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Warum der Bauch oft die besseren Entscheidungen trifft als der Verstand: Der internationale Bestseller jetzt bei Pantheon
Wie wir durch Intuition schneller und effektiver handeln können
Ein Mann verliebt sich in eine Frau, deren »Partnerprofil« eigentlich nicht zu ihm passt. Eine gute Ärztin spürt, wenn mit langjährigen Patienten etwas nicht in Ordnung ist, auch wenn sie nicht immer sofort sagen kann, was ihnen fehlt. Intuition schlägt Vernunft: Der weltweit renommierte Psychologe Gerd Gigerenzer zeigt anschaulich, warum rationales Abwägen in vielen Situationen nicht zum besten Ergebnis führt. Denn gute Entscheidungen basieren oft auf einer unbewussten Intelligenz, die sehr schnell operiert und gerade in komplexen Lagen verblüffend einfach funktioniert. Ein bahnbrechendes Buch, das unser Bild vom menschlichen Verstand revolutioniert.
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Seitenzahl: 465
Buch
»Intuition ist ein gefühltes Wissen, das plötzlich ins Bewusstsein gelangt, dessen tiefere Gründe man selbst nicht kennt und das dennoch stark genug ist, uns zum Handeln zu bewegen.« Fast jeder kennt es aus der Alltagspraxis: Wir sollen eine Entscheidung treffen, und anstatt sorgfältig das Für und Wider gegeneinander abzuwägen, handeln wir spontan, »aus dem Bauch heraus«. Wir folgen Intuitionen in den unterschiedlichsten Situationen: wenn es um Sportwetten geht, die richtige Zahnpasta oder die berufliche Karriere, wenn wir uns verlieben oder spüren, dass der DAX steigen wird. Das Verblüffende daran: Oft erzielen wir damit die besten Ergebnisse. An zahlreichen Beispielen – vom Quiz ä la »Wer wird Millionär?« über die Arbeit eines Drogenfahnders bis zum Verhalten beim Kauf von Markenartikeln – erläutert der renommierte Psychologe Gerd Gigerenzer anschaulich, wie wir hoch komplexe Strukturen und Abläufe anhand weniger Kriterien in kürzes ter Zeit bewältigen. Verständlich und kurzweilig gelingt es ihm, durch die genaue Betrachtung spontaner Entscheidungen aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der Psychologie, der Anthropologie, der Biologie, der Informatik sowie der Ökonomie nachzuweisen, wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft.
Bauchentscheidungen ersparen uns nicht nur sehr viel Zeit, sondern führen unter bestimmten Voraussetzungen auch zu besseren Ergebnissen als Entscheidungen, die erst nach langem Abwägen aller zur Verfügung stehenden Informationen getroffen werden. Paradox formuliert, besteht die Lebenskunst in einer Welt der Informationsüberflutung heute demnach darin, intuitiv zu wissen, was sich nicht zu wissen lohnt.
Autor
Professor Dr. Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, ist habilitierter Psychologe. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. Modelle begrenzter Rationalität, soziale Intelligenz, ökologische Rationalität, Risikoverhalten und Entscheidungstheorie. Gerd Gigerenzer hat zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten, so auch den renommierten Preis der American Association for the Advancement of Science (AAAS) im Bereich Verhaltenswissenschaften. Sein populärwissenschaftliches Buch »Das Einmaleins der Skepsis« (2002) fand international Beachtung und wur de 2002 zum »Wissenschaftsbuch des Jahres« gewählt. »Bauchentscheidungen« wurde im Jahr 2007 als »Wissenschaftsbuch des Jakres« ausgezeichnet.
In liebevoller Erinnerung an meine Mutter, ihren Mut, ihren Humor und ihre Geduld
Wir wissen mehr, als wir zu sagen wissen.
Michael Polanyi
Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.
Blaise Pascal
Intelligenz stellen wir uns als eine überlegte, bewusste Tätigkeit vor, die von den Gesetzen der Logik bestimmt wird. Doch ein Großteil unseres geistigen Lebens vollzieht sich unbewusst und beruht auf Prozessen, die nichts mit Logik zu tun haben: Bauchgefühle oder Intuitionen. Wir haben Intuitionen über Sport, Freunde, die richtige Zahnpasta und andere gefährliche Dinge. Wir verlieben uns und spüren, dass der DAX steigen wird. Woher kommen diese Gefühle? Woher wissen wir es?
Können unsere Bauchgefühle zu besseren Entscheidungen führen? Diese Annahme erscheint naiv, sogar absurd. Seit Jahrzehnten predigen uns Bücher über rationale Entscheidung und Unternehmensberater Weisheiten wie »Erst wägen, dann wagen« oder »Erst denken, dann handeln«. Seien Sie aufmerksam. Gehen Sie überlegt, besonnen und analytisch vor. Berücksichtigen Sie alle Alternativen, schreiben Sie alle Gründe pro und kontra auf und wägen Sie deren Nutzen und Wahrscheinlichkeiten ab, am besten mithilfe eines teuren statistischen Softwarepakets. Allerdings beschreibt dieses Schema nicht, wie wirkliche Menschen denken – einschließlich der Autoren dieser Bücher. Ein Professor der Columbia University in New York überlegte hin und her, ob er das Angebot einer anderen Universität annehmen sollte. Schließlich nahm ihn ein Kollege beiseite und riet ihm: »Maximiere doch einfach deinen erwarteten Nutzen – du schreibst doch immer darüber.« Darauf entgegnete der Professor entnervt: »Hör auf damit – das ist jetzt ernst!«
Ob Wirtschaftswissenschaftler, Psychologe oder Otto Normalverbraucher – die meisten räumen gern ein, dass das Ideal eines perfekten Menschen mit grenzenlosem Wissen und unbeschränkter Zeit unrealistisch sei. Andererseits sind sie aber überzeugt davon, dass wir ohne diese Einschränkungen und mit mehr Logik bessere Entscheidungen treffen würden, dass wir vielleicht nicht jeden Aspekt berücksichtigen, es aber nach Möglichkeit tun sollten. Dieser Ansicht werden Sie auf den folgenden Seiten nicht begegnen.
