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Die Erzählung "Das Mädchen in meinem Kopf" handelt von der 18-jährigen Amélie Sommer, die zunächst ein ziemlich perfektes Leben führt. Ihre Beliebtheit, ihr makelloses Aussehen und ihr schulischer Erfolg lassen sie zu einem oberflächlichen Menschen mutieren, der keinerlei Probleme kennt. Auf einmal erscheint Amélie jedoch ein Mädchen, von welchem sie überall hin verfolgt wird. Sie gerät mehr und mehr in die Fänge dieser Person und beginnt sich allmählich von der Aussenwelt abzukapseln. Dabei wird sie von der Frage gequält, weshalb ihre Mitmenschen behaupten, ihre neue Freundin nicht sehen zu können. Ihr zunächst perfekt erscheinendes Leben droht in sich zusammen zu brechen. Ob Amélie da wieder rauskommt?
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Seitenzahl: 71
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meiner Schwester Sabrina
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Ich schnappte nach Luft, als ich sie plötzlich neben dem Bücherregal stehen sah. Sie befand sich direkt vor mir und ich blickte ihr unverwandt ins Gesicht. Ich glaubte, mein Herz hätte für eine Sekunde ausgesetzt, doch dann spürte ich wieder den dumpfen Doppelton. Mein Körper verkrampfte sich. Sie stand reglos an der Wand, starr, als wäre sie aus Stein gemeisselt. Ihre aschblonden Haare hingen wie Fäden hinunter, flossen ihrem dürren Körper entlang. Die eingefallenen Wangen liessen ihre Gesichtsknochen noch kantiger hervorstehen. Ihr Anblick jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken und dennoch konnte ich meinen Blick nicht von dieser scheusslichen Kreatur wenden. Ich erkannte ein Zucken in ihrem linken Handgelenk: Sie schien aus ihrer Starre langsam zu erwachen. Mein Herz begann wie wild zu hämmern, sodass ich glaubte, es würde jeden Moment den Brustkorb zum Explodieren zwingen. Ihre schmalen Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen, als sie meine angsterfüllten Augen entdeckte. Es bereitete ihr anscheinend Spass, mich leiden zu sehen. Der Atem verliess mich stossweise und heftig. Die Gedanken in meinem Kopf begannen zu rasen und ich wollte nur noch weg von hier, weg aus diesem Zimmer, weg aus dieser Stadt, weg aus dieser Welt. Ich wollte aufspringen, um einfach davonzulaufen, doch mein Körper war wie gelähmt. Ihre Anwesenheit fesselte mich förmlich an den Stuhl. Die gläsernen Augen des Mädchens begannen aufgeregt zu blitzen, als hätte sie meine Gedanken gelesen, und sie kam jetzt langsam auf mich zu. Eiserne Panik kroch in mir hoch. Ich richtete meinen Blick auf den Fussboden und presste meine Augenlider zusammen, in der Hoffnung, sie würde sich so einfach wieder in Luft auflösen, genauso augenblicklich wieder verschwinden, wie sie gekommen war. Das Klackern ihrer Absätze auf dem Parkett hallte in meinen Ohren. Da nahm ich die eiserne Kälte in meinem Zimmer wahr. Das Mädchen kam immer näher auf mich zu, das Geräusch ihrer Schuhe wurde eindringlicher und lauter. Mein Körper wurde von einem heftigen Schütteln ergriffen und ich wollte schreien, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich brachte keinen Ton heraus. Mein Griff um die Armlehnen des hölzernen Stuhles wurde stärker, sodass meine Knöchel weiss heraustraten. Doch ich spürte den Schmerz in meinen Händen nicht, ich spürte überhaupt nichts mehr. Plötzlich hielt sie inne und das Klackern verstummte. Stille. Ich traute mich kaum zu atmen. Ich hatte Angst, sie würde das Pochen meines Pulses hören. Jeder meiner Muskeln war angespannt. Ich wollte wissen, was sie tat, weshalb sie plötzlich stillstand, doch ich wagte es nicht, meinen Kopf zu heben, um nachzusehen. Noch nie zuvor war mir eine solche Stille widerfahren. Ich spürte, wie mir schwindlig wurde. Der süssliche Duft von einem Gemisch aus Rosen und Magnolien stieg mir in die Nase. Dieser frische Geruch liess mich an den Frühling denken, an die farbenfrohen Wiesen, die warmen Sonnenstrahlen… Der Duft schien meinen Körper wie ein Schleier zu umhüllen. Ich vergass beinahe, wo ich eigentlich war, als mir mit einem Schlag klar wurde, woher ich den Duft kannte. Es war ein Parfum: Die neue Kreation von Chanel, die meine Mutter täglich auf ihre Handgelenke träufelte und nachdem das Bad seit neuem immer roch. Jetzt wusste ich, dass das Mädchen nur noch Millimeter von mir entfernt war, denn dieser Duft war auch ihr Parfum. Ihr heisser Atem erreichte meine Haut, worauf sich meine Nackenhaare zu Berge stellten und mir ein gellender Schrei entfuhr.
