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Auf den Kopf zu fallen, war ja nicht gerade eine feine Sache, und mit verrücktspielenden Endorphinen, zerrütteten Synapsen und einer verkorksten Psyche war Denken in Toms Nähe sowieso unmöglich. Das brachte einige Fehlentscheidungen mit sich. Tage, Wochen und auch noch Monate nach diesem Reitunfall. Also manchmal wäre es doch ganz entspannend, wenn man ein Drehbuch for the real life vorgelegt bekommen würde. Mit passenden Titeln wie zum Beispiel Project Mia oder Mia im Wunderland. Egal, wo detailliert beschrieben wird, welcher nächste Schritt zu machen ist. Oder vielleicht wäre es doch besser gewesen, auf Plan B zurückzugreifen und sich einen alten Rentner mit fetter Pension und dickem Sparbuch zu suchen, als sich auf den Kleinstadtcasanova einzulassen …
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Seitenzahl: 602
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Impressum neobooks
BAND II
written by Melanie Huber
Buchbeschreibung:
Auf den Kopf zu fallen, war ja nicht gerade eine feine Sache, und mit verrücktspielenden Endorphinen, zerrütteten Synapsen und einer
verkorksten Psyche war Denken in Toms Nähe sowieso unmöglich.
Das brachte einige Fehlentscheidungen mit sich.
Tage, Wochen und auch noch Monate nach diesem Reitunfall.
Also manchmal wäre es doch ganz entspannend, wenn man ein Drehbuch 'For the real life' vorgelegt bekommen würde. Mit passenden Titeln wie zum Beispiel 'Project Mia' oder 'Mia im Wunderland'.
Egal, wo detailliert beschrieben wird, welcher nächste Schritt zu machen ist.
Oder vielleicht wäre es doch besser gewesen, auf Plan B zurückzugreifen und sich einen alten Rentner mit fetter Pension und dickem Sparbuch zu suchen, als sich auf den Kleinstadtcasanova einzulassen …
Über den Autor:
Melanie Huber wuchs in einem kleinen Ort in Oberösterreich auf, der im Volksmund ganz anders genannt wird, als er tatsächlich heißt. Dort lebt sie nach wie vor mit ihrer Familie. Die Autorin ist verheiratet und Mutter von 3 Kindern. Nach ihrer Ausbildung zur Mediendesignerin/Medienfachfrau, machte sie sich 2006 selbstständig und gründete die Firma creativ-werk.
‚Back to Italy und der Wahnsinn beginnt erneut‘, ist ihr erster Roman und in zwei Teilen erschienen.
Mehr erfahrt Ihr unter:
www.melanie-huber.at
facebook: www.facebook.com/autorinmelaniehuber
BAND I
written by Melanie Huber
Österreich
www.melanie-huber.at
Für Selina, Michelle und Manuel
Kapitel 1
Ich habe keinen lebensgefährten!
Erst grelles Blitzen ließ mich ein zweites Mal aufwachen.
„Sie kommt zu sich.“ Eine ruhige Frauenstimme, die ich vorher in meinem Leben noch nie gehört hatte, versuchte mich zu beruhigen. „Ganz ruhig Frau Becker, Sie sind in Sicherheit, Sie befinden sich im Krankenhaus. Wir machen nur ein paar Röntgenaufnahmen … gleich haben Sie es geschafft.“
Was hat sie gesagt?
Im Krankenhaus?!?!
Kann nicht sein! Ich bekam die einzelnen Worte einfach nicht zusammen und wollte eigentlich nur weiter schlafen.
„Signorina Becker, verstehen Sie mich?“, fragte mich nun eine weiße Gestalt, die langsam, als würde sie aus einem Nebel heraustreten, vor mir auftauchte. Zögerlich und völlig benommen nickte ich, als würde ich keine Macht mehr über meinen eigenen Körper besitzen.
„Wissen Sie was passiert ist?“
„Was sollte … denn passiert sein?“, fragte ich stammelnd, ein Zittern lag in meiner Stimme. Die Hand gegen die Stirn gepresst, versuchte ich mich aufzusetzen.
„Vorsichtig, nicht so schnell, signorina. Sie hatten einen Reitunfall.“
„Ich war reiten? … Na klar …“
Ich war doch schon so lange nicht mehr reiten gewesen. Verunsichert saß ich auf der weißen Liege und fühlte mich, als hätte mir jemand mein Hirn geklaut. Wankend hielt ich mich mit beiden Händen fest und starrte auf meine Beine. Alles drehte sich. Tatsächlich, ich hatte Reitstiefel an. Eindringlich beobachtete ich meine Gliedmaßen. Es war noch alles dran. Meine Hände zitterten, waren verdreckt und mit klebrigem Blut verschmiert. Auf meinen Armen sah ich einige Schrammen. Ganz deutlich drang mir der Geruch von Pferdeschweiß, vermischt mit dem von scharfen Desinfektionsmitteln, in die Nase. Ich schloss meine Augen wieder, mir war schwindelig. Leicht taumelnd hörte ich plötzlich den galoppierenden Marsch und ein kräftiges Schnauben. Ich glaubte ihnen, dass ich reiten gewesen war, nur konnte ich mich daran nicht mehr erinnern.
„Signorina Becker, geht es Ihnen nicht gut?“ Die weiße Gestalt riss mich erneut aus meinen Überlegungen.
„Denke schon“, seufzte ich, „ich bin nur … nur … so wahnsinnig müde und es dreht sich alles.“ Mit meinen Händen klammerte ich mich fester an die Rampe, um mehr Halt zu bekommen.
„Keine Sorge, das legt sich bald. Wir sind mit den Untersuchungen fast durch.“ Neben ihm stand noch so ein dunkler Typ in weißem Kittel, sehr groß, schmal, mit langer Nase und Nickelbrille, der mich skeptisch musterte. Etwas dahinter eine kleine Krankenschwester, die mit besorgtem Ausdruck im Gesicht eine Brechschüssel bereithielt.
Die beiden Männer besprachen sich. Selbst wenn sie sich in meiner Muttersprache unterhalten hätten, ich hätte trotzdem keine Silbe verstanden. Ich hatte absolut keine Ahnung, was sie von mir eigentlich wollten. Stumpf vor mich hinglotzend, checkte ich den Raum, bis mir eine beleuchtete Tafel auffiel. Mit meinen Augen fixierte ich ein schwarzes Bild, mit einem ovalen, hellen Kreis darauf.
„Was ist das?“, fragte ich.
„Das ist ein Röntgenbild von Ihrem Schädel“, erklärte mir irgendwer.
„Das soll mein Kopf sein?“, kicherte ich. Es gab wirklich bessere Aufnahmen von mir. „Das sieht ja echt witzig aus!“ Ich fing zu lachen an. Es sah einfach urkomisch aus. Mein Lachen klang schon ein bisschen verrückt. Vielleicht lag es ja auch an dem Zeugs, das sie mir gegeben hatten. Trotz meines Zustandes bemerkte ich schnell, dass meine Reaktion wohl nicht ganz angemessen war, obwohl sich die kleine Krankenschwester verkrampft auf die Lippen biss. Also versuchte ich, es ihr gleichzutun und mein Lachen ebenfalls zu unterdrücken, und das Foto so gut es ging zu ignorieren. Mein Blick schweifte wieder im Raum umher. Auf einem kleinen Nebentisch lag ein verbeulter Reiterhelm, der in zwei Teile zerbrochen war. Meiner? Ein bisschen wurde mir der Ernst der Lage klar und mein Lachen verstummte so plötzlich, wie es gekommen war.
„Können Sie mir sagen, welchen Tag wir heute haben?“, fragte mich der schmale Arzt.
„Keine Ahnung, … ich weiß nicht.“ Montag, Freitag oder vielleicht auch Mittwoch? Angestrengt versuchte ich, mich daran zu erinnern, doch es fiel mir nicht mehr ein. Ich zählte gedanklich die Wochentage weiter. Kaum schloss ich meine Augen, war es wieder gelb. Ich konnte mich an sattes Sonnengelb erinnern. Das war schön.
Mit einer kleinen Lampe leuchtete mir der ältere der beiden Ärzte in die Augen. Auf seinem Schild am Kittel stand klein Primario darüber Dott. C. Buerto. Er bewegte meinen Kopf hin und her, streckte meine Arme zuerst gerade aus, dann nach oben und ließ sie wieder sinken. Danach inspizierte er meinen Rücken.
„Sie hatten Glück signorina!“, meinte er, als er sich auf einen Hocker neben mich setzte, „Riesenglück! Sie haben sich nichts gebrochen und wir mussten auch nichts nähen. Trotzdem würden wir Sie gerne eine Nacht zur Beobachtung hier lassen.“
„Aber was fehlt mir denn?“
„Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung. Ihr Lebensgefährte hat uns mitgeteilt, dass Sie kurz nach dem Unfall erbrochen haben und eine Zeit lang bewusstlos waren.“
M-O-M-E-N-T!