Mit diesem Buch lade ich Sie zu einer Reise in ein weitgehend unbekanntes Land der Rationalität ein, das mit Menschen wie uns bevölkert ist, Menschen, die teils unwissend sind, deren Zeit begrenzt und deren Zukunft ungewiss ist. Es ist nicht das Land, über das viele Wissenschaftler so gern schreiben. Sie schildern ein Land, auf das die Sonne der Aufklärung ihre Strahlen der Logik und Wahrscheinlichkeit fallen lässt, während das Land, das wir besuchen, in einen Dunst der Ungewissheit gehüllt ist. In meiner Geschichte können sich die vermeintlichen »Beschränkungen« der Intelligenz in Wahrheit als ihre Stärke entpuppen. Wie sich die Intelligenz anpasst und mit ihren Mitteln haushaltet, indem sie sich auf das Unbewusste, auf Faustregeln und auf evolvierte Fähigkeiten verlässt – davon handelt dieses Buch. Die Gesetze in der wirklichen Welt unterscheiden sich verblüffend von denjenigen in der logischen, idealisierten Welt. Mehr Informationen und Überlegungen sind nicht immer besser – weniger kann mehr sein. Wollen Sie einen Blick riskieren?
Ein guter Freund von mir (nennen wir ihn Harry) stand eines Tages zwischen zwei Freundinnen, die er beide liebte, begehrte und bewunderte. Zwei waren jedoch eine zu viel. Verwirrt von widersprüchlichen Emotionen und unfähig, eine Entscheidung zu treffen, erinnerte er sich an den Rat, den Benjamin Franklin einst einem Neffen in einer ähnlichen Situation gegeben hatte:1
8. April 1779
Wenn du zweifelst, notiere alle Gründe, pro und contra, in zwei nebeneinanderliegenden Spalten auf einem Blatt Papier, und nachdem du sie zwei oder drei Tage bedacht hast, führe eine Operation aus, die manchen algebraischen Aufgaben ähnelt; prüfe, welche Gründe oder Motive in der einen Spalte denen in der anderen an Wichtigkeit entsprechen – eins zu eins, eins zu zwei, zwei zu drei oder wie auch immer –, und wenn du alle Gleichwertigkeiten auf beiden Seiten gestrichen hast, kannst du sehen, wo noch ein Rest bleibt. … Dieser Art moralischer Algebra habe ich mich häufig in wichtigen und zweifelhaften Angelegenheiten bedient, und obwohl sie nicht mathematisch exakt sein kann, hat sie sich für mich häufig als außerordentlich nützlich erwiesen. Nebenbei bemerkt, wenn du sie nicht lernst, wirst du dich, fürchte ich, nie verheiraten.
Dein dich liebender Onkel B. Franklin
Harry war sehr erleichtert, dass eine logische Formel existierte, um seinen Konflikt zu lösen. Also nahm er sich die Zeit, schrieb alle wichtigen Gründe auf, die ihm einfielen, gewichtete sie sorgfältig und begann zu rechnen. Als er das Ergebnis sah, geschah etwas Unerwartetes. Eine innere Stimme sagte ihm, es sei nicht richtig. Da erkannte Harry zum ersten Mal, dass sein Herz bereits entschieden hatte – gegen die Kalkulation und zugunsten des anderen Mädchens. Die Berechnung half ihm bei der Lösung, aber nicht durch ihre Logik. Vielmehr brachte sie ihm eine unbewusste Entscheidung zu Bewusstsein, deren Gründe ihm selber unklar waren.
Dankbar für die plötzliche Lösung, aber von dem Vorgang selbst verwirrt, fragte sich Harry, wie es möglich sei, unbewusste Entscheidungen zu treffen, die im Widerspruch zu unserem bewussten Denken stehen. Er war nicht der Erste, der erkennen musste, dass unser Denken mit den Prozessen kollidieren kann, die wir als Intuition bezeichnen. So haben der Sozialpsychologe Timothy Wilson und seine Kollegen Frauen ein Poster als Dank für die Mitwirkung an einem Experiment geschenkt.2 In einer Gruppe von Frauen wählte jede einfach unter fünf zur Auswahl stehenden Postern dasjenige aus, das ihr am besten gefiel; in einer zweiten Gruppe musste jede Teilnehmerin die Gründe beschreiben, warum ihr die einzelnen Poster gefielen oder missfielen, bevor sie sich für eines entschied. Interessanterweise tendierten die beiden Gruppen dazu, unterschiedliche Poster mit nach Hause zu nehmen. Vier Wochen später fragte man sie, wie ihnen ihr Geschenk gefalle. Die Frauen, die Gründe genannt hatten, waren weniger zufrieden und bedauerten ihre Wahl mehr als diejenigen, die keine genannt hatten. Hier und in ähnlichen Experimenten scheint uns die bewusste Vergegenwärtigung von Gründen zu Entscheidungen zu führen, die uns weniger glücklich machen – so wie etwa das bewusste Nachdenken über den genauen Ablauf des Fahrradfahrens oder eines spontanen Lächelns nicht immer bessere Ergebnisse zeitigt als deren unmittelbare Versionen. Die unbewussten Teile unserer Intelligenz können entscheiden, ohne dass wir – das bewusste Selbst – ihre Gründe kennen oder, wie in Harrys Fall, überhaupt wissen, dass eine Entscheidung längst gefallen ist.
Doch ist nicht die Fähigkeit der Selbstreflexion eine besondere Eigenschaft des Menschen und damit grundsätzlich von Vorteil? Macht nicht dieses Nachdenken über das eigene Denken das Wesen des Menschen aus? Freud verwendete die Selbstbeobachtung als therapeutisches Verfahren, und Unternehmensberater empfehlen moderne Spielarten von Franklins moralischer Algebra als rationales Werkzeug. Aber die Forschungsergebnisse lassen darauf schließen, dass uns das Abwägen von Pro und Kontra nicht generell glücklich macht. In einer Studie wurden die Teilnehmer nach verschiedenen Alltagsbeschäftigungen gefragt, etwa wie sie entschieden, welche Fernsehsendung sie sich abends ansahen oder was sie im Supermarkt kauften. Überprüften sie alle Kanäle, indem sie, ständig auf der Suche nach einer besseren Sendung, pausenlos hin und her zappten? Oder stellten sie die Suche rasch ein und gaben sich mit einem ersten interessanten Programm zufrieden? Menschen, die von umfangreicher Suche bei Einkauf und Freizeitaktivitäten berichteten, wurden als Maximierer bezeichnet, weil sie die bestmögliche Wahl treffen wollten. Wer seine Suche begrenzte und sich rasch mit der ersten Alternative begnügte, die »gut genug« war, wurde als Satisficer bezeichnet.3 Laut der Studie zeigten die Satisficer größeren Optimismus, höhere Selbstachtung und Lebenszufriedenheit, während die Maximierer bei Depressionen, Perfektionismus, Reue und Selbstvorwürfen vorne lagen.
Stellen Sie sich vor, Sie nehmen an einer Gameshow im Fernsehen teil. Sie haben alle Mitbewerber aus dem Feld geschlagen und erwarten nun bebend die Eine-Million-Euro-Frage. Hier ist sie:
Welche Stadt hat mehr Einwohner, Detroit oder Milwaukee?
