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Balistan. Ein Ort ohne feste Koordinaten. Bali Kiknadze nimmt uns mit auf eine Reise durch ihre eigene Welt. Man trifft unverhofft auf große Stars, führt irrwitzige Dialoge in georgischen Fernzügen und gerät regelmäßig ins Visier der Flughafenbeamten. Und mittendrin der Papi aus dem Kaukasus: So authentisch, liebenswert und einzigartig wie das Schwarze Meer. Eine Reise, die nicht immer lustig ist, doch am Ende bleibt stets die Hoffnung auf eine Hand voll Haselnüsse.
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Seitenzahl: 104
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Für Papi.
Was du behältst, ist verloren. Was du weitergibst, ist gewonnen.
(georgisches Sprichwort)
Wo liegt eigentlich Balistan?
Balistan liegt immer genau dort, wo mir etwas Schräges passiert ist.
Und das ist hoffentlich auch das Besondere an diesem Buch, nämlich dass alle Geschichten so stattgefunden haben.
Hauptsächlich geht es um meinen Papi. Er gehört zur ethnischen Gruppe der Georgier und seine Muttersprache ist demnach Georgisch. Da er in zweiter Ehe mit einer Türkin verheiratet ist und meine Familie dort wohnt, sprechen wir untereinander Türkisch. Papi spricht natürlich auch Deutsch, denn immerhin lebte er 16 Jahre in Hamburg. Sonst würde es mich auch gar nicht geben.
Papi kommt aus bescheidenen Verhältnissen, legt keinen großen Wert auf gesellschaftliche Etikette und ist ständig unterwegs. Er versucht nie, bewusst witzig zu sein, ist es aber vielleicht genau deswegen. Und weil er so herrlich authentisch ist, sind viele Geschichten einfach um ihn herum entstanden.
Natürlich geht es auch um andere Dinge in meinem Leben. Meine Katzen zum Beispiel. Und meine Reisen. Ich habe versucht, Geschichten, Gedichte und auch kleinere Dialoge bzw. Kurzgeschichten (von mir „Snippets“ genannt) zu einem Buch zusammenzufügen und hoffe, dass der Erstling ein bisschen was taugt. Für Menschen, die mich kennen, birgt dieses Buch kaum Überraschungen. Oder vielleicht doch? Und dass Leute, die mit mir überhaupt nichts zu tun haben, dieses Buch lesen, ist wohl eher unwahrscheinlich.
Übrigens: Die Photos, alle von mir (oder meiner Familie) selbst geschossen, sind die Originalphotos, die die echten Personen und Tiere zeigen. Die Namen in den Geschichten habe ich jedoch verändert, aus rechtlichen Gründen.
Die Cartoons stammen von meinem sehr talentierten Klassenkameraden Tim Oliver Feicke, der sich liebenswerter Weise bereit erklärt hat, das Buch auf seine Art zu bereichern.
So, nun seid ihr dran: Ich mache die Tür auf zu meiner eigenen Welt und wünsche euch viele neue Eindrücke. Wenn ihr mir bitte folgen wollt ...
eure Bali.
Die wichtigsten Personen
Ich
Papi
mein Mann
Meine Stiefmutter
Mein jüngerer Bruder Issam
Mein noch jüngerer Bruder Levan
meine Stubentiger
Picasso: erstes Tier und Glückskatze aus
Delmenhorst.
Nike: scheue Sportlerin aus dem Tierheim
Hamburg-Süderstraße.
Nero: der klagende Fettsack aus Berlin.
Titus: das freche Muttersöhnchen aus
Nordfriesland.
Danke!
An Papi, dafür, dass es ihn gibt. Ohne ihn gäbe es dieses Buch nicht.
An Tim, für die sofortige Zusage, hier mitzumachen und die fantastischen Cartoons.
An „Mütos“, meinen Mann, für die hübschen Zeichnungen.
An Inken Kahlstorff, fürs Gegenlesen und Beraten.
An Heinz Erhardt und Max Frisch, die meinen Schreibstil mitgeprägt haben.