„Mein Lebensgefährte?!“, fragte ich nochmals nach. Das muss ein Missverständnis sein. Niklas war nicht hier. Zusammen waren wir auch nicht mehr. Da war ich mir hundertprozentig sicher. Flynn war auch weg. Verneinend schüttelte ich den Kopf und wurde gleich mit stechenden Schmerzen bestraft. „Ahh“, entfuhr es mir, und ich rieb mir mit schmerzverzerrtem Gesicht meine Schläfe, „ich hab keinen Lebensgefährten“, klärte ich den Doktor in Weiß auf.
Verdutzt schauten sich die beiden Männer an, die Schwester zuckte nur mit den Achseln und mit einem Das-wird-schon-wieder-Blick tätschelte sie meine Hand.
„Der arme Kerl …“, brummte der schmale Doc arrogant und wandte sich ab. Die Frage nach dem dubiosen Unbekannten verkniff ich mir.
„Naja, wie auch dem sei, wir behalten Sie doch lieber zwei Tage hier. Bis Sie ihr vollständiges Gedächtnis wieder haben.“
Kurze Zeit später befand ich mich frisch geduscht auf einer Station, in einem sterilen Zimmer – allein. Ohne Radio und Fernseher. Modisch perfekt bekleidet mit einem karierten Baumwollnachthemd. Echt sexy! Aber mega bequem. Neben mir hörte ich das Tropfen einer Flüssigkeit, die über einen Schlauch in meine Adern floss, und saß mit einer dicken, fetten Halskrause und mit Gedanken, die sich überschlugen, im Bett. Ich fühlte meine aufgeplatzte Lippe, meine schmerzenden Glieder. Leicht fuhr ich mit meiner Hand über mein Gesicht, erspürte ein paar Schrammen, ein paar Schwellungen und an meinem Kopf befand sich ein Verband, der eine Platzwunde verdeckte. Zum Glück war sie nicht allzu groß und musste deshalb auch nicht genäht werden. Ich zuckte gleich nochmals zusammen als mir einfiel, dass einer der Ärzte zu mir gesagt hatte, dass es doch schade gewesen wäre, wenn wir die schönen Haare hätten abrasieren müssen. Das Zucken blieb nicht ohne Folgen. Aua! Dass es überhaupt möglich war, dass so viele Körperteile gleichzeitig schmerzen konnten.
Eigentlich sollte man sich nach einem Ausritt völlig frei, unbeschwert und geerdet vor Glückseligkeit fühlen. Diese Gefühle konnte ich absolut nicht bestätigen, denn ich fühlte mich, als wäre ich unter die Räder gekommen. Erschöpft starrte ich an die weiße Decke. Einzelne Erinnerungsfetzen flitzten durch meinen Kopf, die ich aber nicht richtig zusammenbekam, und die außerdem absolut keinen Sinn ergaben. Plötzlich klopfte jemand an die Tür. Mit der Fernbedienung ließ ich den oberen Teil meines Bettes hochfahren, und konnte so meinen steifen Körper einigermaßen aufrichten.
„Ja bitte.“
Ich dachte, es wäre eine Krankenschwester, die mir etwas zu trinken bringen würde, doch der Kopf, der sich durch den Türspalt zwängte, war mir sehr bekannt. Kraftlos sank ich zusammen.
„Ciao, bella!“
Auch das noch!
„Hallo“, brummte ich.
Tom schnappte sich einen Stuhl, stellte ihn verkehrt herum an mein Bett und setzte sich rittlings darauf. Er versuchte, lässig zu wirken, doch er war ganz anders als sonst. Sein Gesicht schaute ungewohnt angespannt aus, seine sonst so honigfarbene Haut wirkte blass. Er versuchte, sich ein Lächeln abzuringen, und ich merkte es ihm an, wie sehr er seine Anspannung zu überspielen versuchte.
„Na du Cowgirl, wie geht´s dir?“, fragte er mich betont locker und eine kleine Sorgenfalte zog sich über seine Stirn. Ich hätte schwören können, dass ich die zuvor noch nie gesehen hatte.
„Ich weiß nicht“, seufzte ich.
„Beim Rodeoreiten hättest du echt eine Chance. Ich würde auf dich setzen.“ Sein Grinsen wirkte so unecht.
„Du klingst so gar nicht witzig.“
„Ich weiß, … aber einen Versuch wäre es wert.“ Für einen Moment herrschte Schweigen.
„Ich kann mich kaum an etwas erinnern.“
Seufzend griff er nach meiner Hand, spielte mit meinen Fingern, zog leichte Kreise über meine verdreckten Nägel. Ich wehrte mich nicht. Vehement wich er meinem Blick aus, konzentrierte sich auf alles um mich herum. Fiel es ihm etwa schwer, mich anzusehen?
Dann fing er einfach zu erzählen an.
„Du und Malou, ihr wart reiten. Ihr seid am Strand entlang galoppiert. Ihr hattet einen ganz schönen Zunder drauf“, sichtlich nervös fuhr er sich durch die Haare. „Mein Bruder und ich waren zufällig spazieren, wollten ein paar Dinge besprechen … Wir hatten euch zuerst gar nicht erkannt, bis Ales Hund sich losriss und bellend auf euch zulief. Oh Mann! Da ist dein Pferd plötzlich völlig ausgerastet.“ Er klang wie ein ARD-Nachrichtensprecher. Nur kurz blickte er in meine Augen, musterte mein Gesicht und widmete sich wieder mit voller Aufmerksamkeit meiner in Mitleidenschaft gezogenen Hand. „Dein Pferd machte eine Vollbremsung, und du konntest dich gerade mal an seinem Hals festhalten, bis es anfing zu steigen. Wir wollten dir helfen, doch es stieg wieder, und als es mit den Vorderbeinen aufschlug, war das so heftig, dass es dich aus dem Sattel geschleudert hat. Keine Ahnung wie, aber irgendwie kamst du dann unter die Beine von diesem Vieh! Es ging alles so verdammt schnell!“ Fassungslos starrte ich ihn an, dabei atmete er tief ein. Mir fiel auf, dass er selbst ein paar Schrammen abbekommen hatte. Ich konnte kaum glauben, was er da erzählte und noch viel weniger, dass ich es war, die diesen Gaul geritten hatte. Räuspernd erzählte er weiter.
„Der blöde Hund hörte nicht auf zu bellen. Ale versuchte, ihn fortzuzerren und Malou stand komplett unter Schock, war wie gelähmt. Anstatt sich zu beruhigen, wurde dein Pferd nur noch nervöser, trat wild herum, … ich hatte echt Panik, es würde auf dich trampeln …“
Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach unser Gespräch. Er ließ meine Hand los.
„Ähm … ja“, sagte ich mit einem leichten Kratzen in der Stimme.
Malou kam herein, noch immer im Reitoutfit, begleitet von Gianni. Sie war extrem bleich im Gesicht, hielt sich die Hand vor den Mund und ich sah ihre verheulten Augen. Ohne nur auch ein Wort zu sagen, kam sie an meine Seite und umarmte mich vorsichtig.
„Es tut mir so leid … ich wollte nicht, dass dir etwas passiert …“, schluchzte sie mir ins Ohr.
„Malou, ist ja schon gut, … ich lebe ja noch …“
Gianni stellte ihr einen Stuhl hin, und sie setzte sich.
„Wie geht´s dir, Mia? … Haben sie schon etwas gesagt?“, fragte mich der Super-Ehemann, der mich ebenfalls die ganze Zeit über besorgt anstarrte.
„Ich habe ein paar Prellungen und eine Gehirnerschütterung.“
„Du hast dir nichts gebrochen?“, fragte er mich erstaunt.
„Nein … bis auf ein paar Erinnerungslücken ist es zum Aushalten. Eigentlich wollten sie mich morgen schon wieder loswerden, aber da mir entfallen war, dass ich einen Lebensgefährten habe, der hier in Italien ist, muss ich doch noch länger hierbleiben.“ Fragend guckte ich mit zusammengekniffenen Augen zu Tom.
„Scusa, das war eine Notlüge. Sie hätten mir sonst nichts über deinen Zustand gesagt.“
Gianni grinste.
„Ich will gar nicht daran denken, … was wäre gewesen, wenn dich Tom nicht rausgezogen hätte“, stammelte Malou vor sich hin.
„Du hast mich herausgezogen?“
Mit gesenktem Blick starrte er auf meine zugedeckten Beine.
„Hat er und wäre selbst fast unter Novio gekommen.“
„Keine große Sache. Das hätte jeder getan …“, stammelte er leise.
„Dann wurdest du auf einmal ohnmächtig … Mensch Mia, da hast du uns echt einen Schrecken eingejagt!“, erzählte die Beste weiter, doch meine Gedanken hingen am vorletzten Satz fest. Tom blickte mir tief in die Augen. Nur für einen kurzen Augenblick lang ließ er mich erahnen, wie sehr er Angst um mich hatte.
Ich war … gerührt.
„Bevor ich es vergesse“, meinte meine Freundin und wühlte in ihrer Jackentasche, „ich hab dein Handy mit. Es lag im Sand, aber es müsste noch funktionieren.“ Mit zitternden Händen legte sie es auf meinen Nachttisch.
Erneutes Klopfen. Der Arzt und sein Team traten mit dicken Mappen in den Händen ins Zimmer.