Mist, Geografie ist nie Ihre Stärke gewesen! Die Zeit läuft erbarmungslos ab. Abgesehen von ein paar absonderlichen Trivial-Pursuit-Junkies dürften nur wenige Menschen die Antwort kennen. Es gibt keine Möglichkeit, die richtige Lösung logisch abzuleiten; Sie müssen auf der Grundlage dessen, was Sie wissen, eine Vermutung äußern. Vielleicht erinnern Sie sich, dass Detroit eine Industriestadt ist, der Geburtsort von Motown und der amerikanischen Automobilindustrie. Doch auch Milwaukee ist eine Industriestadt, bekannt für ihre Brauereien, und vielleicht erinnern Sie sich auch an den Song von Ella Fitzgerald, in dem sie von ihrer Cousine mit der quäkenden Stimme erzählt. Was können Sie daraus schließen?
Daniel Goldstein und ich stellten diese Frage in einem amerikanischen College-Kurs, und die Studenten waren geteilter Meinung – rund 40 Prozent entschieden sich für Milwaukee, die anderen für Detroit. Anschließend testeten wir eine entsprechende Gruppe von deutschen Studenten. Praktisch alle gaben die richtige Antwort: Detroit. Man könnte daraus schließen, die Deutschen seien schlauer oder wüssten zumindest besser in amerikanischer Geografie Bescheid. Doch das Gegenteil ist der Fall. Sie wussten sehr wenig über Detroit, und viele von ihnen hatten sogar noch nie etwas von Milwaukee gehört. Daher mussten sich die deutschen Studenten auf ihre Intuition anstatt auf gute Gründe verlassen. Worin liegt das Geheimnis dieser verblüffenden Intuition?
Die Antwort ist überraschend einfach. Die Deutschen verwendeten eine Faustregel, die als Rekognitionsheuristik bezeichnet wird:4
Wenn du den Namen der einen Stadt, aber nicht den der anderen erkennst, dann schließe daraus, dass die wiedererkannte Stadt mehr Einwohner hat.
Die amerikanischen Studenten konnten diese Faustregel nicht benutzen, weil sie schon von beiden Städten gehört hatten. Sie wussten zu viel. Die vielen Fakten trübten ihr Urteil und hinderten sie daran, die richtige Antwort zu finden. Ein gewisses Maß an Unwissenheit kann also durchaus von Wert sein. Natürlich ist, wer sich auf das Wiedererkennen von Namen verlässt, auch nicht gegen Fehler gefeit. Beispielsweise werden japanische Touristen mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf schließen, dass Heidelberg größer als Bielefeld ist, weil sie von letzterer Stadt noch nie etwas gehört haben. Trotzdem verhilft uns diese Regel in den meisten Fällen zu der richtigen Antwort, und zwar besser als selbst ein beträchtliches Wissen.
Die Rekognitionsheuristik kann uns nicht nur dabei helfen, eine Million Euro zu gewinnen. So wenden wir sie gewöhnlich auch dann an, wenn wir Produkte kaufen, deren Markennamen wir erkennen. Diese Heuristiken oder Faustregeln von Verbrauchern machen sich Unternehmen zunutze, indem sie wenig informative Werbekampagnen finanzieren, die nur einen einzigen Zweck haben: den Wiedererkennungswert eines Markennamens zu erhöhen. Der Instinkt, sich an das zu halten, was man kennt, hat in freier Natur Überlebenswert. Denken Sie nur an die lila Kuh. Wenn die Milch vom letzten Einkauf eine ähnliche Farbe hätte, würden Sie da nicht lieber eine weniger exotische Variante wählen? Wenn Sie sich an vertraute Nahrungsmittel halten, bekommen Sie die erforderlichen Kalorien, ohne Zeit zu verschwenden und ohne Ihr Schicksal herauszufordern. Wie sollen Sie wissen, ob die bunte Flüssigkeit ungenießbar oder gar giftig ist?
Wie fängt ein Spieler einen hoch fliegenden Ball beim Baseball oder Kricket? Wenn Sie einen Berufsspieler fragen, würde er Sie vermutlich verständnislos anblicken und antworten, dass er noch nie darüber nachgedacht habe. Mein Freund Phil spielte Baseball für ein lokales Team. Sein Trainer warf ihm wiederholt Faulheit vor, weil Phil, wie andere Mannschaftskameraden auch, gelegentlich in gemächlichem Tempo zu dem Punkt trottete, wo der Ball herunterkam. Der zornige Trainer dachte, Phil ginge ein überflüssiges Risiko ein, und verlangte von ihm, er solle so schnell wie möglich zu dieser Stelle laufen, um im letzten Augenblick noch notwendige Korrekturen vornehmen zu können. Phil steckte in einem Dilemma. Er und seine Mannschaftskameraden suchten dem Zorn des Trainers zu entgehen, indem sie nun mit höchstem Tempo sprinteten. Sie verfehlten den Ball jedoch weitaus häufiger. Was ging da schief? Phil hatte jahrelang als Outfielder gespielt und nie verstanden, wie er den Ball fing. Sein Trainer dagegen hatte eine Theorie: Er glaubte, die Spieler würden intuitiv die Flugbahn des Balls berechnen, daher wäre die beste Strategie, so schnell wie möglich zu der Stelle zu laufen, wo der Ball auf dem Boden auftreffen musste. Gab es eine andere Möglichkeit?
Phils Trainer war nicht der Einzige, der sich über die Berechnung von Flugbahnen den Kopf zerbrach. In seinem Buch Das egoistische Gen schrieb der Biologe Richard Dawkins:5
»Wenn ein Mensch einen Ball hoch in die Luft wirft und wieder auffängt, verhält er sich so, als hätte er eine Reihe von Differenzialgleichungen gelöst, um die Flugbahn des Balls vorauszusagen. Er mag gar nicht wissen oder sich dafür interessieren, was eine Differenzialgleichung ist, aber das beeinträchtigt seine Geschicklichkeit beim Ballspiel nicht im Geringsten. Auf einer unbewussten Ebene geschieht etwas, das funktionell den mathematischen Berechnungen entspricht.«
Es ist gar nicht so einfach, die Flugbahn eines Balls zu berechnen. Theoretisch haben Bälle parabolische Flugbahnen. Um die richtige Parabel auszuwählen, müsste das Gehirn des Spielers die ursprüngliche Entfernung, die Geschwindigkeit und den Winkel der Flugbahn des Balls schätzen. Doch in der realen Welt fliegen Bälle infolge von Luftwiderstand, Wind und Drall nicht in Parabeln. Das Gehirn müsste also darüber hinaus fortwährend die Geschwindigkeit und Richtung des Winds berücksichtigen, um die resultierende Flugbahn und den voraussichtlichen Landepunkt zu berechnen. All das müsste in wenigen Sekunden geschehen – das heißt, während der Ball in der Luft ist. Das ist die Standarderklärung, die davon ausgeht, dass die menschliche Intelligenz ein komplexes Problem durch einen komplexen Prozess löst. Doch als man sie experimentell überprüfte, erzielten die Spieler nur dürftige Ergebnisse, sobald sie schätzten, wo der Ball auf den Boden treffen würde.6 Wären sie zu solchen Schätzungen fähig, sähe man sie bei dem Versuch, einen hohen Ball zu fangen, nicht in Mauern, Spielerbänke und Zuschauerränge laufen. Offenbar ist da etwas anderes am Werk.
