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Was sagt der Bauch? Warum sagt er es? Und vor allem: Hat er recht? Der Psychiater und Psychotherapeut Raphael Bonelli erklärt wissenschaftlich fundiert und unterhaltsam, warum wir dem Bauch zuhören, ihm aber nicht unbedingt folgen sollten. Ein faszinierender Blick auf das komplexe Wesen Mensch anhand eines bisher weitgehend unerforschten Themas.
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Seitenzahl: 281
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Raphael Bonelli:Bauchgefühle
Alle Rechte vorbehalten© 2022 edition a, Wienwww.edition-a.at
Cover: Bastian WelzerSatz: Anna-Mariya Rakhmankina
Gesetzt in der PremieraGedruckt in Deutschland
1 2 3 4 5 — 25 24 23 22
ISBN: 978-3-99001-603-9
eISBN: 978-3-99001-604-6
Raphael Bonelli
Wie sie entstehenWas sie uns sagenWie wir sie nützen
und
DamianVitusLeopoldJohannesFerdinand
Einleitung
And here’s to you, Mrs. Robinson
Aus dem Bauch heraus
Das Es des Dorian Gray – Ja und Nein: Lustmaximierung und Unlustvermeidung – Die Veredelung des Bauches durch Kopf und Herz – Was uns ausmacht: die Werte unseres Herzen – Die Selbstprägung des Bauches
Lustmaximierung
Kapitel Eins: Liebe
Schmetterlinge im Bauch – Nur einen Swipe von der Venus entfernt – Gegensätze und Gemeinsamkeiten: Verlieben mit dem Eros – Die Prüfungszeit: Verlobt mit der Philia – Bis das der Tod uns scheidet: Verheiratet mit der Agape
Kapitel Zwei: Gier
Die Geschichte eines Wüstlings – Reichtum lauert überall – Anatomie der Sucht – Was wir besitzen, besitzt irgendwann uns – Streiten sich zwei Mönche
Unlustvermeidung
Kapitel Drei: Angst
Bad news are good news – Burnout: Die Krankheit, auf die man stolz ist – Leider zu perfekt – Als Prometheus das Feuer stahl – Tapfer sein
Kapitel Vier: Aggression
Von den Freuden des Radfahrens – Hass ist eine in die Enge getriebene Angst – Streitsucht: Der Kampf gegen Windmühlen – Die Blase verstärkt die Aversion – Moralischer Narzissmus - die Krankheit unserer Zeit – Anatomie des Streits – Herrschaft über die bissigen Hunde – Ein Pferd für eine Insel
Vom Bauch zum Herz
Kapitel Fünf: Selbsttranszendenz
Das Versprechen des Sisyphus – Vom Ich zum Du – Von der Immanenz zur Transzendenz – Die persönliche Freiheit – Vom Trieb zur Weisheit
Epilog
Singe mir des Achilleus unheilbringenden Zorn
Es ist der Sommer des Jahres 1967 und Benjamin Braddock weiß nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Wobei, das ist nicht ganz richtig: Eigentlich weiß er es zu gut.
Benjamin ist einundzwanzig Jahre alt, ein hübscher Junge und intelligent noch dazu. Das College hat er mit Auszeichnung abgeschlossen, seine Eltern sind stolz auf ihn. Den Sommer verbringt er bei seiner Familie in Südkalifornien, ehe er mit dem Medizinstudium beginnen soll. Seine Eltern unterstützen ihn dabei sowohl finanziell als auch mit ehrlichem Zuspruch.
Mehr kann sich ein junger Mann kaum wünschen. Und doch ist Benjamin unglücklich. Sein Verstand weiß, dass ihn ein sicheres, sorgenfreies Leben erwartet. Aber ist das genug? Hat er selbst sich sein Leben so vorgestellt oder erfüllt er bloß die Wünsche seiner Eltern?
Auf einer Feier, die seine Eltern zu seinen Ehren veranstalten, trifft er Mrs. Robinson. Mr. Robinson ist der Geschäftspartner seines Vaters, Mrs. Robinson seine Frau. Benjamin bemerkt, was er zuvor nie wahrgenommen hat: Mrs. Robinson ist eine schöne Frau. Und offenbar an ihm interessiert.
Als er sich mit ihr in einem Hotel trifft, um eine Affäre zu beginnen, siegen seine Bauchgefühle das erste Mal über seinen Verstand. Er weiß, dass das, was er tut, falsch ist. Mrs. Robinson riskiert ihre Ehe und er seine Zukunft. Doch er möchte sich frei fühlen, frei von allen Zwängen, unter deren Joch seine Eltern und die Gesellschaft ihn treiben wollen. Das unreflektierte Verfolgen seiner Gefühle und Triebe ist seine Vorstellung von Freiheit.
Mrs. Robinson stellt Benjamin nur eine Bedingung.
Er dürfe niemals mit ihrer Tochter Elaine ausgehen. Benjamin gibt ihr zunächst sein Wort. Doch seine Eltern, die natürlich weder von der Affäre noch von Benjamins Versprechen gegenüber Mrs. Robinson wissen, drängen ihren Sohn dazu, Elaine kennenzulernen. Schließlich gibt Benjamin nach.
Bei ihrem ersten Date versucht Benjamin zunächst noch alles, um das Treffen zu einer Katastrophe werden zu lassen. Schließlich möchte Elaine ihn nie mehr wiedersehen – und Benjamin erkennt genau in diesem Moment, dass er etwas für Elaine empfindet. Er entdeckt Schmetterlinge – in seinem Bauch.
