Be my Girl - Nina Sadowsky - E-Book

Be my Girl E-Book

Nina Sadowsky

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Beschreibung

Ein atemloser Psychothriller zwischen eiskalter Spannung und gefährlicher Liebe

Ellie und Rob sind das perfekte Paar. Gut aussehend, erfolgreich, bis über beide Ohren verliebt. Aber nur Augenblicke nach dem Jawort scheint alles in Scherben zu liegen. Rob verbirgt eine entsetzliche Vergangenheit. Je mehr Ellie erfährt, desto tiefer wird sie in einen Strudel aus Lügen und Verrat gezogen, der ihrer beider Leben bedroht. Wer ist der Mann, den sie geheiratet hat? Und wie weit will sie gehen, um ihre Liebe zu retten? Denn Rob ahnt nicht, dass auch sie nicht ehrlich zu ihm war …

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Seitenzahl: 431

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Das Buch:

Ellie und Rob sind das perfekte Paar. Gut aussehend, erfolgreich, bis über beide Ohren verliebt. Aber nur Augenblicke nach dem Jawort scheint alles in Scherben zu liegen. Rob verbirgt eine entsetzliche Vergangenheit. Je mehr Ellie erfährt, desto tiefer wird sie in einen Strudel aus Lügen und Verrat gezogen, der ihrer beider Leben bedroht. Wer ist der Mann, den sie geheiratet hat? Und wie weit will sie gehen, um ihre Liebe zu retten? Denn Rob ahnt nicht, dass auch sie nicht ehrlich zu ihm war …

Die Autorin:

Nina Sadowsky, geboren in New York, war einige Jahre Vorsitzende einer Produktionsfirma und unterrichtet heute in Los Angeles Skriptentwicklung und Filmproduktion. Sie hat bereits zahlreiche Drehbücher geschrieben und Filme produziert und legt nun mit Be My Girl ihr packendes Thrillerdebüt vor. Sie ist verheiratet und hat vier Kinder.

Nina Sadowsky

BE MY GIRL

Psychothriller

Aus dem Amerikanischen von Andrea Brandl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Just Fall« bei Ballantine Books, New York.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2016 by Nina Sadowsky

This translation is published by arrangement with Ballantine Books,

an Imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Penguin Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Cornelia Niere, München

Covermotive: Shutterstock / Galina Tcivina, Shutterstock / Oksana Mizina

Redaktion: Melike Karamustafa

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-18456-8V002

www.penguin-verlag.de

G. H. gewidmet

Meine liebste Ellie,

es tut mir so unendlich leid.

Bitte folge genau den Anweisungen in diesem Brief. Ich hoffe inbrünstig, dass dann alles gut wird.

Du bist meine große Liebe und wirst es auch immer bleiben, das musst du mir glauben.

Du bist mein Ein und Alles.

Rob

HEUTE

Der Duft von Salz liegt in der Luft, dazu ein widerwärtig süßer Geruch nach Alkohol, Zucker und Früchten, die zu lange in der Sonne gelegen haben. Die Sonne scheint orange, der Himmel ist babyblau, der Sand puderfein. Azurfarbene Wellen schlagen verträumt ans Ufer.

Das fragliche Zimmer befindet sich im zweiten, obersten Stock des Hotels. Das Gebäude ist lang und schmal. Die Zimmer sind versetzt angeordnet, um einen optimalen Blick aufs Meer zu ermöglichen. Sie sind geräumig, alle mit eigener Terrasse oder Garten. Die gläsernen Schiebetüren sind mit weißen Holzjalousien versehen, für den Fall, dass man dringend ein Nachmittagsschläfchen halten oder eine Nummer schieben möchte.

Am paradiesischen Strand aalen sich verschiedenste Exemplare der menschlichen Spezies: blass, goldbraun, krebsrot, ledrig, mager, mollig, fett, feist, schlank, schlaksig. Sie lesen, schlafen, sabbeln, planschen, schwimmen, segeln, schmusen, schnarchen, schlürfen, flirten. Kellner wieseln herum, bringen Speisekarten, Cocktails, Handtücher und Sonnencreme, stellen Strohschirme auf, schaffen neue Liegen herbei. Man kann sich wahrlich glücklich schätzen, so viel Luxus genießen zu dürfen.

Draußen, unter besagtem Zimmer, spielen ein paar durchtrainierte junge Kerle am Ufer Fußball. Sie rufen und johlen, die warme Luft trägt ihr Gelächter herüber.

Auf dem Balkon des Zimmers steht eine Frau und sieht den Männern zu. Die Frau – sie ist blond und zierlich – lehnt sich heraus, die Arme auf die Brüstung gestützt. Ein Schatten fällt über die obere Hälfte ihres Gesichts, sodass man ihre Augen nicht erkennen kann. Sie beugt sich noch ein wenig vor, um das Spiel besser verfolgen zu können. Ihr Teint ist blass, ihre Wangen sind jedoch leicht gerötet. Sie öffnet die vollen Lippen, als einer der Männer nach dem Ball hechtet. Sein athletischer Körper beschreibt einen Bogen in der Luft, ehe er hart auf dem Sand aufschlägt. Er gibt ein theatralisches Stöhnen von sich und springt lachend wieder auf.

