Bad Tourists - Caro Carver - E-Book

Bad Tourists E-Book

Caro Carver

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Beschreibung

Urlaub im Paradies. Freundinnen aus der Hölle. Türkisblaues Meer, weißer Sand und luxuriöse Strandvillen: Das exklusive Sapphire Island Resort auf den Malediven ist der perfekte Ort für einen Traumurlaub. Hierher reisen die Freundinnen Darcy, Kate und Camilla, um Darcys Scheidung zu feiern. Doch die drei Frauen verbindet keine gewöhnliche Freundschaft: Ein traumatisches Ereignis in ihrer Vergangenheit hat sie zusammengeführt – und lässt sie auch unter Palmen und Sonnenschein nicht los. Als ein Mann verschwindet, müssen Darcy, Camilla und Kate sich fragen, wie gut sie einander wirklich kennen … Ein packender Thriller mit traumhaftem Setting, perfekt für den Sommerurlaub!

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Seitenzahl: 462

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Caro Carver

Bad Tourists

Sie sind gute Freundinnen. Aber noch bessere Lügnerinnen

Thriller

 

Aus dem Englischen von Janine Malz

 

Über dieses Buch

 

 

Die Freundinnen Darcy, Camilla und Kate reisen auf die Malediven, um Darcys Scheidung zu feiern. Das exklusive Sapphire Island Resort mit luxuriösen Privatvillen, kristallklarem Wasser und weißen Sandstränden scheint der perfekte Ort, um sich zu entspannen. Doch die drei Frauen verbindet keine gewöhnliche Freundschaft: Ein traumatisches Ereignis in ihrer Vergangenheit hat sie zusammengeführt, ein Verbrechen, das nie ganz aufgeklärt wurde – und das lässt sie auch auf den Malediven nicht los. Als ein Mann verschwindet, müssen Darcy, Camilla und Kate sich fragen, wie gut sie einander wirklich kennen …

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Caro Carver ist Dozentin für kreatives Schreiben an der Universität Glasgow und erforscht, wie kreatives Schreiben dabei helfen kann, Traumata zu verarbeiten. Sie liebt es zu reisen und lässt sich von ihren Erlebnissen unterwegs zu ihren Romanen inspirieren. »Bad Tourists« ist ihr erstes Buch als Caro Carver, in Großbritannien ist sie unter anderem Pseudonym bereits mit Gothic Thrillern sehr erfolgreich. Caro Carver lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Schottland.

Inhalt

[Widmung]

[Motto]

[Prolog]

Teil 1

Dover, England10. September 2001

Zweiundzwanzig Jahre später

1 Darcy

2 Kate

3 Kate

4 Kate

5 Jade

6 Jacob

7 Camilla

8 Darcy

9 Kate

10 Kate

Sieben Monate zuvor

11 Jade

12 Kate

13 Camilla

14 Darcy

15 Camilla

16 Kate

17 Darcy

18 Jade

19 Jacob

20 Darcy

21 Camilla

22 Kate

23 Jade

24 Camilla

Sechs Monate zuvor

25 Camilla

Teil 2

[Intermezzo]

26 Camilla

27 Kate

28 Darcy

29 Jade

30 Kate

31 Charlie

32 Darcy

33 Kate

34 Jade

35 Camilla

36 Kate

37 Kate

38 Jade

39 Darcy

40 Camilla

41 Camilla

42 Kate

43 Jade

44 Camilla

45 Kate

46 Jade

47 Darcy

48 Kate

49 Charlie

Drei Monate zuvor

50 Jacob

51 Camilla

52 Jacob

53 Kate

54 Jade

55 Camilla

56 Camilla

57 Hugh

10. September 2001

58 Kate

59 Kate

60 Jade

61 Camilla

62 Jade

Zehn Stunden später

63 Darcy

Sieben Monate zuvor

Teil 3

64 Kate

Ein Jahr später

65 Kate

66 Charlie

67 Darcy

Anmerkung der Autorin

Danksagung

Für Alice Lutyens, meine Agentin und Freundin

Tyger Tyger, burning bright,

In the forests of the night;

What immortal hand or eye,

Could frame thy fearful symmetry?

 

William Blake, The Tyger

 

 

Tiger! Tiger! Brand entfacht

In den Wäldern tiefer Nacht,

Welch unsterblich Aug’ und Hand

Hat dich in dein Maß gebannt?

 

William Blake, Tiger

Es beginnt mit dem Indischen Ozean. Die Nacht hat das ultramarinblaue Wasser in Schattierungen eines Blutergusses verwandelt, ein marineblauer Teppich, in dem sich schillernd Milliarden toter Dinge spiegeln. Sterne, mit anderen Worten, denn auch Totes kann wunderschön sein.

Wie die Leiche im Wasser, die ihr Blut ins Riff ergießt. Selbst im Tod ist er bildschön – ganz besonders sogar; das schwarze Haar umschwirrt von gelben und silbernen Fischen, abgetrenntes Gewebe, das in der Strömung dahintreibt, als wäre er ein Teil des Ozeans. Eine seltene Anemone. Alles ist anmutiger unter Wasser. Selbst Mord wird zum Ballett.

Die Nacht lockt Raubtiere an. Bis zum Morgen wird nicht mehr viel übrig, werden seine menschlichen Konturen ausgelöscht sein. Nichts ahnende Resortgäste werden vielleicht mit dem Kajak rausfahren und mit dessen Bauch aus Fiberglas durch ein düsteres Geheimnis schneiden.

Der Gedanke bereitet mir Vergnügen. Die dramatische Komponente, die in der Möglichkeit liegt, entdeckt zu werden. Es ist ein Geschenk gewissermaßen, ein unverhoffter Schatz, mit dem ich mich immer und immer wieder selbst belohnen kann.

Alles, was es dazu braucht, ist ein Messerstich.

Teil 1

Dover, England10. September 2001

 

Sie ist der letzte Gast, der eincheckt.

Es ist nach Mitternacht. Die Exkursion soll am nächsten Morgen um sechs Uhr starten. Eigentlich wollte sie schon viel früher im Bett sein, um frisch und munter bei der Ausgrabung aufzutauchen. Um Professor Berry stolz zu machen.

Heute Abend ist einfach alles schiefgegangen. Erst hatte sie ihren Studierendenausweis verloren, dann hatte der Zug Verspätung, und dann brachte der Taxifahrer sie zu einer anderen Unterkunft mit Spinnaker im Namen – dem Spinnaker House auf der anderen Seite der Stadt. Ein einziges Chaos.

Das Spinnaker Guesthouse – das Haus, in dem sie untergebracht ist – ist ein freistehendes viktorianisches Haus mitten im Nirgendwo, am ausgestorbenen Ende eines Industriegebiets. Keine Läden in der Nähe, nur wenige Straßenlaternen. Nachts sieht alles noch schlimmer aus, denkt sie und schleppt ihren Rucksack die Stufen zur Haustür hinauf. Wo ist die Klingel? Drinnen ist es dunkel. Sie wird den Besitzer wecken müssen, der sie bestimmt zusammenscheißen wird, weil sie so spät kommt.

Aber nein – die Eingangstür ist angelehnt, und von innen dringt ein schwacher Lichtschein aus einer Tür, die zu dem kleinen Empfangsbüro führt. Sie geht leise hinein und ist erleichtert, einen älteren Mann am Schreibtisch zu entdecken, Mitte fünfzig, so alt wie ihr Vater.

»Sorry«, flüstert sie. »Das Taxi hat mich zuerst zur falschen Adresse gefahren.«

Er lächelt, sagt aber nichts und schiebt ein Klemmbrett über den Schreibtisch. »Sind Sie das?«, fragt er. Sie geht die Liste mit Namen durch. Ihr Name ist der einzige, der nicht abgehakt ist. Sie nickt und beobachtet, wie er ein Häkchen setzt.

Der Mann steht in einer seltsamen Pose da, die rechte Hand in eine enge Jeanstasche gesteckt. Und die Art, wie er sie schweigend anlächelt … irgendwie merkwürdig, wie eine erstarrte Grimasse.

»Kann ich meinen Zimmerschlüssel haben?«, fragt sie schließlich.

Er dreht sich um, nimmt einen Schlüssel vom Brett und reicht ihn ihr. Auf dem Anhänger steht Zimmer drei.

»Danke.«

Sie dreht sich um und geht zurück in den Gang und die Treppe hinauf zu einem dunklen Flur, gesäumt von Türen. Zimmer drei ist das, das ihr am nächsten liegt. Die Messingnummer glänzt im matten Lichtschein.

Das Zimmer ist schlicht und riecht nach Gras, aber das ist ihr egal – das Bett fühlt sich herrlich an, als sie sich hineinfallen lässt. Sie zieht sich nicht aus, stellt sich nicht den Wecker.

 

Mit einem Ruck wacht sie auf. Wie spät ist es? Laut ihrer Armbanduhr ist es Viertel vor sechs. Es war dumm von ihr, so dumm, ihren Wecker nicht zu stellen, aber sie hat Glück, dass sie nicht verschlafen hat. Gerade so. Dieser Termin ist seit dem letzten Semester auf dem Tischkalender in ihrer Studentenbude fett eingekreist.

