Baltrumer Dünensingen - Ulrike Barow - E-Book

Baltrumer Dünensingen E-Book

Ulrike Barow

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Beschreibung

Sigmar Benedikt hält nichts mehr auf dem Festland, als er hört, dass seine geliebte Insel mit der »Woche 77« das Jahr feiert, in dem er auf Baltrum als Strandfotograf tätig war. Sein Mann, Ulf Martens, begleitet ihn. Am Tag nach ihrer Ankunft wird der Künstler Peter Wurzellage tot aufgefunden. Er stellte in der Baltrumer Galerie »Eiland« seine Bilder aus. Zuhause in Brake hatten die beiden Männer bereits viel Ärger mit dem Künstler. So geraten sie ins Visier der Ermittler. Doch auch der Neffe der Galeristin verwickelt sich in Widersprüche …

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Seitenzahl: 339

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ulrike Barow

Baltrumer

Dünensingen

Inselkrimi

Zum Buch

Zurück in die Vergangenheit Sigmar Benedikt hält nichts mehr auf dem Festland, als er hört, dass seine geliebte Insel mit der »Woche 77« genau das Jahr feiert, in dem er auf Baltrum als Strandfotograf tätig war. Sein Mann, Ulf Martens, besucht die Insel zum ersten Mal und kann die Begeisterung nicht so ganz nachvollziehen. Dass Sigmar seinem damaligen Freund Freddy Grothe wiederbegegnet, löst in Ulf ebenfalls keine große Begeisterung aus. Und dann wird auch noch die Leiche des Künstlers Peter Wurzellage gefunden, der in einer Baltrumer Galerie seine Bilder ausstellte.

Da Sigmar Benedikt und sein Mann den Künstler bereits von zu Hause kannten und viel Ärger mit ihm hatten, geraten sie ins Visier von Inselpolizist Michael Röder und seinen Kollegen. Aber auch der Neffe der Galeristin ist kein unbeschriebenes Blatt. Hat etwa er den Künstler auf dem Gewissen?

Michael Röder und sein Kollege Daniel Gebert benötigen bei diesem Fall dringend die Hilfe der Ermittler vom Festland.

Ulrike Barow wuchs in Gütersloh auf und machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Danach zog es sie zum Lieblingsurlaubsort ihrer Kindheit, der kleinen Nordseeinsel Baltrum. Dort lernte sie ihren Mann kennen und arbeitete im Einzelhandel sowie im familieneigenen Vermietungsbetrieb. Nebenbei verfasste Ulrike Barow Artikel für die Lokalzeitung. Vor einigen Jahren griff sie die Idee auf, Baltrum-Krimis zu schreiben. Viele Kurzgeschichten sind seitdem ebenfalls entstanden. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie nicht nur auf der Insel, sondern auch in der schönen ostfriesischen Stadt Leer.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © oldnobody / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-6696-0

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Andrea Burgat atmete tief durch, schlug die Mappe zu und warf einen letzten Blick auf das Plakat. »Was jetzt nicht klappt, klappt gar nicht.«

Ihre Kollegin lachte. »Es wird alles funktionieren. Schließlich sind Profis am Werk.«

»Na dann. Die Partys können steigen.« Aber nun war erst einmal Feierabend. Am Montag begann die Woche 77. Die Idee war am Stammtisch entstanden, wie Karsten gerne zugab. Karsten – ihr Freund seit Anfang des Jahres. Er hatte ihr den Job bei der Kurverwaltung beschafft, und ihre erste große Aufgabe war es tatsächlich gewesen, den Rückblick zu organisieren. Es war intensive Recherche ihrerseits vorausgegangen. Schließlich war sie erst seit einem Dreivierteljahr auf der Insel und hatte Ende der 70er noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt. Stunden hatte sie im Zollhaus, dem Sitz des Heimatvereins, verbracht, auf der Suche nach dem Leben auf der Insel vor mehr als 40 Jahren. Dann hatte sie alte Insulaner befragt und festgestellt, wie viel Spaß ihr diese Aufgabe machte.

Eine völlig andere Welt – in vielen Dingen. Und doch war diese Zeit eigentlich gar nicht so lange her.

Sie verließ ihr Büro im Rathaus und fuhr nach Hause. Auf halber Strecke fiel ihr ein, dass sie im HotelSonnenstrand eine Frage loswerden musste. Sie bremste, stellte ihr Fahrrad am Zaun ab und sah Henning Ahlers auf der Terrasse. Prima, so brauchte sie nicht lange in dem großen Haus nach ihm suchen. Sie winkte ihm zu. »Herr Ahlers. Haben Sie einen Moment?«

Er versorgte seine Gäste mit Kaffee und Kuchen, wechselte ein kurzes Wort mit ihnen und kam zu ihr. »Was gibt es?«, fragte er lächelnd. »Fällt unsere Retrowoche aus?«

Beruhigend schüttelte sie den Kopf. »Ich wollte nur wissen, ob mit den Emilys alles klar geht. Einer der Jungs hatte sich bei mir gemeldet und mich vorgewarnt wegen eines Erkältungsanfluges.«

»Die Jungs sind fit. Max hat mir eine Nachricht geschickt. Darin stand auch, dass, wenn er nicht kann, sein Bruder einspringt. Auch der ist begeisterter Elvis-Fan«, erklärte Henning Ahlers. »Singen kann er ebenfalls.«

»Dann ist alles klar. Der Auftritt der Band wird Dienstag im Haus des Gastes sein. Die Leute vom Bauhof nehmen morgens die Bestuhlung raus. War gar nicht so einfach, die davon zu überzeugen, aber das Volk braucht Platz zum Tanzen. Und die Zelte stehen uns erst ab Freitag zur Verfügung.«

»Bei mir im Gartenhaus können die Jungs wieder üben. Das hat im letzten Jahr wunderbar geklappt. Und am Mittwoch ist bei mir im Clubraum noch einmal Elvis-Gedächtnisparty. Schließlich ist das der Todestag des großen Meisters.«

Andrea zögerte. »Sie meinen wirklich, dass das keine Konkurrenz zum Theaterstück ist?«

Für den Abend hatte die Baltrumer Theatergruppe kurzfristig, mit großem Einsatz, ein plattdeutsches Stück einstudiert. Wenn de Hahn kreiht von August Hinrichs.