Die Blonde zieht sich ins Zimmer zurück.

Auf dem weichen, weiß bezogenen Bett hinter ihr liegt ein Mann, die Beine von sich gestreckt. Er ist offensichtlich betrunken. Sein rechter Arm ist angewinkelt und ruht auf seiner Stirn. Ein zerknittertes Laken bedeckt seinen nackten, reglosen Körper. Auf den ersten Blick wirkt er topfit, kerngesund. Er hat kräftige Beine und tiefbraune Unterschenkel. Ein physischer Typ in Shorts, der viel Zeit an der frischen Luft verbringt – breite Schultern, muskelbepackte Arme. Sein linker Arm ist lang ausgestreckt, die Finger offen und entspannt.

In was für einer Beziehung stehen die beiden zueinander? Raten wir doch einfach mal. Haben sie sich vielleicht hier kennengelernt? Handelt es sich womöglich um einen heißen anonymen Urlaubsflirt? Nun ja, wer weiß … Aber irgendwie sehen sie nicht danach aus. Vielleicht ein frisch verheiratetes Paar, das nach den ausschweifenden Hochzeitsfeierlichkeiten endlich allein ist? Das sich vielleicht unter vielen Tränen und voll bitterer Enttäuschung bis zum Exzess gestritten, an seiner Liebe gezündelt hat, im instinktiven Wissen, dass eine Ehe ohnehin zum Scheitern verurteilt ist? Halten Sie das nicht für zynisch. Ein gesunder Pragmatismus ist tatsächlich sogar romantisch. Sind sie vielleicht schon seit einer Ewigkeit befreundet, haben ein paar Mojitos zu viel getrunken und es hinterher zutiefst bereut? Oder haben sie ihre Ehepartner hintergangen, aber dabei herausgefunden, dass sich zügelloser Sex und schlechtes Gewissen manchmal schlecht vertragen? Wäre es gar möglich, dass es sich um eine Nutte und ihren Freier handelt – Sex als Transaktion ohne Herz und Gefühl?

Werfen wir mal einen genaueren Blick auf die beiden.

Die Blonde liefert wenig Anhaltspunkte. Ihr Gesichtsausdruck gibt nichts preis, ihr makelloser Körper ist völlig entspannt. Gut, da ist diese leichte Rötung auf ihren Wangen. Sonnenbrand vielleicht? Fieber? Aber eins fällt doch auf: Ihr Blick schweift in alle möglichen Richtungen, nur dem Mann auf dem Bett schenkt sie nicht die geringste Beachtung.

Auf der Kommode stehen zwei Weingläser, das eine leer, das andere voll, auf dem Boden eine Weinflasche. Auf der Nachttischkante schwelt ein Joint vor sich hin, die heiße Asche brennt sich ins Holz, obwohl ein Schild an der Wand besagt, dass es sich um ein Nichtraucherzimmer handelt. Klar: Hier hat eine Art Party stattgefunden. Vielleicht ist sie immer noch im Gang.

Die Blonde geht zum Nachttisch und betrachtet den Joint. Dann läuft sie weiter ins Bad, wirft ihn in die Kloschüssel und drückt die Spülung. Anschließend reibt sie mit dem Daumen über die Stelle, wo sich die Glut eingebrannt hat. Sie nimmt die Weinflasche vom Boden, schüttet die letzten Tropfen ins Waschbecken und spült die Flasche aus. Mit den beiden Gläsern verfährt sie ebenso. Dann tritt sie ans Bett. Sie muss Gewissheit haben.

Sie nimmt das Gesicht des Mannes in Augenschein. Eine von der Sonne gebleichte Haarsträhne klebt auf seiner Stirn. Er sieht aus, als würde er schlafen. Ihr Blick schweift zu seinem Bauch. Ist das Blut? Zweifellos. Davon abgesehen gibt es keinerlei Spuren von Gewalt. Nur die klebrig-rote Blüte, die sich auf dem Laken abzeichnet. Und das Messer, das in seinem Bauch steckt.

Tja, das ändert so einiges. Ein Unfall? Ein Streit, der aus dem Ruder gelaufen ist? Kaltblütiger Mord? Oder Notwehr? Was ist hier passiert? Lauter Fragen, keine Antworten. Hat sie den Mann auf dem Bett erstochen?

Sie ist zierlich, doch ihr junger, geschmeidiger Körper strahlt Selbstvertrauen aus. Sie weiß, dass ihr so schnell keiner etwas kann. Trotzdem wirkt sie beileibe nicht, als könne sie es mit so einem Hünen aufnehmen. Keinerlei Blutspuren verunzieren ihren limonengrünen Bikini oder das weiße Strandhemd, das ihren Körper perfekt umschmeichelt. Was für ihre Unschuld sprechen könnte. Aber was macht sie dann hier? Was geht in ihr vor?