Sie wäscht sich das Gesicht, putzt sich die Zähne. Sie fährt sich mit einem Deoroller unter die Achseln, wechselt Socken und Unterhose. Draußen ist es noch dunkel, aber der Schlaf hat ihr gutgetan.

Ihr Magen knurrt. Professor Berry hatte gesagt, er würde mit ihnen in einem Café nahe der Grabungsstelle Kaffee und Croissants holen, bevor sie loslegen.

Sie stopft ihren Kulturbeutel und Kleinkram in den Rucksack, wirft einen letzten Blick in den Badspiegel, richtet ein blaues Haar und wischt sich den Schlaf aus den Augen. Dann öffnet sie die Zimmertür und tritt auf den Flur hinaus.

Keine Spur von irgendwem. Der Wartebereich in dem kleinen Empfangsbüro ist leer, keine Spur von dem unheimlichen Typen von gestern Abend.

Fünf Minuten vor sechs.

Sie hatte erwartet, Professor Berry unten zu treffen, in ungeduldiger Erwartung, endlich loszugehen, oder Bao vielleicht, ihren Kommilitonen aus dem PhD-Programm, von dem sie weiß, dass er ebenfalls in diesem Gästehaus übernachtet. Die anderen Doktoranden, ungefähr ein Dutzend, wohnen in einem anderen Haus, da dieses ausgebucht war. Der Kleinbus sollte auch bereitstehen. Wo sind denn alle?

Panik ergreift sie – was, wenn das hier doch das falsche Gästehaus ist? Die letzte Nacht war ein solches Desaster, dass es sie nicht überraschen würde.

Sie setzt ihren Rucksack ab und geht zurück nach oben, in der Hoffnung, jemanden zu finden, den sie kennt, jemanden, den sie fragen kann.

Aber das Haus ist still wie ein Grab.

Sie bemerkt, dass die Tür zu Zimmer sechs einen Spalt offen steht. Vielleicht kann sie einen Blick hineinwerfen, um zu sehen, ob sie ein bekanntes Gesicht entdeckt. Sie klopft.

»Hallo?«

Durch den Spalt sieht sie einen Rucksack und ein vertrautes Paar brauner Wanderschuhe, die ordentlich daneben abgestellt sind. Das ist das Zimmer von Professor Berry. Ein Moment der Erleichterung: Sie ist am richtigen Ort.

»Professor Berry, sind Sie da drin?«

Sie riskiert einen Blick um die Ecke, und was sie sieht, ist so verwirrend, so falsch, dass sie zurücktaumelt, keine Luft bekommt und würgt, als hätte ihr jemand einen Schlag mitten in die Magengrube versetzt.

Ihr geliebter Professor liegt in einer glänzenden Blutlache auf dem Bett, die Beine merkwürdig unter sich verrenkt. Sie eilt zu ihm, ihre Gedanken überschlagen sich. Wie funktioniert noch mal eine Wiederbelebung? Sollte ich seinen Puls fühlen?

»Professor Berry«, keucht sie. »Professor Berry!«

Doch dann sieht sie die klaffende Wunde an seiner Kehle, den tiefen Schlitz über seinem Pyjamaoberteil, die dunkle Höhle, wo sein linkes Auge sein sollte. Geronnenes Blut in der Farbe von Pflaumen.

Sie schreit und taumelt, unfähig zu begreifen, was sie da sieht. »Hilfe!«, schreit sie. »Kann mir irgendjemand helfen?«

Keine Antwort. Sie stolpert blindlings den Gang entlang, im Kopf ein einziger Wirrwarr. Eine der anderen Türen steht offen, und sie stürzt dagegen.

Im Zimmer beginnt sie, den Mann im Bett anzuflehen, ihr zu helfen. Er schläft, denkt sie, die weinrote Decke ist bis zum Hals hochgezogen. Aber über dem Kopfteil ist ein langer schmieriger roter Fleck, wie ein Zeichen aus dem Alten Testament. Sie nähert sich wimmernd, widersteht der Stimme in ihrem Kopf, die sie anschreit, sofort abzuhauen. Die Vorhänge sind geöffnet, das Fenster gibt den Blick frei auf graue, leere Industrieflächen. Der Fremde im Bett hat eine Grimasse im Gesicht, die Laken sind mit seinem Blut getränkt.

 

Im Laufe der Jahre wird sie zuerst den Geschworenen, dann einer Psychologin erzählen, wie sie nach draußen rannte, auf dem Gehweg auf die Knie fiel und sich übergab. Wie der Kleinbus ankam und der Fahrer sie heulend auf dem Boden fand. Wie er dachte, sie hätte einen Anfall.

Im hinteren Teil des Krankenwagens zitterte sie krampfhaft und unkontrollierbar, während sie zusah, wie ein Leichensack nach dem anderen die Stufen des Gästehauses hinuntergetragen wurde.

Sechs Menschen, kaltblütig ermordet von dem Mann am Empfang mit dem Lächeln, bei dem sich ihr die Nackenhaare aufstellten.

Von dem Mann, der sie am Leben ließ.

Zweiundzwanzig Jahre später

1Darcy

Sie fürchtet sich davor, die Jungs zurückzulassen.

Neun Tage ohne sie. So lange wie noch nie. Charlie redet nicht mehr mit ihr, was den Abschied noch schwieriger macht. Was, wenn er sich nicht verabschieden will? Er ist zwölf, und Marsha sagt, ihr Junge war in diesem Alter genauso. Einen Neugeborenen zu umsorgen war schon hart, aber die Erziehung eines Zwölfjährigen fühlt sich an wie Masochismus, insbesondere jetzt, da sie geschieden ist. Letztes Jahr hat Charlie sie noch geknuddelt und ihr gesagt, dass er sie liebt. Aber er hat immer zu Jacob, seinem Vater, aufgeschaut. Er ist ihm auch wie aus dem Gesicht geschnitten: die gleiche intellektuelle Stirn, das gleiche federleichte blonde Haar, die gleichen blauen, tiefliegenden Augen. Als Charlie eine Hauptrolle in der Schulaufführung bekam, bot sie ihm an, ihm beim Proben zu helfen. Aber ihre Hilfe war nach hinten losgegangen, und nun sprach er nicht mehr mit ihr.

Durch das Schlafzimmerfenster sieht Darcy, wie sich das Metalltor öffnet und ein schwarzes Auto die Einfahrt herauffährt. Sie atmet tief durch.

»Er ist da, Marsha«, ruft sie der Babysitterin zu, die unten bei den Kindern ist.

»Na dann, kommt, Jungs«, hört sie Marsha sagen. »Verabschieden wir uns von Mummy.«

Darcys Koffer stehen bereits im Flur, aber sie verbringt noch ein paar Augenblicke damit, den Raum mit den Augen abzuscannen, ob sie etwas vergessen hat. Natürlich hat sie nichts vergessen – immerhin ist sie Darcy, Königin der Listen, und hat ihre Malediven-Liste schon ein Dutzend Mal durchgesehen –, aber nun schlägt die Nervosität zu und überzieht ihr Gehirn mit einer Wolke. Sie betrachtet sich im Spiegel, streicht sich eine Strähne ihres frisch gefärbten kastanienbraunen Haars hinters Ohr. Einen Moment lang ärgert sie sich über den Farbton, in dem die Nageldesignerin ihre Nägel lackiert hat – er ist knallpink, keine Farbe, mit der sie sich mit ihren einundvierzig Jahren wohlfühlte. Camilla hatte ihr geraten, sich Acrylnägel mit sogenannter Nailart machen zu lassen – Miniaturkakteen oder Lamas, um Himmels willen. Sie war sich nicht sicher, ob Camilla sie verarschen wollte. Das Pink war schon gewagt genug für sie. Für den Flug hatte sie sich ein knielanges Baumwollkleid von Boden ausgesucht – marineblau mit Wellenschliff am weißen Saum – und dazu passende marineblaue Espadrilles und eine zarte Goldkette um den Hals. Kein Make-up. Dafür hat Darcy nie Zeit, schließlich muss sie sich um drei Jungs kümmern.

Sie hat diesen Urlaub verdient. Gott weiß, dass sie ihn verdient hat.

Sie geht hinunter in die Eingangshalle, wo Ben und Ed, sieben und neun Jahre alt, wie kleine Soldaten aufgereiht stehen und, wie von Marsha gewünscht, auf sie warten.

»Danke, dass du so kurzfristig babysitten konntest«, sagt sie zu Marsha. Sie ist eine Frau Mitte sechzig, deren eigene Kinder das Nest bereits verlassen haben. Sie passt manchmal auf die Jungs auf, wenn Darcy in Meetings ist.

