Bacolod - Die Gefangene mit der grauen Strähne - Hans Radmann - E-Book

Bacolod - Die Gefangene mit der grauen Strähne E-Book

Hans Radmann

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Beschreibung

-- Daniel, weißt du eigentlich, was für eine loyale, wunderbare Frau du hast? Es verlangt eine gehörige Portion Mut, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, auch wenn man noch so überzeugt ist. Ich kenne diese Gefangene nicht und kann nicht sagen, ob sie schuldig ist. Aber Vian hat Zweifel und das Recht, die Wahrheit über diese Frau herauszufinden, weil das Gewissen es ihr sagt. Ich achte ihre Beweggründe und ihren Enthusiasmus. -- Sieben Jahre ist es her, als Vian und die kleine Aylin durch einem dramatischen Polizeieinsatz in Bacolod City aus den Händen ihrer Entführer befreit werden konnten. Elsie sieht Vian kurz vor Beendigung ihrer Haftstrafe wieder. Vian beschließt, sie zu rehabilitieren und als Kindermädchen anzustellen, eine Entscheidung, auf die Felizitas zunächst mit Entsetzen reagiert. Im Zellentrakt trifft Vian auf Madita, die wegen fünffachen Mordes verurteilt wurde. Obwohl Fotos und eine Zeugenaussage existieren, kann sie sich mysteriöserweise nicht an die Tat erinnern. Vom Wunsch besessen, ihre Geschichte aufzudecken, werden Vians Begegnungen mit Madita zu einer Prüfung, die ihr alles abverlangt. Als Leif auf einem Pressefoto eine Ungereimtheit erkennt, beginnen sie in der Stadt zu recherchieren, wo das Verbrechen geschah.

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Bacolod - Die Gefangene mit der grauen Strähne

Bacolod - Die Gefangene mit der grauen SträhneÜber diesen RomanHinweiseDer AutorTeil 1 - Kapitel 1 - Zwei erstgeborene TöchterTeil 1 - Kapitel 2Teil 1 - Kapitel 3Teil 1 - Kapitel 4Teil 1 - Kapitel 5Teil 1 - Kapitel 6Teil 1 - Kapitel 7Teil 1 - Kapitel 8Teil 1 - Kapitel 9Teil 1 - Kapitel 10Teil 1 - Kapitel 11Teil 1 - Kapitel 12Teil 1 - Kapitel 13Teil 1 - Kapitel 14Teil 1 - Kapitel 15Teil 1 - Kapitel 16Teil 1 - Kapitel 17Teil 2 - Kapitel 1 - Die graue SträhneTeil 2 - Kapitel 2Teil 2 - Kapitel 3Teil 2 - Kapitel 4Teil 2 - Kapitel 5Teil 2 - Kapitel 6Teil 2 - Kapitel 7Teil 2 - Kapitel 8Teil 2 - Kapitel 9Teil 2 - Kapitel 10Teil 2 - Kapitel 11Teil 2 - Kapitel 12Teil 2 - Kapitel 13Teil 2 - Kapitel 14Teil 2 - Kapitel 15Teil 2 - Kapitel 16Teil 2 - Kapitel 17Teil 2 - Kapitel 18Teil 2 - Kapitel 19Teil 2 - Kapitel 20Teil 3 - Kapitel 1 - Das Geheimnis um MaditaTeil 3 - Kapitel 2Teil 3 - Kapitel 3Teil 3 - Kapitel 4Teil 3 - Kapitel 5Teil 3 - Kapitel 6Teil 3 - Kapitel 7 Teil 3 - Kapitel 8Teil 3 - Kapitel 9Teil 3 - Kapitel 10Teil 3 - Kapitel 11Teil 3 - Kapitel 12Teil 3 - Kapitel 13Teil 3 - Kapitel 14Teil 3 - Kapitel 15Teil 3 - Kapitel 16Teil 3 - Kapitel 17Teil 3 - Kapitel 18Teil 4 - Kapitel 1 - KonfrontationTeil 4 - Kapitel 2Teil 4 - Kapitel 3Teil 4 - Kapitel 4 Teil 4 - Kapitel 5Teil 4 - Kapitel 6Teil 4 - Kapitel 7Teil 4 - Kapitel 8Teil 4 - Kapitel 9Teil 4 - Kapitel 10 Teil 4 - Kapitel 11Teil 4 - Kapitel 12Teil 4 - Kapitel 13Teil 5 - Kapitel 1 - Der Gang nach CapizTeil 5 - Kapitel 2Teil 5 - Kapitel 3Teil 5 - Kapitel 4Teil 5 - Kapitel 5Teil 5 - Kapitel 6Teil 5 - Kapitel 7Teil 5 - Kapitel 8Teil 5 - Kapitel 9Teil 5 - Kapitel 10Teil 5 - Kapitel 11Teil 5 - Kapitel 12Glossar - Erklärung zu den philippinischen AusdrückenNachwortWeitere Romane von Hans RadmannImpressum

Bacolod - Die Gefangene mit der grauen Strähne

            (Paglaya)

3. Band der Bacolod - Trilogie

©Hans Radmann

Bacolod – Die Gefangene mit der grauen Strähne – 2021 - Überarbeitete Ausgabe 2022

All rights reserved

Alle Texte, die Bilddateien / Skizzen und das Cover unterliegen dem Copyright. Der Nachdruck und auch die elektronische Vervielfältigung, auch auszugsweise, sind nur nach Zustimmung durch den Autor gestattet. Die Romanfiguren und deren Namen sind sämtlich frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit tatsächlich existierenden Personen wären rein zufällig und sind nicht gewollt. Das trifft insbesondere auf die für die Story erfundenen Namen von Firmen, Institutionen und die virtuellen Charaktere auf dem Cover zu, die ausschließlich ohne jede reale Vorlage mit künstlerischen Mitteln gestaltet wurden

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Über diesen Roman

Die Geschichte spielt sieben Jahre nach den Ereignissen im zweiten Band. Das Inselreich wird wieder zum Schauplatz leidenschaftlicher Gefühle, loyaler Freundschaft und einer Kette zu Herzen gehender Ereignisse voller Dramatik.

Hinweise

Es kommen gelegentlich philippinische Wörter im Text vor. Auf den letzten Seiten steht ein Glossar zur Verfügung oder im betreffenden Satz ist die deutsche Bedeutung angefügt. Der Leser wird deswegen keine Schwierigkeiten haben, dem Textfluss zu folgen.

In Schrägschrift eingefügte Dialoge stammen wegen der Verbindung der Geschehnisse aus den Bänden: VERSCHOLLEN VOR MITTERNACHT und DIE SUCHE NACH DER VERLORENEN TOCHTER.

Der Autor

Hans Radmann ist seit 1995 glücklich mit einer Filipina verheiratet, lebt in Offenbach, beherrscht die Tagalog-Sprache, liebt die Kultur der Philippinen und setzt sich mit den Lebensverhältnissen, der Kunst und der Geschichte der Region auseinander, aus der die Familie seiner Frau stammt. Seit 2016 schreibt er Romane, deren Handlungen auf dem Inselreich spielen, aber nicht autobiografisch sind. Beeinflusst von den Eindrücken während seiner Reisen entstand die Bacolod-Trilogie, die mit diesem letzten Band ihren Abschluss findet.

Teil 1 - Kapitel 1 - Zwei erstgeborene Töchter

In all den Jahren gab es nur eine Routine, die Elsie nie lieben lernen konnte, nämlich dieses akkurat pünktliche Aufstehen morgens um 5 Uhr. Auf dem Inselreich glitzerten um diese Zeit immer die ersten Strahlen der Morgensonne durch die Fenster, trotzdem war sie nie ein Frühaufsteher. Schon seit ihrer Kindheit fiel es ihr so schwer. Elsie richtet sich auf, reibt sich die müden Augen. Die Eisenstäbe der Zellentür sind wie immer die erste Impression in ihrem gescheckten Graumetall. Es herrscht Disziplin hier drin, erkennbar durch den schon hell erleuchteten Flur und die umherpatrouillierenden Wärterinnen. Sie dreht ihren Kopf zur Seite. Ihre Zellengenossin steht an dem armseligen Handwaschbecken und grinst mit weit geöffnetem Mund in den Spiegel. Ihre Zähne sind für sie heilig und das morgendliche Getue um ihre Wimpern ist eine Art Ritual. Sie besitzt sogar einen dunkelroten Lippenstift neben dem schwarzen Eyeliner, den sie von ihrer Schwester während eines Besuchs geschenkt bekam. Mürrisch blickt Elsie durch die Gitterstäbe hindurch auf den Korridor und holt sich eine der Zeitschriften aus dem Stapel heraus, den sie am Fußende ihrer Pritsche platziert hat. Sie muss etwas lesen, wie jeden Morgen, sonst würde sie wahnsinnig werden. Sechs Jahre und elf Monate werden es übermorgen sein. Einerseits ist es erfreulich, andererseits quälen sie seit Wochen wahnsinnige Ängste vor dem Leben dort draußen. Durch das Lesen versucht sie diese Furcht wegzuwischen. Sie kommt nicht weit, denn die Stimme an der Tür schreckt sie auf. Die Aufseherin mit dem akribisch zusammengebundenen Dutt steckt den Schlüssel in die Öffnung an dem groben Hebelschloss und entriegelt diese unerbittlich funktionierende Mechanik, die jedem, der in einer dieser Behausungen hocken muss, alle Freiheit zerstört.

„Guten Morgen, ihr beiden!“

„Hello po, Mam.“

„Hey Sumulang! Mach dich anständig fertig, okay? Der neue Direktor will euch sprechen und meine Mädchen sollen ordentlich aussehen.“

Die Wärterin grinst mit breitem Mund durch die Zwischenräume des Eisengitters und Elsie fühlt wieder autoritäre Unerbittlichkeit hinter dieser Fassade.

„Ihr habt verstanden?“

„Ja, Mam po.“

Elsie mustert ihre Zellenkameradin, die sich immer noch mit ihrer Wimperntusche beschäftigt.

„Hey, darf ich mal ans Waschbecken?“

„Oh… sorry, Ate.“

Schüchtern geht die junge Frau beiseite. Elsie braucht nicht lange, um ihr Gesicht mit dem kalten Wasser zu säubern. Heute muss das frisch gewaschene Shirt herhalten. Die Insassinnen sollen in echtem Glanz erstrahlen, in dem Einheitsorange, dass durch die unterschiedlichen Sticker mit den Kennnummern eine winzige Variation erfährt.