Der Hotelbesitzer schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht. Das ist ein ganz anders Publikum, und so viele passen in den Klubraum gar nicht rein. Es werden wohl überwiegend Hotelgäste sein.« Er lachte. »Denen bleibt gar nichts anderes übrig, so laut, wie die Jungs spielen werden. Aber da müssen die Gäste durch.«

»Super. Dann passt alles. Wir bleiben in Kontakt.« Sie sah, dass einer der Gäste nach dem Chef des Hotels verlangte, und nahm ihr Rad. Jetzt gemütlich ein Tässchen Tee mit Karsten hier auf der Terrasse, dazu ein leckeres Stück Kuchen, damit könnte sie leben. Aber Karsten hatte bereits morgens beim Frühstück angekündigt, dass er sie dringend im Garten brauchte. Seit zwei Monaten wohnten sie zusammen. Also fast. Sie hatte das Zimmer, das ihr die Gemeinde zur Verfügung gestellt hatte, nicht aufgegeben, obwohl man sie schon eindringlich darum gebeten hatte. Wenn sie sich kaum darin aufhielt, könnte sie es auch anderen zur Verfügung stellen, hatte ihr Chef gesagt. Aber sie war sich nicht sicher, brauchte ab und zu einen Ort zum Luftholen, wenn Karsten mal wieder über die Stränge schlug. Nein, sie bezahlte ihre Miete pünktlich, und alles andere war ihre Sache. Karsten musste auch an diesem Nachmittag ein wenig warten. Bevor sie zu ihm fuhr, wollte sie in Ruhe mit ihrer Freundin telefonieren. Die nächste Woche war voll mit Terminen, da war ein längeres Gespräch nicht drin.

Am Donnerstag stand die Wahl der Miss Baltrum an, und Freitag war Party im Festzelt. Natürlich hätte sie gerne in der Kajüte, im Inselkeller oder im Kiek Rin gefeiert. Alles Kneipen, in denen viele Jahre der Bär losgewesen war. Aber sie waren nicht mehr für den Publikumsverkehr geöffnet. So hatten sie sich auf eine Zeltfete geeinigt. Am Freitag und Samstag würde DJ Freddy auflegen. Als das Programm veröffentlicht worden war, hatten unendlich viele Insulaner sie darauf mit einem Leuchten in den Augen angesprochen. »Noch einmal so wie früher«, war der häufigste Satz gewesen. Aber nicht nur Insulaner, auch Gäste, die die Ankündigung im Veranstaltungskalender gelesen hatten, hatten sich gemeldet und ihr so manches Erlebnis aus der Zeit Ende der 70er erzählt.

Natürlich wurde auch für die Kinder etwas geboten. Ein Lampionumzug war für Freitagnachmittag vorgesehen und am Samstag ein Kinderfest mit Sackhüpfen am Strand. Nicht zu vergessen das Dünensingen für Große und Kleine. Das war damals beliebt und eine der wenigen Veranstaltungen, die bis heute großen Zuspruch fand. Wie immer wurde dazu die Mundorgel benötigt, das kleine rote Liederbuch, das es bereits seit über 50 Jahren gab, aber das sie zum ersten Mal gesehen hatte, als sie ihren Job auf der Insel antrat.

»Na, Feierabend?«, hörte sie eine kratzige Stimme vom Nachbargrundstück, als sie die Gartenpforte öffnete.

Es war Hilko Tebben, ihr Nachbar, der sein Haus schon vor Jahren seinem Sohn übergeben hatte und nun gerne neben der Haustür auf der Bank saß und die vorbeiziehenden Menschen in eine Unterhaltung verwickelte. So gerne, dass ihr inzwischen bereits etwas fehlte, wenn er sie nicht nach der Arbeit begrüßte. Sie winkte rüber und nickte freundlich. »Alles geschafft«, war ihre beinahe stereotype Antwort.

»Geht es mit der Elvis-Woche voran?«, rief er herüber.

Andrea atmete tief durch. Zu Anfang hatte sie es für eine gute Idee gehalten, sein Wissen um die 70er anzuzapfen. Inzwischen bereute sie fast, ihn eingebunden zu haben. Er ließ einfach nicht locker, wollte jeden Abend einen Zustandsbericht. »Es läuft. Auch die anderen Veranstaltungen. Die Gäste können anreisen«, rief sie.

»Da muss ich dir noch was erzählen. Komm mal rüber.«

Das hatte ihr gerade gefehlt. Sie wollte duschen und sich dann auf die Couch kuscheln. Oder höchstens mit Karsten im Garten arbeiten. Was sie auf gar keinen Fall anstrebte, war ein nicht enden wollendes Gespräch mit Hilko Tebben. Aber was blieb ihr übrig als gute Nachbarin? Außerdem hatte sie ihn gebeten, an einem der Tage im Kinderspielhaus einen Vortrag über die Zeit damals zu halten. Sie war sicher, dass sich eine Menge Gäste dafür interessierten. Und erzählen konnte der Mann. Ausführlich. Sie ging zu ihm.

»Nur ganz kurz«, begann er.

Sie musste grinsen. Das wäre das erste Mal, dass dieser Mann sich kurzfasste.

»Als du eben sagtest, die Gäste könnten kommen, fiel mir etwas ein, was ich den Leuten über die Vermietung damals erzählen könnte.«

»Hilko! Hilko! Abendessen ist fertig!«

Andrea atmete auf. Peteda Tebben war aufgetaucht, mit kurzen hellgrauen Locken, die Hände in der Kittelschürze. »Hältst du die arme Frau wieder auf?«

Hilko Tebben drehte sich um. »Was du immer hast. Andrea hatte eine Frage, und ich habe sie beantwortet.« Er zwinkerte Andrea zu, was auch Peteda nicht entging.

»Dann gehe ich mal.« Andrea stand auf. »Lasst es euch schmecken.«

»Bis morgen«, rief Hilko hinter ihr her. »Und mit meinem Vortrag, das geht klar.«

Eines war sicher: Was auch immer der nächste Tag und alle folgenden brachten, ihrem Nachbarn würde sie nicht entkommen können. Vielleicht sollte sie doch zu Karsten ziehen.

2

Ulf deutete auf eine Bank ganz hinten neben dem Kiosk. »Dort ist Platz.«

Sigmar versuchte, seinem Mann zu folgen, was gar nicht einfach war. Ein kleines Kind saß mitten im Gang, zwei Hunde kämpften um die Platzherrschaft, und eine gut gefüllte Reisetasche blockierte den Weg. Außerdem sah er drei Menschen von der anderen Seite bedrohlich schnell näherkommen. Sie schafften es beinahe gleichzeitig. Ulf schob sich durch zum Fenster, und Sigmar schloss sich ihm an. Die drei anderen Gäste ließen sich ebenfalls auf die Bank fallen.