Marsha schenkt ihr ein freundliches Lächeln. »Ich helfe doch gern.«

»Jacob holt sie um sechs ab, aber falls es irgendwelche Probleme gibt, ruf mich einfach an.«

»Darcy, ich komme schon zurecht«, sagt Marsha herzlich. »Amüsier dich gut. Du hast es dir verdient.«

Sie lächelt Marsha an und berührt sie an der Schulter.

Die Jungen schauen geknickt, als sie sich zu ihnen hinunterbeugt.

»Tschüss, Mummy«, sagt Ben. »Rufst du uns an?«

Sie streichelt über sein Gesicht. »Natürlich. Seid brav zu Marsha, okay?« Dann dreht sie sich zur Türöffnung, wo ein Stück von Charlie zu sehen ist: »Ich hab dich lieb, Charlie.«

Keine Antwort. Sie macht einen Schritt auf ihn zu, aber die Tür schließt sich mit einem Knall vor ihrer Nase. Sie seufzt und blickt zu Marsha, die ihr ein mitfühlendes Lächeln schenkt.

»Viel Spaß«, sagt Marsha zu ihr, als sie zum Taxi geht. »Und mach dir keine Sorgen. Das wird schon.«

Heathrow liegt nur dreizehn Meilen entfernt, aber für gewöhnlich herrscht irre viel Verkehr, und sie holt ihr Handy heraus, um zu prüfen, ob sie Nachrichten von Camilla und Kate hat. Nicht von Kate, aber eine Nachricht von Camilla, mit der üblichen Häufung an Emojis:

Bin in Terminal 5 und kaufe Gin! 🤘 👄 🍸 🔥 🥳Sehen wir uns vorm Pret a Manger?

Sie spürt, wie ihr das Herz aufgeht. Diese Reise wird ihr guttun. Manchmal muss man sich selbst daran erinnern, warum man etwas macht, um die mütterlichen Schuldgefühle zu verdrängen.

Das hier ist ihre Scheidungsreise, das höchste aller Feste, um das Ende eines furchtbaren Sorgerechtsstreits und regelrechten Rosenkriegs einzuläuten, den sie geführt hat, um sicherzustellen, dass sie die finanzielle Entschädigung erhält, die ihr zusteht. Jacobs Unternehmen ist auf Software für künstliche Intelligenz spezialisiert, und er hat damit ein Vermögen gemacht. Darcy war diejenige, die ihm beim Aufbau geholfen hat. Am Anfang hat sie seine Buchhaltung gemacht, E-Mails geschrieben, seine Verträge gegengelesen und Pitches verfasst. Sie kam nie auf die Idee, nach einer Beteiligung am Unternehmen zu fragen. Sie ging davon aus, dass ihre Ehe ein sicherer Deal war. Der einzige Vertrag, den sie brauchte.

Außerdem jährt sich in dieser Woche ein einschneidendes Ereignis, das ihr Leben für immer verändert hat.

Der Taxifahrer nimmt ihr das Gepäck ab, und sie winkt Marsha, Ed und Ben mit Tränen in den Augen zu.

»Entschuldigung«, sagt sie zum Taxifahrer und zieht ein Taschentuch aus der Schachtel zwischen ihnen. »Das ist das erste Mal, dass ich ohne sie verreise.«

Und dann fahren sie davon, lassen das Haus und ihre drei Jungs hinter sich.

Was hatte ihr die Dame in der Beratungsstelle gesagt? Nicht mein Zirkus, nicht meine Affen. Dieses Mantra wiederholte Darcy jedes Mal, wenn sie sich dabei ertappte, dass ihre Gedanken zurückwanderten zu ihrer Ehe, zu ihrem alten Leben. Eine der wunderbaren Seiten der sonst so unglückseligen Scheidungsangelegenheit war die Freiheit, die sie jetzt hatte, die Eigenständigkeit.

Darauf versuchte sie sich jetzt zu konzentrieren. Eigenständigkeit, Macht, Unabhängigkeit … Die Sache war bloß die, dass sie sich nichts aus diesen Dingen machte. So was war wichtig für Leute wie Camilla und Kate. Darcy hingegen genoss es, die Familie zu managen; wenn sie verlorene Schlüssel wiederfand, Mahlzeiten zubereitete, Wäsche wusch, Splitter entfernte, Zehennägel schnitt, einen ganzen Tag beim Sportfest durchstand. Zwei Jahre hintereinander war sie die ganze Nacht aufgeblieben, um Kostüme für den Welttag des Buches zu basteln. Komplett in Eigenregie. Jacob wusste nicht einmal, wie man den Geschirrspüler bedient, Herrgott noch mal. Darcy war die Kapitänin, eine Vollzeit-Ehefrau und -Mutter, der CEO der Familie – und sie machte ihre Sache gut.

Und jetzt ist alles weg. Sie hat ihren Körper, ihre Karriere, ihre Zeit und ihre Identität geopfert – und wofür? Ihre Rollen als Vorsitzende des Elternrats an der Schule ihrer Kinder und als gewählte Elternvertreterin sowohl im Schwimm- als auch im Fußballverein haben sie stets mit großem Stolz erfüllt. Aber ihr Ruf wurde durch den Klatsch und Tratsch ruiniert, als Jacob sie verließ. Daraufhin ist sie von ihren Ämtern zurückgetreten und hat dies mit »Zeitmangel« begründet, um ihr Gesicht zu wahren. Der wahre Grund war Scham. Sie konnte es nicht ertragen, anders, mitleidig behandelt zu werden. Ihre Würde war ausgelöscht.

Alles in Darcys Leben ist mit einer Präzision geordnet gewesen, die ihrem Vater, einem Lieutenant der Navy, gefallen hätte, wenn er lange genug gelebt hätte, um Zeuge zu werden. Sie hatte geglaubt, all ihre Bemühungen wären der Garant für eine glückliche Ehe gewesen. Aber ein Lippenstiftfleck auf einem Hemdkragen machte alles zunichte.

Nun ist sie auf ein Klischee reduziert. Trudelt umher wie eine Kondomverpackung im Wäschetrockner. Zum ersten Mal seit vielen Jahren juckt ihr etwas unter der Haut.

Heathrow ist schwindelerregend und chaotisch, Reisende drängeln sich an ihr vorbei, rempeln sie an. Sie fühlt sich aufgeregt, gereizt, bis eine Stimme von hinten ihren Namen ruft.

»Darcy?«

Sie dreht sich um und entdeckt Camilla, die ihr zuwinkt. Sie trägt einen schlaffen Filzhut mit orangefarbenem Band. Sie hat sich seit ihrem letzten Treffen eine Haarverlängerung machen lassen, dreißig Zentimeter lange, glänzende schwarze Locken, die zu beiden Seiten des Hutes herabfallen. Sie trägt ein orangefarbenes Seidenkleid – ohne BH –, eine Menge goldene Halsketten und hochhackige Sandalen. Ihre Brust und ihre Arme sind muskulös, und ihre Schultern glänzen, rund und fest. Darcy fühlt sich in ihrer Gegenwart sofort unscheinbar.

»Camilla«, sagt Darcy und drückt sie fest an sich. Camilla riecht immer gut und sieht immer umwerfend aus. Sie tritt zurück und mustert Darcy, ihre dunklen Augen glitzern. Camilla ist philippinischer Abstammung, ist aber in Cambridge geboren und aufgewachsen.

»Bist du bereit?«, fragt sie.

Darcy hebt ihren Blick und sieht mit ihren haselnussbraunen Augen in die von Camilla. Die Nervosität, die sie eben noch verspürte, legt sich, und sie nickt zuversichtlich. Auf ihrem Handy geht piepend eine Flugbenachrichtigung ein.

»Bereit.«

2Kate

Vermutlich, nimmt Kate an, gibt es niemanden, der so wenig Lust hat, auf die Malediven zu fliegen, wie sie.

See, Sand, Sonne und Schweiß – die vier widerlichsten »S«, die sie sich vorstellen kann. Außerdem: Salat und Spritze. Beides mag sie auch nicht, und was Sex betrifft … ehrlich gesagt ist es schon so lange her, dass sie keine Meinung mehr dazu hat.

Sie stopft sich noch einen Jaffa Cake in den Mund und betrachtet das schwarze Quadrat der Fluganzeigetafel, das in der Mitte der Halle hängt. Es ist wie ein Objekt aus der Tiefenzeit, denkt sie, ein Klumpen Gneis, durchzogen von weißen Mineralien. Ihr Blick wandert zu den blinkenden roten Ziffern auf der linken Seite des Displays. Sie springt auf – die roten Zahlen bedeuten, dass sich ihr Gate schließt. Wie konnte das nur so schnell passieren?

Sie hievt ihren Rucksack auf den Rücken und stapft zu den Schildern, die besagen, dass sich die Gates 11–23 links befinden. Als sie den linken Korridor erreicht, ist sie schweißgebadet und stellt entsetzt fest, dass er ungefähr einen Kilometer lang ist. Wo ist das verdammte Gate?