„Magst du auch Lippenstift?“

„Nein.“

„Na, dann nicht.“

Die ganze Zeit hatte die Aufseherin den beiden zugeschaut, Elsie nervt diese Bespitzelei ziemlich. Endlich greift sie an den Hebel und dreht ihn zur Seite. Das schabende Geräusch des Schubriegels klingt markant. Die beiden Frauen werden aufgefordert, in den Speisesaal zu gehen. Hinter der smarten Freundlichkeit steckt Konsequenz und Härte. Elsie konnte jede Menge Erfahrungen in den letzten Jahren sammeln. In diesem Zellentrakt sind die Vorbildlichen eingesperrt, die Gehorsamen oder die vorher schon Gebrochenen, die Privilegien erhielten. Die meisten der Wärterinnen sind ganz okay, doch das ändert sich schlagartig, würde eine von den Insassinnen es nur wagen, diese Ordnung anzufechten.

„Gleich nach dem Frühstück seid ihr beide dran. Du um halb 7 und Sumulang fünfzehn Minuten später. Guten Appetit.“

Leise flüstert die Zellenkameradin Elsie ins Ohr: „Der Koch ist eine Niete. Die Hälfte vom Reis ist so hart wie ein Stück Bambus.“

„Du hast doch gesunde Zähne.“

Monoton wie immer wirkt die alltägliche Abfolge in der Schlange mit den beiden Blechtellern, die sie hier alle in den Händen halten. Der weiße Reis ist obligatorisch und wird heute mit einem Spiegelei und etwas ‚Chicken Tocino‘ verziert. Für Elsie ist das Frühstücken kein freudiges Erlebnis. Sie redet nicht so viel mit den anderen, deren Schnatterei ausartet, weil sie hier auf einem Haufen zusammen sein können. Die Gespräche drehen sich meist um die Familie draußen, den Boyfriend oder Träume, die bei den wenigsten in Erfüllung gehen werden. Drei Plätze weiter fängt eines dieser armen Geschöpfe an zu weinen. Kaum 21 ist sie und vor einem Jahr wegen einer Drogensache verurteilt worden. Elsie schaut sich die Szene an und muss den Kopf schütteln. Die Kleine wird hier drin psychisch zugrunde gehen, wenn sie sich nicht zusammenreißt. Dabei bekommt sie sogar jede Woche Besuch von der Mama, die mit ihr, getrennt durch die Scheibe, ein Heulkonzert von sich gibt. Elsie blickt zur Wanduhr und stopft sich das Ei und den letzten Löffel Reis in den Mund. Sie hat nur noch neun Minuten und schon gehört, dass der neue Direktor Pünktlichkeit liebt.

„Die nächste Gefangene, Sir.“

„Pünktlich. Komm ruhig näher, mein Kind.“

Glucksende Augen in dem fülligen Gesicht mit einem dünnen Oberlippenbart betrachten Elsie von oben bis unten. Der Mann ist seit drei Wochen Leiter der Strafanstalt. Jeden Morgen begutachtete er einige von ihnen, um sich persönlich jedem Fall zu widmen, wie er es in seiner Einführungsansprache blumig hervorhob. Elsie findet, dass er ein Charmeur sein muss. Er kommt ihr wie der Typ Schauspieler vor, der manchmal in diese schwülstigen Liebesdrama-Filme eingebaut wird.

„Setz dich. Wie alt?“

„36.“

Die Aufseherin zischt sie an: „Zeig mal Respekt, Sumulang.“

„Sorry po Sir. Ich bin 36 Jahre alt po.“

„Schon gut. Setz dich endlich hin.“

Die Sekretärin legt eine Mappe auf die Schreibunterlage vor ihm. Die Augen des Direktors lassen Elsie keine Sekunde los.

„Hier steht ‚Aus Tondo‘. Wieso sitzt sie denn hier ein?“

„Die Straftat wurde in Bacolod City verübt.“

„Wegen welcher Vergehen ist sie verurteilt worden?“

„Entführung, Mordversuch, Erpressung, Schiebereien. Ein Kleinkind und eine junge Frau haben sie damals gekidnappt.“

„Und du hast dafür sieben Jahre bekommen?“

„Opo Sir.“

„Soso…, Elsie, wie alt war das Kind?“

„Zwei Jahre po.“

„Ein Kind. Und wenn ihr kein Lösegeld bekommen hättet? Was dann?“

„Ich… wollte das nicht.“

Demütig blickt Elsie nach unten. Sie beißt sich auf die Zunge, um ja kein falsches Wort loszulassen.

„Sicher. Du wolltest das ganz bestimmt nicht.“

Verblüfft zeigt der Mann auf eine Stelle des Berichts und blickt seine Sekretärin lächelnd an. Die Art und Weise dieses Blickes lässt Elsie frieren. Er hat wohl schon ein romantisches Auge auf die Angestellte geworfen, fein gefühlt mit den Antennen einer Frau.

„Der Name hier ist fremdartig.“

„Das Kind hat einen deutschen Vater, die Mutter ist Filipina.“

„Oh…, einen Foreigner wolltet ihr ausnehmen und habt sein Kind entführt. Abartig. Es ist wohl schiefgegangen. Natürlich wolltest du das nicht. Nur komisch, dass du hier bei uns und nicht am Strand mit deinem Liebsten bist. Du kannst auf Knien rutschend froh darüber sein, dass du dich gedemütigt hast. Der Führungsbericht ist positiv. Wenn du in einem Monat rauskommst, dann danke Gott inständig.“

„Opo Sir.“

„Ich habe mich gefreut, dich kennengelernt zu haben, Elsie.“

„Ganz meinerseits, Sir.“

Keine Sekunde länger will sie auf diesem Stuhl hocken und erhebt sich. Der Direktor blättert wieder in ihrer Akte und schaut auf eine der niedergeschriebenen Passagen.

„Halt noch.“

Elsie zittert innerlich, kann nicht berechnen, was jetzt kommen könnte. Der Gefängnisleiter vor ihm war ein pragmatischer Mensch mit einem wenig emotionellen Wesen, doch respektierte er die Würde der Frauen. Diesen Mann aber kann sie einfach nicht einschätzen.

„Was arbeitest du hier?“

„Wäscherei. Ich bin sehr dankbar, dass ich etwas für die Gemeinschaft tun durfte, Sir po.“

„Du bist eigentlich ganz nett. Einen schönen Tag wünsche ich dir.“

Elsie ist erleichtert, aus diesem Büro zu kommen. Diese grinsenden Gigolo-Augen, die sie auszogen, begleitet von den Blicken der Wachfrauen in Uniform empfand sie als Bloßstellung und Entwürdigung. Doch sie muss sich zusammenreißen, wie in all den Jahren zuvor.

Teil 1 - Kapitel 2

„Ist es schon so spät?“

Verblüfft blickt Leif auf seine Armbanduhr. Lichtstrahlen schimmern vor seinen müden Augen, fließende Linien hellgelben Flimmerns. Wie schön diese Ruhe, diese exotische Stille dieser Morgensonne. Es waren die Strahlen dieser Linien gewesen, die es nicht schafften, ihn wie sonst üblich aus dem Aufwachzustand in helle Wachsamkeit zu versetzen. Schön gleichmäßig übereinander geschichtet waren diese Lichtstreifen durch die Jalousien vor dem Lamellenfenster in den Raum gewandert. Doch die Augen kann er nur spärlich öffnen, es wirkt seltsam und irgendwie verzerrt. Die Hitze ist es eigentlich nicht, auch wenn in den meisten Monaten im Jahr auf den Philippinen hier in Bacolod City dramatische Luftfeuchtigkeit und Wärme den Tag bestimmen. Es ist April, einer der heißesten Monate neben dem Mai für einen assimilierten Europäer. Der Ventilator lässt sein monotones Summen ertönen und sein nackter Oberkörper fängt den erfrischenden Luftzug auf.

Leif bewegt seinen Kopf hin und her. Er erinnert sich, dass es gestern Abend spät wurde. Ein Taxi musste er nehmen, nachdem er aus dem Künstlercafé „Artists Joy“ hinaus in die Nacht geeilt war. Jeepneys fuhren keine mehr zu jener Stunde und keiner der Freunde war bei ihm. Emilio, Jouey oder Rodrigo Veneracion waren gerne lange in dem Lokal, um zu fachsimpeln oder sich ihren Drinks bei guten Gesprächen zu widmen. Aber sie hatten sich alle eilig zerstreut, nachdem sie sahen, dass es bereits eine Stunde nach Mitternacht war. Ihm fällt wieder das Fachgespräch mit Rodrigo und die lustigen Anekdoten ein. Seinen Kopf nach rechts auf das leere Kissen gelenkt, kann er nur wieder Melancholie empfinden. Er weiß, dass die Arbeit wieder ruft, die Arbeit an diesen Möbeln, für die er und seine sechs Angestellten sich abrackern. 'Sunshine Furniture Inc.' klang doch immer nach hellem Sonnenschein, doch im Kampf um den Lebensunterhalt sind diese Sonnenscheinmomente nicht immer sichtbar. Seufzend richtet sich Leif Kettler auf. Der Moment scheint wie mit der Stoppuhr bestellt worden zu sein, denn die Schlafzimmertür geht auf. Ihre fest auf ihn gerichteten Augen schauen stumm in einem wunderschönen Gesicht, umrahmt von einem rund geschnittenen Bob mit der vorn stehenden Welle, die hellbraune Strähnen verzieren.

„Willst du nicht endlich frühstücken?“

Felizitas kommt näher, setzt sich langsam auf die Bettkante. Ihre Hand wandert an seinem Unterarm entlang. Er nickt sachte, mustert ihr Gesicht, das ihn seit Jahren schon fasziniert.

„Aylin wartet auf dich.“

„Ich komme gleich.“

Sie geht für ihn so furchtbar eilig aus dem Raum. Rasch hat er sich sein Hemd und die Baumwollhose übergestreift.

„Paps!“

„Hey Tochter. Alles klar?“

„Endlich kommst du. Ich muss doch zur Schule.“

„Sorry. Hast du Geld für den Jeep?“

Still reicht ihre Mutter ihr die 30 Pesos hin, die sie für die Hin- und Rückfahrt benötigt.

„Danke Mama. Bis heute Nachmittag!“

Aylin greift fröhlich nach ihrer Umhängetasche und meint nur, dass Betsy und Gloria schon vor dem Haus warten würden, zwei ihrer Mitschülerinnen und besten Freundinnen aus der Siedlung hier in Taculing. Felizitas findet es wichtig, Begleiter für ihre Tochter zu haben. Sie weiß nicht, dass die Mädchen manchmal, weil es cooler ist, statt einem Jeep lieber ein Motordreirad nehmen und waghalsig auf dem Dach des Seitenwagens Platz nehmen. Die Tür fällt zu. Leif blickt dem Geschehen hinterher und greift nach der Kaffeetasse. Stumm mustert Felizitas seine langsamen Bewegungen.