Und danke euch fürs Lesen!
Kaffeepause
Das Nussmonster
Vier
Nassforsch
Die große Verlockung
Unheimlich viel Nietzsche
Reifenprüfung
Sternstunde
Kiezgerangel
Ausgeschlafen
Musik liegt in der Luft!
Nackte Tatsachen
Vertrauenssache
Die Milch macht's!
Georgische Diplomatie
Just-in Time
Der Fluch der Stones
Der Fahrraddieb
Kuchenfreiheit
Katze, die zweite
Papi ante portas
Viel PS
Schnief!
Klitschko
Der Aktivist
Notlage
Jammertal
Der Pyromat 2000
Nachtwanderung
Tag der Helden
Nero
Schichtwechsel
Der Nikolauskater
Abgefahren
Glück gehabt
Smalltalk
Bis aufs Blut!
Krömer
Strenge Diät
Papi über Reichtum
Fuchs und Löwe
Der letzte Tag
Kleine Lampe, große Wirkung
Wenn ich mal nicht weiter weiß
Höflicher Rausschmiss
Plattgebügelt
Waldspaziergang
Keine Zeit
Lange Leitung
Mutterliebe
Fully cooked!
Saures Ende
Flughäfen
Sprachtemperatur
Wer ist da?
An unsere Väter
Nachtzug
Die Strecke Hamburg-Istanbul war lange Zeit unsere gewohnte Transitstrecke, wenn wir nicht geflogen sind. Mein Vater ist sie regelmäßig gefahren, so wie viele andere Gastarbeiter in den 70ern und 80ern auch.
1985 war ich das erste Mal mit. Ich hatte noch keinen Führerschein und Papi musste das alleine stemmen. Ich hatte vollstes Vertrauen zu ihm. Er hat diese Route schon so oft gemeistert.
Eine ereignislose, langweilige Fahrt nahm ihren Lauf. Zumindest bis zum damaligen Jugoslawien. Jeder, der diese Strecke kennt, erinnert sich sicher daran, wie lang einem das Stück zwischen Zagreb und Belgrad vorkommt. Auch uns ging es so. Es war einfach nur eintönig. Wir waren zudem fast völlig allein auf der Straße.
Plötzlich wurden wir von einem Polizeiwagen überholt, der uns zwang, rechts ran zufahren. Wir hatten ihn nicht kommen sehen, er muss regelrecht aus dem Nichts aufgetaucht sein.
Wir hielten. Ein einzelner Polizist stieg aus. Er studierte Papis Führerschein, sah uns an und sagte in gutem Deutsch: „Sie haben überholt, obwohl das verboten ist.“ Mein Vater antwortete gelassen: „Wir sind völlig alleine hier. Wen sollen wir überholt haben?“ Der Polizist meinte, wenn wir nicht einsichtig wären, könnten wir den Fall gern bei Gericht vortragen. Bis dahin müssten wir aber mindestens zwei Tage in Haft.
Ich war entsetzt und fing an zu protestieren, doch mein Vater wies mich an, ruhig zu bleiben. Inzwischen interessierte sich der Polizist für unser Auto, genauer gesagt für das, was wir bei uns hatten. Mein Vater öffnete seelenruhig den Kofferraum und nahm zwei Pakete deutschen Bohnenkaffee heraus. Er ging damit zum Polizeiauto und legte den Kaffee unter den Beifahrersitz, lächelte den Polizisten an und sagte: „Hier. Kaffee für die ganze Familie.“ Dann zog er dem Polizisten ganz behutsam seinen Führerschein aus der Hand, machte mir heimlich das Zeichens des Einsteigens und wir fuhren weiter.
Ein Jahr später waren es übrigens Kartoffelchips.
Heute ist es eher selten geworden, aber in den 80er Jahren passierte es häufig, dass in der Türkei zeitweilig der Strom ausfiel.
Istanbul 1985. Ich saß vorm Fernseher. Papi war noch bei der Arbeit, meine Stiefmutter war mit meinen Brüdern bei Verwandten und ich war selig, mal ein paar Stunden allein zu sein.