Anders als Mrs. Robinson versteht Elaine seine Sorgen, den Druck, den er von seinen Eltern verspürt, die Angst, die ihn überkommt, wenn er an die Zukunft denkt. Benjamin bittet sie um Verzeihung und sie beginnen, sich häufiger zu treffen. Erneut sind es Benjamins Gefühle, die ihm den Weg weisen. Klug ist es jedenfalls nicht, dass er sich in die Tochter jener Frau verliebt, mit der er eine Affäre hat. Ehrlich kann er gegenüber Elaine zunächst auch nicht sein. Doch er liebt Elaine, oder zumindest glaubt er das. Und die Liebe als Zweck rechtfertigt für ihn die Mittel.
Erst als Mrs. Robinson droht, die ganze Sache auffliegen zu lassen, gesteht Benjamin Elaine die Wahrheit. Zum zweiten Mal will ihn Elaine daraufhin nie wiedersehen. Sie reist nach Berkeley, wo sie studiert.
Hier könnte die Geschichte enden, wenn Benjamin seine Gefühle etwas besser unter Kontrolle hätte. Er könnte aus seinen Fehltritten lernen, Verantwortung für seine Taten übernehmen und sein Studium aufnehmen. Doch Benjamins Bauch sagt ihm etwas anderes: dass Elaine die Liebe seines Lebens ist. Daraufhin nimmt er impulsiv den Alfa Spider, den er von seinen Eltern zum College-Abschluss bekommen hat, und fährt quer durch den Bundesstaat, bis er in Berkeley ankommt. Dort beginnt er sofort damit, nach Elaine zu suchen. Als er sie findet, weist sie ihn zurück. Doch Benjamin gibt nicht auf, und schließlich verzeiht im Elaine.
Die beiden nähern sich wieder an, doch bald taucht ein neues Problem auf: Elaine ist von ihren Eltern mit dem langweiligen, aber gut situierten Carl Smith verkuppelt worden. Als Elaines Eltern erfahren, dass Benjamin nach Berkeley gefahren ist, um ihre Tochter zurückzugewinnen, arrangieren sie eine überstürzte Hochzeit.
In einem dramatischen Finale findet Benjamin die abgelegene Kirche, in der die Trauung stattfindet. Elaine, sichtbar schockiert von seinem Auftauchen, aber überwältigt von seinem Kampf um sie, den sie als romantische Geste deutet, flieht im Affekt zusammen mit Benjamin aus der Kirche.
Sie entkommen Elaines Eltern und der Hochzeitsgesellschaft, als sie in einen Bus springen, kurz bevor sich dessen Türen schließen und er abfährt. Die anderen Fahrgäste werfen skeptische Blicke auf den jungen Mann, der aussieht, als hätte er drei Tage lang weder geschlafen noch geduscht, und auf die junge Frau in ihrem zerrissenen, staubigen Hochzeitskleid und mit der aufgelösten Frisur.
Die beiden jungen Verliebten achten nicht darauf. Sie setzen sich in die letzte Reihe, stoßen einen tiefen Seufzer aus und brechen in überschwängliches Gelächter aus. Im letzten Moment noch mal gut gegangen. Die Liebe hat gesiegt. Oder etwa nicht?
Ein schlechterer Film als Die Reifeprüfung (1967), der Dustin Hofmann in der Rolle des Benjamin Braddock damals zum Star machte, wäre an dieser Stelle zu Ende gewesen. Doch der Regisseur Mike Nichols stilisiert die Geschichte von Benjamin und Elaine nicht zu einer von Hollywoods übertriebenen Romanzen. Unbewegt hält die Kamera die Gesichter der beiden noch für eine Minute fest. Sie fängt ein, wie ihr Lachen langsam erstirbt, wie es zu einem schüchternen Lächeln wird, bis es schließlich einem betretenen Ausdruck weicht. Wir können geradezu hören, welche Gedanken Elaine und Benjamin durch den Kopf schießen.
War das die richtige Entscheidung? Macht es mich frei, meinen Gefühlen über jede gesellschaftliche Konvention hinweg zu folgen? Macht es mich glücklich? Wer ist die Person neben mir eigentlich? Und weiß ich überhaupt, wer ich selbst sein will? Elaine und Benjamin schaffen es nicht, sich anzublicken. Und damit endet der Film.
Ein Jahr nach Erscheinen des Films kam es zu den Studentenprotesten der 68er-Bewegung. In diesem Klima wurde Benjamins Verhalten auf zweierlei Arten gedeutet: Seine Affäre mit Mrs. Robinson, die in dem gleichnamigen Lied von Simon & Garfunkel bis heute gegenwärtig bleibt, war ein Aufbegehren gegen die traditionelle Gesellschaftsordnung. Und seine Beziehung zu Elaine stand für eine freie Liebe, die sich an keine Regeln halten musste.
Wenn man die Handlung der Geschichte allerdings genauer analysiert, wird klar, dass Benjamins Liebe für Elaine bloß eine Folge seiner zufälligen Bauchgefühle ist und nicht einer bewussten Entscheidung seines Herzens entspringt. Und schon gar nicht wurde er durch das Verfolgen seiner Gefühle freier.
Benjamin Braddock hat sich von seinen Bauchgefühlen leiten lassen. Genau wie seine Generation folgte er nicht seinem Herz, sondern seinem Bauch. Die Psychologie der 68er-Generation und der »sexuellen Revolution« besagte: Folge deinen Gefühlen! Denke in erster Linie an dich selbst! Freiheit ist, dem Bauch ungebremst nachzugeben! Ganz nach dem damals propagierten Motto: »Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment.« Eine Ideologie, deren Spuren auch heute noch deutlich zu spüren sind. Selbstverwirklichung ist ein anderer Ausdruck für Egoismus geworden, und was viele Menschen für Liebe und eine Entscheidung des Herzens halten, ist oftmals bloß die Gier nach der Befriedigung des eigenen Bauches. Nicht zuletzt die »Me-Too«-Bewegung hat die rücksichtslosen Bedürfnisse der 68er-Männer trefflich entlarvt.