Einer von ihnen atmete tief durch. »Mein lieber Schwan, das wäre aber beinahe ziemlich danebengegangen. Die Baustelle auf der A31 hatte ich nun gar nicht eingerechnet.«

»Wir haben mit einem Stau gekämpft«, rutschte es Sigmar heraus, obwohl er eigentlich keine Lust auf ein Gespräch hatte. Auch sie hatten in letzter Minute in Neßmersiel die Fähre erreicht, die Koffer in den Container geschoben und das Auto abgegeben. Dann waren sie auf das Schiff gerannt. Gleich darauf wurde der hintere Landgang eingezogen.

»Stammgäste?« Der Mann zog eine Flasche Wasser aus der Tasche und nahm einen tiefen Zug.

»Kann man so nicht sagen. Ich war Mitte der 70er in den Sommermonaten hier und habe als Strandfotograf bei Stadtlander gearbeitet. Jetzt will ich in die Vergangenheit abtauchen, und mein Mann muss mit. Da gibt es so eine irre Erinnerungswoche mit Partys und so weiter auf der Insel«, erklärte Sigmar.

»Genau deswegen sind wir auch hier. Ich bin Hans, die beiden mir gegenüber sind Marga und Bernd. Wir kommen jedes Jahr regelmäßig nach Baltrum. Mal kürzer, mal länger. In diesem Jahr haben wir Glück gehabt und genau für diese Woche eine Unterkunft gefunden. Wie heißt ihr, wenn die Frage erlaubt ist?«

»Ich bin Sigmar, und das ist Ulf. Ulf kennt die Insel bis jetzt nicht, und ich bin gespannt, was sich alles verändert hat. Ist da dieser Bäcker bei der Kirche eigentlich noch? Der hatte immer so tolles Weißbrot.«

Die drei lachten. »Schon ewig nicht mehr. Es gibt zwei Supermärkte mit Backstube. Und das Knusperhuuske. Das betreibt die Tochter des ehemaligen Bäckers. Da könnt ihr das Weißbrot bestellen.«

Sigmar sah sich um. »Mit diesem Schiff sind wir damals auch gefahren. Es wurde genau in dem Jahr in Dienst gestellt, als ich hier war.«

»Das war 1977«, fügte Ulf hinzu. »Ich weiß es genau. Er hat mir oft genug davon erzählt.«

»Du wirst dich wundern, was sich getan hat. Sollen wir uns nicht morgen mal im Strandcafé treffen? Zum Erfahrungsaustausch?«, fragte Marga.

»Machen wir«, antwortete Sigmar, ohne eine Antwort von Ulf abzuwarten. »Prima. Aber jetzt schaut mal«, sie zeigte aus dem Fenster, »da steckt ein Seehund seinen Kopf aus dem Wasser. Wir werden gleich bestimmt viel mehr sehen, wenn wir an der Ostspitze von Norderney vorbeikommen.«

Tatsächlich sah Sigmar wohl an die 200 Tiere, die sich in der Sonne aalten. Dahinter fiel ihm das Wrack eines Schiffes auf. Wie war das noch? Genau. Ein Heringslogger war auf eine Sandbank gelaufen, und die Besatzung eines Muschelbaggers wollte zu Hilfe kommen, setzte jedoch das eigene Schiff auf Grund. Der Logger konnte später geborgen werden. Das Baggerschiff jedoch lag seitdem auf Norderney.

Als die Baltrum I ihren Bug dem Baltrumer Hafen zudrehte, hielt es Sigmar nicht mehr unter Deck. »Darf ich, bitte?« Er nahm seinen Rucksack und stand auf. Auch Ulf griff nach seiner Tasche.

»Ihr könnt es wohl gar nicht mehr erwarten«, lachte Hans. »Denkt dran. Morgen zum Frühschoppen. Elf Uhr.«

»Wir kommen«, versprach Sigmar und hatte das Gefühl, als hätte Ulf diesem Hans zugeblinzelt. Was sollte das? Sie waren keine Jugendlichen mehr. Die Zeiten für Techtelmechtel waren eindeutig vorbei. Außerdem gehörten sie beide seit vielen Jahren zusammen. Techtelmechtel – auch so ein Begriff aus grauer Vorzeit, ging ihm durch den Sinn. Wenn man heute einen jungen Menschen fragen würde, was er bedeutet, bekäme man nur ein ratloses Schulterzucken zurück. Er hatte sich viele dieser Worte bewahrt und stand mit der neuen Angewohnheit, ständig etwas Englisches einfließen zu lassen, ziemlich auf Kriegsfuß.

Ein kräftiger Wind pfiff ihnen um die Nase, als sie das Schiff verließen. Dort, wo die Container abgeladen wurden, sah Sigmar einige Menschen mit Schildern stehen. Ihre Vermieterin hatte zugesagt, dass ihr Mann sie abholen würde. Sie sollten nach dem Schild »Haus Emma« schauen. Sorgsam warf er einen Blick auf alle Namen, doch er fand keines mit »Haus Emma« darauf.

Auch Ulf schüttelte den Kopf. »Keiner da.« Er wandte sich einem Mann zu, der offensichtlich auf seine Gäste wartete. »Entschuldigen Sie, wir suchen Herrn Flegel. Sehen Sie den irgendwo?«

»Nix kennen«, erwiderte der Mann freundlich, »fragen den da.« Er zeigte auf einen Mann, der trotz der Augustwärme einen dicken Anorak trug.

Ulf ging zu ihm und wiederholte seine Frage. Diesmal hatte er Glück. Zumindest, was die Auskunft betraf.