„Warten Sie bitte kurz vor der Tür“, wandte er sich gleich an Gianni und Malou, „der Lebensgefährte kann selbstverständlich hierbleiben.“ In sich hineinschmunzelnd verließ Gianni den Raum mit seiner Frau, und Tom blieb neben mir sitzen. Ehrlich gesagt war ich ganz froh, nicht alleine sein zu müssen.
„Va bene!“, bemerkte der Arzt, „die Erinnerung an Ihren Lebensgefährten ist auch wieder da.“ Leicht verlegen wollte ich gerade auf meine angeschwollene Unterlippe beißen, ließ es aber dann doch lieber sein. Tom starrte Doktor Buerto an. Die ganze Zeit über ließ er meine Hand nicht los. Kurz war ich irritiert. Wollte er mich stützen, mir Kraft spenden oder brauchte er selbst welche?
„Wie geht es Ihnen denn?“
„Ganz gut, … denke ich.“
„Haben Sie nochmals erbrochen?“
„Nein.“
„Mal di testa? … Oder tut Ihnen etwas anderes weh?“
„Kopfschmerzen“, übersetzte mir Tom.
„Ähm … ja mein Kopf brummt ziemlich stark und mein Rücken schmerzt ein bisschen.“
Er wandte sich ab, gab ein paar Anweisungen an die Krankenschwester, die ihm zunickte. Der Rest der Herrschaften in weißen Kitteln blieb stumm.
„Sie bekommen noch ein zusätzliches Schmerzmittel verabreicht. Eine Schwangerschaft steht ja außer Frage?“ Der Arzt schaute zu Tom. Oh Mann! Wenn der die Wahrheit wüsste, wobei mein Lebensgefährte verlegen auf die weiße Bettdecke blickte und ich geistesgegenwärtig die Frage mit einem klaren Nein beantwortete.
Ermahnend erinnerte mich der Doc noch, dass ich unbedingt Ruhe brauchte und nicht alleine aufstehen sollte. Dann wünschte mir das Team noch eine gute Besserung und rauschte wieder ab.
Vorwurfsvoll betrachtete ich Tom.
„Was?“
„Du hast den Doc belogen!“
„Na und – er wird´s überleben … ich hab mir echte Sorgen um dich gemacht … Verdammt! Ich hatte einfach eine Scheißangst … dass dir etwas Schlimmes … warum um alles in der Welt steigst du auch auf solche Viecher?!“ Er war richtig süß, wenn er sich Sorgen um mich machte.
„Tom!“, unterbrach ich ihn – er blickte auf, wirkte durcheinander. „Danke, dass du mich da rausgeholt hast.“ Unsere Blicke trafen sich, ließen für einen Moment nicht voneinander ab. In dieser Sekunde spürten wir wohl beide, diese intensive Anziehungskraft zwischen uns, mit der wir nicht fertig wurden und mir wurde klar – er würde mich beschützen, egal was passierte.
„Mia, sorry. Ich denke, ich fahr jetzt besser nach Hause. Es war ein harter Tag. Ich brauche dringend eine Dusche und will einfach nur aus meinen Klamotten raus.“ Sein Shirt war schmutzig und mit Blut verschmiert – mit meinem Blut.
Schwerfällig stand er auf, küsste mich sanft auf die Stirn.
„Tu mir einen Gefallen, pass auf dich auf, solange ich weg bin. Und komm bloß nicht auf die Idee, alleine aufzustehen!“ Sein Blick war ermahnend. „Ach ja, und dein Geheimnis über deinen neuen Lebensgefährten ist bei mir bestens aufgehoben.“
„Das beruhigt mich aber.“
„Bis morgen dann bella.“ Dieses Mal war er es, der flüchtete.
Mit Bechern, gefüllt mit wässrigem Kaffee, kehrten die Salvatores wieder zurück. Die freundliche Schwester kam auch nochmals ins Zimmer, verabreichte mir eine Tablette, drehte am Tropf herum und ging lächelnd wieder. Malou fing sich wieder, sie hatte wieder ihren zartgebräunten rosa Teint im Gesicht und erzählte mir meinen Unfall zu Ende, bis ich nur mehr mit einem halben Ohr zuhören konnte. Das Medikament wirkte, die Schmerzen fühlten sich wie betäubt an, und meine Augenlider wurden allmählich zu schwer, um sie offen zu halten. Ich bekam nur mehr verschwommen mit, wie sich die beiden verabschiedeten und nach Hause fuhren.
Kapitel 2
Immer fleißig weiterüben
Zu der unchristlichsten Zeit, die man sich für einen Morgenmuffel wie mich nur vorstellen konnte, wurde ich geweckt. Nach ein paar Anläufen fiel es mir wieder ein, wo und weshalb ich mich im Krankenhaus befand. Ich glaubte es kaum, als ich mit halb geöffneten Augen auf mein Handy starrte und die Zahlen fünf – Punkt – drei und eine Null las. Ich rieb mir nochmals die Augen, als bereits eine kleine, wohlgeformte Dame mit einem Tablett hereinspazierte.
„Buongiorno signorina! Prima colazione!“
Frühstück?
Was jetzt schon?
Ich war sicher, dass mein Magen noch keine Lust auf Frühstück hatte und zog mir grimmig die Decke über den Kopf. Vor sich hinsummend und mit geübten Griffen, baute sie an meinem Nachtkästchen herum. Sie stellte das Tablett ab. Kaffeegeruch drang mir in die Nase und mein flauer Magen knurrte. Zögernd richtete ich mich auf, diese blöde Halskrause nervte, und checkte meine Glieder. Meine Infusion war ich vorher bereits losgeworden, die mussten mir die Nadel entfernt haben, als ich noch im Schlummerland weilte. Stumpf starrte ich auf mein Tablett. Vielleicht sollte ich es wenigstens versuchen …
Ich aß alles auf, bis auf den letzten Krümel, trank sogar den dünnen Kaffee aus und sank zufrieden in mein Bett. Die nette Dame räumte wieder alles weg und brachte mir noch eine Kanne ungesüßten Tee, bis sie von der Putzfrau abgelöst wurde. Das war ein Start in den Tag. Bevor ich selig wegnicken konnte, besuchte mich noch eine blondhaarige Krankenschwester. Sie maß mir den Blutdruck, kontrollierte, ob ich Fieber hatte, dokumentierte die Werte in einer Akte und befreite mich endlich von meiner Halskrause. Mein Nacken sank kurz in sich zusammen, denn er spürte unvermittelt das Gewicht meines Kopfes. Aber ab sofort musste er wieder ohne Unterstützung klarkommen. Was aber dann auch schon wieder ging. Nachdem die blonde, zierliche Dame noch mein Bett machte, verließ sie wieder mein Zimmer. Ganz normaler Krankenhausalltag dachte ich und wunderte mich umso mehr, dass es Menschen gab, wie beispielsweise meine Mom, die das Tag für Tag machten und das auch noch gerne taten. Ich starrte wieder einmal an die Decke, studierte jeden einzelnen Riss und die Stellen, wo die Farbe abbröckelte. Kein Fernseher. Kein Radio. Keine Zeitschriften, die ich ohnehin nicht hätte lesen können. Oh Mann! Ein sehr, sehr langer Tag stand mir bevor. Zwar war ich hundemüde, konnte aber dennoch nicht schlafen, da gegenüber dem Krankenhaus gerade Bauarbeiten im Gange waren. Mir war so langweilig, dass ich seufzend meine SMS-Nachrichten durch-switchte. Da waren ein paar alte Nachrichten von Ben und Niklas und einige von Tom, die ich mir vielleicht ein paar Mal zu oft durchlas. Teilnahmslos mistete ich meine Kontakte aus. Leute, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnern konnte, wurden gleich gelöscht und die, an die ich mich nicht mehr erinnern wollte, ebenfalls. Ich war gerade dabei, meine Klingeltöne durchzustöbern, als mir plötzlich ein kleines Briefsymbol auf meinem Display entgegenleuchtete und mir eine neue Nachricht versprach. Bitte lass das jetzt nicht die SMS von meinem Telefonanbieter sein, der mich pünktlich wie jeden Monat darauf aufmerksam machte, meine Online-Rechnung herunterzuladen. Ich blinzelte – italienische Vorwahl …
Heute, 8.30
Tom: Ciao, bella – na schon wach?
Demoliertes Wrack: Ansichtssache …
Tom: Hast du wenigsten gut geschlafen?
Demoliertes Wrack: Wie ein Murmeltier.
Die haben echt gute Tabletten hier &)
Tom: Soll ich dir etwas mitnehmen?
Demoliertes, gelangweiltes Wrack: Die Decke hat 15 Risse, davon die meisten leichte Haarrisse. An mindesten fünf Stellen bröckelt die Wandfarbe ab und ich bin mir fast sicher, dass es in dem Zimmer über mir einen Wasserschaden gab …
Wenn du willst, dass ich an Langeweile verrecke, dann nimm bloß nichts mit.
Tom: =) Mal sehen, was sich machen lässt. Bis später. x Tom
Lächelnd legte ich mein Handy beiseite. Es bestand Hoffnung, wenigstens ein paar Stunden von diesem angebrochenen Tag schneller hinter sich zu bringen.
Mein Verstand: Warum grinst du noch?