Die Folgen der »sexuellen Revolution« sind oftmals Narzissten, die eigene Befindlichkeiten über alles andere stellen, aber auch Depressionen, weil der Sinn des Lebens sich eben nicht im Befolgen der eigenen Triebe erschöpft. Das Versprechen eines freien und glücklichen Lebens kann erst eingelöst werden, wenn wir lernen, zwischen Bauch und Herz zu unterscheiden und unsere Bauchgefühle nach unserm Herzen neu zu prägen.
Darum soll es in diesem Buch gehen.
Der Charakter Benjamin Braddock handelt beständig aus dem Bauch heraus. Er tut, was ihm in diesem Moment lustbringend erscheint, ohne auf ein längerfristiges Ziel oder mögliche Konsequenzen seines Handelns zu achten. Unter dem Deckmantel von Selbstverwirklichung und Nonkonformismus schiebt er die Entscheidung bezüglich seiner Zukunft immer weiter hinaus und ignoriert seine sorgenvollen Eltern. Stattdessen stürzt er sich von einem Abenteuer ins nächste. Zunächst trifft er sich mit der in ihrer Erfahrung und Unerreichbarkeit anziehend wirkenden Mrs. Robinson, danach mit ihrer Tochter.
Nur wer bereit ist, dieses Verhalten zu verklären und zu romantisieren, könnte Braddocks unreife Gefühle für reife Liebe halten. Um Braddocks Verhalten zu verstehen, müssen wir seinen Bauchgefühlen auf den Grund gehen. Wir müssen verstehen, wie der Bauch funktioniert.
Dabei soll der Bauch keinesfalls als Feind verstanden werden. Der Bauch ist essenziell für unser Leben. Er ist die Basis, die Grundlage. Wird er jedoch zu unserem alleinigen Leitprinzip, wie im Fall von Benjamin Braddock, werden wir kein Glück finden. Im Gegenteil, am Ende werden wir meist vor Frust, Leid und allerhand Problemen stehen. Doch es ist nicht die Aufgabe des Bauches, uns langfristig glücklich zu machen. Der Bauch denkt nicht langfristig, er entwirft keine Lebensplanung. Er lebt im Hier und Jetzt. Ihn dafür verantwortlich zu machen, wäre so, wie dem Wirtschaftsminister vorzuwerfen, dass das Bildungssystem nicht funktioniert. Das ist einfach nicht seine Aufgabe.
Mit seiner Impulsivität und Spontaneität kann er uns in vielen Lebenssituationen helfen. Der Bauch ist es, der uns mit intuitivem Grummeln oder Ziehen zu verstehen gibt, wenn etwas nicht zusammenpasst, ohne dass wir sofort sagen könnten, was das wäre. Der Bauch reagiert oft schneller und sensibler als der Verstand, er ist das Auffangbecken unserer Erfahrungen und sieht Dinge, die wir mit unseren Augen oder unserer Vernunft nicht wahrnehmen können. Er gibt den Takt an im Orchester der Wahrnehmung. Der Bauch entscheidet, ob wir eine Person sympathisch finden oder ob wir ein gutes Gefühl bei einer Sache haben.
Wer lernt, seinen Bauch klug zu nützen, kann daraus viele Vorteile ziehen. Wenn ein junger Arzt seine Ausbildung zum Psychiater beginnt, ist er nach zwei oder drei intensiven Gesprächen mit Patienten bereits völlig erschöpft. Sein Kopf ist schwer von all den verwirrenden Fakten, die er zu einer komplizierten Diagnose zusammenfügen muss, und am Ende des Tages kann er nur noch erschöpft ins Bett fallen.
Das ändert sich mit der Zeit. Mit zwanzig oder dreißig Jahren Erfahrung kann er bis zu zehn Sitzungen am Tag leisten und in jede geht er ausgeruht und mit Freude an seiner Arbeit hinein. Und danach bleibt auch noch Zeit für die Familie. Woran liegt das?
Wenn ein Patient in eine psychiatrische Praxis kommt und einem älteren und erfahrenen Arzt von seinen Problemen erzählt, reicht dessen Erfahrung meist aus, um eine Erstdiagnose zu stellen, ohne dass er alle psychologischen Theorien bewusst präsent haben muss, die er jemals gelernt hat. Verhaltensweisen wiederholen sich, Geschichten und Beschwerden ähneln sich, anders wäre die Kunst der Medizin und auch die der Psychotherapie gar nicht möglich. Die Bauchgefühle des Psychiaters nehmen unbewusst Anzeichen wahr, die ihm nicht sofort bewusst vor Augen treten müssen. Denn er hat diese Anzeichen schon unzählige Male gesehen.
Ob jemand narzisstisch veranlagt ist, unter einer Depression leidet, unglücklich in seiner Beziehung ist oder ein Perfektionist, erkennt ein erfahrener Psychiater oft, bevor ihm der Patient seine Geschichte erzählt hat. Der Bauch hilft dabei, eine Ersteinschätzung zu liefern. Und je größer unsere Erfahrung ist, desto öfter werden wir damit richtig liegen. Das gilt nicht nur für Psychiater und Detektive, sondern für praktisch jeden Beruf – vom Rechtsanwalt bis zum Klempner.