»Ich sehe ihn nicht, aber dort steht die Wippe. Die können Sie nehmen und damit Ihr Gepäck zum Haus Emma schieben. Schätze mal, die erwarten Sie erst mit dem nächsten Schiff.«

Sie warteten, bis der Platz, auf dem die Container standen, freigegeben war, beluden die Karre und schoben los. Sigmar hatte sich im Vorfeld angesehen, wo die Pension zu finden war. Genau genommen wusste er es, doch er war sich nicht sicher gewesen, ob seine Erinnerung korrekt war. Sie reihten sich in den Strom der Gäste ein, der sich vom Hafen zum Ortskern bewegte. Sigmar wäre am liebsten alle paar Meter stehengeblieben. Es gab so viel Neues zu sehen. Sie liefen auf ein mächtiges Haus mit grauen Fensterläden zu. Dort war einmal das Nordseehotel Zur Post gewesen, daran erinnerte er sich genau, obwohl es mehr als 40 Jahre her war, dass er hier den Sommer verbracht hatte. Und damals hatte er sein Augenmerk bestimmt nicht der Inselarchitektur, sondern vielmehr anderen jungen Männern geschenkt, die wie er in der Kajüte und im Inselkeller abrockten. Dummerweise hatten die meisten jedoch eine Freundin. Nur einer, Friedhelm, den sie alle Freddy nannten, hatte sich gerne von ihm zum Bier einladen lassen. Yes Sir, I can boogie von Baccara. Das war ihr Lieblingslied gewesen.

»Links oder geradeaus?«, holte ihn Ulf aus seinen Gedanken.

»Rechts und immer geradeaus. Ins Ostdorf.« Er gab der Wippe einen Ruck und bog von der Hafenstraße ab und ging mit kräftigen Schritten am Nationalparkhaus vorbei. Die Inselbesichtigung konnte beginnen, nachdem sie ihre Koffer im Haus Emma abgeladen hatten.

Je weiter sie gingen, desto unsicherer wurde er. Waren sie hier richtig? Die Straße ging doch südlich vom Spielteich entlang und nicht hier, unterhalb des Deiches? Oder versah er sich? Egal. In der Ferne sah er die ersten Häuser des Ostdorfes. Bald hatten sie das Haus Oase erreicht, und dann waren es nur ein paar Meter und er stellte die Wippe auf dem schmalen Rasenstück vor der dunkelbraunen Eingangstür ab. Sigmar atmete tief durch, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß ab.

Auch Ulfs Gesicht war knallrot und ihm standen Tropfen auf der Stirn. »Sag mal, was war das denn gerade?«, schnaufte er. »Ich dachte, wir würden uns die Insel anschauen?«

»Dafür haben wir genug …«, Sigmar versagte die Stimme. Wieder atmete er röchelnd. »… morgen und die anderen Tage genug Zeit. Ich wollte einfach nur ankommen, verstehst du?«

»Da sind Sie ja. Ich habe schon auf Sie gewartet«, unterbrach ihn eine helle Stimme.

Sigmar drehte sich zur Tür. »Frau Flegel?«

»Wer sonst? Haben Sie meinen Mann nicht mitgebracht?«

»Wir haben am Hafen nach ihm Ausschau gehalten. Aber man sagte uns, er sei nicht da. Da haben wir uns die Wippe genommen und nun sind wir hier«, erklärte Sigmar der Frau, deren Augen nur noch schmale Schlitze waren. Ihre Lippen hatte sie zusammengepresst. Sie winkte den Männern und verschwand im Flur.

»Das soll wohl heißen, wir sollen ihr folgen«, vermutete Ulf und hob den ersten Koffer von der Wippe. »Nimm du meinen. Der ist leichter.«

Sigmar war sich nicht sicher, ob er die Kraft hatte. Das Schieben der Karre war ihm schwergefallen. Zumal die Räder tatsächlich einen Tropfen Öl oder was auch immer gebraucht hätten. In der letzten Zeit merkte er öfter seine Grenzen. Er hatte es bisher selbst Ulf gegenüber nicht zum Thema gemacht. Das unregelmäßige Pochen in seiner Brust sollte nicht sein Leben bestimmen. Dafür war er mit 66 einfach zu jung. Darum hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, Ulf die Wippe zu überlassen. Auf der Insel ankommen und nebenherlaufen? Keine Option! Als sie Frau Flegel in den ersten Stock folgten, schoss es Sigmar nicht zum ersten Mal durch den Sinn, dass es nicht nur sein Alter, sondern die vielen überflüssigen Kilos waren, die seinem Herz zu schaffen machten. Er beobachtete neidisch, wie behände Ulf die Stufen hochstieg. Aber es war kein Wunder. Sein Mann war schlank und rank und sorgte mit ausgiebigem Laufen und jeder Menge Gymnastik dafür, dass sich daran nichts änderte. Er selbst hatte sich bis heute nicht aufraffen können, sich täglich eine halbe Stunde an der Weser entlang zu bewegen oder andere Sportabenteuer zu wagen. Es ging nicht. Er kriegte seinen Hintern einfach nicht hoch. Ulf hatte ihn zu Anfang gebeten, dann aufgefordert, ihn zu begleiten. Seit längerer Zeit sagte er allerdings nichts mehr, und Sigmar war nicht böse darum. Sein innerer Schweinehund konnte wieder ruhig schlafen.

Neugierig schaute er sich im Flur um. Bis zur halben Höhe war die Wand mit dunkelbraunem Holz verkleidet. Die vergilbte Tapete darüber wies nur hie und da ein schwaches Blumenmuster auf. Die Wand rechts von der Treppe wurde von einem übergroßen Seestück beherrscht. Auch das hätte sicher eine Reinigung verdient. Sigmar erinnerte sich an ein ähnliches Bild, das bei den Eltern eines Schulfreundes gehangen hatte. Dieses Bild mit dem Dreimaster auf hoher See hatte ihn so schwer beeindruckt, dass er mit dem Gedanken gespielt hatte, Kapitän zu werden. Herrscher der Meere. So hatte er sich insgeheim genannt. Aber dann hatte ein gesunder Respekt vor der Kraft des Wassers gesiegt, und er war im Einwohnermeldeamt gelandet.

»So, hier ist es.« Frau Flegel öffnete die Tür.

Sie wurden von einer lichtdurchfluteten Suite empfangen. Der Unterschied zu dem düsteren Flur mit den abgenutzten Fliesen auf der Treppe war verblüffend. Ein großes Bett dominierte den Raum, daneben war genügend Platz für zwei Sessel, denen man die Gemütlichkeit ansah, und einen großen Fernseher. Ein Schrank mit einem großen Spiegel und eine Kommode, auf der eine imposante Kaffeemaschine stand, vervollständigten den Eindruck.

»Hier ist das Badezimmer.« Frau Flegel deutete auf eine hellgebeizte Tür. »Es ist alles da. Toilette, Dusche, Badewanne. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl.«

»Das werden wir.« Ulf schob seinen Koffer ein Stück weiter. »Wann gibt es Frühstück?«

»Von 8 bis 10.30 Uhr. Es sei denn, Sie haben Sonderwünsche oder müssen am Tag Ihrer Abreise eher fahren.«

Ulf winkte ab. »Das passt. Zur Kurtaxe haben wir uns angemeldet. Die Rechnung ist bezahlt. Müssen wir noch etwas bedenken?«

»Nein. Alles klar. Wir sehen uns spätestens morgen beim Frühstück.« Jetzt lächelte Frau Flegel sogar ein wenig.