Kate hastet vorwärts, die Innenseiten der Oberschenkel scheuern unangenehm aneinander, ein scharfer Schmerz macht sich in ihrer Lunge breit. Sie hält die Augen gesenkt, um den Blicken der anderen Passagiere auszuweichen. Endlich taucht ein Schild auf – Gate 22. Noch im Laufen kramt sie in der Seitentasche ihres Rucksacks nach ihrem Reisepass und ihrer Bordkarte und drückt sie der Dame vom Flughafenpersonal in die Hand.

»Guten Flug«, sagt die Frau, und Kate spürt, wie ihre Knie fast nachgeben.

Als sie ihren Platz im Flugzeug findet, ist sie atemlos und rot im Gesicht und zu kaputt, um sich Sorgen zu machen, ob es jemand sieht.

Sie setzt sich und verzieht das Gesicht angesichts des engen Raums, in den sie sich zwängen muss – und das zwischen zwei Fremden. Sie denkt an ihren Lieblingssessel, geräumig und bequem, vor dem Fenster ihres Hauses in Carmarthenshire. Ein rustikales Cottage, das sie im Laufe der Jahre mit Blumenampeln und viel harter Arbeit im Vor- und Hintergarten verschönert hat. Letztes Jahr hat sie die Tür- und Fensterrahmen salbeigrün gestrichen. Mrs. Williams am Ende der Straße hat ihr Gartentor kurz darauf in einer ähnlichen Farbe gestrichen. Kate, eine Trendsetterin! Sie hat zwar nichts mit Mode oder Trends am Hut, ist aber stolz auf ihr Häuschen. Hier arbeitet, vergnügt und ruht sie sich aus. Sie hat absolut kein Bedürfnis, irgendwo anders hinzufahren.

Sie blickt hinunter zum Boden, während sich das Flugzeug von ihm entfernt und die Straßen und Häuser von Cardiff zu kleinen Punkten in der walisischen Landschaft werden. Sie hätte in den Zug nach Heathrow steigen und mit Darcy und Camilla fliegen können, aber sie ist erleichtert, dass sie nicht zehn Stunden lang neben Camilla sitzen muss. Camilla ernährt sich von Luft und Chiasamen und hat eine klare Meinung zu Makronährstoffen. Kate hat nichts gegen Leute, die zwei Stunden am Tag ihre Körpermitte trainieren wollen, aber Camilla hält allen anderen gerne Vorträge darüber, wie wichtig diese Übungen sind. Und da Kate ihre Körpermitte seit 1992 nicht mehr gesehen oder gefühlt hat, ist sie froh, dass sie dem aus dem Weg gehen kann.

Das Anschnallzeichen erlischt. Seufzend greift sie nach ihrem Rucksack unter dem Sitz und holt ihren Laptop heraus.

Kate ist Ghostwriterin. Bei ihrem neuesten Projekt arbeitet sie mit Niall Hardman zusammen, einem Fußballspieler aus den Nullerjahren, der beschlossen hat, die Menschheit mit seinen literarischen Talenten in Form einer Krimireihe zu beglücken. Im ersten geht es um einen psychopathischen Serienmörder, wofür sie umfangreiche Recherchen über die Psyche eines Psychopathen anstellen musste. Wie bei früheren Kunden auch besteht die Abmachung darin, dass Niall das Grundgerüst einer Geschichte liefert und sie das fertige Buch. Aber Nialls Ideen sind abgedroschen, und seine ideologische Ausrichtung ist, gelinde gesagt, altmodisch, so dass es Kate schwerfällt, eine vernünftige Handlung zu entwickeln. Schlimmer noch, Niall ist davon überzeugt, dass er ein Meister im Geschichtenerzählen ist und dass Kates Rolle in diesem Prozess lediglich darin besteht, seine schrecklichen Plots Wort für Wort abzuschreiben wie eine Schreibkraft. Sie vermied es, den Begriff »frauenfeindlich« zu verwenden, wenn sie über seine Handlungsstränge sprach, was viel Diplomatie erforderte. Als sie versuchte, ihn darauf hinzuweisen, dass einige Leserinnen und Leser die Anzahl an weiblichen Leichen in seinen Büchern problematisch finden könnten, meinte er, sie verstehe nicht viel vom Schreiben.

»Solltest du die Geschichte nicht um meinen Plot herum bauen?«, sagte er bei einem Zoom-Call.

»Bis zu einem gewissen Grad«, schaltete sich Arthur ein. Arthur ist Kates Agent und ein guter Freund. »Warum überlässt du nicht Kate die Drehungen und Wendungen? Dafür hast du sie doch angeheuert, oder?«

Niall verstummte und kaute auf der Nagelhaut herum, so dass seine stark tätowierte Hand zu sehen war. Spätere E-Mails seiner Agentin deuteten darauf hin, dass er sich »aus dem Prozess herausgedrängt« gefühlt hatte, aber es war ihr ziemlich schnuppe, wie Niall sich fühlte. Sie hatte schon für viele Promis geschrieben und sich von ihrem theatralischen Auftreten nicht aus der Ruhe bringen lassen. Niall hatte schließlich nachgegeben, genau wie sie erwartet hatte.

Insgeheim hat sie Nialls Buch jedoch beiseitegelegt und arbeitet momentan unter Pseudonym an ihrem eigenen Roman. Nicht einmal Arthur weiß davon. Darin kommen keine Psychopathen vor. Es geht um ein junges Mädchen, das allein in eine abgelegene Wildnis reist und mit den Dämonen ihrer Vergangenheit Frieden schließt. Es wird der erste Roman sein, den sie als eigenes Werk veröffentlicht, nachdem sie über fünfzehn Jahre lang für andere geschrieben hat. Das Ganze ist ziemlich nervenaufreibend, und zuletzt hat sie überlegt, die Idee ganz aufzugeben. Mit Ghostwriting verdient sie gut, warum sich also noch mehr Arbeit machen?

Aber es geht nicht um das Geld. Es geht um … etwas, das sie nicht genau benennen kann.

Kate öffnet das Dokument mit dem neuen Roman und schließt es dann wieder. Sie ist fast fertig, kann sich aber nicht dazu überwinden. Stattdessen ruft sie die PDF-Broschüre über das Resort auf den Malediven auf, die Darcy ihr geschickt hat. Es sieht traumhaft aus, keine Frage. Eine puderweiße Insel inmitten eines unberührten türkisfarbenen Ozeans. Daneben Bilder von farbenfrohen Riffen und Delfinen, von Menschen, die sich auf Liegestühlen oder Massagebetten entspannen und sich den Rücken mit schwarzem Zeug einreiben lassen. Bilder von Menschen, die schnorcheln und allerlei sportlichen Aktivitäten nachgehen. Bilder von Cocktails und kunstvoll drapiertem Essen.

Kate versucht, ein wenig Begeisterung aufzubringen und dankbar zu sein für diese zweifellos einmalige Gelegenheit. Darcy hat das alles aus ihrer Scheidungsabfindung bezahlt; Kate hat den Preis gesehen, als der QR-Code ihre Buchung anzeigte – fünfzigtausend. Fünfzig Riesen für drei Personen und neun Tage Urlaub. Klar, sie hatten last minute gebucht, vor weniger als zwei Wochen, aber Kates Cottage in Carmarthenshire kostete fünfzigtausend, und dafür hatte sie eine fünfundzwanzigjährige Hypothek aufnehmen müssen.

Neun Tage wird sie im Resort sein, um Darcys Scheidung von Jacob mit Cocktails und Spa-Behandlungen und moderatem Sonnenbaden zu feiern. Die Vorstellung, sich einen Cocktail zu genehmigen, gefällt ihr, aber drinnen, etwa am Kamin, zusammengerollt auf einem Sessel statt in der prallen Sonne auf einer Liege. Mit ihrem Laptop oder einem Buch. Und vielleicht mit einer dampfenden Kanne Tee statt mit einem Cocktail.

Warum jemand den ganzen Tag am Strand liegen will, ist ihr schleierhaft.

Aber bei dieser Reise geht es um weit mehr als nur darum, am Strand zu liegen.

Das muss sie sich immer vor Augen halten.

3Kate

Kate landet gut gelaunt in Malé. Für den Anschlussflug von Amsterdam war sie in ein viel größeres Flugzeug gestiegen, und Darcy hatte für sie die erste Klasse gebucht, was eine wahre Freude war. Kate hatte eine Kabine für sich allein und einen Sitz, der sich auf Knopfdruck zu einem Bett ausklappen ließ. Sie hatte ihren eigenen Fernseher, eine Minibar und eine Gänsedaunenbettdecke, und das Essen war ausgezeichnet. Sie schrieb und schlief während der gesamten Reise und merkte kaum, wie die Zeit verging.

Und jetzt ist sie hier.

»Sie sind verhaftet«, sagt eine Stimme hinter ihr. Kate erstarrt. Sie dreht sich um, und da steht Darcy mit breitem Grinsen im Gesicht und ausgebreiteten Armen. Kate schlingt die Arme um sie und drückt sie fest an sich.

