Babygesänge - Kathleen Wermke - E-Book

Babygesänge E-Book

Kathleen Wermke

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Beschreibung

Das Weinen eines Babys löst universal bei allen Menschen die gleichen Emotionen aus. Aber ein Weinen bedeutet nicht immer Hunger, Schmerz oder Einsamkeit. Das Weinen der Babys ist eine geheime Klangwelt. Seit mehr als 40 Jahren untersucht Kathleen Wermke auf fast allen Kontinenten vorsprachliche Babylaute – sie hat einzigartige Melodien, Intervalle und rhythmische Akzentuierungen gefunden. Und obwohl die Babygesänge zwar in gewisser Weise anderen Natursängern wie Walen, Delfinen oder Singvögeln ähneln, ist ihr Singsang der einzige, aus dem sich später Sprache entwickelt. In ihrem ersten Buch belegt die »Babyflüsterin« mit vielen Hörbeispielen eindrucksvoll, wie aus melodischem Singsang Sprache wird und dass zum Beispiel japanische Babys ganz anders klingen als italienische.

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Prof. Dr. Kathleen Wermke

BABY GESÄNGEWIE AUS WEINEN SPRACHE WIRD

MOLDEN

Für meine Familie und alle Babys, die ihre Gesänge mit mir geteilt haben.

Prolog

1 Lucias »Wahnsinnsarie« und Morgengesänge von Gibbons – Wie alles begann

2 Bienentanz und Degupfeifen

3 Babygesang in Notenschrift – Das Edison’sche Klangwunderwerk in der königlichen Frauenklinik

4 Am Anfang ist die Melodie

Nakizumō – Babys und Sumoringer gemeinsam im Dohyo

5 Vorgeburtliches Hören – Der mütterliche Konzertsaal

6 Der Ton macht die Sprache

Portamento in der Melodie

Über Stufen und Treppen in Melodien

Wie kategorisiert man Gesänge?

Wenn der Ton nicht stimmt – Diagnose aus dem Schrei?

Baby Talk – Melodisches Plaudern mit Babys

7 Verschieden und doch gleich

Das angeborene Melodieprogramm – Wie durch Bogenkombinationen komplexe Melodien entstehen

»Thema mit Variation« – Rhythmische Phrasierungen

8 »Rrummpff tillff toooo« und »Lanke trr gll« – Artikulierter Gesang

Melodien mit Klick

Melodie als Baugerüst

Jargon-Brabbeln

Baby Rap

9 Alexa, warum weint das Baby?

Epilog

Danke!

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Über die Autorin

Prolog

»Ein Mädchen!«, rief die Hebamme, als fast zeitgleich der lautstarke, sieben Sekunden lange erste Schrei unserer Tochter im Kreißsaal erklang. Während ich versuchte zu verstehen, ob die unverwechselbare stimmliche Expression wohl Empörung, Schmerzempfinden oder Überraschung signalisierte, balancierte mein Mann mit Mikrofon und Tonband um die Hebamme herum. Eine Assoziation zu Gesang löste die stimmliche Botschaft damals nicht bei mir aus, aber ich empfand die von geräuschigen Elementen und plötzlichen Tonsprüngen geprägte, sirenenartig an- und abschwellende Melodie der lauten ersten Schreie als wohlklingend – diese Klänge waren ein Zeichen von Vitalität eines gesunden Babys!

Die Klänge erzeugten ein Gefühl zwischen Glück und Gänsehaut.

Ich wusste, dass Babys weinen, um ihre Gefühle und Wünsche möglichst erfolgversprechend mitzuteilen. Aber wie konnte ich mir sicher sein, die Botschaft im Weinen und später dann auch im Gurren, Gurgeln, Prusten und Brabbeln richtig zu entschlüsseln? Den Babylauten fehlte das, was gesprochene Sprache auszeichnet: Ihre Töne und Klänge haben noch keine symbolische, abstrakte Bedeutung. Also fängt Sprache mit dem ersten Wort an? Babys äußern erste Wörter oder deren Vorstufen, Protowörter, frühestens mit ca. acht bis zehn Monaten, in der Regel sogar erst mit einem Jahr. Was passiert in der Zeit davor? Ist die wortlose, stimmliche Zauberkraft am Anfang ausreichend, um sich Wünsche erfüllen zu lassen, oder gibt es andere Gründe dafür, dass Babys Monate »warten«, bevor sie das erste Wort sagen? Was genau passiert während dieser Wartezeit, in der Babys sich noch mit einer universalen Vor-Sprache, einer einfachen affektiven Protosprache, äußern?