In diesem Moment hatte Sigmar das Gefühl, die Frau zu kennen. Ob sie vor 40 Jahren schon auf der Insel war? Sollte er sie fragen? Nein. Erst einmal würden sie die Koffer auspacken und einen Rundgang machen. Erinnerungen aufzufrischen, dafür war morgen beim Frühstück Zeit genug. Außerdem schien ihm die Frau jünger. Er konnte nicht einschätzen, ob sie überhaupt schon geboren war, als er die Insel unsicher gemacht hatte.

3

Michael Röder warf seine Dienstmütze auf den Schreibtisch und ließ sich auf den Bürostuhl fallen. Sie hatten sich alle gegen ihn verschworen. Alle. Seine Frau Sandra, sein Freund Arndt und dessen Frau Wiebke, sogar Amir, sein Heidewachtel. Selbst in den Augen des Hundes hatte er ein Leuchten gesehen, als in der Küche der Dienstwohnung zum wiederholten Male das Wort »Rock’n’Roll Tanzkurs« gefallen war. Dessen war sich der Inselpolizist ganz sicher. Das war nun drei Wochen her, und seitdem ging es jeden zweiten Abend ins HotelStrandhof, und dort wurde abgerockt. Ohne Amir natürlich. Aber unter Einsatz seiner ganzen Kräfte. Erst gestern Abend hatte er einen kräftigen Stich unterhalb des linken Fußknöchels verspürt, als er seine Frau auf Anweisung der Tanzlehrerin angehoben und mit einer kräftigen Drehung wieder abgesetzt hatte.

Es war nicht so, dass er die Musik nicht gut fand. Im Gegenteil. Aber Tanzen war nun mal nicht seins. Kurz hatte er darüber nachgedacht, seinen Kollegen zu fragen, ob er nicht mit Sandra den Kurs besuchen könne. Das war ihm dann allerdings etwas albern erschienen. Außerdem hätte Sandra das nicht mitgemacht. Oder noch schlimmer, sie hätte begeistert zugesagt und wäre mit Daniel losgezogen. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Noch eine Woche, dann war es geschafft.

»Hallo, Michael. Nicht einschlafen.«

Röder zuckte zusammen. Er hatte nicht mitbekommen, dass sein Kollege, der seit einigen Tagen Dienst auf der Insel machte, zurück war.

»Na, warst du erfolgreich?«, fragte er ihn.

»War ich. Die Baltrum I legte an, und fünf Mädels mit E-Scootern kamen von Bord. Sie verteilten kleine Fläschchen Jägermeister, nahmen jeder einen kräftigen Schluck und …«

»… warfen die leeren Flaschen ins Wasser!«, fuhr der Inselpolizist fort.

»Nein, das nicht. Sie haben das Leergut in eine Tasche gesteckt, die offensichtlich schon recht gut gefüllt war. Dann allerdings musste ich sie daran hindern loszufahren, was bei den kräftig geschminkten jungen Damen für reichlich Ärger sorgte. Ich konnte sie jedoch davon überzeugen, dass der Gebrauch der Dinger hier verboten ist.«

»Junggesellinnenabschied?« Röder war heilfroh, dass dieser Einsatz an ihm vorbeigegangen war. Die Stimmung konnte nämlich ganz schnell ins Gegenteil umschlagen, wenn man die Herrschaften auf Recht und Ordnung hinwies. »Normalerweise fahren die doch nach Norderney.«

Daniel lachte. »Die wollten nur ein ganz klein wenig feiern. Das erwähnte die Frau, die wohl die zukünftige Gattin war. Sie trug rosa Öhrchen, eine buntbedruckte Küchenschürze und einen Bikini darunter.«

»Woher weißt du …?«

»Keine Sorge. Ich habe keine Ganzkörperkontrolle durchgeführt. Eine Bö hob den Kittel, und so war der Bikini im Blick.«

»Wie habt ihr euch geeinigt?«, fragte Röder.

»Die Scooter warten nun auf dem Schiff auf die Rückkehr der Mädels. Und eben die habe ich zuletzt laut singend, Arm in Arm, mit einem weiteren Schnäpschen in der Hand auf der Hafenstraße gesehen«, berichtete Daniel.

»Dann hoffen wir mal das Beste. Liegt bei dir sonst etwas an?«

»Nein. Eigentlich nicht. Bis darauf, dass Meta Paulsen sich gemeldet hat. Jemand hat Pferdeäpfel an ihrer Fensterscheibe verschmiert.« Daniel Gebert zog einen Kaugummistreifen aus einer kleinen Plastikdose, die auf dem Schreibtisch lag, und schob ihn sich in den Mund.

Michael Röder schüttelte sich innerlich. Beinahe hätte er dieses Döschen heute Morgen bereits entsorgt, wusste jedoch genau, dass das nichts nützte. Daniel hätte seinen Vorrat in Kürze wieder bereitgelegt. Er konnte nicht verhindern, dass sich sein Gesicht verzog. Kaugummi hasste er, solange er denken konnte. Nein, nicht solange er denken konnte, sondern seit dem Tag, als er als Kind nichtsahnend in einen dicken Klumpen, der auf der Straße lag, hineingetreten war und verzweifelt versucht hatte, die klebrige Masse abzupulen. Letztendlich hatte seine Mutter die Reste mit dem Küchenmesser von der Sohle geschabt.

Daniel schaute ihn freundlich an, aus seinem Mund drang leichtes Schmatzen, als er bestätigte: »Ja, ich weiß. Pferdeäpfel sind ekelig. Es war sicher einer dieser Kinderscherze. Soll ich hinfahren?«

Sein Kollege hatte offensichtlich die Situation ein wenig falsch verstanden. Nicht die Pferdeäpfel waren der Grund für seinen Ekel gewesen. Irgendwann bald würde er mit seinem Kollegen darüber sprechen.

»Mach das. Wer weiß, ob nicht etwas anderes dahintersteckt. Wenn sie sich schon bei uns meldet, kümmern wir uns«, erwiderte Röder.