»Es ist so schön, dich zu sehen!«, sagt sie. Es ist sieben Monate her seit ihrem letzten Treffen, obwohl sie seither jede Menge Zoom-Calls abgehalten haben. Aber erst jetzt sieht sie in vollem Ausmaß, welchen Tribut Darcys Scheidung gefordert hat; sie ist ein ganzes Stück dünner, ihr Gesicht knochiger, in ihren Augen liegt eine Anspannung, die vorher nicht da war. Ein Bildschirm zeigt nur einen Bruchteil der Realität, wie Kate feststellt.

»Hallo, meine Schöne«, sagt Camilla und breitet die Arme aus. Camillas Umarmungen sind seltsam, sie fühlen sich an, als wollte sie einen nicht mehr berühren als unbedingt nötig. Dennoch ist Kate froh, Camilla zu sehen. Niemand außer Camilla nennt sie jemals »meine Schöne«, »Babe« oder – gelegentlich – »Sahneschnitte«.

»Nehmen wir ein Taxi zum Hotel?«, fragt Kate, als sie das Terminal verlassen.

»Ein Wasserflugzeug«, sagt Darcy und nickt in Richtung einer Flotte von kleinen Flugzeugen, die gegenüber dem Gebäude geparkt sind. Beim Einsteigen registriert Kate die geringe Größe des Flugzeugs, die klapprigen Propeller und die knarzenden Stufen, wird aber nicht so nervös, wie sie es normalerweise wäre. Wahrscheinlich ist das auch besser so.

Und während sie über den saphirblauen Ozean auf das Palmenparadies ihres Resorts zusteuern, denkt Kate an die Vergangenheit. Kleinigkeiten, nichts Traumatisches, noch nicht – nur eine geliebte Jeans mit zwei aufgestickten Palmen auf der Gesäßtasche. Sie hat diese Jeans getragen, bis sie auseinanderfiel, damals mit Anfang zwanzig, als sie noch so was wie Jeans trug. Sie denkt daran zurück, wie sie im Dreck kniete und mit dem Pinsel sanft über den Stein strich, um die Vergangenheit Korn für Korn freizulegen. Sie denkt an Professor Berry, an die Art, wie seine Augen funkelten, wenn er sprach, und wie sich ein Dreiklang aus Lachfalten tief in seine Haut grub. Er wirkte lebendig und sprühte vor Energie, wenn sie auf einer Ausgrabungsstätte waren. Eine Energie, die sie auch besitzen wollte.

Sie beobachtet Darcy und Camilla auf den Sitzen gegenüber, die aus dem Fenster schauen, während das Flugzeug auf einen weißen Streifen auf der Insel zusteuert.

»Wir sind uns also einig«, sagt Camilla. »Keine E-Mails. Einverstanden?«

»Einverstanden«, antworten Kate und Darcy im Chor.

»Gut.« Camilla zieht ein gefaltetes Papierbündel aus ihrer Chanel-Handtasche. »Ich habe einen Terminplan.«

»Terminplan?«, fragt Darcy mit einem nervösen Lachen und blickt zu Kate.

Camilla teilt die Blätter aus, die oben zusammengeheftet sind, wie Kate bemerkt. »Wie ich herausgefunden habe, gibt es nur einen Weg, wie man eine Scheidungsreise richtig begeht, also habe ich es für richtig erachtet, mich an die Regeln zu halten. Keine Sorge, es wird nicht allzu anstrengend. Na ja, abgesehen von dem Feuerlauf, aber das können wir noch besprechen.«

»Was ist ein Feuerlauf?«, fragt Kate und überfliegt die Blätter. Auf jeder Seite befindet sich eine Tabelle, mit dem jeweiligen Datum, Wetterbericht und einer ausführlichen Beschreibung der einzelnen Aktivitäten, abgetippt in Times New Roman.

»Du meinst, über heiße Kohlen, oder?«, fragt Darcy ein wenig verdattert. Sie blickt von Camilla zu Kate, um sich ihren Verdacht bestätigen zu lassen. »Das ist doch ein Feuerlauf, richtig?«

Kate ist entsetzt. Über heiße Kohlen laufen?

»Gibt es auch eine öffentliche Steinigung?«, fragt Kate verhalten. »Oder eine Auspeitschung?«

»Keine Panik«, sagt Camilla und lacht. »Niemand muss den Feuerlauf machen. Alles freiwillig, das sind nur Ideen. Der Feuerlauf ist eine Art Übergangsritus, insofern dachte ich, das wäre doch passend für eine Scheidungsreise, oder?«

»War die Scheidung nicht schon ein Gang über heiße Kohlen, bildlich gesprochen?«, wendet sich Kate an Darcy.

Darcy lächelt. »Ich werde über den Feuerlauf nachdenken. Was steht denn hier sonst noch so? Oh, eine Champagner-Party auf einer privaten Sandbank? Das klingt doch nett, oder, Kate?«

Die Idee mit dem Feuerlauf hat Kate misstrauisch gegenüber so ziemlich allem gemacht, was auf dem Terminplan steht. »Was genau ist eine private Sandbank?«

»Eigentlich ist es eine winzige Insel mitten im Indischen Ozean«, sagt Camilla.

»Fahren wir nicht schon auf eine winzige Insel mitten im Indischen Ozean?«, fragt Kate.

»Na ja, eine kleine Insel, ja. Bei der Sandbank-Exkursion fahren sie uns mit einem Schnellboot raus und setzen uns auf einer Insel ab, die buchstäblich nur aus Sand besteht. Sie stellen uns eine Picknickdecke und Lichterketten hin, und wir trinken Champagner unter den Sternen.«

»Oooh«, sagt Darcy. »Das klingt phantastisch.«

Kate bringt es nicht über sich, einen erfreuten Blick vorzutäuschen. Ihre Gedanken kreisen in Windeseile um die verschiedenen Katastrophen, die sich hinter dieser Idee verbergen. Der Planet schmilzt unter ihren Füßen dahin, die Erderwärmung vernichtet Gletscher und Küstenstädte. In zwanzig Jahren wird es die Malediven wahrscheinlich nicht mehr geben, weil sie vom steigenden Meeresspiegel verschluckt werden. Sie sieht vor sich, wie das Schnellboot mitten im Ozean ausfällt, wie eine zerstörerische Welle über die Sandbank schwappt. Haie.

»Gibt es auf den Malediven Haie?«, fragt sie laut und ist perplex, als sowohl Camilla als auch Darcy in Gelächter ausbrechen.

»Du wirst schon nicht von einem Hai gefressen, meine Süße«, sagt Camilla beruhigend, aber ihr Tonfall lässt Kate stutzen. Woher will Camilla wissen, dass sie nicht von einem Hai gefressen wird? Ist sie jetzt auch noch Hellseherin neben ihrem Dasein als Pilates-Guru und Social-Media-Influencerin?

»Es gibt Hammerhaie«, sagt Darcy. »Ammenhaie am Riff, aber die haben keine Zähne. Keine weißen Haie oder so was. Ich habe nachgeschaut.«

Kate lässt ihren Blick über die Liste schweifen. »Paddleboarding? Was ist das?«

»Ah, also das macht echt jede Menge Spaß«, sagt Camilla, und Kate rutscht augenblicklich das Herz in die Hose. »Ein Paddleboard ist praktisch ein großes Surfbrett, das auf dem Meer schwimmt. Man sitzt oder steht darauf.«

Kate starrt sie an und wartet auf mehr. »Und wieso?«

»Weil … es Spaß macht?«, sagt Camilla, die sich sichtlich zurückhält, um nicht zu zeigen, wie irritiert sie von Kates Frage ist. »Es ist auch jede Menge Zeit zum Ausruhen eingeplant, also macht euch keine Sorgen. Ich bin nicht hier, um euch beide zu bestrafen. Und dieser Plan ist lediglich ein Vorschlag. Es ist schließlich deine Reise, Darcy, Liebes. Du hast das Sagen, okay?«

»Mir gefällt das Mantarochen-Abenteuer«, sagt Darcy.

»Oh ja«, sagt Camilla und blättert zu Blatt fünf. »Das ist auch mein Favorit. Dabei werden wir von unserem persönlichen Tauchlehrer begleitet. Er – oder sie – fährt mit uns in einem Schnellboot zu der Stelle, wo sich alle Mantarochen tummeln, und wir dürfen mit ihnen schwimmen. Unglaublich, oder?«

»Unglaublich«, sagt Kate und bemüht sich, nicht sarkastisch zu klingen. Deshalb ist sie verwundert, als Darcy und Camilla wieder anfangen zu lachen.

»Was?«, fragt sie.

Darcy drückt ihre Hand. »Ach, Kate«, sagt sie. »Ich bin so froh, dass du hier bist.«

Kate lächelt und fühlt sich angesichts von Camillas Plan vorübergehend überflüssig. Camilla ist mehrfach geschieden; Kate war nie verheiratet und hat keine Ahnung von Scheidungen. Sie kann weder behaupten, sie würde verstehen, was Darcy durchmacht, noch, was sie dagegen tun kann. Und sie ist auch nicht geneigt, etwas anderes zu behaupten.