Sie zieht sich die dünne Bluse über den Kopf, wickelt sie um eine Hand und macht sich daran, alle Spuren zu entfernen. Sie wischt das Telefon ab, den Tisch, die Ledermappe mit den Serviceangeboten des Hotels, reinigt das Waschbecken und die Dusche, nimmt sich die Weingläser, die Flasche, die Bettpfosten, die Spiegel vor, gründlich und systematisch. Natürlich vergisst sie auch nicht den Griff des Messers, das aus dem Bauch des Mannes ragt, sorgfältig darauf bedacht, nicht mit dem Blut in Berührung zu kommen.

Auf ihrer Miene spiegelt sich keine Wut. Keine Angst. Keine Trauer, kein Schmerz. Resignation vielleicht? Kalkül? Bestürzung? Oder alles zusammen?

Ein Schauder durchzuckt sie wie ein Stromschlag, als ihr eins ihrer langen blonden Haare neben dem fahlen Gesicht des Mannes ins Auge sticht. Sie nimmt es zwischen zwei spitze Finger, trägt es auf den Balkon hinaus und lässt es vom Wind davontragen. Am Horizont sind zwei verspielte Delfine aufgetaucht und vollführen einen Sprung nach dem anderen – ein Sinnbild von Anmut und Freiheit, das sie schmerzhaft daran erinnert, wie unfrei sie ist. Sie verzieht das Gesicht. Als sie sich abwendet, um wieder ins Zimmer zu gehen, hört sich das Gejohle der jungen Kerle am Ufer einen Moment lang an, als würden sie sich über ihre Situation lustig machen.

Sorgfältig breitet sie ein Badetuch über den einzigen Sessel im Zimmer, ein großes Polsterungetüm mit marineblauem Bezug. Sie setzt sich, zieht die Knie an die Brust und schlingt die Arme darum. Durch das Fenster sieht sie ein Stück Himmel, Meer und perlmuttfarbenen Sand. Doch sie schließt die Augen. Der Ausblick ist spektakulär. Türkisfarben schimmert der Ozean, und sie weiß, wie wunderschön bunt die Fische und Pflanzen unter der Oberfläche sind. Sie war nicht schwimmen, hat auch nicht geschnorchelt. Sie weiß es nicht aus eigener Erfahrung, sondern weil sie sich vorher im Internet über die Insel schlaugemacht hat. Zumindest könnte sie all der Schönheit da draußen einen Blick schenken. Aber dazu müsste sie die Augen öffnen, und das wiederum hieße, erneut den Toten mit dem Messer im Bauch vor sich zu sehen, all das Blut, das sich weiter um ihn ausbreitet. Nein, sie muss jetzt ausharren. Ruhe und einen kühlen Kopf bewahren. Jede Faser ihres Körpers ist zum Zerreißen gespannt, und am liebsten würde sie sich sofort aus dem Staub machen. Aber jetzt gibt es nur eins: warten.

DAMALS

Ellie saß still und stoisch da, während der Friseur ihr langes blondes Haar zu einem eleganten Chignon frisierte. Viel Aufhebens um ihre Person war ihr normalerweise ein Gräuel, doch obwohl sie sich einerseits ein bisschen unwohl fühlte, war es andererseits ein tolles Gefühl, für einen großen Tag in eine Prinzessin verwandelt zu werden.

Franco, ihr Hairstylist, machte seiner Zunft alle Ehre, während er fröhlich vor sich hin plapperte: »Wirklich umwerfend nette Leute, langjährige Kunden von mir. Nach der Hochzeit müssen Sie und Rob unbedingt mal mit mir zu ihnen rauskommen – ihre Jacht ist der Wahnsinn. Echt superschick!«

Ellie murmelte irgendetwas Unverbindliches, während sie sich im Spiegel betrachtete. Sie war makellos hergerichtet, perfekt geschminkt. Ihr Blick glitt über ihre nackten, sahnig weißen Schultern und über die mit Perlen besetzte Spitzenkorsage ihres Hochzeitskleids. Sie sah schlicht hinreißend aus, wenn auch auf etwas kühle Art und Weise. Mit derartigen Blondinen hatte Hitchcock seine Filme besetzt. Mrs. Robert Beauman, dachte sie, ohne die Worte laut auszusprechen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und plötzlich wurde ihr ganz warm, was ihre Schönheit noch betonte.

Franco bemerkte es sofort und hielt inne. »Endlich sieht man Ihr wahres Ich, Süße! Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Eine Hochzeit ist doch kein Trauerspiel!«

Im selben Moment platzten Ellies Brautjungfern, Tara und Collette, mit einer Flasche Champagner und Gläsern herein. »Lass uns erst mal anstoßen«, sagte Tara. »Du siehst wirklich bezaubernd aus!«

Ellie musterte ihre Freundinnen, beide wahnsinnig elegant in ihren lavendelfarbenen Seidenkleidern. »Ihr auch!«

»Ich habe schon mal einen kleinen Blick in den Saal riskiert«, sagte Collette. »Die Gäste treten sich schon gegenseitig auf die Füße. Eure Hochzeit ist echt der Renner.«

»Bist du nervös?«, fragte Tara.