Gibt es Regeln, mit deren Hilfe es möglich ist, die reichhaltigen stimmlichen Botschaften von Babys in der vorsprachlichen Zeit besser zu verstehen? Wie werden aus den ersten Versuchen der Stimmerzeugung Klänge, die sich im Laufe des ersten Lebensjahres zu Wörtern, zur Sprache entwickeln?

Babys erlernen offenbar mühelos Sprache und oft sogar verschiedene Sprachen gleichzeitig. Selbst nach den vielen Jahren intensiver Erforschung von Babylauten verliert der Weg zur Sprache für mich seine Magie nicht – die Beobachtung, wie aus anfänglichem Quengeln und Weinen, zeitweilig flankiert von Gurgellauten, plötzlich silbenähnliche Laute werden und – gefühlt – nur einen kurzen Moment später bereits erste Silben oder Protowörter zu hören sind. Was passiert da genau und warum?

In der vielstimmig tönenden Welt um uns herum haben die Lautäußerungen von Babys eine ganz eigene Wirkung auf den Hörer. Egal, ob es Weinen, Gurgeln, Prusten, Silbenbrabbeln oder die ersten Wörter sind, alle diese Töne und Klänge sind mit einer emotionalen Zauberkraft behaftet, die ihre Wirkung auf Kinder, Erwachsene und sogar Tiere erklärt. Ob man sofort an Gesang denkt, wenn man Babys lautieren hört, mag strittig sein, unstrittig ist, dass musikalische Aspekte, wie Melodie, Rhythmus, Lautstärke oder Klangfarbe, Babylaute ausmachen. Die Laute der Stimmakrobaten in Windeln ähneln dem melodischen Naturgesang einiger singender Tiere, wie Wale, Gibbons oder Singvögeln. Ich nenne sie daher »Babygesang«, die stimmlautliche Vielfalt im natürlichen Weinen, Gurgeln, Prusten, Quieken, Lautieren mit Stakkato, Glissando, Registerwechsel und Silbenbrabbeln. In meinem Buch beschreibe ich die ungewöhnliche Geschichte der Erforschung dieser Form des Gesangs und möchte Erstaunen erzeugen und Demut weitergeben, über das Wunder der musikalisch-stimmlichen Expressionen und spielerischen »Gesangsübungen« auf dem Weg zur gesprochenen Sprache. Wenn Sie ein weiteres Buch über »Babyweinen« und »Babysprache« erwarten, wird Sie mein unorthodoxes Buch über Babygesang vielleicht überraschen.

Babys sind geborene Gesangstalente; nicht im klassischen Sinne Tenöre oder Soprane, aber ebenso talentiert. Mit ihren winzigen, nur wenige Millimeter messenden Stimmlippen und einem noch relativ unreifen Gehirn, als dem Dirigenten der orchestrierten Stimmgebung, lautieren neugeborene Babys nicht nur in einer faszinierenden melodischen Vielfalt, sondern variieren ihren Gesang zusätzlich bereits mit dem Akzent ihrer Muttersprache. Obwohl Babys wahre Stimmakrobaten sind, mögen sich ihre ersten Lautkompositionen nicht immer nach dem anhören, was man allgemein mit Gesang oder Sprache verbindet. Hört man aber zum Beispiel auf den Akzent, klingt das Weinen neugeborener Babys wohlintoniert. Neugeborene akzentuieren ihr spontanes Weinen manchmal nach der Melodie der mütterlichen Sprache, die sie, noch ungeboren, bereits drei Monate lang im Mutterleib wahrgenommen haben. Es ist ganz erstaunlich, wie Babys, gerade erst auf die Welt gekommen, sofort versuchen, über ihre Stimme die Bindung zur Mutter dadurch aufrechtzuerhalten, dass sie mit dem Akzent der wahrgenommenen Umgebungssprache weinen. Die Bindung zur Mutter über die Stimme (engl. vocal bonding) ist für das Wohlgefühl des Neugeborenen von enormer Bedeutung. Neugeborene wollen nicht »Sprache lernen«, sie wollen dazugehören. Diese Bindung bleibt für immer erhalten und wird, bereits kurz nach der Geburt beginnend, auf andere Personen im engen Betreuungskreis ausgeweitet. Der Akzent vorsprachlicher Laute findet sich nicht nur im anfänglichen Weinen, sondern später auch im Gurren und Brabbeln.