Das Flugzeug setzt zum Landeanflug auf das Resort an, eine größere Insel, die über einen langen, gewundenen Holzsteg mit einer kleineren Insel verbunden ist. Am Rande der größeren Insel entdeckt sie Wasserbungalows, während ein buschiger grüner Mittelteil auf verdammt viele tropische Bäume hindeutet. Bäume bedeuten Ungeziefer. Gott sei Dank hat sie ein Arsenal an Insektensprays eingepackt. Ihr fällt auf, wie isoliert sie hier draußen sein werden, keine Inseln oder Segelboote in der Nähe. Keine Krankenhäuser oder Notaufnahmen.

Aber … es erwarten sie auch Ruhe und Abgeschiedenheit. Leckeres Essen. Zeit zum Schreiben. Camilla und Darcy können gern auf heißen Kohlen spazieren gehen, solang sie wollen.

Vielleicht ist die Isolation gar nicht so übel.

4Kate

Das Wasserflugzeug landet, und Kate ist fasziniert von der postkartenreifen Aussicht, die sich ihr am Boden bietet. Welch pure Blautöne! Die Flugzeugtür wird geöffnet, und nur wenige Meter von der kleinen Leiter entfernt liegt das weite Meer, das sich sanft in warmen Farbabstufungen wiegt: Türkis, Himmelblau, Lapislazuli. Das Wasser, das ihre Füße umspült, ist glasklar, und auf dem cremefarbenen Sand krabbeln rote Einsiedlerkrebse herum. Am Horizont sind ein paar Inseln zu sehen. Emerald Island – die Smaragdinsel, das kleinere Schwesterresort, liegt etwa eine Viertelmeile weiter westlich, eine mit Palmen bewachsene Sandbank, die so grün ist wie ihr Name.

Ein großer schwarzer Vogel schießt aus den Bäumen hervor, aber im Vorbeifliegen erkennt sie, dass es gar kein Vogel ist, sondern eine Fledermaus mit einem pelzigen braunen Körper und lederartigen Flügeln.

Das Personal in schwarzen Hosen und weißen Tuniken mit dem aufgestickten goldenen Logo »Sapphire Island Resort & Spa« wartet in einer Reihe am Pier, um sie zu begrüßen.

Die Hitze ist erstaunlich, Kate bläst eine Wand aus Wärme ins Gesicht, als hätte sie die Tür ihres Backofens geöffnet, der auf vollen Touren läuft. Sie ist erst zwei Minuten hier und schon schweißgebadet.

Eine Frau in der Uniform des Resorts nähert sich mit einem glänzenden Silbertablett, auf dem drei Gläser mit etwas stehen, das wie Champagner aussieht. Mist, noch mehr davon und sie kippt um. Aber sie trinkt ihr Glas trotzdem und sieht gerade noch, wie ihr Koffer auf einem Motordreirad weggefahren wird. Wahrscheinlich hätte sie in schickeres Gepäck investieren sollen, denkt sie. Ihr alter Samsonite-Koffer sieht schäbig aus neben Camillas Louis-Vuitton-Koffer mit Goldgriff.

Einer der Männer tritt vor und stellt sich als Rafi vor. Es ist ein älterer Herr mit einem freundlichen Gesicht und einem graziösen Auftreten, seine Tunika spannt am Bauch etwas.

»Miss Kate, ich werde Ihr Butler sein, solange Sie sich auf Sapphire Island aufhalten. Was immer Sie sich wünschen, geben Sie mir bitte Bescheid, okay?«

Kate ist ziemlich verblüfft. Ein Butler? Sie wirft einen Blick zu Camilla, die ein ähnliches Gespräch mit einem anderen Gentleman führt. Offenbar haben sie alle einen Butler. Ach du meine Güte.

»Danke«, sagt sie, aber ihr ist bereits jetzt mulmig angesichts der imperialistischen Anklänge, wenn sie daran denkt, wie ihr dieser Mann zu Diensten steht.

Darcy kommt aus reichem Haus, und Kate sieht sich oft mit langgehegten Vorurteilen konfrontiert, von denen sie weiß, dass sie in ihrer Freundschaft mit Darcy und Camilla keinen Platz haben. Selbst jetzt, da sie sich an einem so idyllischen Ort befindet, alles bezahlt von Darcy, erinnert sich Kate nur zu gut daran, wie sie sich für ihre Armut schämte. Sie erinnert sich daran, wie sie hungrig zur Schule ging, an ihre schäbige und zu große, von ihren Geschwistern aufgetragene Kleidung, an eine Lehrerin, die sie in betroffenem Ton nach »der Situation zu Hause« fragte. Sie macht sich Sorgen, keine angemessene Kleidung eingepackt zu haben. Das heißt, sie muss sich keine Sorgen machen – sie weiß, dass das der Fall ist. In ihrem Kleiderschrank gibt es nichts, was für einen Abend mit Champagner auf einer privaten Sandbank geeignet wäre. Und wenn sie es recht bedenkt, weiß sie nicht einmal, was man zu so einer Gelegenheit anzieht oder wo man danach anfangen soll zu suchen.

Vielleicht hätte sie Camilla um Rat fragen sollen. Zumindest hätte sie ihre Klamotten bügeln sollen.

Rafi bedeutet ihnen, in einen Golfcart zu steigen, wo sie eng beieinandersitzen, die Knie an der Brust, während er sie durch einen Miniaturdschungel über Sandwege zu ihrer Unterkunft fährt. Hier sind alle barfuß. Es gibt Holzschilder, die den Weg weisen zu so Dingen wie »Serenity Spa« und »Peace Den«, und hier und da erhaschen sie durch die Bäume einen Blick auf das Hauptrestaurant, ein kleineres, intimeres Bistro und von Buchten umrahmte Strände. Rafi zeigt ihnen den Treffpunkt für Ausflüge wie das Mantarochen-Abenteuer oder die Schildkrötentour. Er weist sie auf die Bar hin, die sich am Rande der Insel unter einer großen weißen Pergola befindet, in der sich Stühle und Tische um einen kristallklaren Pool gruppieren.

Der hohe Schrei einer Frau durchbricht die Stille, eine Männerstimme ruft etwas in einer Sprache, die Kate nicht einordnen kann. Deutsch oder Niederländisch vielleicht – sie ist sich nicht sicher.

»Was ist da los?«, fragt Darcy Rafi, und als sie an einer Baumlücke vorbeikommen, sieht Kate ein paar Gäste am Strand, die das uniformierte Personal anschreien. Ein Boot fährt an den Steg heran, auf dem das Wort »POLIZEI« steht.

»Manchmal haben wir Besucher aus dem Emerald Resort«, sagt Rafi. »Und manchmal machen sie Probleme.«

»Ach herrje, wird jemand verhaftet?«, fragt Camilla interessiert und hält ihr Handy in die Höhe, um zu filmen. »Wie aufregend.«

»Das kommt nicht oft vor«, sagt Rafi mit einem Lächeln.

»Darf ich Sie um einen Gefallen bitten, Rafi?«, sagt Camilla dann. »Ich unterrichte Pilates und habe vor ein paar Tagen eine E-Mail geschickt, um den Gästen einen kostenlosen Pilates-Kurs anzubieten. Könnten Sie nachfragen, ob Interesse besteht? Ich würde nichts dafür verlangen, solange ich es auf meinen Kanälen streamen darf.«

Rafi nickt gütig. »Ich werde mit der Managerin sprechen.«

»Danke.«

Kate beobachtet, wie Camilla wieder ihr Handy zückt, um die Landschaft zu fotografieren, bevor sie Darcy und sie für ein Selfie zu sich heranzieht. Camilla streckt die Zunge heraus, als wäre sie beim Arzt; Kate versucht zu lächeln, sieht aber aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Sie bemerkt, dass Camilla sie aus dem Bild herausschneidet, ehe sie es auf Instagram postet.

Ein paar Minuten später kommen sie an einer Reihe von Wasserbungalows an. Sie wusste, dass jede von ihnen ihre eigene Villa bekommen würde, aber sie hatte angenommen, das läge daran, dass die Strandhütten zu klein seien, als dass alle drei Frauen bequem in einer unterzubringen wären. Dem ist nicht so: Die Villen, die vom Flugzeug aus wie Hütten wirkten, sind geradezu riesig.

Vor der sechsten Villa überreicht Rafi jeder von ihnen eine Schlüsselkarte. »Ihre Zimmerschlüssel«, sagt er. »Sie sind unser Gast in Villa zwei«, sagt er zu Kate. »Miss Darcy, Sie wohnen in Villa sechs und Miss Camilla in Villa vier.«

»Wie spät ist es jetzt?«, fragt Darcy, sobald Rafi mit dem Golfcart davonfährt.