»Warum sollte sie nervös sein?«, warf Franco ein. »Die beiden sind wie füreinander geschaffen.«

»Ich bin nicht nervös«, sagte Ellie. »Aber ›wie füreinander geschaffen‹ ist doch auch bloß eins von diesen schrecklichen Klischees. Jede Wette, dass wir dieselben Krisen durchmachen müssen wie andere Paare auch.«

»Also bitte!« Collette lachte ausgelassen. »Bewahre dir wenigstens einen kleinen Rest Romantik, bis dein Hochzeitstag vorbei ist, okay?«

»Collette hat recht«, sagte Tara. »Für Zynismus ist nach dem Empfang immer noch Zeit. Und jetzt trinken wir erst mal ein Gläschen Schampus.«

»Na schön, ihr habt gewonnen.« Ellie lachte. »Also, auf meinen künftigen Ehemann – Traumprinz, Superman und dunkler Ritter in einer Person. Lasst uns ein letztes Mal an Märchen glauben.«

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass der Prinz im Märchen ein völlig unbeschriebenes Blatt ist?«, fragte Tara, während sie vier Gläser einschenkte.

»Und Superman und Batman haben eine tragische Vergangenheit«, ergänzte Collette. »Kein Wunder, dass sich beide mit einem Vaterkomplex herumschlagen.«

Ellie lachte wieder. »Und ihr bezeichnet mich als unromantisch?«

Sie stießen an und nippten am Champagner. Dann stellte Ellie ihr Glas ab, damit Franco letzte Hand an ihre Frisur legen konnte.

Der leise Anflug eines Zweifels regte sich in ihrem Innern. Eigentlich hätte sie vor Freude strahlen müssen. Wo war ihr romantischer Idealismus abgeblieben? Oder war ihre plötzliche Skepsis ganz normal? Schließlich traf sie eine Entscheidung fürs Leben, und das in Zeiten, wo Scheidungen quasi an der Tagesordnung waren. Eigentlich kannten sie und Rob sich ja auch noch gar nicht so lange, und angesichts ihrer Vergangenheit …

Doch dann klopfte ihr Vater an und steckte den Kopf zur Tür herein. Ellie betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel, während Tara und Collette ihr Hochzeitskleid zurechtzupften. Ihre Mutter klaubte einen unsichtbaren Faden von Ellies Schulter und tupfte sich die Augen.

Showtime. Ellie verdrängte ihre Ängste und zauberte ein unwiderstehliches Lächeln auf ihr Gesicht.

Später erinnerte sie sich, wie sie um ein Haar gestolpert wäre, als sich einer ihrer hohen Absätze in ihrem Kleid verfangen hatte. Ihr Vater hatte sie gestützt und aufmunternd ihren Arm gedrückt. Sie erinnerte sich an Robs zärtlichen Blick, als er ihr den Ring angesteckt hatte, an die strahlenden Gesichter ihrer Freunde und Verwandten, nachdem der Friedensrichter sie zu Mann und Frau erklärt hatte, und daran, wie Rob und sie überglücklich den Mittelgang entlanggeschritten waren. Sie hatte erwartet, dass der Abend wie im Flug vergehen würde. Alle hatten ihr versichert, dass das bei Hochzeiten eben so war. Deshalb war sie auch nicht auf den einen Satz gefasst gewesen, der ihre Welt von einer Sekunde auf die andere zum Einsturz brachte, diesen einen Satz, der alle kommenden Ereignisse überschatten und ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellen sollte.

Sie waren allein. Ganz unter sich, Braut und Bräutigam, Mann und Frau. Die Hochzeitsplanerin hatte ihnen eine Viertelstunde zu zweit gewährt, ehe sie sich im Gästegetümmel unweigerlich aus den Augen verlieren würden. Eine kleine private Atempause, Küsse, zarte Berührungen und sanfte Liebesschwüre, bevor das rauschende Fest losging.

Robs Geständnis kam aus heiterem Himmel. Es war geradezu bizarr, und ihr lief augenblicklich ein kalter Schauder über den Rücken. Sie konnte nicht fassen, wie beiläufig er die ungeheuerlichen Worte aussprach. Dabei packte er sie an den Handgelenken, zwang sie, ihm in die Augen zu blicken. Nie zuvor hatte er so angespannt geklungen, so nervös ausgesehen.

Doch noch bevor sie sich von ihrem Schock erholen konnte – während sie sich fragte, ob das vielleicht ein kranker Witz gewesen war (aber warum sollte jemand über so etwas Witze machen?) –, war ihr privater Moment auch schon wieder vorbei. Die Gäste warteten. Sie hörten den Trommelwirbel, das Zeichen, dass die Party losging. Tara und Collette schwangen die Türen auf.