Nicht dass man viel machen konnte. Wir hatten nur einen Kanal zu jener Zeit, aber ich genoss die Ruhe und den gerade laufenden Action-Thriller. Der Film war wirklich packend, und ich hatte schon ein Sofakissen auf dem Schoß, hinter dem ich mich versteckte, wann immer es besonders gruselig wurde.
Plötzlich ging alles aus. Licht, Fernseher, einfach alles. Angespannt saß ich auf der Couch. Ich hatte mich ganz schön erschrocken und musste erst mal durchatmen.
Dann hörte ich es klopfen. Am Fenster. Eigentlich nix Schlimmes, aber ich sollte vielleicht erwähnen, dass wir im ersten Stock wohnten!
Zu Tode erschrocken fiel ich von der Couch – das Sofakissen auf mich drauf, was mich gleich noch einmal erschreckte. Ich lag auf dem Boden, im Stockdunklen, und konnte nicht mal atmen. Da! Schon wieder dieses unheimliche Klopfen! Mein Gehirn arbeitete fieberhaft an einer plausiblen Erklärung, brachte aber keine zustande.
Dann eine ungeduldige Stimme von unten: „Nun mach endlich auf!“ Das ist doch … Papi! Erleichtert tastete ich mich zur Wohnungstür vor und stolperte die Treppe runter, um unten die Haustür zu öffnen. Klar, der Strom hatte auch die Klingelanlage lahmgelegt.
Als Papi oben war, fragte ich ihn, wie er denn an die Scheibe geklopft hätte. Mein Vater, seines Zeichens Haselnusshändler, grinste und fischte ein paar Haselnüsse aus der Manteltasche. Ich fühlte mich wie der letzte Volltrottel.
Dann wollte er wissen, warum ich denn so lange gebraucht hätte. Ich log, dass der Fernseher so laut war, dass ich das Klopfen nicht gehört hätte.
Papis Blick ging zum Fernseher, der immer noch ohne Strom war. Er sah mich lange an, runzelte die Stirn und ging dann wortlos in die Küche.
1986. Meine Brüder können überhaupt kein Deutsch, da sie nicht wie ich in Deutschland aufgewachsen sind.
Issam, damals sieben Jahre alt, bat mich eines Morgens am Küchentisch die deutschen Zahlen von Eins bis Zehn aufzusagen. Ich tat das. Sehr langsam und deutlich.
Der vierjährige Levan saß daneben und löffelte sein Müsli.
Issam wollte die Zahlen dann einzeln durchgehen und ich sagte „Eins“ und er wiederholte es. „Zwei.“ Er wiederholte. „Drei.“ „Drrrr … “ „Drrrr … “ „Drrrr … “ Mit der Drei wurde er nicht wirklich warm und probierte sie wieder und wieder erfolglos.
Das wurde Levan zu blöde und er rief laut: „Vier!!“
September 2014. Mein Vater hängt einen klammen Teppich aus dem Fenster, bei strömendem Regen: „So, der kann jetzt hier trocknen!“
Habt ihr schon mal von Weird Al Yankovic gehört? Wer ihn kennt, kann sofort in die Geschichte eintauchen. Wer allerdings nicht weiß, wer das ist, sollte ihn vielleicht vorher googeln. Nein, es ist nicht wichtig zu wissen, was er gemacht hat. Schaut ihn euch einfach an. Besser gesagt, schaut euch die Frisur an. Und, habt ihr? Dann können wir ja starten.
Wir sind im September 1985. Ich bin 16 Jahre alt und lebe bei meinem Vater in Istanbul. Tja, wie gesagt, ich bin 16 und somit ein Teenager im besten Alter. Es ist ja so: Es gibt Teenager, denen man ihre Entwicklung kaum anmerkt. Die vielleicht ein bisschen ruhiger werden, nicht mehr alles ihren Eltern erzählen, aber ansonsten diese – sagen wir mal – heikle Zeit recht gut ohne weitere Blessuren überstehen.