»Galerie Eiland, richtig?«

»Genau. Meta Paulsen betreibt die Galerie, und dann ist da ihre Schwester Änne Paulsen. Die kümmert sich mehr um das Haus, wenn ich richtig informiert bin. Zwei nette ältere Damen.«

»Ich bin schon unterwegs.«

Ein feiner Kerl. Röder war froh, ihn bei sich zu haben. Trotz der blöden Angewohnheit mit dem Kaugummi. Von April bis Oktober musste sich der Inselpolizist alle paar Wochen an neue Gesichter gewöhnen. Es war klar, dass es unter seinen Kollegen, die ihn in der Saison unterstützten, nicht nur Sympathieträger gab. Aber wenn er zurückdachte, hatte er Glück gehabt. Beinahe alle hatten sich schnell an die Inselgegebenheiten gewöhnt und, er erinnerte sich gern, kein Problem damit gehabt, sich um die Reparatur der Diensträder zu kümmern. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Aber immerhin. Er hatte so gar kein Händchen dafür. Er liebte seine Arbeit. Meistens war es ruhig. Nur einmal im Jahr passierte etwas, das seine ganze Aufmerksamkeit und die seiner Kollegen verlangte. Da hatten die Kommissare am Festland mehr Unruhe. Wobei er wieder mitten im Thema war. Sein bester Freund, Hauptkommissar Arndt Kleemann aus Aurich, würde am Wochenende mit seiner Frau auf die Insel kommen, um, wie er sagte, richtig abzutanzen. Natürlich ging kein Weg daran vorbei, sich dieser Idee anzuschließen. Das hatte zumindest Sandra festgestellt. Röder war sich nicht ganz klar, ob er bereit war, seinem Freund zu verzeihen, aber es nützte nichts. Sein Umfeld wollte es so, und er kam da nicht raus. Dabei wäre er so gerne ans Festland gefahren, denn er hatte ein neues Hobby für sich entdeckt: seine Vespa. Ein warmes Gefühl durchlief ihn. Er hatte den Roller vor zwei Wochen bei eBay gefunden, als er auf der Suche nach einer Harley, dem Traum seiner Jugendzeit, war, und sich sofort verliebt. Am nächsten Tag war er mit dem Bus nach Norden gefahren, hatte sich die Maschine angesehen und mit Erlaubnis des Besitzers eine Probefahrt gemacht. Ohne lange zu überlegen, hatte er sie gekauft. Keinen Gedanken verschwendete er mehr daran, mit einem Affenzahn die Harzer Bergwelt aufzumischen, nie wissend, was hinter der nächsten Kurve auf ihn wartete. Stattdessen hatte er sich fest vorgenommen, auf der Primavera mit elf PS erst einmal Ostfriesland in Ruhe zu erkunden. Doch mit einem freien Tag hatte es bisher nicht funktioniert. So stand die Vespa in Neßmersiel in der Garage und wartete dringend auf Bewegung.

Aber jetzt gab es anderes zu tun. Sein Chef, Müller, hatte ihn gebeten, nach einem jungen Mann zu schauen, der am Festland ein paar Brände gelegt hatte und eventuell auf Baltrum seit einiger Zeit untergetaucht war. Die Daten waren gerade hereingekommen.

4

Peter Wurzellage. Meta Paulsen lächelte. Diesen Namen würde sie sich nicht einmal als Künstlername zulegen. Es war 10 Uhr, also an der Zeit, die Ladentür zu öffnen. Wenn nicht jetzt, wann dann, waren Gäste auf der Insel, die ihre Galerie mit den monatlich wechselnden Ausstellungen zu schätzen wussten. Seit einer Woche war es eben Peter Wurzellage aus Brake, der seine Bilder zeigen durfte. Ihr gefielen seine Landschaftsbilder, Aquarelle vom Meer, von der Weser und der Seenlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns. Sonst hätte sie ihm auch nie den Platz in ihren Räumen zur Verfügung gestellt. Das Geschäft lief gut. Die Bilder waren erschwinglich, und sie bekam grundsätzlich 20 Prozent des Verkaufspreises ab. So war es geregelt. Wenn die Künstler nicht einverstanden waren, war eben nichts zu machen. Dann mussten sie sich einen anderen Ausstellungsort suchen. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, stand schon ein Gast neben ihr und grüßte sie freundlich.

»Darf ich mich umsehen?«

»Natürlich. Dafür sind die Bilder hier«, erwiderte sie. Sie wunderte sich, dass Wurzellage noch nicht aufgetaucht war. Sie hatte ihn gebeten, heute im Laden zu sein, da sie in das Fest des Heimatvereins eingebunden war. Ebenso wie ihre Schwester Änne. Sie hatte sich für den Kuchenstand entschieden.

»Lebt der Künstler noch?«, fragte der Gast.

Sie nickte. »Ja. Herr Wurzellage aus Brake. Da kommt er auch schon.« Sie sah mit Erstaunen, dass der Mann mit dem Schlapphut und der blauen Lederjacke knapp lächelte, als er in die Galerie trat. So schön seine Bilder auch waren, meistens erlebte sie ihn in sich gekehrt, bisweilen sogar missmutig. Daher hatte sie auch eine Weile überlegt, ob sie ihn bitten sollte, auf den Laden aufzupassen, aber es war ihr als die beste Lösung erschienen. Auch wenn das Lächeln aus dem Gesicht des Mannes bereits wieder verschwunden war und sich die Falten des Missmuts über seine Augen gelegt hatten.

»Hallo, Herr Wurzellage. Sie können Ihre Jacke ins Büro bringen. Ich gehe mal und lasse Sie mit dem Herrn hier allein. Bis Ladenschluss bin ich zurück.« Sie wartete kaum die Antwort ab, dann hastete sie in die Wohnung und begann, sich umzukleiden. Aus dem Augenwinkel sah sie Änne, die bereits den dunkelblauen langen Rock, die weiße Spitzenbluse und die beige Schürze trug. Dazu eine weiße Haube. Ob dies eine original ostfriesische Tracht war, wusste sie eigentlich nicht genau. Änne hatte sie nach Bildern aus dem Internet genäht, und Meta fand sie wunderschön. Sie selbst trug die Tracht, die die Frauen der Baltrumer Gitarrengruppe bei ihren Auftritten getragen hatten, bevor sie sich im Jahr 2010 aufgelöst hatten. Es gab damals keinen Nachwuchs mehr, und auch der Musikgeschmack veränderte sich. Sie wusste, dass die Tracht passte, denn hin und wieder hatte sie die Sachen aus dem Schrank geholt und angezogen. Dann hatte sie ihre Gitarre genommen, sich an einsamen Winterabenden ins Wohnzimmer gesetzt und die alten Lieder gespielt. Änne hatte dabeigesessen und genäht und gestickt. Ihr Lieblingsmotiv auf Kissenbezügen war die Dünenlandschaft.