Jeder weiß, wie wichtig es ist, einem richtigen Gefühl nachzugehen. Selbst die besten Detektive der Literaturgeschichte wie Sherlock Holmes oder Hercule Poirot scheinen ihre Ermittlungen oft aus einer Laune oder einem Impuls heraus zu beginnen, bevor sie sich analytisch an die Lösung des Falles heranarbeiten. Es ist die Intuition, die sich diese Meisterdetektive in jahrelanger Arbeit angeeignet haben und von der sie auf die richtige Fährte geführt werden. Erst wenn sie diese gefunden haben, kann die rationale Denkarbeit zum Ziel führen. Intuition ist aber die Folge von jahrelangem und mühseligem Sammeln von Erfahrung durch präzise Analyse der Indizien. Sie ist eine mühelose Fähigkeit, die durch viel Mühe erworben wurde.
Doch wir müssen vorsichtig sein, denn der Bauch ist manchmal auch ein orientierungsloser Einflüsterer, ein blinder Führer und kopfloser Berater. Nicht jedes Bauchgefühl erspürt intuitiv das Richtige. Aber jedes Bauchgefühl fühlt sich so an. Manchmal spielt es uns vor, Erfahrung auf einem Gebiet zu besitzen, obwohl wir kaum etwas darüber wissen. Täuscht uns das Gefühl jedoch bereits am Anfang und beginnen wir, an der völlig falschen Stelle zu suchen, verlieren wir zumindest wertvolle Zeit. Oder sogar viel Geld. Wer kennt ihn nicht, den todsicheren Anlagetipp, bei dem der Verstand alle roten Flaggen übersieht, weil der Bauch völlig überzeugt ist? Oder den Mann fürs Leben, der schon drei Scheidungen hinter sich hat, doch der Bauch ist sich sicher, diesmal wird es klappen?
Nicht selten werden der Intuition magische, übersinnliche Eigenschaften zugesprochen. Doch auch sie ist begrenzt und will richtig eingesetzt werden. Die Intuition ist ein erlernter emotionaler Automatismus, der auf den bisher gemachten Erfahrungen und Verhaltensmustern beruht. Das ist wahnsinnig praktisch. Mit ihr lässt sich das Leben fortsetzen, wie es war, ohne viel nachzudenken – aber keine großen Sprünge machen. Ein intuitiver Krimineller wird immer kriminell bleiben.
Bauchgefühle sind zweifellos nützlich. Das merkt man am Verhalten der Menschen, die keine haben. Sie haben eine Warnfunktion und geben uns Signale und Hinweise. Wie ein Hund, der bellt. Oder eine Alarmanlage. Sie sind hochsensibel, umsichtig, schlagen schnell an. Oft stimmen sie auch in ihrer unmittelbaren Wahrnehmung (dass da irgendetwas ist), irren sich aber häufig in der mitgelieferten Deutung. So kann ein abweisender Mensch tatsächlich ein überheblicher »Gockel« sein, wie es sich zunächst anfühlt – oder auch ein schüchterner Angsthase, der seine Menschenfurcht zu verbergen sucht. Auch ist großer Appetit prinzipiell ein Zeichen von guter Gesundheit – braucht aber bei den meisten Menschen noch eine kurze kognitive Überprüfung. Deswegen bedarf es einiger Übung, Analyse und Selbstreflexion, seine eigenen Gefühlswahrnehmungen richtig zu deuten. Viele Menschen überschätzen die Fähigkeit des Bauches, seine eigenen Gefühle zu interpretieren. »Der oder die mag mich nicht« wird oft viel zu schnell gemutmaßt, aufgrund eines kurzen scheelen Blickes. Manchmal mit heftigen Konsequenzen, wie man sich leicht vorstellen kann.
Würde ein Psychiater zu Beginn seiner Karriere nur auf seinen Bauch hören, dann würde er kläglich scheitern. Am Anfang seiner Laufbahn sind bereits zwei Patienten am Tag eine schier unüberwindbare Hürde. Es ist ganz einfach zu erkennen, woran das liegt: an der fehlenden Erfahrung. Man hat kein Repertoire, auf das man zurückgreifen kann. Das muss man sich erst hart erarbeiten. Jedes Wort, das aus dem Mund eines Patienten dringt, muss man sich einprägen, als wäre es eine neue Sprache. Man muss es zerlegen und von jeder Seite betrachten. Umständlich mit der Vernunft analysieren. Bücher konsultieren. Erfahrene Kollegen befragen. Und man muss vor allem aus Fehlern lernen. Das tut ein guter Psychiater später auch noch, allerdings sind die Fehler seltener und die Zeit, die man benötigt, um Gesagtes zu verarbeiten, ist kleiner geworden. Man muss seinen Bauch zuerst mit Erfahrung füllen, auf die man später unbewusst zurückgreifen kann. Und die man sich mit seiner Vernunft erarbeitet hat. Das dauert lange, erfordert viel Geduld und ist oft mit harter Arbeit verbunden. Doch geben wir sofort unseren Bauchgefühlen nach, greift unser Bauch nicht auf Erfahrung zurück, sondern auf Gefühle, Wünsche und Phantasien. Wir verwechseln dann unsere Intuition, die auf Erfahrung und Übung beruht, mit unseren Trieben. Dann unterwerfen wir uns dem Bauch, oftmals ohne es zu merken. Denn beides fühlt sich gleich an.