Camilla schaut auf ihrem Handy nach. »In maledivischer Zeit? Kurz nach halb neun Uhr morgens.«

»Sollen wir uns später auf einen Drink treffen?«, sagt Darcy. »Dann haben wir Zeit, uns erst mal frisch zu machen. Vielleicht ein Nickerchen zu halten.«

 

Kate drückt die Schlüsselkarte gegen das digitale Bedienfeld an der Holztür der Villa. Die Tür springt mit einem Surren auf. Drinnen erblickt sie hohe Decken mit Holzbalken, ein offenes Wohnzimmer mit weißen Leinenstoffen, Makramee-Wandkunst und einer Delfin-Keramikfigur auf einem Beistelltisch. Im Obergeschoss befindet sich das Hauptschlafzimmer mit einem Himmelbett, drapiert mit einem Moskitonetz und bestreut mit Rosenblättern. Ein riesiger Fernseher, begehbare Kleiderschränke und eine Glaswand, die sich auf Knopfdruck geschmeidig zum Meer hin öffnet.

Sie tritt auf den Balkon hinaus und hält einen Moment inne, um die warme, salzige Luft einzuatmen.

»Kate!«

Darcy winkt aufgeregt vom Balkon einer Villa etwas weiter links.

»Es ist atemberaubend!«, ruft Kate zurück.

Darcy hebt ein Glas Champagner und lacht zustimmend.

Kate wendet sich, noch immer lächelnd, wieder dem weiten, seidigen Meer vor ihr zu und zwingt sich, die Schultern zu senken. Aber hinter ihrer Freude verbirgt sich ein Gefühl, das sie nicht loswird, das sich in ihrem Bauch zusammenzieht, nun, wo sie hier ist.

Es ist Angst.

5Jade

Ich suche mit den Augen das Zimmer ab, bevor ich mich im Bett aufrichte. Rob ist nicht da. Ich halte den Atem an und lausche angestrengt, ob ich hinter der geschlossenen Badezimmertür ein Geräusch von ihm vernehme. Auf dem Nachttisch fällt helles Sonnenlicht auf etwas Metallisches – seinen Platin-Ehering, der noch vor wenigen Tagen in einer Samtschachtel steckte. Wahrscheinlich ist er im Fitnessstudio.

Auf Zehenspitzen schleiche ich ins Bad, nur für alle Fälle. Mein kleiner Gecko-Freund sitzt dort auf meiner Schminktasche. Sein langer Schwanz ruht quer über meiner Zahnbürste.

Ein kleines Auge verfolgt mich, als ich vor dem Waschbecken stehe und den blauen Fleck betrachte, der sich unter meiner linken Augenbraue immer dunkler färbt.

Ich fühle mich wie in einem Albtraum, als hätte ich ein Paralleluniversum betreten.

Zwei Jahre. So lange waren Rob und ich schon zusammen, bevor es anfing. Wir hatten uns gerade verlobt, und er hatte zu diesem Anlass eine Riesenparty mit all unseren Freunden organisiert. Ich war die glücklichste Frau der Welt.

Zwei Abende später war Rob irgendwie verstimmt und fing an, mich über einen Typen auszufragen, mit dem ich auf der Party geplaudert hätte. Ich hatte buchstäblich keine Ahnung, von wem er sprach. Er redete immer weiter und ließ nicht locker. Ich war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen und nach einer langen Schicht völlig erschöpft. Ich hatte nicht einmal Zeit zum Mittagessen gehabt. Ich kramte im Schrank, um Nudeln oder irgendwas anderes Essbares zu finden, denn Rob hatte sich nicht die Mühe gemacht zu kochen. Als ich den Gasherd einschaltete, trat er auf mich zu, sein Gesicht ganz nah an meinem. Ich erinnere mich, dass ich bei seinem Gesichtsausdruck zusammenzuckte – er sah überhaupt nicht aus wie er selber. Es war, als stünde ein Fremder vor mir, der nur so tat, als wäre er mein Verlobter, mein attraktiver Freund. Der, von dem alle sagten, ich könne mich glücklich schätzen, ihn zu haben.

Er fing an, den Zeigefinger drohend auf mein Gesicht zu richten, und bohrte dann den Finger zwischen meine Schulter und Brust. Das tat richtig weh, und ich wich zurück. »Hey!«, rief ich. »Rob, verdammt nochmal!«

Und dann schlug er mich. Fegte mit der flachen Hand rasch über mein Gesicht.

Es war eine sanfte Ohrfeige, nicht hart genug, um mich umzuwerfen oder so. Doch allein die Tatsache, dass er es getan hatte, warf mich aus der Bahn, und mir schwirrten die Worte Rob hat mich gerade geohrfeigt durch den Kopf.

Er entschuldigte sich sofort, und ich beobachtete, wie der seltsame Doppelgänger zu verschwinden schien und der Mann zurückkehrte, den ich liebte. Er sagte, er hätte Probleme bei der Arbeit. Daran musste es liegen. Es ergab Sinn. Rob würde mich nie schlagen, nicht absichtlich. Er war ausgerastet. Er meinte es nicht so.

Acht Monate vergingen. Wir planten die Hochzeit. Rob gab sich alle Mühe und wollte unbedingt, dass alles so wäre, wie ich es mir immer erträumt hatte. Dasselbe galt für die Flitterwochen. Ich wäre mit ein paar Tagen auf Kreta zufrieden gewesen. Aber dann heiratete Robs Neffe, und die frisch Vermählten flogen in den Flitterwochen auf die Malediven.

Rob erzählte allen, wir würden unsere Flitterwochen ebenfalls auf den Malediven verbringen, noch ehe wir überhaupt darüber gesprochen hatten. Ich wusste, er hatte ein wenig Geld geerbt, als seine Mutter starb, aber ich dachte, wir würden es für den Kauf eines Hauses sparen. Nein, sagte er. Für so langweiligen Kram hätten wir noch den Rest unseres Lebens Zeit.

An dem Tag, als wir die Flitterwochen buchten, zog er mich an den Haaren. Ich erinnere mich, wie verunsichert ich mich fühlte, sobald ich nach Hause kam, als läge ein unsichtbarer Code in der Luft, den ich sofort entschlüsselte. Der Doppelgänger war wieder da – ich konnte es in seinem Gesicht sehen, konnte ihn regelrecht riechen.

Rob fragte mich, ob ich die E-Mail mit der Buchungsbestätigung für die Malediven erhalten hätte. Ich bejahte. Dann erinnere ich mich, wie ich eine Packung Chips aufmachte, weil ich wieder keine Zeit fürs Mittagessen gehabt hatte, und ihn fragte, ob er auch das richtige Datum gebucht habe. Ich fragte deshalb, weil unsere Hochzeitslocation – Lindhurst Hall – sich erkundigt hatte, ob wir unseren gewünschten Hochzeitstermin am Zweiten auf den Dritten verschieben könnten. Seither hatten wir beide ständig die Termine durcheinandergebracht, und ich hatte Sorge, dass wir versehentlich die Flitterwochen vor der verdammten Hochzeit gebucht haben könnten.

Ich sah, wie sich sein Blick verhärtete. Ich hatte ihn nur gefragt, ob er auch für das richtige Datum gebucht hatte. Aber er schlug mir die Packung aus der Hand, so dass es Chips auf den Boden regnete.

»Rob!«, rief ich und warf ihm einen verwirrten Blick zu, ehe ich mich bückte, um die Chips aufzuheben. Als ich mich hinabbeugte, packte er mich an den Haaren und zog mich mit einem Schrei hoch auf die Beine. Entsetzt drehte ich mich zu ihm um und sah die Wut in seinen Augen. Er ließ los und stürmte davon.

Wieder flüchtete der Doppelgänger, und der Mann, den ich liebte, kehrte zurück, zutiefst beschämt und reumütig. Es wirkte so echt, so plausibel. Und der Gedanke, ihn zu verlieren, war niederschmetternd.

Ich freute mich auf unsere Hochzeit, wirklich. Aber ich hatte auch ein komisches Gefühl im Bauch.

Das Jahr ging zu Ende, und Rob war wieder ganz der Alte: witzig, freundlich, sexy. Dass er zweiundvierzig war, sah man ihm nicht an. Jedenfalls war ich fest entschlossen, unsere Hochzeit zu etwas Besonderem zu machen. Alles plante ich selbst. Das Menü für den Empfang, die Kleideranprobe, die Tortenverkostung. Die Sitzordnung, um sicherzustellen, dass verkrachte Verwandte nicht beieinandersaßen.

In der Nacht vor unserer Hochzeit schlug mich Rob mit der geschlossenen Faust.

Nicht fest genug, dass ich zu Boden ging. Aber es war ein Schlag, und er tat weh. Er hinterließ einen blauen Fleck, der von Stunde zu Stunde schlimmer aussah.

Ich hatte von anderen Frauen gehört, die geschlagen wurden, und sie insgeheim verurteilt, weil sie nicht ihre Sachen packten und gingen. Aber das hier war nicht dasselbe. Jede Beziehung ist schließlich anders, richtig? Er entschuldigte sich; der Hochzeitsstress setze ihm zu. Wir hätten zudem unser Budget gesprengt, da wir uns statt für ein paar Tage auf Kreta für die Malediven entschieden hätten. Ich überlegte, ob ich erwähnen sollte, dass die Flitterwochen auf den Malediven und die fette Hochzeitsparty seine Idee gewesen waren, ließ es aber lieber bleiben. Immerhin schämte er sich für sein Verhalten, sagte, er stehe auf ewig in meiner Schuld – aber jetzt, wo ich zurückblicke, sehe ich, dass seine Entschuldigung einen neuen Twist hatte. Eine neue Qualität.