Abbildung 1.1: Wie fängt man einen hohen Ball? Die Spieler verlassen sich auf unbewusste Faustregeln. Wenn ein Ball hoch ankommt, richtet der Spieler den Blick auf den Ball, beginnt zu laufen und passt seine Geschwindigkeit so an, dass der Blickwinkel konstant bleibt.
Gibt es eine einfache Faustregel, mit deren Hilfe Spieler Bälle fangen? Experimente haben gezeigt, dass erfahrene Spieler sogar mehrere Faustregeln benutzen. Eine von ihnen ist die Blickheuristik, die zur Anwendung kommt, wenn der Ball bereits hoch in der Luft ist:
Fixiere den Ball, beginne zu laufen, und passe deine Laufgeschwindigkeit so an, dass der Blickwinkel konstant bleibt.
Der Blickwinkel ist der Winkel einer gedachten Achse zwischen Auge und Ball relativ zum Erdboden. Ein Spieler, der diese Regel anwendet, muss weder Wind, Luftwiderstand, Drall noch die anderen kausalen Variablen messen. Alles, was er wissen muss, ist in einer einzigen Größe enthalten: dem Blickwinkel. Zwar wird der Spieler, der die Blickheuristik anwendet, nicht berechnen können, wo der Ball landet, doch die Heuristik wird ihn zum Landepunkt führen.
Wie bereits erwähnt, ist die Blickheuristik nur in Situationen anwendbar, in denen sich der Ball bereits hoch in der Luft befindet. Ist das noch nicht der Fall, muss der Spieler nur den letzten seiner drei »Bausteine« verändern:7
Fixiere den Ball, beginne zu laufen, und passe deine Laufgeschwindigkeit so an, dass der Ball aus deinem Blickwinkel mit konstanter Geschwindigkeit steigt.
Die Logik ist intuitiv zu erkennen. Wenn der Spieler den Ball vom Abschlagpunkt mit sich beschleunigendem Tempo steigen sieht, sollte er lieber rückwärtslaufen, weil der Ball hinter seiner derzeitigen Position auf den Boden treffen wird. Sieht er den Ball jedoch mit abnehmender Geschwindigkeit steigen, muss er umgekehrt auf den Ball zu laufen. Steigt der Ball mit gleichbleibender Geschwindigkeit, befindet sich der Spieler in der richtigen Position.
Jetzt können wir verstehen, wie Spieler hohe Bälle fangen, ohne nachzudenken, und worin Phils Dilemma besteht. Während der Trainer fälschlicherweise annahm, seine Spieler würden irgendwie die Flugbahn berechnen, verließen sich seine Leute tatsächlich auf eine einfache, unbewusste Faustregel, die vorgibt, wie schnell ein Spieler läuft. Da Phil nicht wusste, warum er sich so und nicht anders verhielt, konnte er sich nicht verteidigen. Die Faustregel nicht zu kennen kann unerwünschte Folgen haben.
Die meisten Feldspieler sind sich der Blickheuristik völlig unbewusst, obwohl sie so einfach ist.8 Sobald jedoch die Regel, die einem intuitiven Gefühl zugrunde liegt, bewusst gemacht ist, kann sie auch gelehrt werden. Wenn Sie fliegen lernen, bringt man Ihnen eine Spielart dieser Heuristik bei: Falls sich Ihnen ein anderes Flugzeug nähert und Sie eine Kollision befürchten, schauen Sie auf einen Kratzer in Ihrer Windschutzscheibe und beobachten, ob sich das andere Flugzeug relativ zu diesem Kratzer bewegt. Wenn nicht, ziehen Sie die Maschine augenblicklich nach unten. Kein vernünftiger Fluglehrer wird Sie dazu auffordern, die Bahn Ihres Flugzeugs im vierdimensionalen Raum (einschließlich der Zeit) zu berechnen, die des anderen Flugzeugs zu schätzen und dann zu ermitteln, ob sich die beiden Flugbahnen schneiden. Bevor der Pilot nämlich seine Berechnungen abgeschlossen hätte und zu der Erkenntnis gelangt wäre, dass eine Kollision droht, hätte sie schon stattgefunden. Eine einfache Regel ist weniger anfällig für Schätz- oder Rechenfehler und intuitiv einsichtig.
Die Blickheuristik und ihre Verwandten sind für eine Klasse von Problemen zuständig, die mit dem Zusammenstoß bewegter Objekte zu tun haben. Bei Ballspiel und Jagd dient die Blickheuristik zur Erzeugung von Kollisionen, bei Luft- und Seefahrt zu ihrer Vermeidung.9 Das Fangen bewegter Objekte ist eine wichtige Adaptionsleistung in der Menschheitsgeschichte, und leicht lässt sich die Blickheuristik von ihrem evolutionären Ursprung, etwa in der Jagd, auf Ballspiele übertragen. Abfangtechniken sind nicht nur bei Menschen zu beobachten. Viele Organismen, von Fischen bis zu Fledermäusen, besitzen die angeborene Fähigkeit, ein Objekt mit den Augen zu verfolgen, das durch den dreidimensionalen Raum fliegt – eine biologische Vorbedingung für die Blickheuristik. Der Knochenfisch fängt seine Beute, indem er einen konstanten Winkel zwischen der eigenen Bewegungsrichtung und der des Zielobjekts einhält, und männliche Schwebefliegen wenden die gleiche Technik an, um Weibchen zur Paarung abzufangen.10 Wenn ein Hund hinter einem fliegenden Frisbee herjagt, folgt er dem gleichen Instinkt wie der Outfielder beim Baseball. Allerdings hat ein Frisbee eine kompliziertere Flugbahn als ein Baseball; er beschreibt Kurven in der Luft. Wie eine Studie zeigte, bei der man eine winzige Kamera am Kopf eines Spaniels angebracht hatte, lief der Hund so, dass der Ball sich aus seiner Perspektive geradlinig bewegte.11
Obwohl die Blickheuristik auf einer unbewussten Ebene angewendet wird, sind einige ihrer »Bausteine« Bestandteil der Volksweisheit. So meinte US-Senator Russ Feingold zum Vorgehen der Bush-Administration gegen den Irak, während Al-Qaida anderweitig ihr Unwesen trieb: »Ich frage Sie, Vize-Verteidigungsminister Wolfowitz, sind Sie sicher, dass wir den Ball im Blick haben?«12 Übrigens lässt sich die Blickheuristik nicht auf alle diese Probleme anwenden. Viele Ballspieler erklären übereinstimmend, der schwierigste Ball sei derjenige, der direkt auf den Körper gespielt werde – eine Situation, in der die Faustregel nutzlos ist.