In der psychologischen Theorie ist es sehr beliebt, mit Metaphern zu arbeiten, um ein Bild der Prozesse zu zeichnen, die sich in uns abspielen. So ist der hier angesprochene »Bauch« nicht mit dem organischen Magen-Darm-Trakt zu verwechseln. Er spielt im Konzept dieses Buches zum einen die Rolle der vielen verschiedenen, sich oft auch widersprechenden Bedürfnisse, Gefühle, Triebe, Emotionen und Fantasien, doch er beheimatet auch die Intuition und wirkt als Speicher der Erfahrung, oft im Unbewussten, dem direkten Zugriff der Vernunft verborgen.
Bauchgefühle sind Gefühle, die uns kurzfristig Befriedigung verschaffen, doch langfristig von einem tiefen, sinnstiftenden Glück fernhalten. Der Bauch, sagt Sigmund Freud, kennt keine Moral. Dabei ist der Bauch selbst nicht böse. Er ist nicht der teuflische Widersacher im Kampf ums Glück. Vielmehr ist er eine existenzielle Funktion des Menschen. Die plötzliche Angst zum Beispiel, die uns hindert, etwas Gefährliches zu tun, ist überlebensnotwendig. Ohne Sympathie, die wir Menschen gegenüber verspüren, gäbe es keine Gesellschaft, keine sozialen Bindungen. Der Bauch führt Menschen zusammen. Und auch die Lust kann dabei helfen, Unsicherheit und Lethargie zu überwinden.
Doch überlassen wir dem unreflektierten Bauch das Kommando, verlieren wir uns in diesen Gefühlen und werden zu Maschinen, bloße Vollstrecker triebgesteuerter Befehle. Wir verlernen nicht nur, rational zu denken und Situationen zu analysieren. Wir geben damit auch das ab, was uns zu Menschen macht: mit dem Herzen zu entscheiden. Doch dazu kommen wir später.
Zunächst ist es wichtig, zu verstehen, was der Bauch will. Zuvor wurde gesagt, was nicht zu seinen Aufgaben gehört: zu planen, abzuwägen, zu analysieren, diszipliniert zu sein. Doch was ist seine Aufgabe? Was will der Bauch?
Sigmund Freud hat dieser Frage großen Platz in seinem Denken eingeräumt. Vor über hundert Jahren entwickelte er mit dem Begriff des Es eine Instanz, die den Bauch gut beschreibt. In Freuds Modell wird das Es begleitet von Ich und Über-Ich. Deswegen spricht man in der Fachsprache vom »Drei-Instanzen-Modell«.
Das Es ist im Freud’schen Modell die dominante Instanz. Es schläft tief im Unbewussten wie ein Leviathan im dunklen Ozean. Alles Verdrängte treibt darin herum und strebt der Oberfläche zu. Und wir Menschen verdrängen viel: verbotene Lustgefühle, nicht eingestandene Schuld, gefährlichen Hass. Würden wir uns all diese Dinge eingestehen, dann würden sie das großartige Bild, das wir von uns selbst gerne zeichnen, ganz schön durcheinanderwirbeln.
Doch nicht nur Verdrängtes findet sich im Es, sondern auch die lebenserhaltenden Triebe. Das Kind ist reines Es, meinte Sigmund Freud. Ein Kind schreit, wenn es Hunger oder Schmerzen hat. Es argumentiert nicht, es schiebt seine Begierden nicht auf, es unterdrückt sie nicht. Sein ganzer Körper ist ein Vehikel des Triebausdrucks. Später wird das Leben für den Menschen freier, denn er lernt, dass Trieben nicht sofort nachgegeben werden sollte: Die Vernunft entwickelt sich. Dem Bauchmenschen fällt dieser vernünftige »Triebaufschub« oder gar der »Triebverzicht« – wie Freud das meisterlich formuliert hat – jedoch schwer. Wahrnehmung und Eindrücke formen das Es, und es ist die Gesamtheit aller uns zugänglichen und unzugänglichen Gefühle.
Der Bauchmensch kommt nie zur Ruhe, weil er nicht nur ein Bauchgefühl hat, das er befriedigen muss, sondern viele. Und diese widersprechen sich teilweise diametral. Deswegen ist er immer ein Getriebener. Auch ist die Befriedigung des Bauches kurzfristig und führt nicht selten in eine Sackgasse – wie etwa den Alkoholismus. Auf der Ebene des Bauches allein wird der Mensch niemals glücklich. Der Bauchmensch ist unfrei, eine Nussschale in der aufgewühlten See, und so zum Scheitern verurteilt. Provokant bringt es Freud auf den Punkt: Der Bauch – das Es – ist »polymorph pervers«. Er will tief unten drinnen – im Unbewussten und Verdrängten – so manches, was wir bewusst gar nicht wollen. Freud dachte, diese dunklen Tiefen machen den Menschen aus – hier irrte er allerdings. Den Menschen macht aus, wie er mit diesen Schrecken der Tiefe umgeht.
Die zweite Instanz ist bei Freud das Über-Ich, also die Gesetze und Regeln, die das Es zuerst von der Familie, meist von einem strengen Vater, vorgesetzt bekam. Das Über-Ich bereitete den Menschen darauf vor, später in einer Gesellschaft zu leben, deren Gesetze an die Stelle der väterlichen Ordnung treten. Viele psychologische Probleme entstehen für Freud aus dem Konflikt mit einem als übermächtig empfundenen Vater. Das Über-Ich ist bei Freud ein reiner Lautsprecher der Gesellschaft, eine Art Fernsteuerung, für die man nichts kann. Die einem sozusagen von außen eingesetzt wird, ob man das will oder nicht. Da hat Freud die Vernunft leider stark unterschätzt.