Ja, na und. Ich freute mich auf ihn.
Meine Blase drückte und ich überlegte, ob ich den Weg alleine ins Bad schaffen würde. Meiner Schätzung nach waren es knappe drei Meter. Durch meinen Körper strömte grad eine Energiewelle. So viel war klar, ich wollte diese Sache alleine durchziehen. Papperlapapp auf das, was die Ärzte sagten – ich war erwachsen und kein Kleinkind mehr!
Vorsichtig stellte ich meine Füße auf den Boden und zog mich aus dem Bett. Hola! War ich schwindelig! Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Ich ließ mir Zeit, atmete tief durch. Alles nur mit der Ruhe sagte ich mir selbst, ich hatte ja schließlich den ganzen Vormittag Zeit, die paar Meter zu schaffen. Meine Blase sah das allerdings ein wenig anders. Nach ein paar Minuten beruhigte sich mein Kreislauf wieder und ich wagte meinen ersten Schritt, dann den zweiten. Langsam tastete ich mich vor zur Badezimmertür. Nur noch ein halber Meter zur Türschnalle, und ich würde mich im grünen Bereich befinden. Triumphierend erreichte ich mein Ziel, stolz drückte ich die Türklinke nach unten und sah als Erstes mein Gesicht im Spiegel.
Ach du dickes Ei!
Da hatte ich Mühe, mich zu halten.
Geschockt konnte ich meine Augen nicht abwenden. Ich konnte gar nicht glauben, dass ich das war.
Meine linke Wange war stark angeschwollen, als hätte ich Mumps, die rechte zierte eine Schramme wie bei einem Piraten, und Regenbogenfarben schmückten meine Augen. Aber am schlimmsten sahen meine Lippen aus. Sie waren zu Monsterlippen mutiert, mit denen ich wahrhaftig Angelina Jolie Konkurrenz hätte machen können. Ich brauchte keinen Schmollmund mehr zu ziehen, jetzt hatte ich einen dauerhaften. Tom durfte auf gar keinen Fall hierher kommen, um mich dann so zu sehen.
Ich erledigte meine Bedürfnisse, und während ich mir die Zähne putzte, vermied ich es akribisch, ein weiteres Mal in den Spiegel zu gucken. Noch im völligen Schockgefrierzustand trat ich den Rücktritt an.
Heute, 8.57
Monsterlippe: Bitte komm nicht vorbei.
Tom: Zu spät Süße, ich bin schon da.
Schrieb er nach einer halben Stunde zurück, und knappe zehn Minuten später klopfte es auch schon an meiner Tür.
„Ja“, sagte ich zögerlich und verschwand gleich mal komplett unter meiner Bettdecke.
„Ciao, bella!“ Ich hatte es geahnt.
„Morgen“, brummte ich.
Tom stellte eine Reisetasche und eine Tüte neben meinem Nachttisch ab, holte sich einen Stuhl und setzte sich.
„Was ist los mit dir? … Schlechte Laune?“
„Nichts ist los mit mir!! Ich hatte nur einen beschissenen Reitunfall, der mir mitten ins Gesicht geschrieben wurde!“
Er zupfte leicht an meiner Decke, die ich so festhielt, als würde mein Leben davon abhängen.
„Ist das dein Ernst, du schämst dich? … Ich glaube du siehst genau so hübsch aus wie immer.“
„Italienischer Schleimer! … Ich sehe aus wie die kleine Schwester von Twoface!“
Lässig lehnte er sich zurück, verschränkte seine Hände im Nacken und betrachtete verstohlen den weißen Klumpen vor sich im Krankenbett.
„Na so was, dann passen wir ja wenigstens optisch schon mal ganz gut zusammen.“
„Du bist echt ein verrückter Idiot!“
„Das streite ich nicht mal ab“, konterte er leise, kam näher und zog mir behutsam die Decke vom Kopf. Er hielt kurz inne, strich eine verirrte Haarsträhne aus meinem Gesicht, musterte mich eindringlich.
„Sag ich doch, genau so hübsch wie gestern“, und lehnte sich wieder entspannt zurück.
„Ich sehe schrecklich aus!“ Genervt verdrehte ich meine Augen und ließ mich in mein Kissen sinken. Seufzend griff er zur Papiertüte.
„Das wird schon wieder. Malou hat dir ein paar bequeme Sachen aus deinem Schrank rausgesucht und alles in die Reisetasche gepackt. Ich denke, sie hat Klamotten für vierzehn Tage eingepackt.“ Ich riss meine Augen auf. „Keine Sorge, ich habe nicht gestöbert.“ Okay … „Dann habe ich da noch ein paar Bücher für dich. Obst, Schokolade, Vitaminsaft und leckere Sandwiches von meinem Bruder … Übrigens, ich soll dich von allen grüßen und gute Besserung wünschen. Ach ja, bevor ich es vergesse, Lorenzo hat dir ein Bild gemalt“, er streckte es mir entgegen, „ich finde, er hat dich ganz gut getroffen.“ Dann verglich Tom das Bild mit mir. „Irgendwie siehst du … mmh … ich weiß nicht … hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du Gabriella Cilmi ähnlich siehst? … Jetzt mal abgesehen von deinen Schrammen.“
„Ha, ha, zeig mal her!“ Grimmig betrachtete ich Lorenzos Bild und musste lachen.
„Und die halbe Portion da hinten, wer soll das sein?“
„Hallo?! Das soll ich sein! … Charmant wie eh und je, anscheinend geht´s dir schon wieder besser!“
Er legte mir ein Buch auf meine Oberschenkel und die Plastikbox mit den Sandwiches auf den Nachtschrank.
„Und ich habe dir noch meinen MP3-Player mitgenommen. Vielleicht ist ja was drauf, was dir gefällt. Ich habe gestern noch ein paar Songs heruntergeladen, Lesslie Clio und Guns N’ Roses. Von Elvis ist natürlich auch was drauf“, meinte er grinsend.
„Oh … danke, das ist sehr nett von dir.“
„Und gegen deine miese Laune habe ich dir einen Muffin mit Schokostückchen besorgt … hoffe der hilft auch …“
Das war wirklich lieb von ihm, und bevor ich etwas sagen konnte, klopfte es, und die Morgenvisite betrat den Raum.
„Buongiorno signorina! … Na, wie geht es Ihnen denn heute?“, fragte mich derselbe Arzt, der auch gestern schon die Visite gemacht hatte.
„Schon ganz gut. Die Kopfschmerzen sind fast weg.“
„Was machen die Erinnerungen?“
„Bis auf den Unfall kann ich mich wieder an alles erinnern.“ Doktor Buerto grinste zu Tom.
„Bei einer Amnesie kann es möglich sein, dass Sie sich überhaupt nie mehr an das erinnern können, was passiert ist. Das ist nicht ungewöhnlich. Ihr Körper braucht in erster Linie Ruhe und ein bisschen Geduld“, der Doc räusperte sich. „Wie klappt es denn mit dem Aufstehen?“
„Ich bin heute schon mal aufgestanden. Ging ganz gut.“ Dass ich alleine aufgestanden war, verschwieg ich lieber. Immer wieder huschte sein Blick in die dicke Mappe, die die blonde Krankenschwester von vorhin festhielt. Über den Rand seiner Brille warf er mir einen optimistischen Blick zu.
„Na, das hört sich doch schon sehr gut an. Complicazioni äh … Komplikationen in der Nacht gab es auch keine … ich denke, wir können sie morgen mit gutem Gewissen nach Hause schicken.“
„Oh, das wäre schön.“ Ich war mehr als nur zufrieden.
„Sie brauchen aber mindestens noch eine Woche Ruhe, Ihr Partner soll auf Sie achtgeben.“ Mahnende Blicke vom Doc zu Tom.
„Das werde ich“, versprach er, und in mir keimte ein leiser Verdacht, wie das aussehen könnte.
Kaum war die Visite abgezogen, betrat die nächste Krankenschwester mein Zimmer. Ein Betriebswechsel war das! Sie war klein, fast nicht zu erkennen, da sie einen riesigen Blumenstrauß in einer Vase vor sich herschleppte. Sie stellte ihn auf den Tisch, der etwas abseits im Raum stand, blickte dann völlig überrascht zu Tom.
„Ciao Tom, das ist ja eine Überraschung! … Wie geht´s euch denn so?“
„Danke gut … alle gesund … was machst du hier auf der Unfallstation?“
„Freut mich das zu hören. Ja, ich wollte mal etwas anderes machen und ließ mich versetzen. Die Dramen sind zwar die gleichen, aber was soll´s, so ist es halt, wenn man in einem Krankenhaus arbeitet … Ich muss wieder los, schöne Grüße an deine Familie und Ihnen wünsche ich einen schönen Aufenthalt, signorina Becker.“
Sie verließ lächelnd das Zimmer. Abwartend blickte er noch ein Weilchen auf die geschlossene Zimmertür. Mit prüfendem Blick setzte ich mich auf.
„Gehört die auch zu deinen Verflossenen?“
„Blödsinn.“
„Ihr kennt euch?“
„Sì von früher. Vor einigen Jahren arbeitete sie noch auf der Krebsstation. Muss ein großer Verlust für das Team sein.“
„Tut mir leid … ich wusste nicht …“ Da war er wieder, sein trauriger Blick, die schützende Mauer, die er um sich aufzog, durch die niemand durchdringen konnte.