Die Blickheuristik verdeutlicht, wie ein komplexes Problem, bei dem kein Roboter es einem Menschen gleichtun könnte – einen Ball in Echtzeit zu fangen –, leicht gemeistert werden kann. Sie lässt alle kausalen Informationen außer Acht, die erforderlich sind, um die Flugbahn des Balls zu berechnen, und berücksichtigt nur eine Information, den Blickwinkel. Ihre Logik ist kurzsichtig, denn sie orientiert sich nur an inkrementellen Veränderungen, statt von der Idealvorstellung auszugehen, nach der man erst die beste Lösung errechnet und dann entsprechend handelt. Strategien, die sich an inkrementellen Veränderungen ausrichten, sind auch charakteristisch für die Entscheidungen, die Organisationen über ihren Jahreshaushalt treffen. Am Max-Planck-Institut, an dem ich arbeite, nehmen meine Kollegen und ich meist nur kleine Korrekturen am Haushalt des Vorjahrs vor, statt das Budget vollkommen neu aufzustellen. Weder Sportler noch Manager müssen den Kurs von Bällen oder Unternehmen im Voraus berechnen können. In der Regel wird sie eine intuitive »Abkürzung« ans gewünschte Ziel bringen und das Risiko schwerwiegender Fehler verringern.
Dan Horan wollte schon immer Polizeibeamter werden, und nach vielen Jahren als Polizist ist es noch immer sein Traumberuf. Seine Welt ist der Los Angeles International Airport, wo er versucht, Drogenkuriere aufzuspüren. Die Kuriere kommen mit vielen hunderttausend Dollar Bargeld nach L.A. und fliegen von dort in andere US-amerikanische Großstädte, um die erworbenen Drogen abzuliefern. An einem Sommerabend war der Flughafen voller Menschen, die auf ihren Flug warteten oder ankommende Fluggäste abholen wollten. Officer Horan ging zwischen ihnen umher und hielt nach etwas Ungewöhnlichem Ausschau. Lose hing das Polohemd über seine Shorts herab, um Pistole, Handschellen und Funkgerät zu verbergen. Für das ungeübte Auge wies nichts an ihm darauf hin, dass er ein Polizist war.
Doch die Frau, die mit einem Flugzeug vom Kennedy Airport in New York eingetroffen war, war weder unerfahren noch unvorsichtig.13 Sie zog einen schwarzen Rollkoffer hinter sich her, die Farbe, für die sich heute fast jeder entscheidet. Wenige Schritte hinter dem Tor ihres Flugsteigs kreuzten sich ihre Blicke. Augenblicklich bildete sich jeder eine Meinung über den anderen und über die Gründe, die jeden zum Flughafen geführt hatten, und beide hatten recht. Horan folgte ihr nicht über die Rolltreppe hinaus, sondern verständigte über Funk seinen Partner, der vor dem Abfertigungsgebäude wartete. Horan und sein Partner sahen völlig unterschiedlich aus. Horan war Anfang vierzig und glatt rasiert, während sein Partner einen Bart trug und Ende fünfzig war. Doch als sich die Frau durch die Drehtür in die Gepäckhalle begab, brauchte sie lediglich zehn Sekunden, um in der wartenden Menge den Partner von Horan als das zu erkennen, was er war. Als die Frau die Halle rasch durchschritt, stieg vor dem Gebäude ein Mann aus seinem geparkten Ford Explorer und ging ihr entgegen. Die Frau wechselte kurz ein paar Worte mit ihm, warnte ihn vor den Kriminalbeamten und wandte ihm dann den Rücken zu. Der Mann ging zu seinem Wagen, fuhr sofort davon und ließ sie bei den Polizisten allein zurück.
Horans Partner ging auf die Frau zu, wies sich als Polizeibeamter aus und bat sie um ihr Flugticket. Lächelnd und plaudernd suchte sie ihre Nervosität zu verbergen, doch als der Beamte sie nach dem Inhalt ihres Koffers befragte, gab sie sich beleidigt und verweigerte die Durchsuchung ihres Koffers. Dann müsse sie ihn aufs Revier begleiten, sagte der Partner, und warten, während er versuche, einen Durchsuchungsbeschluss für ihren Koffer zu bekommen. Trotz wütender Proteste wurden ihr Handschellen angelegt, und nach wenigen Minuten hatte ein Polizeihund Rauschgiftspuren an ihrem Koffer gewittert. Ein Richter unterschrieb einen Durchsuchungsbeschluss, und als die Polizeibeamten den Koffer öffneten, fanden sie 200 000 Dollar in bar. Sie waren, wie die Frau schließlich gestand, zum Ankauf einer größeren Menge Marihuana bestimmt, das nach New York gebracht und auf der Straße verkauft werden sollte.
Wie gelang es Horan, diese Frau intuitiv in einer Menge von mehreren hundert Menschen herauszufinden? Als ich ihn fragte, antwortete er, das wisse er nicht. Er konnte sie in dieser großen Menge entdecken, aber nicht angeben, was ihm an ihr ungewöhnlich erschienen war. Er hielt nach jemandem Ausschau, der nach ihm Ausschau hielt. Doch was für Hinweise in ihrem Erscheinungsbild brachten ihn zu der Vermutung, sie sei ein Kurier? Horan wusste es nicht.