Vielleicht haben Sie bisher gedacht, dass sich Babys in ihrem Weinen und Brabbeln nicht unterscheiden, sofern sie gesund sind. Im Buch werden Sie erfahren, dass diese Ansicht nur die halbe Wahrheit ist. Neben einer großen Universalität finden sich geschickt kolorierte Gesänge, die Spuren der Umgebungssprache enthalten. Dabei ist es völlig egal, wie komplex oder speziell diese ist. Babys übersetzen alles in ihre affektive Ursprache.

Wie machen diese noch unreifen, zauberhaften Wesen das? Sie besitzen keinen Universalübersetzer für eine der mehr als 7.000 verschiedenen Umgebungssprachen, in die sie zufällig hineingeboren werden, wie er der Mannschaft von Captain Picard auf dem Raumschiff Enterprise zur Verfügung steht, um mit anderen Spezies zu kommunizieren.

Babys versuchen, mehr oder weniger verzweifelt, uns zum verstehenden Zuhören zu bewegen, indem sie uns teilhaben lassen, an der spielerischen Freude, die sie selbst beim Lautieren empfinden. Ihre anfänglich einfachen Melodien im Weinen werden immer komplexer und durch Einbau von Rauschen, Kratzen und Prusten auch schön langsam, aber sicher sprachähnlicher.

Aber gibt es eine Decodieranweisung für uns, um die emotionsgeladene Ursprache der Babys zu verstehen?

In Episode 24 der dritten Staffel der Simpsons präsentiert Herb Simpson der Familie seines Halbbruders Homer das erste Mal den Prototyp eines Babylaut-Übersetzers, an dem er stundenlang mithilfe der Laute seiner Nichte, Baby Maggie, getüftelt hat. Während Homer Simpson trotz erfolgreicher Übersetzungsproben des Gebrabbels von Baby Maggie skeptisch reagiert, ist seine Frau Marge der Meinung, dass wohl jede Mutter einen solchen Übersetzer haben wolle. Herb präsentiert seinen Prototyp auf einer Babymesse und wird daraufhin von Bestellungen überschwemmt.

Man kann sich vorstellen, dass ein Decoder für Babylaute in der Realität eine ebenso hohe Verkaufsattraktivität hätte. Ein Gerät, das unmittelbar in Sprache übersetzen könnte, was Babys durch den Kopf geht, erschiene uns wie Zauberei. Es gibt inzwischen kostenfreie Übersetzer-Apps für Smartphones für bis zu einhundert Sprachen. Warum nicht auch eine App, um Babys zu verstehen? Mit künstlicher Intelligenz müsste das doch funktionieren? Nun, dies erforderte die Lösung eines grundsätzlich anders gelagerten Problems als die automatische Spracherkennung durch Computer. Babylaute sind keine Sprache. Sie bestehen nicht aus Wörtern, Phrasen oder Sätzen, an denen sich ein technisches Erkennungssystem orientieren könnte. In einem Kapitel meines Buches befasse ich mich mit der Frage, ob Alexa, Siri oder ein anderes System uns helfen könnte oder sollte, die Babygesänge zu decodieren.

Ich demonstriere in meinem Buch, dass die wort- und grammatiklosen Babygesänge ebenfalls einem Ordnungsprinzip unterliegen. Ein spezieller Bauplan liefert den Schlüssel, um das natürliche Weinen, das prustend-schnalzende Gurren und das wohlklingende Brabbeln aller Babys besser zu verstehen und den Code ihrer Genese zu knacken. Sie werden es schon vermutet haben – musikalische Aspekte spielen dabei eine wesentliche Rolle, insbesondere die Melodie, das hörbar tönende Ergebnis der zeitlichen Variation der Stimmlippenschwingungen im Kehlkopf und ihrer rhythmischen Phrasierung. Ich glaube, dass das Verständnis der Ordnung des Gesungenen der einzige Weg ist, um (vielleicht) irgendwann auch Herb Simpsons Prototypen des Babylaut-Übersetzers Wirklichkeit werden zu lassen.