„War ziemlich spät gestern oder sagen wir…, heute?“

„Wir haben uns festgequatscht. Kommt vor.“

Sie kaut unschlüssig auf den Lippen herum und möchte ihn nicht maßregeln. Hier ist ihr Herz doch weich, denn er war lange nicht mehr im Künstlercafé gewesen. Die alten Freunde fehlten ihm sicher, und sie spürt, dass er Freunde jetzt gebrauchen kann. Liebevoll reicht sie ihm den Teller mit den ‚Pandisal‘-Brötchen, diese leicht süßen Dinger, die man so schön zusammendrücken kann. Ihm ist der heiße Kaffee in diesem Augenblick zwar wichtiger, doch greift er bei den Brötchen gerne zu.

„Kuya Rodrigo arbeitet an einer Skulpturen-Serie. Mann, war der begeistert, redete stundenlang über seine grandiosen Ideen. Ach, Cheryl lässt dich grüßen.“

„Danke. Wie geht es ihr?“

„Ich denke, sie ist in Emilio verknallt. Die Vernunft kämpft dagegen.“

„Oh?“

„Der Altersunterschied. Interessantes Mädchen. Hat wilde Einfälle und ist doch so selbstbeherrscht.“

Felizitas hört meistens gerne zu, aber das Thema Kunst interessiert sie gerade kein bisschen.

„Hast du den Auftrag für das Büro des Majors bekommen?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Er scheint kein Vertrauen zu haben, druckst herum wie viele Leute hier.“

„Ach so? Herumdrucksen? Du lebst schon lange genug hier, um das zu handhaben.“

„Ich kann niemanden zwingen.“

Felizitas beißt sich auf die Unterlippe, denkt nach. Es ärgert sie, den Auftrag nicht bekommen zu haben. Soll sie jetzt verständnisvoll sein? Die alten Weggefährten wie Jake Ramirez und Daniel Mendoza, der seine Vian liebt wie eine der edelsten Südsee-Perlen, die es auf der Welt gibt, müssen schließlich durch die Firma ernährt werden. Sie alle waren so einträchtig zusammen, die wilden Zeiten auf dem Inselreich langsam vergessend. Siebeneinhalb Jahre ist es her, als sich die Kettlers entschlossen, doch auf den Philippinen zu bleiben und nicht nach Europa zurückzukehren. Sicher saß der Schreck tief im Herzen und die Angst nach der grauenhaften Entführung Aylins im Alter von zwei Jahren war gegenwärtig. Die beiden mussten das erleben, was sonst in Kriminalfilmen und Zeitungsschlagzeilen dargeboten wurde. Leif hörte vor dem Haus, wie der Scharfschütze der Polizei den Kerl niederstreckte, der Vian einen Revolver an die Schläfe hielt und er selbst hineinstürmte, um seine kleine Tochter wie eine Raubvogelmutter zu ergreifen und entschlossen war, lieber sein eigenes Leben zu lassen. Die Blutlache, die unter dem Kopf des toten Entführers auf dem Betonboden hervorsickerte, die Schreie seiner kleinen Aylin, Vians Ohnmachtsanfall, nachdem sie erkennen musste, wie knapp sie ihrer Auslöschung entkommen war. Es sind wirklich keine schönen Erinnerungen bis heute. Leif ist der Einsatzgruppe um Police-Chief-Officer Verena Panganiban immer dankbar geblieben. Nach diesem Horrorspektakel mussten er und Felizitas glücklicherweise nie mehr die Dienste der Polizei in dieser Weise in Anspruch nehmen. Aylin ist nun fast 10, erfolgreich in der Schule und von ihrer Klassenlehrerin in höchsten Tönen gelobt. Stolz waren sie und sind es immer noch, denn die Jahre flogen nur so dahin. Schöne Jahre eigentlich, auch wenn das Geldverdienen nicht immer einfach war.

Teil 1 - Kapitel 3

„Das Kind weint. Lass mich bitte.“

Daniel Mendoza lässt sich ins Kissen zurückfallen und schaut auf seine Frau, die sich ihr Shirt überstreift. Ihre Brüste kann er noch einmal für einige Sekunden betrachten. Auch glänzt ihr ultralanges Haar wunderbar im Licht der Deckenlampe.

„Sorry, mein Liebster.“

„Geh nur.“

Süß lächelt Vian ihren Daniel an und zwinkert mit den Augen. Als junge Frau mit 24 hatte sie die längste Pracht der Stadt, bis sie diese in einem Akt der Unbeherrschtheit einfach abtrennte. Zuerst musste es die kurze Sportfrisur geben, dann den mittellangen Bob, am Schluss endlich die glatte, fallende Frisur. Ihr Leibfriseur Rino Ortega predigte ihr pausenlos, wie unsinnig sie damals mit sich umgegangen war. Vian bekam den Ansporn, ihre Haare wieder lang wachsen zu lassen, sozusagen mit dem Löffel eingetrichtert. Nun ist es geschafft, der Längenrekord in Bacolod City steht wieder.

Vian geht in das Kinderzimmer und holt die fünfjährige Izza aus ihrem Naraholz-Bett. Ihre größere Tochter Maylea reibt sich die Augen. Sie wurden fast synchron zusammen wach. Seltsam, Izza schlief doch meistens ruhig durch. Vian beherrscht die Rolle einer Familienmama mit ganzem Einsatz und im Nebenzimmer spielen sich glückliche Fantasien im Herzen eines Mannes ab. Sie füllt alles zusammen aus. Mutter, Ehefrau, Geliebte und Sekretärin der kleinen Firma ‚Sunshine Furniture Inc.‘. Der Druck des Lebens ist groß und die Arbeit macht müde, doch die beiden zelebrieren ihr Familienleben zusammen mit der Leidenschaft im Bett eingespielt und variantenreich.

Im Künstlercafé „Artists Joy“ jedoch war Vian schon seit Monaten nicht mehr gewesen und freute sich lieber an den Besuchen ihrer alten Malerfreunde Brian Villanueva und Emilio de la Rosa hier zu Hause. Daniel indes hat sich geduscht und seine Arbeitskleidung angezogen. Sicher hätte er sich über einen morgendlichen Liebesakt mit seiner Vian gefreut, aber man kann nicht immer alles haben. Die Sonne steht schon fest am Horizont und leuchtet den klaren Morgen ein. Freudig genießt er seinen Kaffee und beobachtet seine Frau mit der Kleinen auf dem Arm.

„Izza hat Fieber.“

„Willst du zu Hause bleiben?“

„Geht doch nicht. Mutter kommt nachher.“

„Gut. Aber Izza?“

„Nanay bringt Ginger und ‚Effecicent Oil‘ mit.“

„Warum kommt Belinda nicht?“

„Sie ist krank.“

„Gut, dass du deine Mutter in der Stadt hast. Diese Frau ist nicht immer krank, sondern unzuverlässig. Ich will eine neue ‚Yaya‘ haben.“

Vian lacht so herzlich, denn sie weiß es genau. Martha ist vernarrt in die beiden Töchter der Mendozas und gerne Kindermädchen. Wie fast jeden Tag isst Daniel seine Spiegeleier mit ‚Longanizas‘, garniert mit viel Reis. Nun stellt er die Teller in die Spüle und möchte sich verabschieden. Seine Frau würde ja nachkommen, nachdem Martha die Obhut der Kleinen übernommen hätte. Sie verhüteten nach Izzas Geburt und irgendwie kam Vian jetzt die Lust auf einen Jungen. Das ist natürlich so in diesem Land und die Familie Mendoza ist ja im Vergleich zu mancher Nachbarsfamilie noch klein.

„Daniel?“

„Ja?“

„Könnten wir uns ein drittes Kind leisten?“

„Warum nicht? Wenn ich regelmäßig Arbeit habe, schon.“

„Ich möchte noch ein Kind.“

„Vian…, bist du sicher?“

„Hmmh… ja.“

„Du bist eine echte Mama.“

„Ja… Jaaa…“

„Wenn du meinst, wann wir… Ich möchte uns nicht hindern.“

„Ganz bestimmt nicht?“

Sie schaut ihn mit aufeinander spielenden Lippen an, fröhlich und mit strahlenden Augen.

„Du nimmst noch die Pille. Das wird heute nichts mit einem Kind. Und ich muss jetzt leider zur Arbeit.“

Auch ihr zwinkernder Blick durch die Schlafzimmertür auf das Bett aus Mahagoni kann Daniel nicht aufhalten. Das Kind hat Fieber und es gibt garantiert noch Zeit für schöne Momente, wenn er heute Abend nach Hause kommt.

Nach der Geburt ihrer ersten Tochter Maylea begann in Vian eine Wandlung. Sie fing an, immer philanthropischer zu denken und dachte unentwegt an andere Menschen. Wer sie jedoch von früher kannte, hätte diese Wandlung einer geistigen Eingebung oder dem Zutun eines Engels zugeschrieben. Sie war in ihrer Jugend fast führungslos geworden, nach dem schrecklichen Unfalltod ihrer Eltern. Es verging einige Zeit in ihrem Leben, die sie zu Menschen führte, denen sie wirklich etwas bedeutete. Das Sahnehäubchen auf diesem Segen war aber Daniel. So wurde eine rachsüchtige Umhergetriebene von damals tatsächlich zu einem Schmetterling voller Liebe und Güte, geleitet von ihrem Mann und der Liebe ihrer beiden Töchter.

Teil 1 - Kapitel 4

„Vielen Dank, Sir.“

„Ich habe zu danken, Mister Garcia. Diese Möbel werden exquisit, denke ich.“

„Sie wurden mir empfohlen, Mister Kettler. Deutsche Qualität ‚Made in the Philippines‘, nicht wahr?“

„Vielen Dank für das Vertrauen.“

„Keine Ursache.“

Leif verabschiedet seinen Kunden freundlich und im Herzen doch leidenschaftslos. Eine Sitzgruppe aus Naraholz soll es werden. Das müsste ein Grund zum Freuen sein, denn dieses Holz ist das edelste auf den Philippinen. Aber Sitzgruppen reizen ihn schon lange nicht mehr so wie in den Zeiten am Anfang, als sie mühselig die ersten Interessenten für ihre Kreationen finden mussten. Es klopft an der Scheibe und Daniel kommt ins Büro gestürmt.