Obwohl Horans Intuition ihn zu einem ausgezeichneten Polizisten macht, wird das vom Rechtssystem nicht unbedingt anerkannt. In der Regel berücksichtigen US-amerikanische Gerichte die Ahnungen von Polizeibeamten nicht, sondern verlangen von ihnen, eindeutige Fakten zu benennen, die eine Fahndung, ein Verhör oder eine Verhaftung rechtfertigen. Selbst wenn ein Polizeibeamter aufgrund einer Ahnung ein Auto anhält, dabei Drogen oder illegale Waffen findet und genau dies aussagt, lassen Richter »bloße Ahnungen« oft nicht als ausreichende Gründe für eine Durchsuchung gelten.14 Sie versuchen die Bevölkerung vor willkürlichen Durchsuchungen zu bewahren und ganz allgemein die bürgerlichen Freiheiten zu schützen. Doch ihr Bestehen auf nachträglicher Rechtfertigung verkennt, dass gute Expertenurteile in der Regel intuitiv sind. Daher haben Polizeibeamte gelernt, vor Gericht keine Ausdrücke wie »Ahnung« oder »Instinkt« zu verwenden, sondern im Nachhinein »objektive« Gründe zu liefern. Denn sonst könnten nach US-amerikanischem Recht alle Beweise, die aufgrund einer Intuition gefunden wurden, vom Gericht nicht anerkannt und der Beschuldigte freigesprochen werden.
Zwar sprechen viele Richter den Ahnungen von Polizisten jegliche Bedeutung ab, verlassen sich selbst aber durchaus auf ihre Intuition. Dazu erklärte mir ein Richter: »Ich misstraue den Ahnungen von Polizisten, weil es nicht meine Ahnungen sind.« Entsprechend zögert ein Staatsanwalt nicht, eine potenzielle Geschworene von vornherein abzulehnen, weil sie Goldschmuck zum T-Shirt trägt oder weil er angesichts ihrer Hobbys – Essen, Frisuren und Talkshows – ihre Intelligenz in Zweifel zieht. Jedoch sollte es weder um die Ahnungen an sich noch um die Fähigkeit gehen, hinterher Gründe zu erfinden, während man die unbewusste Natur der Ahnungen verheimlicht. Um Diskriminierung zu vermeiden, müsste das Rechtssystem stattdessen die Qualität der Intuitionen von Polizisten kontrollieren, das heißt überprüfen, wie gut es einem Beamten tatsächlich gelingt, Straftäter zu erkennen. In anderen Berufen werden erfolgreiche Experten nach ihrer Leistung beurteilt – und nicht nach ihrer Fähigkeit, nachgeschobene Erklärungen für ihre Leistungen zu liefern. »Chicken Sexers« (Spezialisten für die Geschlechtsbestimmung von Küken),15 Schachgroßmeister, Baseballprofis, Komponisten und preisgekrönte Schriftsteller sind in der Regel unfähig zu beschreiben, wie sie tun, was sie tun. Für viele Fertigkeiten gibt es keinen sprachlichen Ausdruck.
Gibt es Bauchgefühle? Die vier vorstehenden Geschichten legen den Schluss nahe, dass die Antwort Ja heißt und sich sowohl Fachleute als auch Laien auf sie verlassen. Partner zu wählen, Antworten auf Eine-Million-Euro-Fragen zu finden, Bälle zu fangen und Drogenkuriere aufzuspüren – diese Episoden sind nur winzige Flecken auf dem weiten Feld von Problemen, welche die Intuition zu lösen hilft. Es gibt sehr viel mehr Situationen, in denen uns die Intuition durchs Leben steuert. Häufig ist die Intelligenz ohne bewusstes Denken am Werk. Tatsächlich ist die Großhirnrinde, in der die Flamme des Bewusstseins leuchtet, ebenso angefüllt mit unbewussten Prozessen wie die älteren Teile unseres Gehirns. Es ist ein Irrtum anzunehmen, Intelligenz sei zwangsläufig bewusst und hänge nur mit Überlegung zusammen.16 Muttersprachler sind augenblicklich in der Lage anzugeben, ob ein Satz grammatisch korrekt ist oder nicht, aber nur wenige können die zugrunde liegenden grammatischen Prinzipien verbalisieren. Wir wissen mehr, als wir zu sagen wissen. Lassen Sie mich nun klar zum Ausdruck bringen, was ein Bauchgefühl ist.17 Ich verwende die Begriffe Bauchgefühl, Intuition oder Ahnung austauschbar, um ein Urteil zu bezeichnen,
das rasch im Bewusstsein auftaucht,dessen tiefere Gründe uns nicht ganz bewusst sind unddas stark genug ist, um danach zu handeln.Doch können wir unserem Bauch trauen? Die Antwort auf diese Frage teilt die Menschheit in skeptische Pessimisten und leidenschaftliche Optimisten. Auf der einen Seite meinte Sigmund Freud warnend, es sei »nur Illusion, wenn man von der Intuition … etwas erwartet«. Und wie er werfen viele zeitgenössische Psychologen der Intuition systematische Unzulänglichkeit vor, weil sie Informationen missachte, gegen die Gesetze der Logik verstoße und die Ursache menschlicher Katastrophen sei.18 In Übereinstimmung mit dieser negativen Haltung misst unser Bildungssystem der Kunst der Intuition so gut wie keine Bedeutung bei. Auf der anderen Seite sind die Menschen im Alltag geneigt, ihren Intuitionen zu vertrauen, und populärwissenschaftliche Bücher preisen die Wunder rascher Einsicht.19 Nach dieser optimistischen Auffassung wissen wir im Allgemeinen, was zu tun ist, wenn auch nicht, warum. Im Endeffekt sind sich Optimisten und Pessimisten darin einig, dass Ahnungen oft gut sind, ausgenommen, sie sind schlecht – was vollkommen richtig ist, uns aber nicht wirklich weiterhilft. Daher lautet die eigentliche Frage nicht, ob, sondern wann wir unserem Bauch vertrauen können. Um sie zu beantworten, müssen wir zunächst klären, wie Intuition zustande kommt.
Welches rationale Prinzip liegt einem Bauchgefühl zugrunde? Bis in jüngster Zeit war die Antwort auf diese Frage weitgehend unbekannt. Definitionsgemäß hat das Subjekt des Gefühls keine Ahnung. Angesehene Philosophen haben die Ansicht vertreten, Intuition sei geheimnisvoll und unerklärlich. Kann Wissenschaft das Geheimnis lüften? Oder ist Intuition menschlichem Zugriff entzogen – die Stimme Gottes, Eingebung oder ein sechster Sinn jenseits wissenschaftlicher Erklärungen? In diesem Buch vertrete ich die Auffassung, dass Intuition nicht nur ein Impuls oder eine Laune ist, sondern auch ihre eigene Gesetzmäßigkeit hat. Lassen Sie mich daher zunächst erklären, woraus diese nicht besteht. Wenn Experimente wie die Poster-Studie zeigen, dass bewusstes Denken im Vergleich zur Intuition zu schlechteren Ergebnissen führt, drängt sich eine Frage auf: Wie kann Franklins Bilanzmethode, die Bibel der Entscheidungstheorie, ihre Wirkung verfehlen? Statt die geheiligte Autorität infrage zu stellen, zogen die Forscher den Schluss, die Intuition müsse die Bilanzmethode automatisch angewendet haben: Alle Informationen seien berücksichtigt und optimal gewichtet, während das bewusste Denken dies versäumt habe.20 Gute Entscheidungen müssten immer auf einer komplexen Gewichtung von Pro und Kontra beruhen, so diese Überzeugung. Doch Franklins moralische Algebra deckt sich nicht mit meiner Vorstellung von Intuition, und Komplexität ist, wie wir gleich sehen werden, nicht immer der beste Weg.