Das Ich als dritte Instanz ist das Bewusstsein (im Gegensatz zum unbewussten Es) und eine arme Wurst, hilflos eingeklemmt zwischen den diktatorischen Forderungen des Es und des gestrengen Über-Ich. Von unten dröhnt das Es gierig: »Ich will!« Von oben droht das Über-Ich mit erhobenem Zeigefinger: »Du darfst nicht!« Das Ich möchte es beiden Instanzen recht machen – was niemals gelingen kann. Es ist im permanenten Dilemma. Für Freud war dieses Ich fremdbestimmt, also determiniert. Freud sagte, das Ich wäre die Oberflächenschicht des Es. Allerdings lehrte er ein paar Jahrzehnte später auch »wo Es ist, muss Ich werden«, das bedeutet, es hat Sinn, sich unbewusste Abläufe bewusst zu machen. Umgekehrt vergrößert man das Es, wenn man unerwünschte Inhalte (wie zum Beispiel Schuld) ins Unbewusste verdrängt.
Der Roman Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde bildet das Es in anschaulicher Form ab. Dorian Gray ist ein junger, schöner, aber etwas unbedarfter Mann, der vom älteren, erfahreneren, gleichermaßen eloquenten wie zynischen Lord Henry in die britische Gesellschaft eingeführt wird.
Zu Beginn der Geschichte fertigt der Maler Basil ein Bildnis von Dorian an, das seine ganze jugendliche Schönheit wiedergibt. Doch bald schon merkt Dorian, dass dieses Bild all seine Sünden und Exzesse auf sich nimmt. Sein eigenes Gesicht bleibt von Drogen, Alkohol, Verschwendungssucht und nicht zuletzt Untreue verschont. Er kann den Menschen als unschuldiger Schönling entgegentreten und seinen Vernichtungsfeldzug gegen seine eigene Seele ungehemmt fortsetzen. Es kommt zu keinem Moment der Reflexion über seine Taten, da er keine Konsequenzen zu spüren bekommt.
In einem genuin freudianischen Moment verdrängt Dorian seine Taten, nicht bloß metaphorisch, sondern wortwörtlich, indem er sie auf sein Bild überträgt. Während er äußerlich makellos bleibt, wird sein Porträt zu dem eines unansehnlichen Monsters. Für Freud hat der Mensch keinen direkten Zugang zum Es, sondern erhält nur peripher Zugang zu ihm durch Träume oder Neurosen. Das ist vermutlich gar nicht schlecht so, denn könnten wir in das Es hinabsteigen, würde es uns womöglich so ergehen wie Dorian Gray.
Als er sein Bild, das er vorsorglich auf dem Dachboden vor neugierigen Blicken verschlossen hält, schließlich zu Gesicht bekommt, treten ihm all seine Verfehlungen mit einem Mal entgegen. Das einstmals so schöne Porträt ist zu einem Spiegel seiner Seelenabgründe verkommen. Im Schock möchte er das Bild vernichten und sticht mit einem Messer darauf ein. Doch wir können so wenig ohne ein Es leben, wie es das Es ohne uns geben kann. Und somit ist das Ende seines Porträts auch Dorians eigenes Ende.
Das Es ist also zu vergleichen mit dem Porträt von Dorian Gray. Was verbindet nun Freuds Es mit dem Bauch?
Obwohl die moderne Psychotherapie Freud viel verdankt, vor allem das Aufbrechen zahlreicher Tabus und das Verständnis des Menschen als ein kompliziertes, vielschichtiges Wesen, hat sich der Stand der Wissenschaft seit damals verändert. Einige von Freuds Annahmen sind nicht mehr haltbar. Von einigen Seiten (wie etwa Alfred Adler) wird kritisiert, dass Freud den Ursprung aller psychischen Probleme in der Sexualität sieht. Auch wird ihm ein Reduktionismus vorgeworfen, denn für Freud sind psychische Reaktionen letztlich nichts anderes als die Auswüchse biologischer Vorgänge, die wiederum rein materieller Natur sind – der Geist ist also bei ihm bloß ein Ausfluss der Materie. Freud war hier eben auch nur ein Kind seiner Zeit: des 19. Jahrhunderts. Besonders problematisch aus moderner neurowissenschaftlicher Sicht ist ein Eckpfeiler seines Konzepts: der Determinismus.
Denn für Freud gilt, was bereits der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer so pointiert ausdrückte: »Wir können wissen, was wir wollen. Aber wir können nicht wollen, was wir wollen.« Das Ich von Freud wird zwischen Über-Ich und Es hin- und hergestoßen wie ein wehrloser Unterstufenschüler auf dem Pausenhof. Es hat keine Möglichkeit, mit dem Verdrängten und dem Unbewussten zu interagieren. Im besten Fall, meint Freud, kann man das Verdrängte aufarbeiten, zum Ausdruck bringen und so die Neurose lösen, in der es sich manifestiert hat. Doch für Freud sind Menschen nicht frei. Bei diesem Gedanken ist Freud tatsächlich von Karl Marx beeinflusst. So wie Marx eine Gesellschaft nicht als frei ansah, sondern als bestimmt durch ihre Produktionsbedingungen, so betrachtet Freud das Individuum als determiniert durch Über-Ich und Es. Die Eigenverantwortung des Menschen wird somit in Abrede gestellt, gute Taten sind keine persönlichen Verdienste mehr und Schuld gibt es dann natürlich auch keine. Und die Möglichkeiten des Menschen, sich zu ändern, ist begrenzt. Freier Wille ist für Freud ein gut gemeintes Märchen.