„Ist schon gut, diese Zeit ist vorbei … du hast schöne Blumen bekommen“, lenkte er auch schon wieder ab. Das war deutlich genug und ich akzeptierte es.
„Mmh …“ Ehrlich gesagt, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie solche Blumen bekommen, meine Mom jedoch schon.
„Ist der von dir?“, fragte ich ihn.
„No. Also wenn ich fiori schenke, dann nur persönlich. Aber ich kann es mir denken von wem die sind.“
„Ist eine Karte dabei?“
Tom erhob sich von seinem Sessel und überprüfte den pompösen Blumenstrauß, bis er tatsächlich eine kleine Karte fand und sie mir reichte.
„Scusa. Wünsche dir eine gute Besserung – A.C. … Die Blumen sind von Alessandro.“
„Wusste ich es doch. Es war ja sein Hund, der diesen blöden Unfall verursacht hatte.“
„Naja, was soll´s … für einen Anwalt ziemlich karge Worte“, bemerkte ich.
„Typisch für ihn“, brummte er.
„Rutsch ein Stück rüber!“ Erstaunt schaute ich ihn an.
„Warum?“
„Na, weil ich die ganze Nacht fast nichts geschlafen habe und müde bin.“
„Musst du nicht los und dich um Lorenzo kümmern?“
„Der ist gut aufgehoben.“
„So? Wo ist er denn?“
„Bei Giulia. Ich hab ihr erzählt was passiert ist, und dass du jemanden brauchst, der auf dich aufpasst. Sie nimmt sich eine Auszeit, bis es dir wieder besser geht, obwohl sie mitten in den Aufnahmen für eine CD stecken. Also rutsch rüber!“ Schlimmer als ein Waschweib!
„Bis Morgen ist das immer noch mein Bett und für zwei definitiv zu klein.“
„Ach komm, das sehen wir dann schon.“ Ohne meine Einwände nur annähernd ernst zu nehmen, schubste er mich leicht zur Seite und quetschte sich neben mich hin.
„So, und jetzt lass mich mal sehen, was du da überhaupt liest.“
Er nahm mein Buch zur Hand, legte seinen Arm zur Seite. Mit einem Blick ließ er mich wissen, dass ich es mir darauf gemütlich machen sollte – ich zögerte.
„Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand … von Jonas Jonasson“, sein Blick wanderte vom Buchtitel direkt zu mir. „Mensch Mia, ich beiße nicht!“, forderte er mich erneut auf. Herumdrucksend gab ich mir dann doch einen Schubs und legte mich auf seinen starken Arm. Neben ihm zu liegen fühlte sich gut an.
„Du bist erst auf Seite zwanzig. Was dagegen, wenn wir von vorne anfangen?“
„Ist okay.“ Tom begann zu lesen und ich lauschte still seinen Worten. Seine tiefe Brummbärstimme ließ mich innerlich ganz ruhig werden und entspannen. Soweit es meine körperlichen Einschränkungen erlaubten, machte ich es mir gemütlich auf seiner Brust und kuschelte mich fest an ihn. Ich spürte, wie sich sein Oberkörper fortwährend leicht hob und senkte, seine tiefe Stimme, die in seiner Brust widerklang und wie sein Herz kräftig schlug. Mit meinen Fingern spielte ich am Saum seines Shirts herum. Genau so könnten Sonntage aussehen, schweiften meine Gedanken ab. Tom und ich, aneinander gekuschelt in einer Hängematte, vor uns der blaue Gardasee. Er liest mir vor und ich höre ihm zu. Was für ein beruhigender Gedanke.
Jedes Mal wenn er zur nächsten Seite blätterte, hielt er kurz inne, vergrub seine Nase in meine Haare und fing nach einer kurzen Pause wieder weiter zu lesen an. Ich genoss seine Nähe, seine Aufmerksamkeit in vollen Zügen – weit weg von Giulia und dem Rummel, der sonst um uns herrschte. So gesehen hatte dieser Reitunfall auch seine guten Seiten.
Irgendwann wurden aber seine Worte leiser, der Zusammenhang ergab weniger Sinn und wir nickten wohl beide ein. Engumschlungen …
Ein lauter Knall riss uns unsanft aus dem Traumland. Der Hundertjährige war vom Bett gefallen und auf den Boden geknallt. Betreten lösten wir uns voneinander. Tom setzte sich auf, hob das Buch auf und rieb sich gähnend die Augen.
„Haben wir … beide … geschlafen?“, stammelte ich verlegen.
„Wie es aussieht ja, und wir haben sogar dein Mittagessen verpennt.“ Ein neues Tablett stand auf dem ausgezogenen Nachttisch. Den Teller mit einer Aluhaube abgedeckt. Tom öffnete vorsichtig. Der Geruch von pikanten Käse-Makkaroni machte sich breit.
„Sorry Babe, dein Essen ist kalt“, bemerkte er. „Ich frag mal nach, ob sie es nochmal warm machen können.“ Ohne zu zögern, als wäre es das Normalste auf dieser Welt, schnappte er sich das Tablett und spazierte aus der Tür. Es schien, als würde er sich hier ganz gut auskennen und mir gefiel es, wie er sich um mich kümmerte.
Mit dampfendem Teller kam er wieder. Ich hätte gern mit ihm geteilt, doch er lehnte nur dankend ab. Danach tranken wir noch Kaffee aus Pappbechern und vertilgten zusammen den Schokomuffin. Wir redeten über belangloses Zeugs und auch über das Hotel. Außerdem erzählte er mir, weshalb sein Bruder ihn gestern besucht hatte. Sie hatten sich ausgesprochen und Tom würde jetzt doch an diesem Projekt mitwirken. Ende Februar würde es losgehen, und würden sie den Auftrag tatsächlich bekommen, müsste er seinen Barjob für ein paar Monate an den Nagel hängen. Ich wusste das ja alles schon, trotzdem freute es mich, dass er mir selbst davon erzählte, und ich fand es toll für ihn. Es war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
„Ich hoffe, du vergisst dein Versprechen nicht“, erinnerte er mich, schweigend lächelte ich ihn geheimnisvoll an.
Es war bereits später Nachmittag, als Tom sein Handy aus seiner Hosentasche zog, um seine Nachrichten zu checken. Nun hatte er es plötzlich sehr eilig zu verschwinden, drückte mir noch einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und mit den Worten, er hätte noch etwas Dringendes zu erledigen, war er auch schon weg. Aber er versprach mir hoch und heilig, mich morgen abzuholen. Ich war traurig, wieder alleine zu sein. Dennoch war ich froh über die gemeinsame Zeit, die er mit mir in diesen vier Wänden verbracht hatte.
Mit aufgewühlten Gefühlen ließ ich mich zurück ins Bett fallen. An meinem Kissen hing sein Geruch, den ich tief einatmete. Ich versuchte, erneut das Buch zu lesen, was allerdings überhaupt nicht klappte. Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen und ich fand lesen viel zu anstrengend. Meine Gedanken kreisten nur um Tom, seine Stimme klang mir noch deutlich in den Ohren. Ein Piepsen, das eindeutig von meinem Handy kam, ließ mich stocken. Eine SMS von Malou, kommentiert nur mit einem augenzwinkernden Smiley. Sie war hier gewesen und hatte Tom und mich fotografiert, als wir zusammengekauert nebeneinander schliefen. Schaute wirklich süß aus. Mit meinem Finger streichelte ich über das Display und bekam auf einmal heftige Bauchschmerzen.
„Linke oder rechte Hand?“
„Links“, sagte ich. Tom streckte mir die linke Hand entgegen und öffnete sie langsam.
„Oh, ein Kaugummi, möchtest du mir etwas damit sagen …“ Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf.
„Nein, ich hatte gehofft, du würdest die andere nehmen.“
„Und was ist jetzt in der rechten Hand?“, zappelte ich vor mich hin. Seit den frühen Morgenstunden saß ich schon frisch geduscht und fertig angezogen in meinem Bett. Ich hatte es kaum erwarten können, bis er endlich zur Tür reinkam und mich abholte. Die ganze Nacht hatte ich nicht viel geschlafen, hörte nur die Musik von seinem Player und sah die ganze Zeit sein Gesicht vor mir.
„Mach die Augen zu!“, befahl er mir mit einem süßen Blick.
„Musst du es so spannend machen?“
Dann legte er mir etwas in die Hände, das sich kalt und nach Metall anfühlte, mir aber gleichzeitig sehr vertraut war. Freudig riss ich meine Augen auf.
„Mein Autoschlüssel?“
„Peppe hat mir gestern eine SMS geschickt und mir mitgeteilt, dass dein Auto fertig sei. Ich dachte, ich fahre dieses Mal lieber alleine hin … naja, du weißt schon warum, und überrasche dich einfach.“ Die Freude kam über mich und ich umarmte ihn herzlich und murmelte ein ‚Danke‘ nach dem anderen. Jetzt war er der Überraschte.