Wie funktionieren Bauchgefühle? Nach meiner Ansicht besteht ihr Grundprinzip aus zwei Elementen:
einfache Faustregeln, die sichevolvierte Fähigkeiten des Gehirns zunutze machen.Dabei verwende ich den umgangssprachlichen Ausdruck Faustregel synonym mit dem wissenschaftlichen Terminus Heuristik. Eine Faustregel unterscheidet sich grundlegend von einer Bilanzmethode mit Pro und Kontra; sie versucht, die wichtigste Information herauszugreifen, und lässt den Rest außer Acht. Bei der Eine-Million-Euro-Frage kennen wir das Grundprinzip – die Rekognitionsheuristik, deren interessantes Merkmal darin besteht, dass sie sich unsere partielle Unwissenheit zunutze macht. Für das Fangen eines Balls haben wir die Blickheuristik identifiziert, die alle für die Berechnung der Wurfbahn erforderlichen Informationen beiseitelässt. Diese Faustregeln ermöglichen rasches Handeln. Jede macht sich eine evolvierte Fähigkeit des Gehirns zunutze: das Wiedererkennungsgedächtnis beziehungsweise das Vermögen, bewegte Objekte mit den Augen zu verfolgen. Der Terminus evolviert bezeichnet keine Fertigkeit, die allein von der Natur oder der Kultur hervorgebracht wurde. Vielmehr gibt die Natur dem Menschen eine Möglichkeit, die dann durch längere Übung zu einer Fähigkeit wird. Ohne die evolvierten Fähigkeiten könnte die einfache Regel ihre Aufgabe nicht erfüllen; doch ohne die Regel könnten auch die Fähigkeiten das Problem nicht lösen.
Man kann das Wesen von Bauchgefühlen in zweierlei Weise verstehen. Die eine beruht auf logischen Grundsätzen und der Annahme, Intuition löse ein komplexes Problem durch eine komplexe Strategie. Die andere bezieht psychologische Prinzipien ein, die auf Einfachheit setzen und die Fähigkeiten unseres evolvierten Gehirns ausnutzen. Franklins Regel verkörpert den logischen Ansatz: Gib für jede Handlung alle Konsequenzen an, gewichte sie sorgfältig nach ihrer Bedeutung, und addiere die Zahlenwerte; dann wähle diejenige, die den höchsten Wert oder den größten Nutzen aufweist. Moderne Spielarten dieser Regel bezeichnet man als Maximierung des erwarteten Nutzens. Dieser logische Ansatz geht davon aus, dass die Intelligenz wie eine Rechenmaschine funktioniere, und lässt unsere evolvierten Fähigkeiten außer Acht, unter anderem unsere kognitiven Möglichkeiten und sozialen Instinkte. Doch diese Fähigkeiten stehen uns quasi natürlich zur Verfügung und ermöglichen schnelle und einfache Lösungen für komplexe Probleme. So hat das vorliegende Buch das Ziel, zunächst die verborgenen Faustregeln zu erläutern, die der Intuition zugrunde liegen, und an zweiter Stelle zu verstehen, wann Intuitionen zum Erfolg oder zum Scheitern führen können. Die Intelligenz des Unbewussten liegt darin, dass es, ohne zu denken, weiß, welche Regel in welcher Situation vermutlich funktioniert.
Ich habe Sie zu einer Reise eingeladen, muss Sie aber warnen: Einige der Erkenntnisse, die Sie unterwegs gewinnen, sind mit dem Dogma der rationalen Entscheidungsfindung nicht zu vereinbaren. Wir werden von Zweifeln an der Zuverlässigkeit der Intuition hören, auch von schroffer Ablehnung und Misstrauen ob ihrer unbewussten Natur. Logik und verwandte Denksysteme haben die westliche Philosophie des Geistes einfach zu lange beherrscht. Die menschliche Intelligenz lässt sich meiner Meinung nach als ein adaptiver Werkzeugkasten verstehen, der über genetisch, kulturell und individuell hervorgebrachte und übermittelte Faustregeln verfügt. Dabei ist die Logik nur eines von vielen nützlichen Werkzeugen, deren sich der Verstand bedienen kann. Vieles von dem, was ich vertrete, ist noch umstritten. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen hat der amerikanische Biologe und Geologe Louis Agassiz einmal gesagt: »Erst sagen die Menschen, es widerspreche der Bibel. Dann sagen sie, es sei schon früher entdeckt worden. Schließlich sagen sie, sie hätten schon immer daran geglaubt.« Was wir bislang gehört haben, beruht auf den Forschungsarbeiten, die meine Kollegen und ich am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, aber auch viele geschätzte Kollegen in aller Welt durchgeführt haben.21 Ich hoffe, dieses kleine Buch wird die Leser dazu ermutigen, an unserer Entdeckungsreise in das Neuland der Rationalität teilzunehmen.
Man soll die Dinge so einfach wie möglich machen, aber nicht noch einfacher.
Albert Einstein22
Die Kinderstation einer führenden US-amerikanischen Universitätsklinik gehört zu den besten im Land. Vor Jahren wurde dort ein einundzwanzig Monate alter Junge eingeliefert – nennen wir ihn Kevin.23 Fast nichts war so, wie es sein sollte: Er war blass und verschlossen, hatte für sein Alter dramatisches Untergewicht, wollte nichts essen und litt unter ständigen Ohrentzündungen. Als Kevin sieben Monate alt war, verließ der Vater die Familie. Die Mutter, die häufig »um die Häuser zog«, versäumte es gelegentlich, ihn zu füttern, oder stopfte ihm unter Zwang Babybrei aus Gläsern und Kartoffelchips in den Mund. Ein junger Arzt nahm sich des Falls an; nur mühsam konnte er sich dazu durchringen, diesem ausgemergelten Kind Blut abzunehmen, und bemerkte, dass es die Nahrungsaufnahme verweigerte, nachdem es mit Nadeln gestochen worden war. Intuitiv schränkte er alle invasiven Untersuchungen auf ein Minimum ein und versuchte stattdessen, ihm möglichst viel Fürsorge angedeihen zu lassen. Der Junge begann zu essen und erholte sich.