Ich strich meine neue Bluse glatt und betrachtete mein Spiegelbild. Der Stoff fühlte sich leicht und angenehm kühl auf der Haut an. Ich fand, die hellen Pastelltöne unterstrichen meine stahlblauen Augen zusätzlich. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie meine Schwester mich musterte. Ein zufriedenes Lächeln machte sich auf meinen Lippen breit. Sie sagte nichts, sondern sass stumm auf meinem Bett und liess ihre Beine über die Bettkante baumeln. Sie sagte nichts, doch der Neid war ihr ins Gesicht geschrieben. Sie kaute an ihren Fingernägeln und tat so, als wäre sie gelangweilt. Immer wenn mich meine Schwester ansah und mich von oben bis unten musterte, als sähe sie mich zum ersten Mal, konnte ich in ihren rehbraunen Augen pure Eifersucht erkennen. Sie tat mir manchmal schon fast ein bisschen leid, wie sie da sass, mit ihrem langweiligen, braunen Bob, der schon lange aus der Mode war. Auch ihre Kleider schienen einem Modekatalog aus dem letzten Jahrhundert entsprungen zu sein. Anscheinend war ich es, die die gesamte Schönheit unsere Mutter geerbt hatte…
„Gehst du heute noch aus?“, fragte Emma zögernd. Sie versuchte, die Frage möglichst beiläufig klingen zu lassen.
„Luc holt mich um acht ab.“ Ich griff nach meiner Bürste und begann meine Haare zu kämmen.
Emma rollte genervt die Augen und schwieg. Sie war eher still, doch ihre Blicke sprachen meist Bände. Deshalb war mir auch nicht entgangen, dass sie schon seit Längerem ein Auge auf meinen Freund Luc geworfen hatte. Sie stritt es immer eisern ab, wenn ich dieses Thema ansprach, aber die Blicke, die sie ihm zuwarf, waren eindeutig. Ich hatte Luc durch Emma kennengelernt – er besuchte noch vor kurzem die gleiche Klasse wie sie. Doch nun war ich es, die mit ihm seit drei Monaten ging. Ich brauchte nicht eifersüchtig zu sein, nein, denn Emma hatte keine Chancen bei ihm. Neben meinen äusseren Vorteilen war ich auch viel offener als meine ältere Schwester. Kontakte zu knüpfen fiel ihr im Gegensatz zu mir sehr schwer. Überhaupt war mir Luc hörig und verfiel mir immer wieder aufs Neue. Er tat immer das, was ich wollte: Er war die Marionette – ich der Marionettenspieler. Ich war mir nicht sicher, ob er mich bereits ein wenig langweilte; aber ich wollte ihm noch ein bisschen Zeit geben. Denn sein Wesen wurde in der Tat von etwas Besonderem oder gar Geheimnisvollen umgeben.
Ich nahm meinen Lippenstift aus der Schublade, zog die Hülse ab und schraubte ihn heraus. Ich spitzte meine vollen Lippen und trug den kirschroten Lippenstift auf.
„Wollte Vater nicht, dass du heute Abend noch für deine Mathearbeit lernst?“, erkundigte sich Emma, worauf sie nicht verhindern konnte, dass sich ihre Lippen zu einem vagen Lächeln verzogen, welches sie aber mit ihrer Hand schnell verdeckte. Ich hielt für einen Moment inne und dachte nach, dann liess ich den Lippenstift weiter über meine Lippen gleiten.
„Das kann ich auch morgen noch erledigen“, erwiderte ich, „und wenn Dad Probleme macht, werde ich meinen Charme ein wenig spielen lassen, dann wird er mir nicht widerstehen können.“
Damit hatte ich Recht. Mir fiel es leicht, unsere Eltern um den Finger zu wickeln. Was hatten sie denn schon gegen mich in der Hand? Ich schrieb reihenweise gute Noten, war sehr beliebt an meiner Schule, hatte das makellose Aussehen meiner Mutter, ging mit Luc, dem Sohn eines angesehenen Zahnarztes, und arbeitete neben dem Gymnasium im Starbucks, um mein eigenes Geld zu verdienen. Emma konnte dagegen nur schwer ankommen. Deshalb drückten unsere Eltern bei mir auch öfters mal ein Auge zu. Damit will ich nicht sagen, dass sie von ihnen nicht geliebt wurde, sondern dass sie glaubten, Emma bräuchte mehr Unterstützung im Leben und eine strenge Hand, die sie davon abhalten sollte, ihre Zeit zu vergeuden. Meine Schwester hatte vor zwei Monaten ihr Kunstgeschichtsstudium begonnen, von dem unsere Eltern, insbesondere Vater, alles andere als begeistert waren, denn ihrer Meinung nach war die Beschäftigung mit Kunst vergeudete Zeit. Überhaupt waren unsere Eltern sehr darauf bedacht, dass ihre beiden Töchter in ihrem späteren Leben mindestens genauso erfolgreich wurden wie sie selbst. Mutter war eine angesehene Immobilienmaklerin und führte den lieben langen Tag reichen Schnöseln teure Wohnungen vor, Vater war Chefarzt.
Emma wollte gerade etwas auf meine Bemerkung erwidern, da klingelte es an der Haustür. Das musste Luc sein! Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel, bevor ich die Stufen ins Wohnzimmer herabeilte. Ich strich mir nochmals über die Haare und presste meine Lippen aufeinander, sodass sich der Lippenstift verteilte. Dann öffnete ich die Haustür. Luc stand mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht vor mir. Seine blauen Augen begannen aufgeregt zu blitzen, als er mich sah. Er bückte sich leicht, um mich zu küssen.