„Was möchte er angefertigt haben?“

„Eine Sesselgruppe aus Nara mit losen Polstern. Zu alltäglich.“

„Aber Kuya Leif! Dieses Holz? Für einen Schreiner das Ober-Highlight.“

„Na dann, viel Spaß. Ich muss das Material erst mal ordern. Aufträge wie dieser Pavillon damals für Manang Louisa, das waren Projekte!“

„Tja…, und jetzt hat sie ein Haus aus sechs verzierten Brettern. Gut, dass wir so was nicht schreinern… Entschuldige, Kuya.“

„Spinner.“

„Wir dachten, ihr sollt mal zu uns zum Essen kommen.“

„Das hört sich schon besser an.“

„Abgemacht.“

Vian freute sich, dass Felizitas, ihr Mann und Aylin zum Abendessen kamen. Schule gab es am nächsten Tag nicht, es war Samstag. Sie unterhielten sich angeregt, alte Zeiten wurden rezitiert, die dramatischen Erlebnisse aus der Zeit, als Daniel und Vian heirateten. Einer der Maler entpuppte sich als hintertriebener Mensch, der sie ohne ihr Wissen aufs Übelste mit erotischen Bildern missbrauchte. Gekämpft wurde gemeinsam, gelitten in herzzerreißender Art, aber am Ende war ihre Reputation wiederhergestellt. Cevin Geronimo verließ Bacolod für einige Jahre und schaffte das, was keiner glaubte. Er lernte ein nettes Mädchen kennen und spürte das, was wirklich zählt, echte Liebe. Er wollte seine Vergangenheit hinter sich lassen, änderte seine Kunstrichtung und kam zurück, mit seiner Hazel. Es kam der Abend, als er schüchtern an die Tür der Mendozas klopfte, nach all den Jahren. Vian stand nur stumm da und musterte den Kerl von oben bis unten.

„Oh… Cevin?!“

„Ich… Hast du ein paar Minuten? Vian…, wie geht es dir?“

„Siehst du doch. Meine Töchter…, Maylea und Izza. Und du?“

„Ich habe eine Liebe. Hazel… Du… Die Sache damals mit den Bildern… war echt blöd. Können wir nicht endlich mal darüber reden?“

Daniel bot ihm ein Getränk an und behandelte ihn sehr freundlich, so höflich, wie er meistens ist. Er wollte es endlich abschließen, ihre Vergebung suchen. Immer noch zierte sie sich. Cevins Stimme aber war so anders geworden, so fein und seine Worte gewählt. Wiederholt erwähnte er, wie großartig seine Hazel sei und wie er sie kennenlernte. Sie empfand es langsam als aufrichtig und ging zwei Schritte auf ihn zu, buchstäblich und im Herzen.

„Vian…, echt. Vergib mir doch!“

Sie atmete mehrere Male tief ein und aus. Ihr Herz schien zu hüpfen, aus Erleichterung.

„Ich muss aufhören, dich zu hassen. Aber ich bitte dich. Behandele uns Frauen endlich so wie deine Hazel. Verstehst du mich?“

„Ja…, kriegen wir´s hin?“

„Komm her.“

Sie breitete ihre Arme aus und ließ ihn kommen. Heftig umklammerten sie sich. Sie hielt einen der besten Kunstmaler auf dieser Insel in den Armen und musste bedenken, dass ein Meisterwerk von ihm mit ihr als Motiv im Schlafzimmer hing. Wie hätte sie nach all diesen Jahren noch so unerbittlich sein können? Es durfte nicht sein.

„Danke Vian.“

„Die Vereinigung…, magst du fragen, ob sie dich wieder aufnehmen?“

Cevin wollte schon und erfuhr nach dem ersten schüchternen Besuch in „Artists Joy“ einiges, was im Künstlerzirkel aktuell los war. Nicht alles war schön an den neuen Nachrichten, weil zwei Maler in den Norden gegangen waren und sich kein neues Mitglied eingefunden hatte. Es schien eine Lethargie in der Szene zu geben, besonders nachdem es Events wie die berühmten Filipiniana-Modenschauen mit ihren Kunst-Vernissagen nicht mehr gab.

Teil 1 - Kapitel 5

In der Schreinerei herrscht in diesen Augenblicken eine aufgeregte Stimmung. Nachdem alle Jungs von dem Auftrag aus Naraholz erfahren hatten, schwingt ganzer Enthusiasmus durch die Halle. Lange schon hatte ‚Sunshine Furniture Inc.‘ nichts dergleichen fertigen können. Daniel kommt nachdenklich ins gläserne Office gerannt.

„Kuya Leif?“

„Setz dich.“

„Nein. Ich habe nur eine Sache.“

„Was denn?“

„Naraholz ist hart und splittrig.“

„Das weiß ich auch, und?“

„Sollen die Gestelle gezapft werden?“

„Natürlich.“

„Dann muss ich einen neuen Fräskopf haben. Einen 45er.“

„Ich… Geht es nicht mit dem Vorhandenen?“

„Nein. Es wird unsauber. Er ist schon zu abgenutzt.“

„Tue bitte, was ich sage und nimm den alten Fräser!“

Leise geht Leifs bester Mann aus dem Büro. Schüchtern ist er geblieben, immer artig und so selbstbeherrscht. Den Respekt vor seinem Chef hält er für elementar, auch wenn sie beide so tief befreundet sind. Leif sieht ihn, sich mit Ferdie unterhaltend, an der Maschine stehen. Er weiß genau, was jetzt wieder läuft. Mit einem Dritten wird diskutiert, das Leif ein Sturkopf sei und der Fräser keinesfalls mehr für Nara verwendet werden könne. Bestimmt soll Ferdie jetzt die Angelegenheit richten und den Chef überzeugen. Leif weiß genau, wie das hier funktioniert mit den Etiketten und Benimmregeln, die niemanden sein Gesicht verlieren lassen sollen. Angesäuert kramt er in der Schublade herum. Der Werkzeugkatalog seines Stammlieferanten sieht schon völlig zerlesen aus. Nach einigem Blättern findet er das gewünschte Maschinenteil und seufzt. Das Geld ist knapp in diesen Zeiten. Den Kunden der Sesselgarnitur nach einer höheren Anzahlung zu fragen will er sich nicht trauen, er hasste es schließlich auch bei den Leuten hier, wenn sie ihn derartiges fragten. Das Holz wäre ohnehin erst in drei Wochen hier, es muss aufwendig aus Cebu hierher verschifft werden. Langsam wird es eng mit diesem so begehrten Nara, dieses seltene Material, aus dem Möbel und Inneneinrichtungen entstehen, die sich nur reiche Zeitgenossen im Land leisten können. Der Tag ging gefühlt nur langsam vorbei. Vian saß im Büro und studierte ihr neues Rechnungsprogramm, dessen Installation komplexer war, als sie dachte. Das Geld für die Software hätte sich Leif sparen können. Vian könnte sogar nur mit Bleistift und Papier eine Firma führen und Leif weiß das auch.

„Darling?“

„Hallo, mein heißer Ehemann.“

„Wegen dir habe ich nur zwei Stunden geschlafen.“

„Meine Liebe ist entspannender als Schlafen.“

„Heute Abend gibt es nichts. Kommst du klar?“

„Dauert Tage, bis ich das draufhabe. Das alte Programm war doch gut.“

„Kuya will den neuen Fräser nicht kaufen.“

„Ich verstehe nichts davon. Brauchst du ihn?“

„Absolut. Ich muss teures Nara bearbeiten.“

„Du bist der Schreiner, nicht ich.“

„Kannst du nicht mal mit ihm reden?“

Vian nickt nur, sieht Leif aber im Hintergrund an der verwaisten Maschine stehen und fordert ihren Mann auf, weiterzumachen. Daniel beeilt sich. Einen Spruch erhält er glücklicherweise nicht, auch keine Zurechtweisung. Leif geht nur stumm ins Holzlager. Nun ist er allein hier drin, blickt sich entlang den Metallregalen um, in dieser Ordnung, die er liebt. Er seufzt, denn die finanziellen Sorgen sind nicht das einzige Problem. Felizitas kam am Abend zuvor bleich aus dem Zimmer, nachdem sie einen Brief ihrer Mutter gelesen hatte.

Teil 1 - Kapitel 6

Der nächste Tag am Frühstückstisch lässt freudige Stimmung etwas vermissen, besonders nachdem Felizitas aus dem kleinen Badezimmer kam, in dem sich Aylin für die Schule zurechtmachte. Ihr Vater beobachtet ihre lustlosen Gabelstiche im Rührei und das motzige Gesicht, während Felizitas an der Spüle hantiert.

„Was ist denn, Aylin?“

„Nichts.“

„Nichts?“

Felizitas dreht sich um und schaut ärgerlich. Nach dem Duschen hatten sich die ultralangen Haare ihrer Tochter beim Abtrocknen in dem Glasregal verfangen und gleich drei Parfümflaschen zu Boden befördert. Felizias hatte natürlich das Zerspringen der Flakons gehört und das ganze Badezimmer riecht nach drei nun entsetzlich gemischten Düften. Sie reagierte gereizt und war wohl im Moment auch zu sehr in eigenen Gedanken gefangen, um ruhig und souverän zu antworten. Stattdessen entzündete sich eine lebhafte Diskussion über den Sinn dieser Haarpracht, was in Tränen endete und in diesem lustlosen Schweigen am Küchentisch.

„Ich möchte, dass sie ihre Haare auf eine vernünftige Länge schneiden lässt. Heute! Nach der Schule.“

Verdutzt dreht Leif sich zu ihr um. Diese Blicke kennt er. Felizitas hat den Befehlsmodus eingestellt. Im Grunde ist diese Ansage auch eine Breitseite gegen ihn, denn Leif war es stets, der diese langen Haare akzeptierte, sich aber doch nicht viel darum gekümmert hatte, Aylin anzuleiten, wie sie solche langen Haare überhaupt sinnvoll pflegen könnte. Sein Kind soll Selbstständigkeit lernen, sehr früh schon, und lernen, von weisen Entscheidungen zu profitieren. Ihm geht es nicht um eine einfache Diskussion darüber, was modisch vernünftig ist, sondern wie Felizitas und er in Sachen Erziehung Einigkeit und klare Kante zeigen. Aylin beschreibt mit tonloser Stimme ihr Malheur im Badezimmer. Sie wirkt so beschämt, es ist das 90%ige Filipina-Dasein, das in ihr wohnt.

„Sorry, Paps.“

„Ich freue mich, dass du dich nicht an den Glassplittern der Parfümflaschen verletzt hast. Es riecht ziemlich streng.“

Etwas verschmitzt kommt das kindliche Lächeln bei ihm an, dass er gerade sehen darf.

„Musst du nicht gleich los?“

„Ja, Tatay.“

Nachdem sich Aylin nach dem Überstreifen ihrer Jacke verabschiedet hat, hören die beiden ihre leisen Schritte im Flur. Felizitas knallt das Küchentuch auf die Arbeitsplatte. Ihr Blick wird unsicher, sie kämpft mal wieder darum, souverän zu sein.