Doch der junge Arzt stieß bei seinen Vorgesetzten auf wenig Verständnis für seine unkonventionellen Bemühungen. Schließlich konnte er den diagnostischen Apparat nicht mehr aufhalten, und die Verantwortung für Kevin wurde auf einen Schwarm von Spezialisten aufgeteilt, von denen jeder bestrebt war, seine ganz besondere Diagnosetechnik anzuwenden. Nach ihrem Verständnis ärztlicher Fürsorge hatten sie die Aufgabe, die Ursache für die Krankheit des kleinen Jungen herauszufinden. Man dürfe kein Risiko eingehen:»Wenn er ohne Diagnose stirbt, haben wir versagt.« Im Lauf der folgenden neun Wochen wurde Kevin einer ganzen Reihe von Untersuchungen unterzogen: Computertomografie, Barium-Breischluck, zahlreiche Gewebeproben und Blutkulturen, sechs Lumbalpunktionen, Ultraschall und Dutzende anderer klinischer Tests. Was brachten die Untersuchungen? Nichts Eindeutiges. Doch unter diesem Bombardement von Untersuchungen hörte Kevin wieder auf zu essen. Den Folgen von Entzündungen, Unterernährung und Untersuchungen wirkten die Spezialisten mit intravenöser Ernährung durch Dauertropf und Blutinfusionen entgegen. Vor einer weiteren angesetzten Untersuchung, einer Biopsie der Thymusdrüse, starb Kevin. Die Ärzte setzten ihre Tests bei der Autopsie fort, in der Hoffnung, die verborgene Ursache zu finden. Ein Assistenzarzt meinte nach dem Tod des Jungen: »Wissen Sie, einmal hing er sogar an drei Schläuchen gleichzeitig! Um herauszufinden, was mit ihm los war, haben wir keine Untersuchung ausgelassen. Er starb trotz allem, was wir getan haben.«
Eines Tages in den 1920er-Jahren traf sich der Chefredakteur einer russischen Zeitung wie jeden Morgen zu einer Besprechung mit seinen Mitarbeitern. Er las die für diesen Tag anstehenden Aufgaben vor – eine längere Liste von Ereignissen und Orten, über die berichtet werden sollte, Adressen und Anweisungen. Während er sprach, fiel ihm ein frisch angestellter Reporter auf, der sich keine Notizen machte. Der Chefredakteur wollte ihn gerade zurechtweisen in der Annahme, dass er nicht aufpasste, als dieser begann, die ganze Auftragsliste Wort für Wort zu wiederholen. Der Reporter hieß Schereschewski. Kurz nach diesem Ereignis begann der russische Psychologe Alexander R. Luria, Schereschewskis fantastisches Gedächtnis zu untersuchen. Luria las ihm bis zu dreißig Wörter, Zahlen oder Buchstaben vor und forderte Schereschewski auf, sie zu wiederholen. Während ein normaler Mensch rund sieben (plus/minus zwei) wiederholen kann, merkte sich der Reporter alle dreißig. Luria erhöhte die Zahl auf fünfzig, dann auf siebzig, doch der Reporter wiederholte alle einwandfrei und konnte sie sogar in umgekehrter Reihenfolge wiedergeben. Luria untersuchte ihn über drei Jahrzehnte hinweg, ohne an die Grenzen dieses Gedächtnisses zu stoßen. Er forderte Schereschewski rund fünfzehn Jahre nach ihrer ersten Begegnung auf, die Sequenz von Wörtern, Zahlen und Buchstaben zu reproduzieren, die er ihm damals genannt hatte. Schereschewski schloss die Augen und rief sich die Situation ins Gedächtnis: Sie hatten in Lurias Wohnung gesessen; Luria hatte einen grauen Anzug getragen, in einem Schaukelstuhl gesessen und ihm die Folge vorgelesen. Nach all diesen Jahren sagte ihm Schereschewski dann die Sequenz exakt auf. Das war zu diesem Zeitpunkt wirklich eine ganz außerordentliche Leistung, denn inzwischen war Schereschewski ein berühmter Gedächtniskünstler geworden, der öffentlich auftrat und sich in jeder Vorstellung viele Fakten einprägte und sie wiederholte – insgesamt eine ungeheure Informationsmenge, die eigentlich seine alten Erinnerungen hätte überlagern müssen. Warum hat Mutter Natur ihm ein vollkommenes Gedächtnis gegeben und nicht Ihnen oder mir?
Solch ein unbegrenztes Gedächtnis hat auch seine Schattenseiten. Schereschewski konnte praktisch alles, was ihm jemals zugestoßen war, detailliert aus dem Gedächtnis abrufen – die wichtigen wie die trivialen Erlebnisse. Nur eines konnte sein brillantes Gedächtnis nicht – vergessen. Beispielsweise wurde es von Bildern aus der Kindheit überflutet, die ihm Kummer und Leid verursachten. Er war unfähig, mit einem Gedächtnis, das mit Einzelheiten vollgestopft war, abstrakt zu denken. Er klagte darüber, dass er Schwierigkeiten habe, Gesichter wiederzuerkennen. »Die Gesichter der Menschen verändern sich ständig«, sagte er, »das wechselnde Mienenspiel verwirrt mich und macht es schwer, sich an Gesichter zu erinnern.«24 Wenn er eine Geschichte las, konnte er sie Wort für Wort wiedergeben, doch wenn man ihn aufforderte, den Kern dieser Geschichte zusammenzufassen, hatte er zu kämpfen. Im Allgemeinen stand Schereschewski auf verlorenem Posten, wenn es eine Aufgabe erforderte, über die gegebenen Informationen hinauszugehen, etwa Metaphern, Gedichte, Synonyme und Homonyme zu verstehen. Einzelheiten, die andere Menschen einfach vergaßen, setzten sich in seinem Gedächtnis fest und erschwerten es ihm, aus dem Strom der Bilder und Empfindungen auf eine höhere Ebene des Bewusstseins davon zu gelangen, was das Leben letztlich ausmacht: Wesen, Abstraktion, Bedeutung. Mehr Gedächtnis ist also nicht immer besser.
ENDE DER LESEPROBE
6. Auflage Taschenbuchausgabe Juni 2008 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Originaltitel: Gut Feeligs Umschlaggestaltung: Design Team München in Anlehnung an die Gestaltung der Hardcover-Ausgabe (R-M-E Roland Eschlbeck/Rosemarie Kreuzer) Umschlagillustration: Guy Billot KF · Herstellung: Str.
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