Mit einem betrübten Gesichtsausdruck löste er sich von mir und meinte dann: „Tja, jetzt sitzt du in diesem beschissenen Land nicht mehr fest!“
Bestürzt schaute ich ihn an, mein Satz tat mir unendlich leid. Beschämt senkte ich meinen Blick.
„Tut mir leid, ich hab das nicht so gemeint … eigentlich habe ich es gar nicht so eilig, … nach Hause zu kommen …“, stammelte ich verlegen, und unsere Blicke trafen sich für einen sehr langen Moment. Mein Satz schwebte schwer in diesem kleinen Raum herum. So gern hätte ich gewusst, was er gerade dachte oder ehrlich fühlte. Unser Schweigen war fast erdrückend, bis die Morgen-Visite zu einem Abschlussgespräch hereinplatzte.
„Buongiorno signorina! … Wie ich sehe, geht es Ihnen ganz gut heute. Ich möchte Ihnen noch die Testergebnisse von Ihrem Bauch-Ultraschall mitteilen“, erklärte mir der Arzt. Verwirrt blickte mich Tom an. Gestern dachte ich noch, so eine Gesundenuntersuchung konnte ja nicht schaden, und heute fand ich diese Idee einfach nur mehr mega blöd.
„Es ist so, wir haben nichts Auffälliges gefunden. Solche Bauchkrämpfe können auch mit Stress auftreten, haben Sie denn Stress zurzeit?“
„Naja … vielleicht ein bisschen …“
„Auf jeden Fall ist eine Schwangerschaft ausgeschlossen.“ Lächelnd wandte er sich zu Tom. „Sie werden also nicht padre.“ Tom fiel nichts Besseres als ein: „Oh“, ein. Geschockt rutschte ich in meinem Bett eine Etage nach unten und vergrub mein Gesicht in die Decke. Was wiederum der Doc missverstand.
„Naja, vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal. Immer fleißig weiterüben, dann wird das schon …“, grinste Doktor Buerto vor sich hin. Mittlerweile war auch Tom in seinem Stuhl versunken und rieb sich verlegen den Nacken.
„Ihrer Entlassung steht also nichts mehr im Weg, aber ich möchte Sie trotzdem nochmals darauf aufmerksam machen, dass Sie sehr viel Ruhe benötigen. Gibt es noch etwas, was Sie gerne wissen möchten?“
„Nein, danke … ich glaube nicht.“
„Na, dann wünsche ich Ihnen alles Gute und viel Glück für die Familienplanung!“
„Grazie dottore … Ähm, und auch für den Tipp!“, rief ihm Tom noch hinterher. Sichtlich amüsiert verschwand der Trupp wieder.
Die Tür fiel ins Schloss.
„Daran hast nur du Schuld!“ Mit hochrotem Kopf starrte ich ihn wütend an, wobei er nur lachte.
„Aber du musst zugeben, das war schon witzig …“ Böse funkelte ich ihn an. „Muss ich mir Sorgen um deine Bauchkrämpfe machen?“
„Das hast du ja gerade selbst gehört!“
„Also nicht?“
„N-E-I-N!“
„Na dann komm, lass uns endlich hier abhauen“, lächelte er mir verschmitzt zu.
Unten in der Parkgarage angelangt, stolzierte ich um meinen Mini herum. Mit Adleraugen begutachtete ich ihn genau und lächelte zufrieden. Alles war wieder dort, wohin es gehörte. Kein verdreckter Gartensessel mehr, die Kabel wieder ordnungsgemäß verstaut und die Delle war auch weg.
„Damit das klar ist, ich fahre! Dein Fahrstil ist schon im gesunden Zustand zu riskant!“
„Vertraust du mir nicht?“, fragte ich ihn grinsend.
„Sagen wir mal so, ich ziehe es vor, noch länger unter den Lebenden zu weilen.“ Eigentlich wollte ich ihn grimmig anfunkeln, doch ich schaffte es nicht und stieg brav auf der Beifahrerseite ein. Insgeheim wünschte ich mir, er würde mich mitnehmen auf eine Reise, irgendwo ins Nirgendwo.
Kapitel 3
Es gibt keine Altersgrenze bei Schnepfen
Während meiner Schonzeit passte jemand ganz besonders darauf auf, dass ich mich auch wirklich nicht übernahm. Tom nahm sein Versprechen viel zu ernst. Er ließ mich nicht mal Kleinigkeiten erledigen, fürsorglich kümmerte er sich sogar um Franzl und Sissi die Zweite. (Ja, ihr habt richtig gelesen, mein männlicher Fisch heißt noch immer so, ich glaube, ihn stört das am allerwenigsten.)
Aber nach zwei Wochen hatte ich die Nase voll von Ruhe genießen, und ich trat meinen ersten Nachmittagsdienst an. Mein Brummschädel war so halbwegs okay und nur ein paar kleine Schrammen erinnerten noch an den Unfall.
Beim Arbeiten verhielt Tom sich wie eh und je. Professionell, aber auch leicht distanziert, außer ich brauchte Hilfe. Hinter der Bar war das eben eine ganz andere Situation. Wir trennten Berufliches von Privatem. So gut wir eben konnten. Berührten wir uns aber manchmal doch so ganz rein zufällig, huschte ihm ein süßes Lächeln über seine Lippen. Innerlich erlitt ich Stromschläge en masse, worüber meine Prellungen so richtig jubelten.
Es war knapp zwei Stunden vor Dienstschluss, als sich eine aufgedonnerte Dame in mittlerem Alter zu uns an die Bar setzte. Ihr überdimensionaler Vorbau drohte die Spannung zu verlieren und überzuquellen. Echt, da hatte man wirklich Angst, einen Schlag ins Gesicht zu bekommen und dabei K. o. zu gehen. Das Gesicht war faltenfrei an den Hinterkopf getackert, und so einen Minirock hätte ich noch nicht mal mit achtzehn getragen. Die Lady wollte nur von Tom höchstpersönlich bedient werden, und ständig lud sie ihn auch noch mit ein. Sie trank Wermut mit einer Zitronenscheibe, er schenkte sich etwas Alkoholfreies ein, ohne dass sie es checkte. Kaum stellte er neue Gläser auf den Tresen, krallte sich diese Hexe seine Hand, hielt ihn hartnäckig fest und ergriff jede Gelegenheit ihn anzumachen.
Tja, während meiner Abwesenheit hatte sich nicht sonderlich viel verändert. Ein paar Mal zu oft schenkte sie ihm einen verführerischen Blick inklusive billigem Wimpernaufschlag, um gleich darauf mit geübtem Schwung ihre langen, wasserstoffblonden Extensions nach hinten zu werfen und ihren Oberkörper straff aufzurichten. Boa hey, ich hätte auf der Stelle loskotzen können – aber so richtig. Diese gebotoxte Tussi hatte es sowas von nötig! Eine Schande für das Frauendasein.
Es war ja kein Geheimnis, dass Italiener auf Blondinen abfuhren, und Tom schien auch bei ihr festzukleben. Sie lachte viel zu laut über seine Witze, was mich richtig in Rage brachte, denn ich fand, er war heute überhaupt nicht witzig.
Nein – ich war total cool.
Die Ruhe in Person – zumindest noch.
Missmutig räumte ich schmutzige Gläser in den Korb, dabei ging auch noch eines kaputt. Mit einer guten Portion Skepsis musterte er mich – ich ignorierte das. Sauer auf mich selber sammelte ich die Scherben auf. Tom bediente gerade an einem anderen Tisch, als ich im Augenwinkel sah, dass sich diese Oma tatsächlich eine Zigarette anzündete. Hallo?! Wir hatten hier Rauchverbot. Egal ob Frau oder Mann, aber ich konnte Leute partout nicht ausstehen, die glaubten, ihnen würde die ganze Welt gehören, und sie müssten sich deshalb auch an keine Regeln halten. Und die hier schon erst recht nicht.
„Hey Lady, hier ist Rauchverbot, oder sind Sie zu blond für dieses Schild!“, knallte ich ihr gereizt an die Birne. Zusätzlich zeigte ich auf das Rauchverbotsschild und dachte noch, warum ich blöde Kuh nicht einfach die Klappe hätte halten können. Meine Wortwahl und mein Ton trafen es zwar auf den Punkt, waren aber absolut nicht mit den erwünschten Umgangsformen des Grand Hotel Paradiso in Einklang zu bringen, und natürlich bekam mein Vorgesetzter jedes gesagte Wort von mir mit. Es war so frustrierend. Verärgert schaute er mich an.
Bevor sie mir etwas entgegenschleudern konnte, versuchte er, meinen verbalen Ausrutscher wieder gutzumachen.
„Signora McGowan, es tut mir sehr leid. Ich möchte mich aufrichtig für das Verhalten meiner KOLLEGIN entschuldigen, aber wenn Sie rauchen möchten, dann müssen Sie das auf der Terrasse tun.“
Für seine K-O-L-L-E-G-I-N!?
Pah!
„Wie schade“, meinte sie pikiert und ließ die Zigarette in ihr Martiniglas fallen.
Ha, eins zu null für mich – Oma!