„Wenn wir ihr gegenüber gemeinsam auftreten, akzeptiert sie unsere Anleitung sicher leichter. Was sollte das eben? Wenn du willst, dass sie ihre Haare kürzer tragen soll, hätte ich es schön gefunden, dass du das vorher mit mir besprichst. Du hast Aylin vor mir bloßgestellt.“

„Es ist doch kindisch, nur wegen jemand anderem, Haare so lang zu tragen, besonders wenn man zehn Jahre alt wird und nicht weiß, wie man damit umgeht.“

„Sie ist doch kein Baby mehr.“

„Du hast Recht. Die Jahre vergehen schnell.“

„Was ist unsere Entscheidung?“

„Sie muss sie abschneiden lassen.“

„Nein.“

„Vian nachzuäffen ist nicht gut. Außerdem ist sie ein Kind. Ach…, ich weiß nicht. Ich war nervös und habe sie ausgeschimpft. Wegen diesen blöden Parfümflaschen.“

„Der Raum riecht in der Tat sehr extravagant.“

Felizitas lacht nicht, normalerweise hätte Leif das bei ihr erwartet. Es bereitet ihm wieder Sorge, ihr Schweigen.

„Aylin wächst. Das Glas-Bord hängt zu tief und zu nah an der Dusche. Paradefehler eines Innenarchitekten, nicht? Blödsinniges Regal.“

Nun gibt es das ersehnte Lachen bei ihr, wenn auch nur kurz.

„Ich hänge es heute Abend woanders auf. Und kaufe dir dein Lieblingsparfüm, okay? Also, soll sie zum Friseur oder nicht?“

Sie blickt ihn an, unsicher und verräterisch entblößt.

„Ich… habe es ihr schon gesagt.“

Felizitas antwortet nicht, dreht sich weg, um die Wand anzustarren. Leise wandert eine Träne über ihre zartbraune Haut.

„Darling?“

Sie presst ihre Hände vors Gesicht und doch wandert diese Feuchte zwischen den Fingern hindurch. Sofort lässt er die Gabel fallen. Seine Hände umgreifen ihre Schultern ganz zärtlich.

„Wir müssen reden.“

Er hält ihr das Taschentuch hin, eine seiner galanten Gesten, immer wenn ein Mädchen vor ihm zu weinen anfing. Sie wischt sich die Augen trocken, um, ganz wie sie ist, wieder beherrscht zu sein.

„Sie haben bei Nanay Magenkrebs diagnostiziert.“

Leif beginnt, ganz still zu werden und grübelt bereits über Lösungen. Doch er besinnt sich schnell, um ihr das hörende Ohr zu schenken. Felizitas kann es, dieses stoische Berichten fatalster Dinge, bis sie entspannt genug ist, um ihre Gefühle herauszuschreien.

„Was sagen die Ärzte?“

„Sie sagten, für eine Operation wäre es noch nicht zu spät.“

Große Tränen füllen jetzt Felizitas´ Augen. Zärtlich drückt er ihren Kopf an sich, lässt ihr Zeit. Es vergehen Minuten einer angstvollen Spannung, eine tröstende Stille, angeschmiegt an seine kräftige Schulter. Die gute Seele Sabrina Hermina Velasquez, eine gestandene Mutter und ‚Dato‘, Inhaberin einer beachtlichen Länderei und eine Clanführerin, hat eine vernichtende Krankheit. Man erkannte, dass der Tumor schon fortgeschritten war, und diese ehrbare, gottesfürchtige Frau machte sich gefasst. Dabei klang ein sehnsuchtsvoller Wunsch aus ihr hervor. Sie möchte alle ihre Kinder bei sich haben. Es ist eine klare Aufforderung, und besonders an ihre Erstgeborene. Leif ist das unumwunden klar, denn Felizitas würde gemäß der Tradition die Rolle der Stammesführerin übernehmen müssen. Es überfordert ihn gerade, dass diese Gelegenheit schneller in ihr Leben hereinbricht als man sich hätte denken können.

„Liebes. Möchtest du vorausfahren?“

Es ist unheimlich still im Raum. Nun muss sie nicken.

„Kannst du erst einmal allein klarkommen? Ich muss doch zu ihr.“

„Nein… Wir müssen zu ihr.“

„Kannst du denn so rasch die Firma alleine lassen?“

„Schwierig. Ich muss erst nach Dumaguete, wegen dem Auftrag mit den fünf ‚Bahay Kubo‘-Häusern.“

Diese beiden Menschen wissen, was sie voneinander haben. Und sie haben erkannt, dass sie sich beide bereits einig sind.

„Ihr fahrt beide. Ich werde nachkommen, sobald ich kann. Und sie lässt ihre Haare lang.“

„Meinetwegen. Ja…, sicher.“

„Dann muss ich los.“

Teil 1 - Kapitel 7

Inmitten der einkaufsfreudigen Menschenmasse schiebt sich Aylin durch den Gang der großen Mall. Normalerweise drückt sie sich die Nase an den Schaufenstern der Boutiquen mit der philippinischen Traditionsmode platt, doch diesmal fühlt sie nur Lustlosigkeit.

„Hallo Aylin!“

„Hey, Tita Jane.“

„Schule aus?“

Jane, eine Mittvierzigerin mit einer Frisur, die einen extravaganten Style brillant zur Schau stellt und einer jungen Dame von 20 eigentlich perfekt stehen würde, wundert sich. Die bedrückte Laune ihrer jungen Kundin ist deutlich zu sehen. Jane hat drei Kinder, ihr geschulter Sinn für die Stimmungslage junger Menschen beirrt sie selten. Aylin geht schnurstracks zu dem Friseurstuhl, auf dem sie meistens sitzt, wenn sie zur Behandlung ihrer glänzenden Haare hierherkommt.

„Kann ich auf diesen Stuhl?“

Hinter Jane herrscht große Betriebsamkeit im Salon. Die Friseure haben zurzeit jede Menge Kunden, denn die Mittagssiesta wird von vielen für die Haarpflege genutzt. Jane kann sich aus dem traurigen Gesichtsausdruck der Kleinen immer noch keinen Reim machen und sieht gerade ihren Kollegen Rino Ortega, den Ober-Maestro der Haare, mit einer seiner prominenten Kundinnen, einer Newcomer-Sängerin, auf sich zukommen.

„Du warst doch erst letzte Woche hier.“

„Wen haben wir denn da? Deine Mutter…, wie geht es ihr?“

Aylin druckst herum und senkt dem Kopf. Rinos Kundin fällt ihre miese Stimmung sogar auf, obwohl sie Aylin bisher gar nicht kannte.

„Abschneiden.“

Jane meint, nicht richtig gehört zu haben und fragt nochmal nach. Neben den Stuhl gekniet, blickt sie Aylin freundlich an. Das Gesicht der Neunjährigen schaut alles andere als fröhlich.

„Nur bis zu den Schultern.“

„Echt?“

„Meine Mutter will es so.“

„Rino? Soll ich mal bei ihr zuhause anrufen?“

Rino Ortega runzelt merklich die Stirn. Für ihn, der Vian seit Jahren hingebungsvoll betreut, gilt die kleine Aylin als Nachfolgerin in Sachen Rekordhaarlänge, eine Generation nach ihr. Als Meister der Haare kann er das nur als Affront sehen. Seiner Begleiterin steht zwar die neue Kurzhaarfrisur, doch sie hat ein rundlicheres Gesicht als Vian und Aylin. Für Rino Ortega ist die perfekte Haarlänge grundsätzlich ein Zusammenspiel aller Proportionen, die eine Frau mitbringt. Die junge Sängerin hat sich verabschiedet und winkt Rino nochmals zu.

„Ich komme wieder zu dir. Spitze, deine Arbeit.“

„Fangen Sie bitte an, Tita Jane.“

„Wenn du möchtest, packe ich die Haare ein.“

Das Mädchen lässt jetzt dicke Tränen fallen. Sollte sie nicht besser ihre Mutter anrufen? Aylin erklärt der Friseurin mit leiser Stimme, was sich im Bad zuhause abgespielt hatte, und dass es doch nicht ihre Schuld gewesen sei. Lieb hört Jane zu und streichelt ihr über den Kopf. Nachdem sie versprochen hat, eine echt tolle Kurzhaarfrisur zu kreieren, die kein anderes Mädchen aus ihrer Schule haben könne, fängt sich die Stimmung wieder etwas. Der Utensilienwagen steht am anderen Ende des Raumes und nachdem sie Aylin das obligatorische Tuch über den Körper gelegt hat, geht sie los, um ihre Werkzeuge zu holen. Rino Ortega unterhält sich am Empfang mit seinem Kollegen.

„Wen habe ich als Nächstes?“

„Conchita.“

„Mann… Die ist kompliziert. Hochnäsige Schnepfe.“

„Aber das Trinkgeld stimmt.“

„Klar. Sie verdient Millionen mit ihren Filmen.“

„Ich bleibe lieber Friseur, das ist stressfreier.“

„Du bist auch ein Star, Kuya Rino. Na ja, wer Conchita frisieren darf.“

„Privileg? Ich liebe meine treuen, einfachen Kunden.“

In diesem Moment fliegt die Tür auf, die bimmelnden Metallglocken zeugen von der energischen Art, die diesen hereinstürmenden Gast antreiben mag. Leif seufzt erleichtert auf, als er die Haarlänge des Mädchens mit dem Tuch sieht und rennt eilig an Rino vorbei.

„Jane!“

Ein Lächeln und ein angehängter, ernster Blick entgegnen ihm. Aylin ist mehr als überrascht.

„Sie lassen die Haare dran, bitte.“

„Ich dachte, Sie haben sie deshalb hierhergeschickt. Ich hatte schon die Schere in der Hand.“

Leif beschwichtigt mit den Händen und gemeinsam gehen sie ein paar Schritte vom Friseurstuhl weg, so dass Aylin nichts hören kann.

„Gut, dass Sie und Ihre Frau sich umentschieden haben. Sie hat so geweint, Sir Leif. Ich meine…“

„Danke, dass Sie mich verstehen.“

„Ich habe vielleicht eine Idee für Aylin.“

Noch recht unsicher schaut Aylin auf ihren Vater, der sie sofort beruhigen kann. Jane hat plötzlich einen fantastischen Einfall. Drei Perlenbänder in breiter, vielfarbiger Machart, in einer indianischen Formgebung könnten es werden, um die langen Strähnen zu einem tollen Zopf zu formen, mit dem man so nicht hängenbleiben könne.

„Ist der letzte Schrei im Moment. Rino! Hast du Zeit für drei Perlenschnurbänder?“

„Wird zeitlich knapp. Komme schon.“

„Wow. Tatay? Darf ich das?“

Rino läuft grinsend auf den Friseurstuhl zu.

„Dein Vater weiß, was du brauchst. Lass mal sehen.“

Auch wenn die 800 Pesos für diese Behandlung so manchem Vater saure Inhalte im Magen aufsteigen lassen, ist es für Leif keine lange Diskussion wert.