Einen Hauch von Schuldzuweisung.

Es tat ihm zwar leid, aber ich hatte einen Tonfall verwendet, der ihn ausrasten ließ.

Ich verdrängte diese Schuldzuweisung und sagte mir, dass ich nie wieder in diesem Ton mit ihm reden würde.

Ich hatte das verursacht. Ich war diejenige, die unsere Beziehung kaputtmachte.

Statt mit Freudentränen zum Traualtar zu schreiten, ging ich auf meinen zukünftigen Ehemann zu und machte mir Sorgen, dass ich nicht genug Make-up aufgetragen hatte, um den blauen Fleck zu verbergen, den er in meinem Gesicht hinterlassen hatte. Als ich ja sagte, fühlte ich mich wie betäubt. Als ich den Trauschein unterschrieb, wollte ich mich übergeben.

Es ist so heiß hier, zweiunddreißig Grad, achtzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Aber ich fühle mich innerlich kalt, die Taubheit, die sich vor ein paar Tagen eingeschlichen hat, steckt mir in den Knochen.

Ich putze mir die Zähne, schlüpfe dann aus dem Spitzennegligé, das ich für unsere Hochzeitsnacht gekauft habe, und ziehe wieder meinen Bikini an. Hier ist es sinnlos, den blauen Fleck mit Make-up zu kaschieren – es zerläuft ja doch nur. Am Flughafen habe ich mir eine Sonnenbrille und einen Strandhut mit breiter Krempe gekauft. Das sollte mein Auge verdecken. Wenn jemand fragt, sage ich einfach, dass ich mir eine Schranktür gegen das Gesicht geschlagen habe.

Von irgendwo in der Villa ertönt ein Klopfen, als wolle jemand meine Aufmerksamkeit erregen. Ich erstarre und lausche auf die schweren Schritte, die Rob ankündigen. In Sekundenschnelle wird mir klar, dass er es nicht ist – ich kenne inzwischen jede seiner Bewegungen und wittere seine Stimmung schon aus einer Meile Entfernung. Nein, wer auch immer in der Villa ist, es ist nicht Rob. Vielleicht ist es Devaj, unser Butler.

»Hallo?«, rufe ich. »Ich brauche keine neuen Handtücher, danke.«

»Oh, sorry«, sagt eine Stimme. Ein englischer Akzent. Ich schaue aus der Schlafzimmertür zum Zwischengeschoss. Eine Frau in einem orangefarbenen Kleid steht dort, eine Chanel-Tasche unter den Arm geklemmt.

»Sorry«, sagt sie wieder und sieht zu mir hoch. »Ich muss die falsche Villa erwischt haben.«

Sie holt ein paar Papiere heraus, um nachzusehen, und ich ziehe meinen Bademantel an, um hinunterzugehen.

»Brauchen Sie Hilfe, um Ihre Villa zu finden?«, frage ich höflich.

Sie studiert ihren Papierkram. »Ich wohne in Villa Nummer vier.« Sie lässt ihren Blick über mich gleiten, und ich zucke zusammen. »Welche Nummer ist das hier?«

»Villa drei.«

»Oh Gott, das tut mir leid. Meine Schlüsselkarte hat aber funktioniert …«

»Schon okay. Nicht so schlimm, wirklich. Ich habe wohl die Tür nicht richtig abgeschlossen.«

Ich frage sie, ob sie möchte, dass ich ihr zeige, wo ihre Villa ist, woraufhin sie sagt, ich solle mir keine Mühe machen, aber ich bestehe darauf. Ich mag es, wie sie gekleidet ist, so stilvoll. Sie ist ungefähr so alt wie meine Mutter, aber in diesen goldenen Sandalen und dem luftigen orangefarbenen Kleid sieht sie umwerfend aus.

Wir gehen hinaus auf den Holzsteg, und ich begleite sie zur nächsten Villa auf der linken Seite.

»Sind Sie schon lange hier?«, fragt sie.

»Drei Tage. Noch zehn Tage.«

Die Frau lächelt. »Gefällt es Ihnen?«

»Es ist schön hier.«

»Woher kommen Sie?«

»Südlondon«, antworte ich. »Obwohl ich ursprünglich aus Liverpool stamme. Die meisten anderen Gäste kommen aus Deutschland und Spanien.« Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. »Sind Sie in den Flitterwochen?«

Sie lacht laut und dreckig. »Oh, nein«, sagt sie. »Eher das Gegenteil. Wir sind zu dritt hier und feiern die Scheidung einer Freundin.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Was für ein seltsamer Anlass für eine Reise. Na ja, jede, wie’s ihr gefällt.

»Was ist mit Ihnen?«, fragt sie, und ich sehe, wie ihr Blick an dem blauen Fleck über meinem linken Auge hängen bleibt. »Urlaub?«

»Flitterwochen.« Instinktiv streiche ich mir die Ponyfransen in die Stirn. Falscher Impuls – sie merkt es.

»Sieht aus, als hätten Sie sich den Kopf gestoßen«, sagt sie.

»Ich bin mit einer Schranktür aneinandergeraten«, sage ich; die Worte kommen mir leicht über die Zunge. Sie nickt, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie überzeugt ist. Ich schaue mich nervös um, ob Rob vom Fitnessstudio zurückkommt.

»Jedenfalls«, sage ich und nicke zu der Villa, vor der wir angekommen sind, »das ist Nummer vier.«

»Ich bin Camilla«, sagt sie, reicht mir die Hand, und ich schüttle sie. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.«

»Jade. Mich auch.«

»Trinken Sie doch später was mit uns, ja?«, sagt sie und öffnet die Tür.

Ich spüre, wie ich erröte und mich geschmeichelt fühle, dass sich jemand, der so selbstbewusst und stilvoll ist, für mich interessiert. »Liebend gern.«

6Jacob

In London feiert Jacob derweil nicht seine Scheidung. Stattdessen gerät er mächtig ins Schwitzen. Der Anhang mit der Datenanalytik auf der Rückseite des Dokuments, das er vor sich liegen hat, ergibt keinen Sinn. Er hat es mehrfach durchgelesen, aber irgendetwas stimmt immer noch nicht. Dembe, ihre neue Partnership-Managerin und gleichzeitig seine neue Freundin, steht vorne im Meetingraum und stellt die beiden Pakete vor, die sie in einer Woche den Kapitalgebern präsentieren werden. Sie bemerkt, dass er abgelenkt ist, und hält inne, woraufhin sein Geschäftspartner Kabir ihm in die Seite knufft.

»Alles okay bei dir?«

Jacob schaut auf. »Äh, ja. Tut mir leid.«

Dembe nickt und klickt sich zur nächsten Slide durch, ein erfrischender Sci-Fi-Hintergrund mit einer lächelnden Frau in der Mitte.

»In einer Gesellschaft, die immer weniger Zeit hat, wirkt sich die Komplexität des Vertragsprozesses nachteilig auf die Kundenzufriedenheit und die Geschäftsentwicklung aus. Unsere Vertragsmanagement-Software beinhaltet Shelley, eine freundliche KI-Assistentin, die den Kunden hilft, indem sie in Sekundenschnelle wichtige Informationen heraussucht …«

»Entschuldigt mich bitte«, sagt Jacob plötzlich und erhebt sich von seinem Platz. »Ich muss …«

»Kumpel«, sagt Kabir und sieht, wie Jacob sich auf dem Weg zum Ausgang vorbeiquetscht. »Das Meeting ist nächsten Donnerstag.«

Jacob öffnet die Tür und blickt zurück. »Ich werde Sam bitten, für mich einzuspringen.«

Dann geht er hinaus und schreitet den Flur entlang. Er nimmt seine Krawatte ab und fährt sich mit der Hand durch sein ergrauendes Haar, ehe er in das kleinere Büro nebenan platzt, wo sein Assistent Sam an seinem Schreibtisch sitzt.

»Könntest du bitte für mich im Meetingraum übernehmen? Notizen machen, damit ich im Bilde bin?«

Sam nickt und erhebt sich schnell, als er die Dringlichkeit auf dem Gesicht seines Chefs bemerkt.

In seinem Büro angekommen, ist Jacob zu aufgeregt, um sich hinzusetzen. Er geht auf und ab, eine Hand an der Stirn, das Gesicht schweißgebadet, und liest immer wieder den Analytikbericht zum Softwarepaket. Ja, er hat richtig gesehen, er ist sich sicher, nun, da er allein ist – es hat einen Sicherheitsverstoß im Shelley-Programm gegeben. Es ist ein kleines Detail, leicht zu übersehen, aber es ist da, und er kann sich beim besten Willen nicht erklären, wieso es keinen ihrer Alarme ausgelöst hat.



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