Das sieht die moderne Neurowissenschaft anders. In der Frage nach der individuellen Entscheidungsfreiheit weichen Freuds Modell und die neue Konzeption des Menschen stark voneinander ab. Tatsache ist nämlich: Wir können unsere Bauchgefühle prägen. Nicht nur lernen, mit ihnen notdürftig zu leben, sondern sie zu unserem Vorteil zu nutzen. Wir sind nicht unsere Gefühle. Wir haben Gefühle. Und wir sind innerlich so frei, dass wir an unserem Charakter arbeiten können.
Bevor zu klären sein wird, wie das gelingen kann, soll zunächst noch ein doppeltes Grundprinzip der Bauchgefühle aufgezeigt werden, in der Psychoanalyse als »Lustprinzip« bekannt. Diesen natürlichen Zwillingsantrieb gut zu verstehen ist essenziell, um unsere Freiheit und unser Glück selbst in die Hand zu nehmen. Wer den Bauch richtig handhabt, ihn weder über- noch unterschätzt, hat meist schon gewonnen.
Die beiden Antriebe des Bauches – wie auch des Es – sind, nach Sigmund Freuds wohl bekanntestem Zitat, »Lustmaximierung und Unlustvermeidung«. Es sind zwei Prinzipien, die, sofern uns kein Korrektiv zur Verfügung steht, gegen unser langfristiges Glück arbeiten. Denn sie verleiten uns dazu, kurzfristig und triebgesteuert zu handeln.
Erinnern wir uns an Schopenhauers Aphorismus: Wir können nicht wollen, was wir wollen. Das gilt zwar nicht für den Menschen, allerdings für seinen Bauch. Der Bauch will zwanghaft und unfrei Lust maximieren und Unlust vermeiden. Hier lohnt es sich, zu Herrn Gray zurückzukehren. Dorian ist völlig bauchgesteuert. Alle seine Taten haben zum Ziel, entweder seine Lust zu steigern oder Unlust zu vermeiden.
Er lügt und betrügt, um sich Probleme zu ersparen. Seinen alten Freund Lord Henry belügt er, als dieser feststellt, dass Dorian nicht zu altern scheint. Er sucht Ausreden, um sich nicht weiter erklären zu müssen, denn das würde unweigerlich Unlust bereiten. Doch auch Langeweile ist für Dorian unerträglich, und so muss er stets nach dem nächsten großen Kick suchen, um sich zu stimulieren.
Dorian ist ein Profi darin, Lust zu maximieren: Von Spelunken über Spielhöllen bis zu Bordellen und Weltreisen lässt er nichts aus, um noch ein klein wenig mehr Lust für sich herauszuschlagen.
Wie der Bauch kann auch Dorian nie genug bekommen. Es ist ein bemerkenswertes Paradoxon, dass der Bauch immer mehr will, je mehr man ihn füttert. Er hat nie genug, im Gegenteil: Er verschlingt so viel, bis nicht einmal mehr die Person übrigbleibt, die ihn befriedigt. Der Bauch ist ein Fass ohne Boden.
Als die Personifikation des Bauchmenschen trägt Dorian alle Probleme in sich, die aus dem Bauch heraus entstehen. Er ist egozentrisch, gierig, getrieben von seinen unreflektierten Bedürfnissen. Gleichzeitig ist er unfähig (oder unwillig), über sein Verhalten nachzudenken oder tiefere Gefühle und Bindungen zu entwickeln. Für gewöhnlich würde man sagen, man kann die Persönlichkeit eines Menschen nicht in einem Porträt einfangen. Zu komplex und vielseitig ist sie. Doch in Dorians Fall, der ganz seinem Bauch folgt, ist das möglich. Denn reine Bauchmenschen haben eine oberflächliche, einfache, leicht durchschaubare Persönlichkeit. Sie gelangen nicht bis zum Kern ihres Seins, ihrer Berufung, denn die kurzfristige Triebbefriedigung steht ihnen dabei im Weg.
Es ist bezeichnend, dass Dorian das gesamte Buch über keinen Plan zu verfolgen scheint, kein höheres Ziel, weder ein gutes noch ein schlechtes. Der Bauch handelt kurzfristig, spontan, unüberlegt, auf die nächste, schnelle Befriedigung bedacht.
Wie viele literarische Figuren ist auch Dorian Gray ein Extremfall. Für gewöhnlich erfahren wir Konsequenzen, wenn wir dem Bauch nachgeben. Doch an diesem drastischen Beispiel wird deutlich, welche Probleme sich aus einer Übermacht des Bauches ergeben: Begierde wird mit Liebe verwechselt, Gier verdrängt und erstickt unsere Werte, Selbstzufriedenheit macht uns blind für andere und Angst bestimmt unseren Alltag.
Vor allem ist es einem Menschen, der ganz Bauch ist, unmöglich zu verstehen, was er selbst ist. Er fühlt, was sein Bauch will, doch er will und kann nicht erkennen, wie er nachhaltig handeln soll. Seine Handlungen werden hin und hergetrieben von den schwankenden, wechselnden und widersprüchlichen Bauchgefühlen.
Es gab in der Geschichte der Psychologie unendlich viele Arten, menschliche Gefühle einzuteilen. Die meisten Systeme sind recht kompliziert und – ehrlich gesagt – etwas verkopft. Die stimmigste und einfachste Systematik ist die Einteilung nach dem Freud’schen Doppelprinzip »Lustmaximierung und Unlustvermeidung«. Affirmative Gefühle wollen in erster Linie maximale Lust erreichen. Koste es, was es wolle, ohne Rücksicht auf Verluste. Volles Risiko. Sie sind sozusagen die Offensive des Bauches. Hier ist die Unlust im Hintergrund. Aversive Bauchgefühle hingegen wollen in erster Linie Unlust vermeiden. Sie wehren ab, verhindern. Für sie ist die Lust nebensächlich. Sie sind die Defensive.