„Welche Farben magst du denn?“

„Rot und Orange.“

„Da muss auch noch Blau rein.“

„Echt, Tito Rino?“

„Ganz sicher. Blau, Rot und Orange.“

Leif beobachtet friedlich vom Besucherstuhl die professionellen Handbewegungen der Stamm-Friseurin seiner Tochter, die auch noch vom besten Coiffeur der Stadt unterstützt wird. Ein wohliges Gefühl für einen Vater ist das. Rino zeigt Aylin am Ende ganz genau, wie sie die Bänder entfernen und die Haare wieder selbst einstecken könne, aber zum Waschen dürfen die meistens dranbleiben.

„Deine Mutter wird dir sicher helfen.“

Das Mädchen ist sich da gar nicht so sicher, aber das würde sie ja zuhause schon erfahren.

„Sir. Ich mag Aylin sehr. Danke.“

Leif freut sich aufrichtig, weiß das zu schätzen.

„Wann kommen Sie mal wieder?“

Janes Blick ist zielgerichtet auf Leifs Haarpracht gerichtet, die im Übrigen keinerlei Ansätze von Haarausfall oder beginnenden Geheimratsecken aufweist.

„Ich denke, ich schaffe es nächste Woche.“

Aylin sitzt ganz begeistert neben ihrem Vater im Jeep, der ihn durch den dichten Stadtverkehr manövriert. Schon die ganze Zeit ist die Sonnenblende mit dem Minispiegel heruntergeklappt, obwohl dichte Bewölkung an diesem Tag den Himmel beherrscht. Der Spiegel ist es. Sie kann ihre Hände gar nicht von den Haaren lassen und immer wieder prüft sie den Sitz des oberen bunten Bandes aus feinen Perlenschnüren in einem folkloristischen Indiodesign. Leif schmunzelt nur und schweigt.

„Echt fett.“

„Es sieht schön aus, nicht?“

„Ja! Wo gehen wir essen?“

„Du magst doch Nudeln, oder?“

Da bedarf es keiner langen Antwort. Aylin mag ‚Pancit‘ und ‚La Paz Batchoy‘ in allen Variationen. Ihre Mutter beherrscht die Zubereitung perfekt und die Tochter pickt sich am liebsten die kleinen Shrimps als erstes heraus. Auf die Frage, ob ihr Vater nicht zur Arbeit müsste, findet Leif die schnelle Antwort, dass sein Boss auf Geschäftsreise ist, und er der Boss sei. Das er deshalb an diesem Abend spät heimkommen wird, überhört seine Tochter. Sie wird erst einmal zu Hause ihre Haare stundenlang bewundern.

„Ich muss Tita Vian anrufen.“

„Schick ihr einfach eine MMS. Wenn ihr beide eure tollen Frisuren präsentieren möchtet?“

Als Leif abends endlich das Haus betritt, schwebt ihm gute Stimmung entgegen. Aylin lässt sich fröhlich wie immer ihren Tee schmecken. Felizitas mit einer Keramikschüssel in den Händen lächelt und versprüht beinahe romantische Ruhe.

„Hallo Liebes.“

„Unter dem Deckel ist noch Fisch. Ich bringe dir den Reis.“

Leif betrachtet sich am Tisch sitzend seine wunderbare Tochter. Die Perlenbänder sind nicht der letzte Schrei. Kaum hatte er hier so etwas bei anderen Mädchen oder Frauen gesehen. Die Friseure hatten nur einen verrückten, aber rettenden Einfall.

„Hier Darling.“

Felizitas´ Augensprache verströmt mehr Zuversicht als am Morgen. Nun blickt sie zur Tochter und nickt bekräftigend.

„Mama findet es auch cool.“

„Freut mich.“

„Mal sehen, was Betsy morgen sagt.“

„Vielleicht wirst du eine Vorreiterin in Sachen Beauty an deiner Schule und alle wollen dann solche Haarbänder.“

Felizitas denkt sich, dass der Preis für die bunten Dinger ganz gewiss keine neue Modewelle auslösen wird. Der Abend geht harmonisch zu Ende, auch der Disput vom Morgen kommt Felizitas ebenso wenig in den Sinn wie ihm. Das schöne Ergebnis in Form einer neuen Jugendlichen-Frisur hatte das Problem gelöst.

Teil 1 - Kapitel 8

Daniel hat das Haus pünktlich verlassen und begibt sich in die Werkshalle. Zurzeit ist es mäßig bestellt wegen der Wirtschaftslage und der Auftrag mit der Sitzgarnitur aus diesem Edelholz gibt einen Schwall Hoffnung in die Herzen aller hier arbeitenden Männer. Einer von ihnen ist sogar ein Kumpan aus alten Zeiten. Jake Ramirez mag seinen Job und er mag Leif, hat tiefen Respekt vor diesem Mann aus Deutschland, der in seinen Augen ein Ehrenmann ist, ohne Vorurteile, mit der echten Liebe zu den Filipinos.

Ruhig arbeiten die Männer an ihren Holzteilen, aber bei einer Kaffeepause gibt es den Moment der Mitteilsamkeit. Jake redet gerne mit Daniel, kennt ihn eben auch schon so lange.

„Kuya ist noch nicht da. Hast du was rausbekommen?“

„Ich glaube, er managt die Sache mit dem Nara.“

„Kuya Leif ist in letzter Zeit nicht immer so pünktlich, er assimiliert sich mittlerweile bei uns… War nur ein Witz.“

Ein kurzer, schallender Lacher ertönt aus vereintem Mund.

„Sie verladen es gerade im Hafen auf einen LKW.“

„Kuya Leif ist etwas schlecht drauf.“

„Finde ich auch. Probleme zu Hause?“

„Das mit Felizitas´ Mutter.“

Jake Ramirez nickt nur und nibbelt an seinem Becher. Er ist gleichsam Ehemann, Vater von vier Kindern und kann seinen Arbeitgeber gut verstehen. Seine Mutter verstarb plötzlich vor drei Monaten. Er ist heute noch dankbar, dass ihm Leif mit ein paar tausend Pesos unter die Arme griff, um die Beerdigung bezahlen zu können. In den Jahren wurden sie immer mehr zu einer Familie in dieser Schreinerei, die allein schon deshalb seltsam anmutet, weil ein Foreigner es schaffte, Männer treu um sich zu scharen und dabei Zuverlässigkeit zusammen mit Achtung ernten durfte. Das die Frau hinter ihm der Ruhepol und die Lenkerin ist, weiß jeder Einheimische im Herzen, besonders hinterfragt wurde es nie. Keiner verlor damit sein Gesicht und alle fühlen sich geborgen, auch wenn die wirtschaftlichen Zeiten nicht immer rosig sind.

Nicht lange sind die Männer wieder in ihren Tätigkeiten vertieft, als die Tür schnarrend aufgeht. Leif grüßt obligatorisch, schaut kurz auf die Uhr, bevor er in seinem Glaskasten verschwindet. Nur wenige Papiere liegen auf dem Schreibtisch. Es könnte ihn durchaus freuen, wenn die Realität nicht anders aussehen würde. Seine Blicke wandern hin und her. Augen erhaschen das Bild an der Wand, welches diese frühere Einträchtigkeit zeigt. Felizitas und er, auf dem Arm Aylin im Alter von zwei Jahren. Kurz lächelt er beim Anblick dieser Szene, doch wandelt sich das Angenehme urplötzlich in ein Frieren um. Szenen beklommener Art zucken vor seinem geistigen Auge auf. Polizisten mit gezogenen Revolvern, neben ihm einer dieser rücksichtslosen Entführer. Vian, die beinahe zusammenbrach und zitternd ihre Hände vors Gesicht hielt, weil sie nur Sekunden zuvor fast ihr Leben durch einen Kopfschuss ausgehaucht hätte. Er hörte sein Kind weinen und die nervösen Beamten, die ihre Retter waren, kann er jetzt wieder vor seinen Augen sehen. Szenen wechseln erneut und seine brutalen Worte an einen dieser Scheusale in Menschengestalt.

„Schau mir ins Gesicht!! Du bist kein echter Pinoy! Du Kindes-Verächter. Das Gefängnis wartet auf dich, verlass dich drauf. Und deine Blechschüssel für den Reis schenke ich dir persönlich. Wage es nie wieder, mein Kind anzufassen.“

Er muss den Kopf schütteln, diese Erinnerungen widern ihn an. Doch wieder kommt Neues aus dieser furchtbaren Befreiungsnacht in sein Hirn, als wären diese gespenstischen Dinge wie ein einem Speicher irgendwo unlöschbar eingebrannt worden. Martha sackte zusammen, während ihre Hände Vians Leib umklammerten und krampfhaft versuchten, nicht loszulassen. Die Kugel drang ihr von hinten kommend in den Unterleib ein, ließ ihren Körper aufbäumen und zu Boden sinken. Wäre Daniel mit seiner Militärausbildung nicht so beherzt gewesen, gäbe es Vians Mutter nicht mehr. Dabei vollführte sie die erhabenste Tat auf diesem Planeten, den geliebten Menschen retten wollen, auch wenn es den eigenen Tod bedeutet.

Leif reibt sich heftig über die Augen, möchte nur eines. Weg mit diesem ihn belastenden Mist. Dabei waren die Jahre auf dem Inselreich später nicht schlecht verlaufen. Der Wahnsinnsauftrag von Louisa del Santos, der ehrwürdigen Meisterin der Filipiniana-Kleider mit ihrem hölzernen Ausstellungspavillon von 200m² war der Auslöser für die beiden gewesen, den Philippinen nicht den Rücken zu kehren. Zudem ist Leif zu verrückt nach diesem Land, weil es viele Liebenswürdigkeiten gibt, die ihm in Europa einfach fehlen. Das Geld gab zunächst eine gewisse Sicherheit. Daniel konnte sein Haus vergrößern und Vian wollte nur eines ganz schnell, Kinder haben und Mutter sein. Von einem ehemaligen Modell vor der Staffelei, dass sich auch im Akt-Genre, wenn auch nur bei wenigen vertrauenswürdigen Malern wie Felizitas´ Cousin, betätigte, wollten das nicht viele vermuten, zudem Vians rachsüchtige Art, mit ihrem Einsamkeitsschmerz umzugehen, manchen erschreckt zurückweichen ließ. Daniel erkannte ihre inneren Qualitäten schnell und verliebte sich mit ganzer Energie. Als einzige harte Bedingung aber stellte er ihr unmissverständlich klar, das mit dem Modellstehen in dieser Weise für immer Schluss sein musste. Vians Liebe zu dem Kerl aus Aklan pulsierte derart, dass es ihr ein Leichtes war, diese Bedingung voll und ganz zu erfüllen. Dies sind Gedanken, die Leif ein wohliges Gefühl durch den Magen gehen lassen. Ja, seine Freunde, wie Carlos, der Prediger, der mit anderen Gleichgesinnten Gottes Wort lehren will. Heimlich las Vian in einer ihrer Publikationen, die sich um den Wert der Bibel für die Ehe und das Familienleben drehte und wandte einiges an, besonders was die Kindererziehung anging. Respektvoll und zuvorkommend entwickelte sich besonders Maylea, die ihrer Mutter liebevoll gehorcht und dabei schrecklich verwöhnt wird, während Izza diskutiert, recht trotzig ist, aber keinesfalls weniger umsorgt wird. Man konnte es Vian nicht übelnehmen, wenn sie ihre Kinder mit Liebe und Anleitung so überschüttete, denn sie musste erleben, was es heißt, erst mit 15 beide Eltern zu verlieren und mit 25 zu erfahren, wer wirklich ihre leibliche Mutter ist. Dabei ist ihr Daniel als Vater ganz auf Spur und sorgt nicht nur für den Lebensunterhalt, sondern lässt seine Frau die grandiosesten Erfahrungen der Leidenschaft erleben, weil er alles dabei gibt.