Rob ergriff Ellies Hand, hauchte einen Kuss auf ihre Lippen und riss triumphierend ihre Arme hoch. Es war ihr erster großer Auftritt als Mr. und Mrs. Robert Beauman.

»Was hast du gemeint?«, fragte Ellie im Flüsterton, während donnernder Applaus um sie herum aufbrandete. »Ich verstehe das nicht. Das ist doch nicht …«

Rob legte einen Zeigefinger an die Lippen. »Später.« Er lächelte, sie lächelte unsicher zurück, und dann befanden sie sich auch schon mitten im Gedränge.

Die Hochzeitsparty hatte begonnen. Ellie schüttelte Hände, verteilte Wangenküsse, überspielte mit großem Bohei, dass ihr beim besten Willen der Name von einem von Robs Kollegen nicht mehr einfallen wollte, obwohl sie ihm schon mindestens ein halbes Dutzend Mal begegnet war, und nahm im Blitzlichtgewitter des Hochzeitsfotografen Glückwünsche entgegen. Kanapees wurden gereicht. Ellie wirbelte durch das Getümmel, vorangetrieben von Liebe, Glück, Pflichtgefühl, Freundschaft, Champagner und Küssen. Sie verdrängte die Verwirrung, die abscheulichen Dinge, die sie aus Robs Mund gehört hatte. Nein. Das konnte einfach nicht wahr sein. Sie hatten ihre Hochzeit gemeinsam geplant, sich dabei nicht einmal in die Haare gekriegt. Eigentlich hatten sie überhaupt noch nie richtig gestritten. Sie kannte ihn. Er war der Mann ihres Lebens, sie liebte ihn genauso wie er sie.

Sie tanzten den Hochzeitswalzer und küssten sich, als ihr Lied verklang. Dann wurde Ellie von ihrer Cousine Andrea in Beschlag genommen und trank noch mehr Champagner. Und einen Tequila auf die alten Zeiten. Doch später, als sie sich mit ihrer nervtötenden Tante Sonia unterhielt (nun ja, im Grunde redete nur Sonia auf ihre unnachahmlich langatmige Art und Weise, was Ellie immerhin Gelegenheit gab, einen Moment ihren eigenen Gedanken nachzuhängen), kam ihr eine alte Redensart in den Sinn: Zuschön,umwahrzusein. Und genauso war es bis jetzt mit Rob gewesen. Zu schön, um … Aber sie liebte ihn doch. Ja, ihre Zweifel waren lächerlich. Er hatte bloß einen dämlichen Witz gemacht, den Bogen überspannt. Wie konnte sie sich nur so ins Bockshorn jagen lassen?

Aus dem Augenwinkel erspähte Ellie ihre Freundin Marcy Clark. »Entschuldige mich bitte«, sagte sie zu ihrer Tante. »Ich muss mich unbedingt noch bedanken bei …«

Sonia entließ sie mit einer knappen Handbewegung, und Ellie gesellte sich zu ihrer Freundin. »Wie schön, dass du gekommen bist. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.«

Sie umarmten sich. Ellies blütenweißes Hochzeitskleid bildete einen scharfen Kontrast zu Marcys maßgeschneidertem schwarzem Etuikleid – schicker konnte eine junge Witwe wahrlich nicht aussehen. Einen Moment lang waren ihre Gesichter hinter Ellies Schleier verborgen, während sie einander umschlungen hielten.

»Ich hoffe, du siehst es mir nach, wenn ich irgendwann gehe, ohne mich zu verabschieden«, sagte Marcy.

»Aber natürlich.« Ellie befürchtete, gleich weinen zu müssen. »Ich spüre, dass Ethan im Geiste bei uns ist.«

Marcys Augen schimmerten ebenfalls feucht, doch dann lächelte sie und wischte erst Ellies, dann ihre eigenen Tränen fort. »Verlass dich drauf. Und jetzt wird gefeiert, Süße. Heute ist dein Hochzeitstag.«

Sekunden später war die Hochzeitsplanerin erneut zur Stelle – die Torte müsse angeschnitten werden. Was zum nächsten Blitzlichtgewitter führte. Rob und Ellie steckten sich gegenseitig Sahnehäppchen in den Mund. Noch ein kurzer zuckriger Kuss, dann wurde die Torte für die Gäste freigegeben.

Und schließlich war da noch die Sache mit ihrer Mutter. Immer musste sie ihr verdammtes Gift verspritzen. Obwohl sie all das x-mal erlebt hatte, war Ellie gekränkt. Gott sei Dank würden Rob und sie bald allein sein. Sie musste frische Luft schnappen, sehnte sich nach der starken Schulter ihres Mannes. Da sie ihn nirgends entdecken konnte, ging sie nach draußen in den Garten des Hotels – wo ihre Welt endgültig aus den Fugen geriet.