Für den Fötus und jungen Säugling sind Melodie und Emotion unzertrennlich miteinander verwoben. Das ist unabhängig davon, ob eine Melodie über die Sprache oder über die Musik vermittelt wird. Es hat mich fasziniert, zu erkennen, wie wichtig die Melodie für den Einstieg in die Sprache aller Babys auf der Welt ist. Vollkommen unabhängig davon, wie komplex oder eigentümlich die Sprachumgebung ist, in die ein Baby zufällig hineingeboren wird, und unabhängig davon, welche spielerischen Modifikationen die zu erlernende Sprache dem melodischen Grundprinzip auferlegt.

Es besteht kein Zweifel: Die melodischen Elemente des Babygesangs sind etwas sehr Altertümliches in der Evolution. Die Entwicklungsgeschichte der gesprochenen Sprache, die vor mindestens zwei Millionen Jahren bei einem unserer Vorfahren, dem Homo erectus1, begann, könnte sich bei jedem Baby in Spuren heute noch zeigen. Wir machen mit der Babylautanalyse eine Art Zeitreise in die Vergangenheit zum Neanderthaler, der vor etwa 250.000 Jahren in Europa erschien, oder seinen Vorfahren. »Ob der Neanderthaler blökte?«, titelte eine Zeitung vor vielen Jahren und berief sich auf Studien, in der Laute mithilfe eines aus Knochenfunden rekonstruierten Kehlkopfmodells erzeugt wurden. Ich glaube nicht, dass sie blökten, sondern ähnlich wie unsere heutigen Babys sangen. Steven Mithen beschreibt die weiblichen und männlichen singenden Neanderthaler2 in seinem gleichnamigen Buch sehr plastisch als Jäger, die das Feuer beherrschten und ausgefeilte Steinwerkzeuge besaßen – und vermutet, dass sie, wie die heutigen Babys immer noch, ein ausgefeiltes emotionales Kommunikationssystem hatten, das aus Gesten, Gesängen und einfachen Emotionsausdrücken bestanden haben könnte.

Wie in der erdachten Welt des englischen Sprachforschers und Autors des Silmarillion und des Herrn der Ringe, J. R. R. Tolkien, war der Weg unserer Vorfahren zur Sprache, wie heute noch der Weg aller Babys, sehr wahrscheinlich tatsächlich musikalisch gepflastert. »In the beginning Eru, the One, who in the Elvish tongue is named Ilúvatar, made the Ainur of his thought; and they made a great Music before him. In this Music the World was begun; for Ilúvatar made visible the song of the Ainur, and they beheld it as a light in the darkness.« (J. R. R. Tolkien, The Silmarillion)

Da es keine konservierenden Fossilien von akustischen Ereignissen gibt, da Klänge flüchtig sind, kann nur vermutet werden, wie die Vorfahren des heutigen Menschen gesungen und gesprochen haben könnten.

Bis heute jedenfalls beginnen alle Babys auf der Welt ihren Weg zur Sprache immer noch mit einer Art musikalischem Urgesang, den sie von ihren Vorfahren geerbt haben. Er basiert wesentlich auf der Melodie (im Konzert mit anderen musikalischen Elementen) und findet sich in einfacherer und etwas anderer Form auch bei Tieren, wenn sie miauen, bellen, heulen oder singen. Wie im Babygesang finden sich auch in den Naturgesängen einiger Tiere musikalische Aspekte – es gibt verschiedene Melodiekonturen, Tremoli, Vibrati, Registerwechsel, Rhythmusvariationen, Harmonien und Disharmonien, Glissandi, Stakkati, Melodieintervalle und vieles mehr. Aber entscheidend ist, dass sich nur aus dem Babygesang eine gesprochene Sprache entwickelt. Damit kann man den Babygesang im ersten Lebensjahr als das entscheidende fehlende Puzzlestück (engl. missing link) ansehen, das es uns erlaubt, den Übergang vom Tiergesang zur gesprochenen Sprache besser zu verstehen.