Teil 1 - Kapitel 9

Die Menschenmenge an Kai von Bacolod kann es gar nicht abwarten, bis die Fähre aus Cebu endlich anlegt. Es geht langsam, denn das Schiff ist voll beladen und schwerfällig, außerdem behindert der starke Regen das Manöver. Besonders die Männer an den langen Anlegebohlen mit den wackeligen Handläufen mühen sich unter ihren Regenjacken ab, während die ersten Passagiere schon ungeduldig an den Ausgängen warten. Martha kennt diese Überfahrten seit ihrer Jugend. Die miteinander scherzenden Mädchen in ihren Jeanshosen und den Sonnenbrillen zeigen sich gegenseitig ihre Handys und erzählen vergnügt von ihren Erlebnissen mit dem Boyfriend oder den Eltern. Martha lächelt gequält. Sie ist hundemüde und froh, die Passage überstanden zu haben. Eine Überraschung wartet auf sie, ohne dass sie es ahnte. Die Frau mit der breiten Regenmütze kann ihre wahnsinnig langen Haare damit nicht verbergen. Rasch geht Martha auf Vian zu, die ihre Arme ausstreckt.

„Mama!“

„Du hier?“

„Ich möchte dich abholen. Komm schnell.“

„Lieb von dir.“

Hektisch winkt sie einen der Tricyclefahrer herbei, der sich wegen dieses Regens beeilt. Unter dem Geräusch des Zweitaktmotors geht es stramm voran in die Innenstadt, wo die Jeeps in Richtung Teara Nova warten. Vian möchte ihre Mutter aber ausführen, was diese merkwürdig findet, zumal sie sehr müde ist.

„Bitte Mama. Lass uns in der Mall essen. Seafoods.“

„Gibt es eine Neuigkeit?“

„Erzähle ich dir dort.“

„Wo sind denn die Kinder?“

„Bei Daniel. Er ist zuhause.“

Martha fragt nicht weiter und sehnt sich danach, aus dem engen Seitenwagen aussteigen zu können. Beide lieben Fischgerichte. Damit stehen sie nicht allein, auch wenn die junge Generation sich öfter in einem Hamburger-Imbiss wiederfindet. Das Ambiente mit dem kleinen Zweiertisch hat einen anderen Grund. Martha Concepcion hat Lebenserfahrung und beobachtet Vian wieder genau.

„Du hast etwas, Vian. Anstatt mich ausruhen zu lassen, muss ich mit dir in ein Restaurant gehen, obwohl ich nach der langen Reise ziemlich fertig bin. Das Wetter war mies und das Schiff musste sich durch diesen fürchterlichen Seegang kämpfen.“

Ruhig spielt Vian mit ihrer Gabel im Reis mit Hühnchen herum und schweigt mit gesenktem Kopf.

„Und diese Frau neben mir musste in die Tüte kotzen. Furchtbar.“

„Sorry Mama.“

„Was ist denn los?“

„Es ist wegen Tita Felizitas. Wir müssen ihr helfen.“

Ruhig hört ihre Mutter zu, wartet ab. Sie muss nicht viel fragen. Sie kennt Vian zu gut. Das Herz wird schon sich leeren, denn es wird sich leeren müssen.

„Ihre Mutter hat Krebs.“

Marthas Gesichtsausdruck ändert sich schlagartig. Leise legt sie ihre Gabel beiseite und blickt zur Seite.

„Gütiger Himmel. Sie ist Witwe, nicht wahr?“

Vian nickt leise, ist auch nicht mehr fähig, einfach weiter zu essen.

„Ich bewundere Manang Sabrina. Sie verkörpert eine Generation von Frauen, die bei uns selten geworden sind. Die Tradition der Provinzleute hielt sie immer hoch, mit ihren Ländereien und ihrem Führungsstil.“

„Tita Felizitas will aufbrechen, sobald Aylin Ferien hat.“

„Das muss sie.“

Vian starrt ihre Mutter an, denn dieser Satz lässt in ihr ein beklemmendes Gefühl aufkommen. Die Rolle der erstgeborenen Tochter oder des Sohnes ist klar umrissen. Bei ihr wird es, anders als bei Felizitas, kompliziert werden. Marthas Reise nach Mindanao hatte einen Zweck und sie wollte sich erst einmal heraushalten. In all den Jahren sah sie ihre Halbgeschwister nur wenig. Die Zeit half bis heute nicht, die Abneigung, die der erstgeborene Sohn aus der Ehe Marthas mit ihrem Mann gegen sie empfand, wegzuwischen. Laut sagte er vor anderen nicht, wie er über Vian dachte, doch Martha weiß es mit jeder Pore ihres Herzens, was auch ihrer Tochter, die ihr gegenübersitzt, nicht verborgen bleiben konnte. Vian mag diese Reisen nach Mindanao nicht, auch wenn sie sich mit Marthas Töchtern Elisabeth und Marybeth gut versteht. Was würde in ihrem Herzen für ein Schmerz ausbrechen, wenn sie erfahren müsste, dass es Martha gleichsam träfe?

„Ja, sie muss. Sie ist die Nachfolgerin.“

„Mama! Ihre Mutter ist noch am Leben.“

„Das verstehst du nicht. Unsere Generation möchte diese Dinge vorher geregelt wissen. Das ist doch nicht respektlos. Und Sabrina Velasquez ist eine ehrbare Frau, die weiß, was zu tun ist.“

„Ja, ich weiß…“

„Und bei dir… muss es ebenso sein.“

„Ich kann mir denken, was du meinst. Aber…“

„Nein Vian. Für mich bist du meine Erstgeborene.“

„An mir haftet doch dieser Makel.“

„Ich will nicht, dass du so etwas wieder von dir gibst.“

„Können wir nicht jetzt über Tita reden?“

Nach zwei Bissen legt Martha genervt die Gabel wieder hin. Das Fischgericht ist ihr zu oberflächlich zubereitet und bereits kalt. Vian isst tapfer weiter, denn sie hat mächtigen Appetit.

„Soll ich dir was Neues bestellen?“

„Nein.“

Martha versucht sich gerade abzulenken, nachdem sie nun das mit Felizitas´ Mutter erfahren musste. Sie beobachtet ihre Tochter, die Spaß an ihrem Essen hat. Ihre glänzenden, wunderschönen Haare machen sie stolz, hat sie selbst doch immer Wert auf gute Haarpflege gelegt. Es muss vererbt sein, nicht nur die Struktur und Festigkeit dieser Strähnen, sondern gleichsam Vians Passion für die Hingabe, mit der sie ihre Pracht jeden Tag in Ordnung hält.

„Was machen die Kinder?“

„Wir denken, dass wir eine neue ‚Yaya‘ brauchen. Belinda ist unzuverlässig geworden. Ich gehe mal zur Agentur.“

„Gut, mach das.“

„Mama…, ich habe die Pille abgesetzt.“

„Darüber können wir doch zuhause quatschen. Doch nicht hier vor allen Gästen. Ich war lange genug verheiratet, aber ihr jungen Leute redet ja über so was.“

„Das muss man auch.“

„Aber dezent, weißt du…“

„Geheimnistuerei führt nur zu Problemen. Ich meine… Wenn Männer sich eine ‚Querida‘ nehmen oder die Ehe unglücklich ist.“

„Vian! Das ist doch nicht das Wichtigste.“

„Das liegt daran, weil man bei Sex immer so tut, als geht das keinen etwas an. Man muss reden. Du bist doch meine Mutter. Warum nicht hier? Ich habe damals von Tita viel gelernt.“

„Sie war dir ein Ratgeber, ich weiß.“

„Ja! Ich bin deshalb enthaltsam geblieben, bis ich Daniel heiratete. Ich durfte ihm als Erstem mein ganzes Ich geben, das ist Wahnsinn. Und danach… Mama!“

„Kind! Psst.“

„Was denn? Ich finde…“

Sie zuckt zweimal mit dem Mund nach vorne, dreht ihre Finger einmal herum und freut sich mit glucksenden Augen.

„… es großartig, im Stehen. Dann bleibt er fit.“

„Vian! Ach… dann turnt zuhause rum, wie ihr wollt. Du hast also die Pille abgesetzt.“

„Ich möchte noch einen Jungen.“

„Als ob ihr das bestimmen könnt. Was Gott euch schenkt, müsst ihr nehmen. Manang Remedios hatte sechs Töchter bekommen, danach haben sie es aufgegeben. Und ich habe drei.“

„Und einen Jungen. Kuya Jake hat vier Söhne, aber kein Mädchen.“

„Wir gehen heutzutage planvoller vor, nicht wie unsere Vorfahren. Familienplanung.“

„Mache ich doch. Drei Kinder. Ehrenwort.“

„Es ist deine Ehe und deine Familie.“

„Komm! Du bist doch so gerne Großmutter.“

„Vian.“

„Mama?“

„Du solltest wissen, wie sehr ich dich liebe.“

„Das weiß ich… Du hättest sogar dein Leben für mich gelassen.“

„Es ist über sieben Jahre her. Die Zeit vergeht rasend schnell.“

„Kuya Leif hat manchmal noch Erinnerungen, du weißt ja.“

„Kein Wunder. Diese Frau damals… Hat sie nicht sieben Jahre Zuchthaus bekommen?“

„Ich kann mich sogar noch an ihren Namen erinnern…, Elsie.“

Hastig stopft sie sich die letzten Bissen in den Mund. Länger möchten sie nicht bleiben, denn Martha will nur noch ausruhen und die wackelige Schiffspassage vergessen.