HEUTE

Die Blonde – und ja, es ist Ellie – sitzt nach wie vor in dem großen Polstersessel, die Arme um die Knie geschlungen. Das Licht ist matter geworden und fällt in einem anderen Winkel durch das Fenster, die Brandung klingt lauter. Ellie stößt einen tiefen Seufzer aus, streckt die Arme und steht auf. Sie lässt den Blick durch das Hotelzimmer schweifen, ehe sie die Leiche auf dem Bett ins Auge fasst. So viel steht fest: Es ist nicht Rob, ihr Ehemann.

Leise geht Ellie ins Badezimmer. Dort öffnet sie ein geblümtes Kosmetiktäschchen, kramt zwischen Sonnencreme, Lippenbalsam und Zahnpasta und zieht schließlich eine Puderdose heraus. Sie lässt sie aufschnappen und drückt auf einen kleinen Knopf, worauf ein zweites Fach mit einer Puderquaste zum Vorschein kommt. Darunter hat sie eine Rasierklinge versteckt.

Ellie geht zum Bett. Einen Moment lang verharrt ihr Blick auf der Leiche, dem geronnenen Blutfleck auf dem Bauch des Mannes. Sie hat lange genug gewartet. Sie strafft die Schultern, holt tief Luft. Dann trennt sie mit sicherer Hand die Unterlippe des Toten ab. Es fließt erstaunlich wenig Blut. Und genau deshalb hat sie sich Zeit gelassen. Sie legt die abgetrennte Lippe sorgfältig zwischen zwei Papiertaschentücher, die sie wiederum mit einem Stück Plastikfolie umwickelt. Aus ihrer bunt gestreiften Strandtasche nimmt sie einen gepolsterten Umschlag, in dem sie den akkurat verpackten Körperteil verstaut. Sie steckt das Kuvert in die Tasche zurück. Sie zittert am ganzen Körper. Plötzlich wird ihr schwindelig. Sie lässt die Tasche fallen und presst eine Hand gegen die Wand. Einen Moment lang bleibt sie so stehen, atmet möglichst ruhig ein und aus. Ihr Blick fällt auf die Strandtasche. Es ist erledigt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sie starrt auf die Finger, mit denen sie sich an der Wand abstützt, und zieht sie so abrupt zurück, als sei sie von einer Tarantel gestochen worden. Sie holt das Badetuch vom Sessel und reibt ihre Fingerabdrücke ab. Dann nimmt sie sich noch einmal das gesamte Zimmer vor, wischt über alle Flächen, die sie berührt hat oder berührt haben könnte. Sie will keine Spuren hinterlassen, doch ein bisschen wirkt es, als würde sie vor dem nächsten Schritt zurückschrecken.

Schließlich greift sie sich die Strandtasche, inspiziert kurz den Inhalt, ehe sie ihr Kosmetiktäschchen hineinwirft und den gepolsterten Umschlag unter den anderen Sachen versteckt. Zu guter Letzt legt sie das Badetuch obenauf. Sie zieht ihr Strandhemd über und säubert mit dem Saum des Ärmels noch einmal penibel den Türknauf, ehe sie das Zimmer verlässt. Vorsichtig späht sie auf den Gang hinaus – niemand zu sehen. Sie hängt das Ne pas déranger-Schild raus und macht sich auf den Weg zum Aufzug, ohne sich noch einmal umzusehen.

Das Foyer des Hotels Grand Sucre ist riesig und hell. Die offenen Türen gehen hinaus auf die Zufahrt, hinter der sich der Strand, das Meer und die Klippen in der Ferne erstrecken – ein atemberaubender Ausblick. Durch ein gewölbtes Oberlicht ergießt sich schimmerndes Licht auf das Prunkstück der Lobby, einen künstlich angelegten Felsenteich inklusive Wasserfall und einer ganzen Reihe von trägen Schildkröten. Am Empfang checken gerade ein paar müde Neuankömmlinge ein. Eine der Rezeptionistinnen erklärt einer Familie, wo die besten Tauchreviere liegen, zeigt ihnen auf einer Karte, wo man die schönsten Korallenriffs und die buntesten Fische findet. Die Pagen kümmern sich wie immer um das Gepäck der Gäste. Überdrehte Kinder rennen kreischend umher, trunken von Sommer, Sonne und dem Hauch des Abenteuers, der in der Luft zu liegen scheint.