Bei den aversiven Bauchgefühlen handelt es sich um Gefühle wie Angst, Hass, Zorn, Wut, Verachtung, Antipathie, Faulheit, Zwang, Ekel, Aggression, Diskriminierung, Neid oder Verweigerung. Es sind negative, verneinende Gefühle, die uns vor etwas Schädlichem bewahren wollen. Aber sie hindern uns auch daran, eine möglicherweise schmerzliche Wahrheit zu erkennen. Wenn ich aus Angst nie eine Aufgabe angehe, kann ich nicht scheitern und dadurch auch keine Unlust erfahren. Natürlich ist das kurzfristig und irrational gedacht – wie der Bauch eben ist. Aggression und Hass verunmöglichen tiefe emotionale Beziehungen, doch der Bauchmensch glaubt sich durch sie davor geschützt, von einer anderen Person verletzt zu werden. Diskriminierung und Verweigerung nützen dem Bauchmenschen, sich in seiner eigenen Welt zurechtzufinden, in der immer die anderen Schuld haben und man sich nicht mit eigenen Unzulänglichkeiten auseinandersetzen muss, was ebenfalls Unlust bringen würde. Die Folge der aversiven Bauchgefühle sind meist Vermeidung und Ausgrenzung – am Ende verlieren wir dadurch unsere Freiheit.
Die affirmativen Bauchgefühle hingegen schlagen in die andere Richtung aus. Sie treiben uns zu einem scheinbar nützlichen Gut. Wenn sie aber nicht vernünftig eingegrenzt werden, bejahen sie die Welt in einer ungeordneten, oft ungesunden Übertriebenheit. Ungeordnete, hemmungslose affirmative Bauchgefühle sind etwa Habgier, Glücksspielsucht, Kaufsucht, Sexsucht, Fresssucht, Drogensucht, Alkoholismus, Internetsucht, Geltungssucht, Handyabhängigkeit, Computerspielabhängigkeit oder auch übertriebene Vertrauensseligkeit. Dabei giert der affirmative Bauchmensch nach immer »mehr vom Selben« und verliert so ebenfalls – wie der aversive Bauchmensch – auf ganz andere Weise seine Freiheit.
Fast alle Bauchgefühle bringen – in rechte Bahnen gelenkt – großen Nutzen, sowohl aversive als auch affirmative. Aversive Bauchgefühle können vor etwas schützen, affirmative Bauchgefühle können uns auf etwas Gutes aufmerksam machen und dessen Erlangen erleichtern. Aber nützliche Gefühle sind immer einerseits von der Vernunft geprüft und andererseits vom Willen in vernünftige Grenzen eingeordnet worden. Denn Gefühle können manchmal irren, doch fast immer übertreiben sie. Das Kennzeichen eines Bauchmenschen ist es eben genau, dass er es mit dem Ausagieren seiner Gefühle durch mangelnde kognitive Prüfung übertreibt, sich deswegen in der Unordnung verliert und kein rationales Maß mehr finden kann. Das gilt für seine aversiven wie affirmativen Bauchgefühle. Der Bauchmensch landet so unweigerlich in einer Form von Unfreiheit. Weil der Bauch aus sich heraus kein Maß kennt, keine Balance hat.
Ein gutes Beispiel für eine solche Übertreibung ist der Film Der Ja-Sager (2008) mit Jim Carrey. Darin verkörpert Carrey den geschiedenen Kreditberater Carl Allen. Carl ist ein negativer und unglücklicher Mensch: Seine Trennung hat er noch nicht überwunden, seinen Job findet er langweilig und er trifft kaum noch Freunde. Die aversiven Gefühle sind bei ihm übergewichtet. Carl tut alles, um Unlust zu vermeiden, und isoliert sich zunehmend von der Außenwelt. Seine Freiheit schwindet durch eine progressive Vermeidungshaltung.
Als er die Verlobungsfeier seines besten Freundes verpasst, beschließt Carl, sich zu ändern. Nur sucht er keinen Psychotherapeuten auf, sondern einen fragwürdigen Motivationscoach und Guru. Dieser empfiehlt ihm, eine Zeit lang zu allem »Ja« zu sagen, um so eine positivere Lebenseinstellung zu gewinnen. Carl gleitet also vom aversiven ins affirmative Extrem über. Das ist natürlich fiktiv, aber ein interessantes Gedankenexperiment.
Er lernt das Gitarrenspiel und Koreanisch und schreibt sich für Flugstunden ein. In seiner Arbeit gewährt er jedem Antragsteller einen Kredit, denn ein »Nein« gibt es für ihn nicht mehr. Mit seiner neuen Lebensweise lernt er die Musikerin Allison kennen. Die beiden verlieben sich ineinander. Doch als Allison erfährt, dass sich Carl entschlossen hat, zu allem und jedem »Ja« zu sagen, trennt sie sich von ihm. Denn wie echt und tief kann die Liebe eines solchen Menschen sein? Wer zu jedem Reiz »Ja« sagt, wer also seine affirmativen Gefühle nicht mehr kontrollieren kann, der verliert seine Selbstbestimmtheit und sitzt auf einem heißblütigen Hengst ohne Zaumzeug. Liebe besteht nicht darin, spontanen Gefühlen nachzugeben. Es ist eine bewusste Entscheidung. Das unreflektierte Ja ist genauso wenig frei und selbstbestimmt wie das unreflektierte Nein.
Das erkennt schließlich auch Carl und seine Geschichte erfährt ein Happy End. Aber sie zeigt eine wichtige Tatsache: Der Bauch per se ist kein guter Ratgeber, weder aversiv noch affirmativ.