Teil 1 - Kapitel 10

Leif kramt wieder in den Schubladen seines Schreibtisches, vermutet, die verflixten Rechnungen dort finden zu können. Immerhin ist der neue Fräser für Daniel eingetroffen, deshalb ja auch eine dieser Rechnungen. Für enthusiastische Taten fehlen ihm in diesen Tagen der Antrieb und die Freude. Wie tief er mit Felizitas leidet, ahnen nur Vian und ihr Mann. Denn unverhofft waren die üblichen Rollen vertauscht, verdreht durch die Unwirklichkeit einer über eine starke Frau hereingebrochene Tragödie. Felizitas wollte nicht schwach wirken, kämpfte mit den Waffen einer ‚Bayani-Heldin‘ in ihrem Inneren, zeigte nach außen eine klare Linie. Sie liebt ihre Mutter mit ganzem Herzen, nun kommt es ihr vor, als hätte jemand einen Baseballschläger benutzt, um ihr zu signalisieren, dass der größte Feind des Menschen, der Tod, wieder einmal zuschlagen wird.

Die Hitze brütete in den letzten Tagen heftig auf die Einwohner in Bacolod City herab und Regen fiel nur spärlich auf die weiten Zuckerrohrfelder. Leif hatte sich in den Jahren erstaunlich gut daran gewöhnt. Er behalf sich mit dem Ventilator im Schlafzimmer, obwohl Felizitas ihn manches Mal mahnte, er solle sich keine Erkältung des-wegen holen. Mit dem Luftzug neben dem Bett ging es, auch in dieser Nacht. Im Bad lässt er sich prustend das kühle Wasser aus dem Schöpfeimer, dem sogenannten ‚Tabo‘, über die Schultern klatschen. Er hat es eilig, denn Aylin klopft ungeduldig an die Tür.

„Paps… Ich muss zur Schule.“

„Komme sofort.“

In Windeseile wickelt er sich das Badetuch um die Hüften. Wie ein Gecko schlängelt sich Aylin durch die Tür und schiebt sie hinter ihrem Vater zu.

„Muss sie heute früher in die Schule?“

„Ja, wegen einem Projekt.“

Immerhin kann sie sich nicht mehr mit ihren Haaren an dem Glasregal verheddern, denn er hatte es neu positioniert, höher und weiter weg. Zudem hat seine Tochter nun diese coolen Perlenschnüre. Diese fanden ihre Freundinnen in der Schule teils witzig, teils seltsam. Aber Betsy gefielen sie auch. Ihre Lehrerin meinte, sie würde wie eine Ifugao aussehen. Aylin wusste über diesen Volksstamm im Süden Luzons Bescheid, aber nur aus einem Buch. Eines musste sie knallhart lernen: Keinerlei Parteilichkeit und Tribalismus im Herzen entwickeln. Leif hasst so etwas. So fand Aylin diese Ifugao-Menschen nun ganz klasse, weil ihre coolen Haarbänder nun ein Teil ihrer Persönlichkeit sind.

„Sie braucht länger, seit sie die Perlenschnüre hat.“

„Lass sie doch.“

„Sicher. Hast du dein Geschenk gesehen?“

Felizitas schaute schon ein paar Mal auf das kleine rosafarbene Schächtelchen. Nun lächelt sie, ahnt schon, dass ihr Lieblingsparfüm nun auf dem Glasregal seinen Platz finden wird, ohne Gefahr, wieder von Haaren heruntergerissen zu werden.

„Danke…, Darling.“

„Es ist schön, wie du das sagst.“

„Ich möchte heute zu Magdalena.“

„Klar. Was macht Brian gerade so?“

„Er ist nicht gut drauf. Die Geldsorgen.“

Leif schämt sich und hat Grund dazu. Er hatte sich im Künstlerkreis sehr rar gemacht, wusste um das Verständnis der Maler wegen seiner limitierten Zeit, die er gerade wegen seiner Frau benötigte. Felizitas sieht es nicht ein, ihre Fürsorgenatur als ‚Dato‘-Führerin lässt sie ihn gerade deutlich spüren.

„Du hast Brian lange nicht besucht. Schäm dich.“

„Ich musste mich erst um dich kümmern.“

Leif nickt aber jetzt doch und weiß, wie recht sie hat. Er kann es nur bekräftigen und das „Artists Joy“ für heute Abend einplanen. Sein Cousin Brian verarbeitete seine Sorgen wieder einmal in einer bizarren Bilderserie, die einen verzweifelten Mann zeigte, dargestellt mit geschlossenen, zu waagerechten Schlitzen mutierten Augen, umhüllt in Kokons, die wie eine Gefängniszelle aussahen. Nur Lösungen malte Brian nicht, weil auch er keine Lösung parat hatte.

Aylin kommt aus dem Bad geflitzt. Es dauert nicht lange, bis sie mit ihrem Lieblings-Shirt und Rucksack am Frühstückstisch erscheint.

„Ist das mein Lunchpaket?“

Felizitas hält ihr die Kunststoffbox hin, mit festem Blick.

„Mama, muss ich wieder Avocados essen?“

„Sie sind gesund. Hatte gestern Abend keine Ananas mehr.“

„Avocados schmecken so schmierig.“

„Sie sind trotzdem gesund.“

„Schon gut. Bye, Paps!“

Felizitas und ihr Mann schauen sich an, müssen einträchtig lächeln bei diesem Anblick, wie Eltern, die sich einfach nur wohl fühlen, weil sie bisher erfolgreich waren.

„Sie ist gut in der Schule.“

„Beim Tagalog hapert es. Nur eine „3 minus“.“

„Du bewertest das über.“

„Es ist eure Hauptsprache. Ich mag dieses Dialekt-Gehabe nicht. Du könntest mich besser unterstützen, Felizitas.“

„Ach ja?“

„Wenn sie älter wird und nach Manila muss, geht sie unter.“

„Was soll das? Brauchst du deine Frau mal wieder? Dann helfe ihr doch bei den Hausaufgaben.“

Ein Stich fährt ihm durch die Brust. Ihre Augen zeigen diese trotzige Haltung. Das kannte er zuvor von ihr kaum. Seine Worte waren fest wie eh und je, doch sie kann es nicht ertragen, ihn so reden zu hören.

„Ich bin nicht mehr die Felizitas, die du dir immer ausmalst. Das wolltest du doch eben sagen? Oder? Ich habe gerade ganz andere Sorgen, als zu bestimmen, welche Sprache Aylin gut zu können hat. Ich bin keine gute Ehefrau mehr, kann keinen Rat mehr geben. Mein Kind vernachlässige ich ja, nicht wahr?“

Leif springt auf, packt sie sanft. Ihre Tränen fangen an, sein Hemd zu benetzen. Er möchte sie nur festhalten, jede Art Tröstung auf sie niederregnen lassen. Ihre Hände verkrampfen sich, schieben ihn weg von sich.

„Ich ziehe mich um.“

„Vergib mir bitte!“

„Ja… Vergiss es.“

Leise geht sie ins Schlafzimmer. Leif muss los. Traurig stopft er sich noch ein paar Bissen von dem Reis in den Mund, bevor er das Haus verlässt.

Teil 1 - Kapitel 11

Martha war bei den Mendozas geblieben und sprach nach dem Abendessen lange allein mit Vian. Daniel las den Töchtern eine Geschichte vor und brachte sie dann zu Bett. Für ihn ist das gleichsam normal, wie bei seiner Frau, sogar das Windelwechseln in den Tagen, als Maylea und Izza noch Babys waren. Ein moderner Mann ohne jede Macho-Attitüden ist er, vorausschauend und mehr an die Familienplanung denkend als seine Vian, die er bei dem Wunsch nach einem vierten Kind ganz sicher zur Pille zurückverordnen würde.

Martha war vor einigen Minuten gegangen. Vian wirkt in sich gekehrt und rubbelt gedankenversunken an den Tellern herum.

„Ist was?“

„Ich muss mit dir reden.“

„Kein Problem. Geht es dir gut?“

Vian sieht ihn an, zauberhaft wie immer ist ihr Mandelaugenblick. Daniel liebt diese Grazie mit allem, was er geben kann, Nun ist sie fast 33, doch kaum verändert bis auf die drei Kilogramm, die sie zulegte. Man kann es kaum erkennen, doch wenn sie ihr Kleid aus alten Tagen, das ‚Vanilla Passion Wind‘, anziehen möchte, muss sie beschämt passen. Es war maßgefertigt damals und perfekt anliegend an ihren Hüften und dem Oberkörper. Für Daniel sind das Erinnerungen aus alten Zeiten, die ihm bedeutungslos erscheinen, weil er im Jetzt lebt und denkt. Das Kleid ruht unter einem Plastiksack im Schrank und die wilden Zeiten ruhen gleichsam tief im Grab der Erinnerungen. Vian kommt langsam schreitend auf ihn zu. Diese Art eleganten Gangs hat sie nie verlernt. Die Zeiten ihrer Erlebnisse vom Catwalk sind es, die ihre Eleganz bewahrt haben. Nun nimmt sie auf seinem Schoß Platz.

„Küss mich.“

Daniel überlegt keine zwei Sekunden. Der intensiv lange Kuss macht ihn schon ein wenig heiß, doch er fühlt, dass sie nicht an Liebe denken möchte. Es scheint sie etwas zu beschäftigen.

„Nanay hat mit mir geredet, wegen Mindanao.“

„Oh… Ihre Familie?“

„Ja. Mir ist nicht wohl dabei.“

Vian wirkt unsicher. Gab es ein Problem? Waren finanzielle Sorgen aufgetaucht oder gab es einen ernsten Krankheitsfall? Ihre drei Halbgeschwister sah sie ja nicht oft, nur die jüngste Tochter Marthas machte gelegentlich Besuche in Bacolod City, um ihre Mutter zu sehen und die Stadt zu bewundern.

„Nanay will das Erbe an ihrem Landbesitz verteilen.“

„Sollst du auch etwas bekommen?“

Ihr sanftes Nicken erklärt alles. Ihr ist nicht wohl bei dem Gedanken, auch wenn Martha Concepcion so entscheiden darf. Der erstgeborene Sohn Felipe hatte es bis heute nicht geschafft, sie wirklich im Herzen anzuerkennen. Als er damals vor sieben Jahren erfuhr, dass Vian eine unehelich gezeugte Tochter seiner Mutter ist, reagierte er höflich ihr gegenüber, im Inneren aber mit großer Verbitterung. Als sein Vater starb, litt er unbeschreiblich. Martha war vorsichtig in dem, was sie ihm über sie erzählte. Aber die Sache mit ihrer heroisch heldenhaften Rettungstat bei Vians Entführung erfuhr er durch seine jüngere Schwester, was ihn in wahnsinnige Rage brachte. Er brüllte seine Mutter an, als er sie deswegen zu Rede stellte.

„Du hast was?! Wirfst dich vor dieses Weibsstück und lässt dich lieber selbst erschießen?“

„Felipe! Sohn!“

„Sie ist wohl jetzt deine Lieblingstochter und wir nur Anhang.“