„Sie soll uns nochmal dasselbe bringen.“ Ich war ihr nicht mal einen Konter wert? Dann fing sie richtig mit ihm zu flirten an, streichelte seine Hand und lächelte ihn so übertrieben verführerisch an, dass es mich richtig schauderte. Leider ließ das Botox nur eine minimale Mimik zu. Wie blöd aber auch! Kurz vorm Explodieren stellte ich dem jungen Glück zwei Gläser, randvoll gefüllt mit purem Alkohol, auf den Tresen. Skeptisch blickte er mich nach dem ersten Schluck an und ich grinste gekünstelt zurück.
„Na Süßer, wie lange hast du noch Dienst?“
„In einer Stunde ist Dienstwechsel.“
„Na, wie wär‘s? Meine Zimmernummer ist 438“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Augenzwinkernd ließ sie ein paar Geldscheine in die Brusttasche seines Poloshirts gleiten. Um sich davon zu überzeugen, dass ich ja alles haargenau mitbekam, schielte sie provokant zu mir herüber. Ich fasste es nicht! Jetzt nervte sie mich wirklich! Peinlich berührt rieb Tom sich den Nacken. Ehe er überhaupt etwas sagen konnte, brodelte es dafür aus mir heraus.
„Ist das nicht ihr Ehemann, der da draußen im Pool herumplanscht? … Er würde sich bestimmt sehr dafür interessieren, was SEINE FRAU hier so treibt!“ Tom starrte mich mit offenem Mund an.
„Schätzchen, meine Ehe geht Sie genau gar nichts an! Außerdem planscht mein Ehemann bestimmt nicht alleine da draußen herum.“ Sie lachte laut auf, als wäre das witzig.
„Glauben Sie ernsthaft“, fuhr ich sie weiter an, „er hätte nur einen Funken Interesse an einer alten Schachtel wie Ihnen?“ Keine Ahnung, ihre eingeschränkte Mimik ließ mich nicht allzu viel erkennen, aber sie sah irgendwie getroffen aus.
„So, und jetzt macht la signorina Becker eine PAUSE!“ Tom zog mit einer ruckartigen Bewegung die Geldrolle aus dem Shirt, knallte sie auf den Tresen, packte mich am Ellbogen und schleifte mich von ihr weg.
„La signorina Becker will jetzt aber KEINE PAUSE machen!“
„Oh doch, will sie schon!“, presste er hervor.
„Oh nein, will sie NICHT!“, konterte ich.
„Mia! … Es reicht!! Wir müssen REDEN! Und zwar SOFORT!!“ Mit welchem Recht wollte er mir den Mund verbieten? Ich hatte noch so einiges, was ich loswerden wollte, also motzte ich ungebremst weiter: „Sie sind verheiratet! Sie haben sich ein Versprechen gegeben, wie kann man …“ Zu mehr kam ich nicht mehr, denn mein Vorgesetzter hielt fest die Hand vor meinen Mund und zerrte mich in die Küche. Mit dem Fuß machte er die Tür hinter sich zu, stellte mich ab und nahm vorsichtig seine Hand weg, aber sein Blick blieb böse auf mich gerichtet, und dann legte ich erneut los. Wild fuchtelte ich mit meinen Armen herum. Ich war so richtig in Fahrt und hatte keine Ahnung, wie ich wieder runterkommen sollte.
„Bist du jetzt auch noch ein Gigolo, der sich für Sex bezahlen lässt? Kommst du dir gar nicht schäbig dabei vor? Was ist mit deiner Selbstachtung passiert, mit deinem Stolz?! Die Schnepfe könnte deine Mutter sein, vielleicht sogar deine Oma!“ Schnaubend und mit verschränkten Armen machte ich mich auf den Anschiss meines Lebens gefasst.
Ich war bereit!
Seufzend musterte er mich eindringlich. Auf einmal wirkte er ausgesprochen ruhig. Ich wartete ab. Natürlich war mir klar, dass ich zu weit gegangen war. Mir waren wohl ein paar Sicherungen durchgebrannt, aber irgendwie hatte ich nicht anders gekonnt. Seine Gesichtszüge veränderten sich, er lächelte mir sanft zu.
Wo blieb meine Standpauke?
Ich verstand die Welt nicht mehr.
„Mia, du hast den Bogen echt überspannt, das weißt du selbst. Du kannst mit unseren Gästen nicht so reden.“
„Aber …“, ich blickte ihn flehend an, bat insgeheim um Verständnis. Wofür wusste ich selbst gerade nicht.
„Nichts aber“, ich drehte meinen Kopf zur Seite, „das bringt uns nur eine Menge Ärger ein. Solche Sachen regeln wir diplomatisch.“
„Du musst doch mehr von deinem Leben erwarten, als hinter einer Bar zu arbeiten, um Witwentröster zu spielen?“
„Mehr? … Vielleicht will ich mehr, aber ich habe keine Ahnung, ob ich für mehr bereit bin. Warum Gefühle investieren, wenn es sich sowieso nicht lohnt.“ Ähm … also … so hatte ich das jetzt nicht gemeint. „Eigentlich müsstest du doch schon längst wieder in München sein, verheiratet mit diesem Glückspilz – oder nicht? Ich denke du bist genauso wenig bereit für mehr, wie ich es bin.“
Okay, irgendwann, irgendwo, irgendwie hatte ich wohl den Anschluss verpasst.
Auf einmal standen wir viel zu nah beieinander. Viel zu nah. Ich war überhaupt nicht in der Lage, ihm zu antworten. Hilfesuchend wandte ich mich von ihm ab. Sachte legte er seinen Zeigefinger an mein Kinn und drehte meinen Kopf wieder zu sich. Ohne den Blick auch nur eine Sekunde von mir abzuwenden, schaute er mir so tief in die Augen, dass ich nicht mehr wusste, ob ich überhaupt noch stand; und ja, der Durchfall war auch wieder im Anmarsch. Ich spürte es ganz deutlich. So ein Mist aber auch!
„Du brauchst gar nicht so eifersüchtig zu gucken, bella. Denn eigentlich bist du gerade dabei, dir mein Herz zu klauen.“
Mit Tränen in den Augen löste ich mich von ihm und schubste ihn zur Seite.
„Du Scheißkerl! Glaubst du wirklich, ich falle auf diesen Bullshit rein, nur weil ich dir eine heiße Nacht von vielen versaut habe! Diese Tour zieht bei mir NICHT!“ Dann stürmte ich heulend aus der Bar, dicht gefolgt von ihm. Wie konnte er mir ständig solche Sachen sagen, wenn er sie nicht so meinte.
„Mia, so warte doch …“, rief er mir hinterher. Die Gäste blickten uns konsterniert an, als wir so an ihnen vorbeisausten, aber das war uns gerade mal scheißegal. Privates von Beruflichem zu trennen, das war dann doch nicht ganz so unser Ding.
Ohne mich auch nur einmal umzudrehen, wartete ich auf den Fahrstuhl. Die Tür öffnete sich, und ich drückte wie eine Irre auf sämtlichen Tasten herum und sah nur mehr Toms geschockten Gesichtsausdruck, als sich die Fahrstuhltür langsam schloss.
Schluchzend kauerte ich mich in eine Ecke, riss mir die Schürze vom Leib, schmiss sie wütend an die Wand und bitzelte vor mich hin. Warum musste alles so kompliziert sein?!
„SCHEISSE! – SCHEISSE! – SCHEISSE!“, schrie ich und boxte mit geballten Fäusten in den Boden. Der Fahrstuhl blieb stehen. Ich merkte es nicht gleich, aber als ich zur Tür hinguckte, öffnete sie sich noch immer nicht. Panik machte sich in mir breit. Auf der Schaltfläche leuchteten ein paar Knöpfe orange. Über der Tür flimmerten die Zahlen eins und zwei in kräftigem Rot.
Das konnte nicht sein.
Ich hing tatsächlich in einem Fahrstuhl fest. Schlagartig hatte ich den Eindruck, dass die Luft um mich herum immer dünner wurde. Ich saß noch keine Minute fest, aber diese beklemmende Enge war jetzt schon nicht mehr auszuhalten. Panik stieg in mir hoch. Mit zitternden Händen raffte ich mich auf und drückte heftig auf den Knopf mit dem Glockensymbol drauf. Der Raum kam mir noch viel mickriger als sonst vor. Beklemmende Gefühle ließen mich erneut zusammensacken.
Nur knapp hatte Tom den Fahrstuhl verpasst. Wütend trat er gegen einen runden Abfalleimer, der unschuldig im Flur herumstand. Ein paar Leute drehten sich in der Lobby nach ihm um, tuschelten leise vor sich hin. Der Hausmeister, der gerade am Telefon hing und die Szene von Anfang an mitverfolgt hatte, schüttelte nur mitleidig den Kopf.
Mit beiden Händen fuhr sich Tom durch die Haare, stampfte wütend in den Boden, wollte nochmals umkehren, ließ es aber dann doch sein. Betroffen steckte er seine Hände in die Hosentaschen. Nur vage nahm er den Notrufklingelton wahr, der aus dem kleinen Büro des Hausmeisters kam. Er kannte diesen Ton genau, denn seit der letzten Wartung hatte es schon einige Probleme mit dem Fahrstuhl gegeben. Es verging keine Sekunde, als er auch schon zum Hausmeister hin eilte, der nun am Notruftelefon hing und mit der Person telefonierte, die im Fahrstuhl festhing.