Ellie durchquert das Foyer erhobenen Hauptes – ganz selbstbewusste Frau, die weiß, was sie will. Sie blinzelt, als sie ins grelle Licht des Nachmittags hinaustritt. Niemand schenkt ihr Beachtung. Im selben Augenblick erspäht sie ein Cabrio mit laufendem Motor, die Schlüssel stecken. Sekunden später sitzt sie hinter dem Steuer und fährt los, ehe einer der Mitarbeiter vom Hotel-Parkdienst sie bemerkt. Ihr Herzklopfen aber lässt erst nach, als sie die Küstenstraße erreicht. Ihre Schultern sacken herunter. Und mit einem Mal kann sie sich nicht länger beherrschen und beginnt zu weinen. Aber jetzt ist keine Zeit für Gefühlsausbrüche. Ärgerlich wischt sie die Tränen fort. Einen winzigen Augenblick lang ist sie abgelenkt, nimmt die nächste Kurve eine Idee zu schnell, sieht den Laster vor sich einen Sekundenbruchteil zu spät, und im selben Moment fällt eine Bananenstaude von der Ladefläche, geradewegs vor den Kühler ihres Cabrios. Beim Ausweichmanöver gerät der Wagen ins Schlingern, und es klingt, als sei sie in einen Metallschredder geraten, als sie mit der Fahrerseite an der Felswand links von ihr entlangschrammt. Sie tritt auf die Bremse. Der Wagen schlittert über die Mittellinie, doch dann kann sie in letzter Sekunde gegenlenken und kommt mit kreischenden Reifen zum Stehen.

Völlig außer Atem blickt sie sich gehetzt um, ehe ihr klar wird, dass die Gefahr vorbei ist. Die Bananen befinden sich irgendwo hinter ihr, der Lastwagen ist längst verschwunden, kein anderes Auto ist in Sicht. Fassungslos stützt sie den Kopf in die Hände. Ironie des Schicksals nennt man das wohl. So weit ist sie gekommen, hat Dinge getan, die sie sich nicht mal im Traum hätte vorstellen können. Und nun hätte es sie um ein Haar erwischt. Aus heiterem Himmel. Einfach so.

DAMALS

Luft. Sie brauchte dringend frische Luft. Und eine kleine Pause von all dem Hochzeitstrubel, den Drinks, den Freudentränen, den Küsschen, der Musik. Und vor allem eine Auszeit von ihrer Mutter, ja, ganz besonders von ihr.

Wo steckte Rob nur? Ellie ließ den Blick über die Tanzfläche schweifen, doch er war nirgendwo zu sehen. Sie mussten unbedingt miteinander reden. Was er ihr erzählt hatte, konnte doch bloß ein Witz gewesen sein. Ein fieser Spaß, um ihr durch die Blume zu sagen, dass man eben in guten wie in schlechten Zeiten zusammenstehen musste. Gleichzeitig aber fielen ihr plötzlich all die seltsamen Anrufe wieder ein, wie oft er sie versetzt hatte, weil ihm wieder mal ein plötzlicher »Termin« dazwischengekommen war. Sie versuchte die irritierenden Gedanken beiseitezuschieben, drängte sich vorbei an allen möglichen Gratulanten, nahm weitere Küsschen und Komplimente entgegen, während sie nach Rob Ausschau hielt. Jede Wette, dass er heimlich eine Zigarette rauchen gegangen ist, dachte sie. Von wegen, er hat aufgehört, der Mistkerl. Was noch eine andere Frage aufwarf, die sie sich lieber nicht gestellt hätte: Was für Lügen hat er mir sonst noch aufgetischt? Sie runzelte die Stirn, verwarf den Gedanken aber wieder. Schließlich war Rob der Mann, den sie liebte, ihr Ehemann. »Mein Mann.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie die Worte laut aussprach. Sie musste ihm einfach nur vertrauen – schließlich war das auch Teil des Ehegelübdes, das sie erst vor ein paar Stunden abgelegt hatte. Ja, er hatte bloß einen blöden Witz gemacht.

Ellie trat in den kleinen Garten des Hotels hinaus und sog tief die kühle Luft ein. Das Gelächter und die Musik verklangen, als die Tür hinter ihr zufiel. Hier draußen war es wunderschön. Es duftete nach Blumen, ein Springbrunnen plätscherte leise vor sich hin. Doch im selben Moment zerfetzte ein dumpfes Geräusch die fragile Membran der Stille. Dann drang dasselbe Geräusch erneut an ihre Ohren, gefolgt von einem unterdrückten Schmerzenslaut. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken. Ihr Instinkt riet ihr, schleunigst die Beine in die Hand zu nehmen. Trotzdem bewegte sie sich zögernd vorwärts, hob den weit schwingenden Rock ihres Hochzeitskleids und hielt den Atem an. Vorsichtig spähte sie hinter einer Hortensie hervor, deren bläuliche Blüten im Dunkeln einen fast violetten Schimmer angenommen hatten. Sie unterdrückte ein Keuchen, verbarg sich wieder hinter dem Busch, ehe sie erneut einen verstohlenen Blick riskierte.

Rob lag auf dem Boden. Sein Jackett war zerrissen, und er blutete aus der Nase. Über ihm standen zwei Männer. Der eine hielt eine Pistole in der Hand, der andere ein Messer. Das Licht brach sich in der gekrümmten Klinge. Ellie erstarrte.

Der größere der beiden Männer – ein hochgewachsener, hagerer Typ – richtete das Wort an Rob: »Hast du ernsthaft geglaubt, dass du so einfach aus der Nummer rauskommst?«

Der andere, ein eher gedrungener Bursche, zog Rob auf die Füße.