Dann gibt es Teenager, die plötzlich bockig werden. Mit sich und der Welt hadern und denen man es einfach nicht recht machen kann.
Und dann gibt es mich. Ich war die nackte Hölle. Für absolut alle, die mit mir zu tun hatten. Auch und gerade meine Familie hatte wirklich alles außer Freude an mir. Meine Familie, das waren Papi, meine Stiefmutter und meine beiden Brüder, zu dem Zeitpunkt fünf und zwei Jahre alt. Während ich mit den Kleinen eigentlich überhaupt nichts anfangen konnte, hingen die beiden doch sehr an mir. Und wenn ich denke, wie ich damals unterwegs war, dann bewundere ich sie immer noch dafür. Das muss wahre Liebe sein. Heute kann ich diese Liebe zurück geben. Damals absolut unmöglich.
Es gab viele Tage, an denen meine Familie auf eine harte Probe gestellt wurde. Und von so einem Tag möchte ich berichten.
Die Hochzeit von Stiefmamis Neffen stand ins Haus. An so einem Tag machen sich besonders die Frauen aufwendig zurecht. Sprich, man trägt sehr edle Klamotten, schminkt sich und geht am gleichen Tag zum Friseur.
Ich muss zugeben, dass ich extrem ungern zum Friseur gehe. Als Kind wurde ich zu einer fürchterlichen Kurzhaarfrisur gezwungen, die ich heute noch hasse. Als ich älter wurde, ließ ich meine Haare wachsen, sei es auch nur, um das Trauma loszuwerden. Aber auch während des Wachsen-Lassens musste man ja mal zum Friseur, um nicht wie ein schottisches Hochlandrind auszusehen. Doch bei jedem Besuch schnitt der Friseur viel zu viel ab, und ich fing quasi wieder von vorne an.
Als ich in die Türkei übersiedelte, hatte ich mir immerhin schulterlange Haare erkämpft und war wild entschlossen, sie jetzt aber wirklich weiter wachsen zu lassen. Nun war ich allerdings lange nicht beim Friseur gewesen und schloss mich an diesem Tag den Frauen an, die – wegen der Hochzeitsfeier – alle zum Friseur rannten. Ich rannte also mit.
Der Friseur fragte mich, was ich denn gern hätte. Ich erklärte, dass es mir relativ egal sei, solange er nichts abschnitt. Er bot mir an, sie etwas zu locken, und ich ließ ihn machen. Hauptsache, er schnitt nix ab.
Als er fertig war, blickte ich in den Spiegel. Ich war vollkommen sprachlos. Wisst ihr noch, wie sehr man als 16-jähriger Teenager mit seinem Aussehen hadert? Ich sah in den Spiegel und sah im Prinzip eine perfekte Kopie von Weird Al Yankovic!
Wie betäubt stand ich auf und ging mit meiner Stiefmutter nach Hause. Dort angekommen, schaute ich abermals in den Spiegel. Immer noch Weird Al. In mir stieg Panik auf. So kann ich nicht auf die Feier. Auf keinen Fall! Der Schock wich einem erstklassigen Wutanfall, gepaart mit dicken Tränen. Meine Brüder, die mir sonst nie von der Seite wichen, hatten Angst und waren nicht mehr zu finden.
Ich schrie und tobte, dass diese Locken SOFORT verschwinden müssten und sprach allerlei Drohungen in unzählige Richtungen aus. Doch es half nichts. Wir mussten los, und die Hochzeit war für mich das reinste Spießrutenlaufen. Ich versteckte mich so gut ich konnte, sprach kaum und tanzte auch nicht mit den anderen. Ich fühlte mich schrecklich und wollte nur nach Hause.
Am nächsten Morgen sah ich zwangsläufig wieder in den Spiegel. Ich sah nicht mehr aus wie Weird Al, sondern ich sah aus wie Weird Al, der gerade aus dem Bett gestiegen war. Ich brach völlig zusammen, schrie und heulte. Meine Familie ging – wieder einmal – durch die Hölle mit mir.