„Hallo, hört mich jemand? … Der Fahrstuhl … die Tür … sie lässt sich nicht öffnen … ich sitz´ hier fest.“ Ausgesprochen klangen diese Worte noch viel bedrohlicher.
„Signorina, ist mit Ihnen alles in Ordnung?“, fragte mich eine unbekannte Stimme und ich beruhigte mich ein wenig.
Der Empfang schien schlechter zu werden und ein lautes Rauschen war zu hören. Erneute Panik schoss in mir hoch, und ich klemmte mir meinen Kopf zwischen die Beine.
„Mia? … Kannst du mich hören, ich bin´s, Tom!“
„Tom“, sagte ich leise, „Ja, ich kann dich hören …“ Nur wusste ich nicht, ob ich jetzt tatsächlich erleichtert sein sollte.
„Mach dir keine Sorgen, wir holen dich da raus. Der Hausmeister macht sich gerade an die Arbeit, aber es wird eine Weile dauern.“
„Tom … ich hab Angst!“
„Ich weiß Süße, aber bitte mach´ mir jetzt bloß nicht schlapp! Versprich mir das!“
„Ich weiß nicht, es ist alles so eng hier … und ich bekomme … kaum Luft.“ Verstohlen blickte ich um mich. Das Sprechen fiel mir auf einmal viel schwerer, und ich fühlte mich so unsagbar schwach. „Konzentriere dich auf deine Atmung, Mia … atme langsam ein, so wie du es gelernt hast. Du bist stark! Ich weiß, dass du das schaffst.“
Musik, das wäre eine Möglichkeit, schoss es ihm durch den Kopf. Er fing an, den Schreibtisch des Hausmeisters durchzuwühlen, stöberte in allen Schubladen, suchte fast schon verzweifelt in den Regalen.
„Verdammt, gibt es hier keine einzige vernünftige CD!?“, schimpfte er vor sich hin, bis ihm eine in die Hände fiel, die ihn sogar zum Schmunzeln brachte. Er legte sie in den Player und schnappte sich erneut den Hörer.
„Mia, hörst du diese Musik? … Kannst du dich noch erinnern, bei deiner Ankunft hier, hörten wir diesen komischen Song zum ersten Mal!“
„Oh ja … ich weiß noch … hört sich wie die Mittagsmusik beim Chinesen an“, stammelte ich angespannt. Tom lachte. Immerhin war eine verkorkste Musik besser als gar keine.
„Ja genau … weißt du noch, damals hast du mich noch viel mehr gehasst als jetzt!“
„Ich habe dich nicht gehasst … naja, vielleicht ein wenig“, gab ich ehrlich zu.
Ruhig einatmen und wieder ausatmen, ging es mir wie ein Mantra durch den Kopf.
Nicht nur meine Stimme zitterte, auch meine Hände und Beine konnte ich nicht stillhalten, und erst die Enge in meinem Hals. Alles zusammen war kaum auszuhalten.
„Sollten wir mal rein zufällig zusammen in Österreich sein, aus welchen Gründen auch immer, würde ich gern mal mit dir zum Chinesen gehen.“
„Tom, du bist echt fies, … du nützt meine Lage aus!“, keuchte ich.
„Ich weiß, scusa. Aber du musst wissen, was ich auch zu dir gesagt habe, ich hab´s immer ehrlich gemeint.“
Stille.
„Mia? … Bist du noch da?“
Halloho, ich sitze hier im Fahrstuhl fest, wohin sollte ich denn auch gehen!?
Ich machte es mir bequem, legte mich auf den Boden und lehnte meine Beine hoch an die Wand.
„Ja“, antwortete ich ihm leise. „Dauert es noch lange?“
„Ich denke nicht.“
Tom quasselte mich noch eine halbe Stunde voll. Er erzählte mir Missgeschicke von Olli und sich. Er war witzig, und ich sah ständig sein lächelndes Gesicht vor mir, im Hintergrund die verkorkste Musik in Dauerschleife. Seine Ablenkung schien zu funktionieren, bis plötzlich, nach einem heftigen Ruck, der Fahrstuhl wieder zwei Stockwerke weiterfuhr und die Tür aufging. Reglos kauerte ich erneut auf dem Boden und traute mich kaum, mich zu bewegen oder zu atmen. Ich hatte Angst, die Tür würde erneut zugehen, aber da stand mein Retter schon vor mir. Keuchend, prustend mit hochrotem Gesicht, hielt er die beiden Aufzugstüren auseinander und grinste mir verschmitzt zu. Ein paar verschwitzte Haarsträhnen fielen ihm locker in die Stirn. Selbst da sah er einfach noch zu gut aus. Er musste die vier Stockwerke wie verrückt hochgerannt sein. Ohne zu zögern, hob er mich hoch und trug mich wie eine Braut runter auf unsere Etage. Aufgebracht hielt ich mich an seinem Hals fest, kuschelte mich in seine Halsbeuge und flüsterte ihm ins Ohr: „Sorry, dass ich so ausgetickt bin.“
„Ist schon okay, langsam gewöhn ich mich ja dran.“ Toll.
Vor meiner Zimmertüre setzte er mich ab. Mit meinen zittrigen Händen versuchte ich, fieberhaft die Tür aufzusperren, was nicht so recht funktionieren wollte, weil mir eine ganz andere Sache durch den Kopf ging. Angelehnt an die Wand beobachtete er mich gelassen. Mit dem Schlüssel in der Hand hielt ich inne.
„Willst du? … Ich meine könntest du vielleicht bei mir bleiben? … Nur heute Nacht?“ Dazu verstummte mein Verstand.
Mit einem verdutzten, aber dennoch süßen Blick schaute er mich eine Zeit lang bloß an. Er hatte absolut nicht damit gerechnet.
„Du überrascht mich immer wieder, bella! Ist das jetzt ein Test oder sind das immer noch die Nebenwirkungen von den Medikamenten, die sie dir im Krankenhaus verabreicht haben?“
„Weder, noch … Ich dachte nicht an …“, stammelte ich verlegen und druckste ein wenig herum, weil ich das Wort nicht mal aussprechen konnte.
„Ich auch nicht.“
Das überraschte mich jetzt.
„Ich möchte heute einfach nicht alleine sein … bräuchte eine starke Schulter zum Anlehnen. Natürlich, wenn das für dich okay ist.“
„Du möchtest diesen Gigolo hier zum Kuscheln ausnutzen.“
„Wenn du das so siehst, dann ist es wohl …“, dann unterbrach er mich.
„Also … ich würde gern mit dir kuscheln“, sagte er warm.
„Okay. Ähm … geht das mit der Bar klar?“, fragte ich noch nach. Ich hatte absolut keine Ahnung, wie spät es eigentlich war, wie lange ich überhaupt festhing.
„Milo macht Schlussdienst und überhaupt war schon Dienstwechsel … Kann ich dich noch kurz alleine lassen? Ich sollte vorher vielleicht noch duschen.“
„Oh natürlich, ich werde auch noch duschen.“
Tom verschwand und ich bewegte mich schlapp ins Bad. In der Dusche ließ ich mir das warme Wasser über den Kopf laufen.
Die letzten Tage waren hart gewesen. Zuerst der Reitunfall und jetzt auch noch diese dumme Geschichte mit dem Fahrstuhl. Ich fühlte mich, als würde ich gezwungen, ständig über meine Grenzen hinauszugehen. Es war, als würde jemand mit einem Kontroller in der Hand auf einer Wolke über mir schweben, amüsiert auf mich runterglotzen und, weil es ihm so viel Spaß machte, mein Leben von einem Desaster zum nächsten steuern. Dabei lacht dieses Wesen so laut, so richtig fies, dass es fast von seiner Wolke purzelt. Ich war ausgelaugt.
Total alle!
Bräuchte ein bisschen Zeit, meine Batterien wieder aufzuladen.
„Du da oben, könntest du dir vielleicht für ein paar Wochen eine Auszeit nehmen? Das wäre wirklich sehr nett von dir.“ So weit war es nun schon mit mir gekommen – Selbstgespräche! Altersdemenz machte sich dann doch schon in jungen Jahren bemerkbar.
Vielleicht würde er gar nicht kommen und in den nächsten Minuten absagen, weil etwas Wichtiges mit Lorenzo war, grübelte ich vor mich hin. War es ein Fehler gewesen ihn zu fragen?
Mit einem mittlerweile altbekannten Kribbeln im Bauch wickelte ich meine nassen Haare in ein Handtuch und machte mir einen Turban auf den Kopf. Leicht fröstelnd kuschelte ich mich in den weißen Hotelbademantel. Es klopfte. Mein Herz und ebenso an meiner Zimmertür. Nervös machte ich auf. Tom stand lässig im Türrahmen, sein süßestes Lächeln aufgesetzt, bekleidet mit einem weißen Shirt und einer gemütlichen Jogginghose. Seine Haare waren noch feucht. Er wirkte sportlich und so wahnsinnig sexy. Er roch nach frischem, herbem Duschgel und mir wurde schon wieder schummerig.
„Du bist barfuß“, bemerkte ich schmunzelnd.