»Bist du fertig?«, hörte sie die helle Stimme ihrer Schwester aus dem Wohnzimmer.

»Einen Moment. Ich muss die Gitarre holen und meine Tasche packen.« Sie hatte über Jahre Fotos von den Bildern gemacht, die bei ihr ausgestellt waren. Natürlich hatte sie die Motive ausgewählt, die die Nordsee in all ihren Facetten zeigten. Darauf hatte sie bei ihrer Auswahl Wert gelegt. Sie hatte mit Erlaubnis der Künstler Postkarten anfertigen lassen, die sie nun verkaufen wollte.

Ob sie Wurzellage wirklich allein lassen konnte? Noch immer saß ihr der Ärger über die verschmierte Scheibe ein wenig im Nacken. Sie hatte dem Polizisten erzählt, dass es nicht das erste Mal war, dass sie Pferdemist abkratzen musste. Schon zwei Tage zuvor hatte sie dunkelbraune Streifen auf der Eingangstür festgestellt. War es wirklich ein verunglückter Kinderstreich, wie der Polizist vermutete? Aber was sollte sonst dahinterstecken? Sie hatte keine Ahnung. Sie und Änne kamen mit den Insulanern gut aus. Wer sollte etwas gegen sie haben? Nein, es würde gutgehen. Jetzt wartete das Fest beim Heimatverein. Sie stellte die Tasche in den Korb auf dem Gepäckträger ihres Rades.

»Pass auf, dass der Rock nicht in die Speichen gerät«, rief ihre Schwester, als sie losfuhren.

Es war schon ordentlich etwas los bei dem Bummert, dem alten ostfriesischen Doppelhaus, in dem der Heimatverein seine Ausstellung zeigte.

»Gut seht ihr aus.« Karola Meinert, die erste Vorsitzende, schaute die Schwestern freundlich an.

Meta meinte sogar, Bewunderung in deren Augen zu sehen.

»Du, Meta, kannst dich zu Herbert stellen, Änne, der Kuchenverkauf ist draußen. Das Wetter soll halten. Sonnig, aber nicht zu heiß. Wenn ihr Hilfe braucht, meldet euch. Ich muss drinnen nachsehen, ob die Ausstellung im Obergeschoss fertig ist.« Karola verschwand im Gebäude.

Meta atmete tief aus. Die Frau hatte eine Energie, das war unglaublich. Sie hatten vor vier Tagen die letzte von vielen Sitzungen gehabt, da Karola ständig etwas eingefallen war, was verbessert werden konnte. Die Ausstellung zu den 70ern hatte da längst gestanden, wäre auch sonst zeitlich ein wenig schwierig geworden. Sie hatten viele Themen zusammengetragen. Zum Beispiel gab es damals die Butterfahrten. Die Gäste fuhren mit Schiffen wie der Nordstern raus bis drei Meilen vor die Küste, und dann wurde eingekauft. Dänische Butterkekse, Kirschlikör, Zigaretten, Parfüm und vieles andere waren begehrte Objekte beim zollfreien Einkauf gewesen. Bis zum Jahr 1999 war dieser beliebte Ausflug fester Bestandteil des Urlaubs, dann änderte sich die Gesetzeslage.

Meta folgte Karola und sah, dass Herbert ihr zuwinkte. »Wir sind im hinteren Raum.«

Na gut, dann eben hinten. Sie wäre lieber draußen geblieben. Hier würden sich bestimmt nicht ganz so viele Besucher einfinden. Aber vielleicht hatten sie Glück. Herbert packte seine Tasche aus und verteilte Bernstein in allen Größen auf dem Tisch. Er war dafür bekannt, ein Auge für diese Millionen Jahre alten Fundstücke aus dem Meer zu haben. Wie einige andere Insulaner ebenfalls. Sie selbst konnte Stunden am Strand entlanglaufen und würde nicht einen Krümel finden. Sie legte ihre Karten dazu, voller Erwartung, wie der heutige Tag verlaufen würde.

»Ich bin gespannt auf die Gitarrengruppe«, sagte Herbert vergnügt und stellte eine kleine Kasse auf den Tisch.

»Das wird bestimmt gut. Ich singe natürlich mit. Schließlich war ich damals eines der jüngsten Mitglieder. Würdest du, wenn ich weg bin, auf meine Karten aufpassen?«

»Mache ich gerne. Was kosten sie?«

»Ein Euro das Stück. Ein Teil davon geht als Spende an den Heimatverein«, erklärte sie. Musste der Mann sie an ihren Auftritt erinnern? Bis jetzt hatte sie den Gedanken daran weit nach hinten geschoben. Immerhin war es ihr erster öffentlicher Auftritt mit Gesang seit mehr als 20 Jahren und es würde wohl auch ihr letzter bleiben. So hoffte sie zumindest. Sie hatte bei einer Vorstandssitzung die Idee vorgetragen, ob man nicht an die Erfolge der Gruppe – wie hieß es damals immer so schön? – junger Frauen und Mädchen erinnern sollte, die regelmäßig mit deutschem Liedgut die Gäste erfreute. Der Vorschlag war bestens angekommen. Es hatten sich einige Frauen, die das Gitarrenspiel beherrschten und auch singen konnten, bereit erklärt für einen Auftritt. Außer ihr waren zwei ehemalige Sängerinnen dabei. Sie hatten sich alte Musikkassetten angehört, die schönsten Lieder ausgesucht und einstudiert. Sogar ein paar Trachten waren aufgetaucht. So würde es hoffentlich ein schönes Bild abgeben, wenn sie vor dem Bummert standen und das Baltrumlied sangen.

»Auch ich werde einen Teil meiner Einnahmen spenden. Ich hoffe, es kommt ordentlich etwas zusammen«, holte Herbert sie aus ihren Überlegungen.

»Natürlich. Bernstein ist gefragt.« Sie sah, wie Herbert eine Dose öffnete und mehrere Ketten herausnahm. »Hat deine Frau die gemacht?«

»Ja. Es gelingt ihr immer besser.« Liebevoll legte er die Ketten nebeneinander ganz vorne auf den Tisch. Dann öffnete er eine Dose mit silbernen Ringen. Auch sie trugen jeweils einen dicken gelben Stein.

