmal zur Hälfte.« Täuschte Smilla sich, oder schwang Bedauern in seinem Tonfall mit? »Mein Blut ist durch und durch menschlich, aber hier drin«, er tippte sich auf die Brust, direkt über der Stelle, wo sich sein Herz befand, »da sieht es anders aus.«

»Ich habe immer geahnt, dass mehr in dir steckt, als mit bloßem Auge zu erkennen ist.« Smilla wunderte sich über den Klang ihrer Stimme. So rau. So ergriffen.

»Und ich wusste seit unserer ersten Begegnung, dass du nicht die bist, die du zu sein vorgabst.« Óinn grinste sie an. »Aber ich habe dein Geheimnis bewahrt, bis du bereit warst, dich uns allen zu offenbaren.«

Ein klein wenig Wärme sickerte in Smillas Brust, dort, wo seit der Schlacht unter den weißen Bäumen ein doppeltes Herz schlug, das jedoch von einer dicken Eisschicht umschlossen war. »Wie kam es, dass du von Hexen großgezogen wurdest?«

»Als Neugeborenes wurde ich in einem Weidenkorb unter einem Holunderbaum zurückgelassen«, erklärte Óinn. »Meine leiblichen Eltern müssen geglaubt haben, ich wäre ein Wechselbalg. Als mich meine beiden Mütter fanden, war ich schon beinahe erfroren. Sie retteten mir das Leben, nahmen mich bei sich auf und …« Er schluckte, als sich ein feuchter Schimmer über seine grünen Augen legte. »… brachten mir alles bei, was sie wussten. Bis die Schwarzpocken sie dahingerafft haben und nicht einmal ihre Magie sie retten konnte, geschweige denn ich mit meinen schwachen menschlichen Heilmethoden.« Er zuckte mit den Schultern. »Ihr Wissen war größtenteils an mich verschwendet.«

Smilla ließ von Tófas Mähne ab, um sich ihm zuzuwenden. »Unsinn. Deine Heilkünste haben uns allen bereits mehr als einmal das Leben gerettet. Und ich kenne niemanden, der so viel über Legenden und magische Geschöpfe weiß wie du. Nicht einmal die Vorsteherin meines Zirkels hätte …« Als sich ihre Kehle zuschnürte. Erinnerungen fluteten ihren Geist. An langes weißes Haar, knotige Finger voller Altersflecken und eine sanfte Stimme, die sie in den Schlaf sang, wenn ihre Mutter anderen Pflichten hatte nachgehen müssen. Der Drang, Óinn von den Frauen zu erzählen, die sie großgezogen hatten, war übermächtig. Doch das würde sie unweigerlich zu dem Tag führen, an dem sie sie verloren hatte. An dem alle Personen, die ihr etwas bedeutet hatten, der Klinge des Hexenschlächters zum Opfer gefallen waren. Sie wusste, dass die Wahrheit über den Mann, der diese Klinge geführt hatte, Óinn das Herz brechen würde. Also wandte sie sich eilig ab und fuhr sich über die feuchten Wimpern.

Als sie sich Óinn wieder zudrehte, war sein Blick weich. »Du hast deine Familie verloren, wie ich meine verloren habe.« Er legte ihr eine Hand auf den Arm. »Aber vergiss nicht, dass du in uns eine neue gefunden hast. Im Gegensatz zu uns Menschen hast du als Hexe eine sehr lange Zeit auf dieser Welt vor dir. Du wirst lernen, mit dem Verlust zu leben, aber du musst das nicht allein tun. Wir trauern ebenfalls und wir sind für dich da.«

Smilla war bewusst, dass sich Óinn nicht mehr nur auf ihre Familie bezog. Es gab eine Person, die sie alle verloren hatten. Einen Mann, der diese Bande raubeiniger Söldnerinnen und Söldner erst zu einer Familie gemacht hatte. Doch sie weigerte sich, seinetwegen auch nur noch eine einzige Träne zu vergießen.

Während Smilla in ihren Gedanken gefangen war, hatte Óinn die Stirn in Falten gezogen. Als sie ihm wieder ins Gesicht sah, wirkte es, als würde er sich innerlich auf ein schwierigeres Gesprächsthema vorbereiten. Gespannt beobachtete sie, wie er um seine nächsten Worte rang.

»Dir ist bewusst, dass du auf dieser Reise früher oder später Magie wirken musst, oder?«, fragte er vorsichtig, während er den letzten Zopf flocht und Smillas Blick mied.

Plötzlich wogen die wenigen Knochen, die Smilla für Notfälle in ihrer Brusttasche trug, so viel wie ein Bergtroll. Auch wenn sie ihr weißes Haar nicht mehr verbarg, seit sie sich der Wilden Jagd als Hexe offenbart hatte, hatte sie seit jener schicksalhaften Schlacht gegen die Walküren keine Zauber mehr gewirkt. Denn wie konnte sie, wenn sie mit ihrer Magie beinahe dem Mann das Leben gerettet hätte, der so viele Hexen auf dem Gewissen hatte? Blind vor Trauer hatte sie ihn im Arm gehalten, ihn ein letztes Mal geküsst und ihn zu heilen versucht, dabei hätte sie es sein müssen, die ihm den Todesstoß versetzte.

Doch wenn sie nachts wach lag und den Moment wieder und wieder durchlebte, während sie an ihren Schuldgefühlen zu ersticken drohte, war da gleichzeitig eine Stimme in ihr, die ihr vorwarf, zu lange gezögert zu haben. Hätte sie ihn nicht retten können, wenn sie diese neue Kraft in ihrer Brust rascher auf den Plan gerufen hätte? Wer war sie schon, über Leben zu Tod zu entscheiden? Die Lehren ihres Volkes besagten, alles Leben in Ehren zu halten. Es zu retten, wann immer es möglich war. Egal um welches Geschöpf es sich handelte, egal, ob Mensch, Hexe oder Kreatur. Alle hatten ein Recht, zu existieren, das hatte ihre Mutter ihr stets eingebläut. Beinahe hätte Smilla aufgekeucht, als der verwirrende Strudel ihrer düsteren Gedanken sie einmal mehr mit sich zu reißen drohte. Sie krallte sich fest in Tófas Mähne und versuchte, gleichmäßig zu atmen.

Natürlich war Óinn nichts von ihrem inneren Zwiespalt entgangen. Er musterte sie aufmerksam, Sorge im Blick. Sorge und noch etwas anderes. Zuversicht? Glaubte er wirklich, dass Smilla nach allem, was geschehen war, irgendwann wieder in der Lage sein würde, Magie zu wirken? Sie hatte keine Antwort für ihn, wusste es ja selbst nicht.

»Du musst dich nicht sofort entscheiden.« Sein Tonfall war noch sanfter geworden. »Laut Andórr werden wir etwa eine Woche unterwegs sein. Aber …« Erneut wanderte seine Hand zu dem Amulett um seinen Hals. »Wenn wir der Ersten Hexe gegenüberstehen, wirst du dich nicht länger verstecken können. Du musst dich als eine der ihren zu erkennen geben. Wir können nicht riskieren, dass sie uns ihre Hilfe verweigert.«

Mit einem freudlosen Schnauben deutete Smilla auf ihre weißen Haare. »Die ganze Welt erkennt mich als Hexe, Óinn.«

»Das mag sein, aber was ist eine Hexe ohne Magie?«

Smilla war bewusst, dass er sie mit seiner Frage aus der Reserve locken wollte, doch die Worte trafen sie trotzdem wie ein Peitschenhieb.