Alle Sprachen auf der Welt besitzen neben ihren spezifischen Kombinationen aus Vokalen und Konsonanten, die zu Silben, Wörtern und Sätzen werden, auch musikalische Aspekte, die Sprachmelodie oder Prosodie genannt werden. Prosodie bedeutet »Zugesang« (griechisch prosōdía (προσῳδία)), der die Kombinationen aus Vokalen und Konsonanten in Silben, Wörtern und Sätzen begleitet und ihnen dadurch bestimmte Betonungsmuster verleiht. Er ist auch für das Sprechen mit Akzent verantwortlich, da der erlernte linguistische Zugesang (die typische Betonung von Wörtern und Sätzen) der Muttersprache ebenso alle später hinzugelernten Fremdsprachen prägen wird (allerdings weniger, wenn man sie vor der Pubertät erwirbt). Babys lauschen der Prosodie, dem Zugesang der Muttersprache, bereits vor der Geburt und erkennen auch ihre Muttersprache daran in den ersten Lebenstagen wieder.

Sollte ich mich tatsächlich ein ganzes Forscherleben lang Babylauten widmen? Nichts war weiter entfernt von meinen Vorstellungen, als ich mein Biologiestudium 1978 an der Humboldt-Universität zu Berlin (vor 1949 »Friedrich-Wilhelms-Universität«) begann. Absolut außerhalb meines Vorstellungsvermögens war es damals auch, dass ich später einmal das erste deutsche Zentrum zur Untersuchung vorsprachlicher Lautäußerungen leiten würde. Wie also kam es zu dieser ungewöhnlichen Forschungsgeschichte?

Der Anfang hatte auf alle Fälle mit einem charismatischen Verhaltensforscher, einer australischen Opernsängerin und einem singenden Affen zu tun. Ich habe Degulaute gehört und Weidenlaubsänger mithilfe des Sonagraphen der Firma Kay Elemetrics analysiert, des ersten Gerätes, das akustische Ereignisse in Bildern visualisieren konnte – ähnlich einem Fingerabdruck erhielt man einen Klangabdruck, damals eine Revolution in der Gesangs- und Sprachforschung. Anfang der 1980er Jahre war es noch ein Privileg, an einem Sonagraphen arbeiten und forschen zu können. Die ersten solcher Klangbilder wurden mit medizin-diagnostischer Fragestellung vor allem vom Babyweinen erstellt – man versuchte damals anhand visuell erkennbarer Muster zwischen Geburts-, Hunger- und Schmerzschreien sowie Freudenlauten zu unterscheiden. Auch hoffte man, Informationen über das Gehirn zu erhalten, zum Beispiel durch Bestimmung der Melodiekontur oder Vermessung der Lautlängen – man wollte eine nichtinvasive »Diagnose aus dem Schrei« etablieren. Das Konzept, mithilfe einer einfachen Tonaufnahme erkennen zu können, ob das Gehirn eines Babys normal funktioniert, elektrisierte Kinderärzte und Stimmforscher. Auch mich faszinierte das und so begann mein Forscherweg an der Berliner Charité3 mit der Diagnose von Hirnfunktionsstörungen anhand von Babyweinen. Nicht sehr gradlinig und über einige Stolpersteine kam ich erst einige Jahre später zur Entdeckung der Ordnungsprinzipien im Babygesang.

Nach 1990 wurde es mir endlich möglich, den Babygesang auch in anderen Ländern zu untersuchen. Französische, schwedische, japanische, chinesische Neugeborene sowie Babys aus dem Volk der Nso in Nord-West-Kamerun, deren Sprache Lamnso heißt, wurden im Würzburger Labor untersucht. Dabei bestätigte sich, dass die fremdsprachigen Neugeborenen etwas anders klangen als Neugeborene mit deutscher Umgebungssprache. Was da anders klingt, kann man sich in den Hörbeispielen zum Buch anhören.

Ist die Mutter bilingual und hat zwei prosodisch verschiedene Sprachen während der Schwangerschaft gesprochen, dann bleiben die Melodien beider Sprachen im auditiven Gedächtnis des Neugeborenen. Können sie auch noch umlernen, wenn sie in eine andere Sprachumgebung kommen? Finden sich die im Weinen »geübten« Stimmphänomene in den übrigen Lauten des Gesangsrepertoires wieder? Das Buch versucht, auch auf diese Fragen eine Antwort zu geben und sie durch geeignete Klangbeispiele zu ergänzen und direkt erlebbar zu machen.