Es dauerte nicht lange, da standen bereits einige Gäste vor ihnen. Herbert verwickelte einen älteren Mann in ein intensives Gespräch, in dem er ihm versicherte, dass der Kauf eines Steines reines Glück mit sich brächte. Er redete und redete, sodass der Mann mit den grauen Haaren keine Chance hatte, zu Wort zu kommen. Hoffentlich geht das nicht die ganze Zeit so, wünschte Meta sich aus tiefster Seele und stellte fest, dass der Auftritt mit den anderen Sängerinnen allmählich seinen Schrecken verlor. Im Gegenteil, sie freute sich darauf, endlich auch den Mund aufmachen zu dürfen.

»Ich nehme von jedem Motiv eine.«

Erstaunt blickte Meta die Frau an, die zügig auf den Stand zugeeilt war. Immerhin hatte sie 35 verschiedene Motive anzubieten. Aber sie widersprach nicht, sondern nahm je eine Karte und reichte sie der Frau. »35 Euro bekomme ich bitte.«

Die Frau zog ihre Geldbörse aus der Tasche, legte das Geld auf den Tisch und steckte die Karten ein. So schnell, wie sie erschienen war, verschwand sie wieder.

So konnte es weitergehen. Dann wäre sie bis mittags mit dem Verkauf der Karten durch.

5

Sigmar Benedikt genoss den Tag. Gerade erst hatte er sich von seinen neuen Bekannten verabschiedet, nachdem sie jede Menge Erinnerungen ausgetauscht hatten. Wobei Hans und Marga natürlich die Entwicklung des Lebens auf der Insel genau begleitet hatten. Sie hatten nicht ein Urlaubsjahr ausgelassen, nachdem sie Anfang der 70er das erste Mal hier gewesen waren. Die beiden kannten jeden Strauch und jeden Stein. Keine Familiengeschichte war ihnen fremd, und sie erzählten gerne. Sigmar musste innerlich lachen, als er am Schwimmbad vorbeikam.

Hans und Marga waren damals zum Nacktbaden ins Wellenbad gegangen. »Die Vorhänge wurden zugezogen vor den großen Fenstern«, beschrieben sie. »Da war immer gut was los.«

Die Zeiten waren vorbei. Aber das störte ihn nicht. Schwimmen war nicht seine Leidenschaft, ob nun mit Badehose oder ohne. Ganz im Gegensatz zu Ulf. Der hatte sich nur kurz im Strandcafé aufgehalten, dann seine Tasche genommen und war zum Strand gegangen. Sigmar war schnell klar gewesen, dass sich Ulf für die Erinnerungen aus früheren Zeiten nicht interessierte. Warum auch? Für ihn war die Insel Neuland. Es hatte sowieso größerer Überredungskunst seinerseits bedurft, Ulf mit auf die Insel zu bekommen. Aber letztendlich hatte er eingewilligt unter der Voraussetzung, dass er sich nicht ständig alte Geschichten anhören musste.

In Höhe des HotelsSeehof kam ihm Bernd, der Dritte im Bunde, entgegen. Auch er war der Runde ferngeblieben. Er begrüßte ihn freundlich, aber Bernd nickte nur kurz und ging weiter. Marga hatte erzählt, dass Bernd morgens immer etwas verschlafen auftrat, wobei Sigmar feststellte, dass es eigentlich bereits Mittag war. Er beschleunigte seine Schritte. Er musste sich ein wenig beeilen, wenn er den Auftritt der Gitarrengruppe miterleben wollte.

Tatsächlich hörte er bereits fröhlichen Gesang, als er das Heimatmuseum erreichte. Wie gut, dass Ulf nicht bei ihm war. Das wäre gar nichts für seinen Mann gewesen. Er holte sich ein Bier und setzte sich ins Gras. Die Gedanken sind frei. Waren sie das wirklich? Durfte man ihnen erlauben, frei zu sein? Was würde dann passieren? Dass sich zum Beispiel der Gedanke den Weg bahnte, ob er mit Ulf den Rest seines Lebens verbringen wollte. Nicht, dass er ihn nicht liebte. Aber er hatte in letzter Zeit immer häufiger das Gefühl, dass Ulf von ihm genervt war. Die Pflege des Terrariums, die Spaziergänge auf Harriersand, der Insel in der Weser, die Theaterbesuche in Bremen, all das, was ihnen einmal Spaß gemacht hatte, begleitete Ulf inzwischen mit einem müden Lächeln. Er hatte sich bis jetzt nicht getraut zu fragen, was Ulf am gemeinsamen Leben störte. Aber spätestens, wenn sie wieder zu Hause waren, dann … Er nahm es sich fest vor.

Unter kräftigem Beifall verneigten sich die Damen. War das schon das Ende? Nein.

Eine der Sängerinnen blickte freundlich in die Runde. »Meine Damen und Herren, danke für den Applaus. Zum Abschluss möchten wir ein Lied vortragen, das die Gitarrengruppe nie gesungen hat, obwohl es 1977 ein großer Erfolg war. Nämlich Himbeereis zum Frühstück von Hoffmann&Hoffmann. Gerne hätten wir einen Elvis-Song eingeübt, aber das haben wir uns auf die Schnelle nicht getraut. Außerdem werden Sie in den nächsten Tagen mehr von diesem begnadeten Sänger hören. Denn morgen treten die Emilys im Haus des Gastes auf. Und am Donnerstag um 18 Uhr treffen wir uns alle zum Singen im Dünental bei der Katholischen Kirche. Dass mir keiner fehlt! Und wenn Sie bis dahin nichts vorhaben, dann schauen Sie sich heute Abend bei uns den Film Baltrum in alten Zeiten an. Sie werden staunen, wie sehr sich das Leben auf der Insel in den letzten Jahren verändert hat.« Schon setzten die Gitarren ein.

Sigmar blieb sitzen, bis das Lied zu Ende war, trank den Rest Bier und beschloss, den Ausstellungsräumen einen Besuch abzustatten.

»Sigmar? Bist du das?«

Vor ihm stand eine der Sängerinnen. Es dauerte ein paar wackelige Momente, bis er aufrecht stand. Seine Beine weigerten sich, die gemütliche Ruheposition aufzugeben. Aufmerksam schaute er die Frau an, dann lächelte er. »Inselkeller?«

»Genau. Meta. Ich habe damals hinter der Theke gestanden und euch mit Bier versorgt. Dich und unseren DJ Freddy. Und das den ganzen Sommer lang.«