Aber besteht Babygesang nur aus Melodie? Am Anfang manchmal, aber schon in den ersten Tagen tauchen auch artikulierte Elemente auf, die Vorstufen der späteren Vokale und Konsonanten in der Sprache. Die ursprünglichen Melodiebögen finden sich in Vokalen wieder, während die Konsonanten den melodischen Lautstrom unterbrechen und die entstehenden Pausen geräuschartig füllen. Die Melodie ist das Skelett des Babygesangs, an dem sich die anfänglich noch unsicher artikulierten ersten Konsonanten quasi entlanghangeln. Babys haben eine große Freude daran, mit der Melodie und den artikulierten Konsonanten zu spielen und sie durch Imitation der Umgebungssprache zu variieren. Manchmal klingt es etwa so ähnlich wie Beatboxen oder dadaistische Rezitationen.

Und was ist mit dem Babylaut-Übersetzer? Müssen wir uns vom Gelingen eines solchen Konzeptes generell verabschieden oder ist es nur eine Frage der Zeit, bis man Alexa, Siri und ihre Nachkommen befragen kann, warum das eigene Baby gerade weint oder was sein Prusten und Brabbeln bedeutet? Oder bis Algorithmen, die auf künstlicher Intelligenz basieren, das leisten, was Dr. Doolittle konnte, also Tiere verstehen? Oder, wie Harry Potter, die Sprache der Schlangen verstehen. Oder der Vater vom kleinen Fritz Molden, der den Elefanten Jakob in seinem »Elefantisch« verstand.4

Tatsächlich gibt es reale Prototypen in der Art des Babylaut-Übersetzers von Herb Simpson, übrigens auch für Tierlaute. Unter dem Titel »Dolmetscher für Eltern« berichtete Der Spiegel 20065 zum Beispiel über einen Babyschrei-Monitor mit dem Namen »Why cry« (warum weinen), der »unerfahrenen Eltern helfen [möchte], das Schreien ihrer Babys richtig zu deuten«. Die »Technologie [sei] in Japan an Hunden« erprobt worden, heißt es im Artikel weiter und dass eine Spielzeugfirma ein Hundehalsband anbiete, das zwischen 200 verschiedenen Bellvarianten unterscheiden könne. Bei Babys würden nach nur 20 Sekunden Babyschreiaufnahme, das sind etwa zehn bis 15 Schreie, auf der Vorderseite des Gerätes Symbole aufleuchten, die die vermeintliche Schreiursache angeben – Hunger, Müdigkeit, Langeweile, Bauchschmerzen oder Stress. Eltern werden jetzt schmunzeln, da bin ich mir sicher. Dies ist nur einer von vielen ähnlich kuriosen Versuchen, die Botschaft in Babylauten zu verstehen. Meine Verzweiflung über die Blüten, die eine nur vermeintliche Kenntnis auf dem Gebiet der vorsprachlichen Babylaute, insbesondere des natürlichen Weinens, zu Weilen getrieben hat, war einer der Beweggründe, das Buch zu schreiben. Da muss einiges klargestellt werden!

Ich bin überzeugt davon, dass ein besseres Verständnis der Babygesänge helfen kann, die physischen und kognitiven Anstrengungen wertzuschätzen, die Babys vollbringen, um mit ihrer Umwelt akustisch in Kontakt zu treten und eine emotionale Bindung zu Bezugspersonen über die Stimme herzustellen. Babys sind sensible, motorisch eingeschränkte, wundersame Individuen, die nicht nur einer liebevollen Fürsorge bedürfen. Sie verdienen Respekt und wertschätzendes Verständnis ihrer stimmlichen Botschaften. Mein Buch wendet sich daher nicht nur an Eltern, sondern an eine allgemeine Leserschaft.

Schon wenige Monate, nachdem ein neugeborenes Baby lauthals verkündet hat, dass es Hunger habe oder müde sei, scheinen seine Babylaute dem Klang von Wörtern zu ähneln. Und nur weitere wenige Monate später sind es dann tatsächlich erste Wörter aus der Umgebungssprache, die das Baby mit spielerischer Variationslust in seinem Gesang imitiert. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, welche grammatikalischen Eigenheiten die jeweilige Umgebungssprache hat und durch welche akustischen Ton- und Geräuschkombinationen sie Dingen Bedeutung verleiht. Ich hoffe sehr, dass es mir mit dem Buch