In dem Moment, als Ellie irgendetwas tun wollte, völlig egal, was – losrennen, um Hilfe schreien –, hatte Rob sie entdeckt und bedeutete ihr mit einer kaum wahrnehmbaren Geste, still zu sein. Dann formte er unhörbar zwei Worte mit den Lippen: »Hau ab!«

Der untersetzte Typ verpasste ihm einen Faustschlag in den Magen. Rob taumelte zurück, stolperte ein paar Schritte und sprintete dann urplötzlich los, auf das andere Ende des Gartens zu.

Ellie war intuitiv klar, dass er sie zu schützen versuchte, die beiden Kerle von ihr weglotsen wollte. Sie wirbelte herum und rannte zum Hotel zurück. Zuerst bekam sie die Klinke nicht zu fassen, und sie griff auch noch ein zweites Mal daneben, ehe es ihr endlich gelang, die Tür aufzureißen. Ihr Atem kam stoßweise, das Herz schlug ihr bis zum Hals, und in ihren Ohren rauschte das Blut. Sie fühlte sich, als würde sie ertrinken, bis sie endlich durch die Oberfläche brach und aus vollem Halse schrie: »Hilfe! Hilfe! Jemand muss uns helfen! Oh Gott, so helft uns doch!«

HEUTE

Ellies Tränen sind versiegt. Sie ist zu allem entschlossen. Sie stellt das zerschrammte und verbeulte Cabrio auf dem überfüllten Parkplatz eines Dollar General Store ab, setzt ihre Sonnenbrille auf, steigt aus dem Wagen und betritt den Laden. Sie nimmt sich ein orangefarbenes Plastikkörbchen. Ihre Sandaletten schlappen über den Boden, während sie gemächlich durch die Gänge streift. Sie kauft ganz in Ruhe ein: einen knalligroten Lippenstift, Haarfärbemittel (braun), einen dünnen Schal, ein Set Kunstnägel mit Glitzersteinchen (bling!), einen billigen Sarong aus Viskose, eine Sonnenbrille mit riesigen Gläsern und weißen Zink-Sunblocker.

Dann geht sie in die kleine Werkzeugabteilung hinüber. Und plötzlich überkommt sie die Erinnerung, als würde sie von einem Schwall Eiswasser getroffen: Sie und Rob waren gerade zusammengezogen, sehr euphorisch, aber auch ein wenig beklommen, dass sie tatsächlich den nächsten Beziehungsschritt gewagt hatten. Einerseits hatten sie viel zusammen gelacht und ohne Ende gevögelt, andererseits waren da die peinlichen Momente gewesen, wenn einer von ihnen ohne Vorwarnung ins Bad geplatzt war. Rob hatte versehentlich einen ihrer wertvollen antiken Flakons zu Bruch gehen lassen, und sie hatte seinen über alles geliebten Kaschmirpullover in die Waschmaschine gesteckt, statt ihn in die Reinigung zu geben. An einem Sonntag hatte Rob seinen Werkzeugkasten aus dem Keller geholt, einen robusten grünen Metallkoffer mit einem gut sortierten und perfekt in Schuss gehaltenen Sortiment aller möglichen Geräte: Hammer und Schraubenzieher, Zangen und Ringschlüssel, Sägen und Schmirgelpapier, Nägel, Schrauben, Bolzen. Den Nachmittag verbrachten sie damit, Bilder aufzuhängen, Dübel einzusetzen, Haken einzudrehen und einen Schuhkipper an der Wand zu befestigen. Rob war ein begnadeter Heimwerker, und Ellie assistierte ihm, so gut es ging. Sie ergänzten sich prächtig, und allmählich fanden sie in einen gemeinsamen Rhythmus. Überwanden ihre Fremdheit. Die Befangenheit verflog. Die Euphorie blieb.

In der Werkzeugabteilung des Dollar General Store verharrt Ellie vor dem Regal mit den Schraubenziehern. Sie sehen allesamt ausgesprochen praktisch aus. Außerdem erinnern sie die Werkzeuge an eine Zeit, als sie sich noch sicher gefühlt hat. Sie nimmt einen aus dem Regal, klopft mit der Spitze leicht gegen ihre Handfläche, legt ihn wieder zurück und entscheidet sich stattdessen für einen Phillips-Schraubendreher mit durchsichtigem rotem Plastikgriff. Ein seltsam süßer Schmerz durchzuckt sie, als sie die Spitze in ihre Haut drückt. Dann wandert das Werkzeug ebenfalls in den Korb.

An der Kasse bezahlt sie in bar, zählt die farbenfrohen ostkaribischen Dollarscheine sorgfältig ab. Sie steigt wieder in den Wagen und fährt los, ihre Einkäufe – ihre Lebensversicherung – in grünen Plastiktüten neben sich auf dem Beifahrersitz. Plötzlich fühlt sie sich im Cabrio wie auf dem Präsentierteller und fährt das Verdeck hoch, dann dreht sie die Klimaanlage auf. Und so setzt sie ihren Weg fort, in einem Kokon aus Motorgeräusch und kühler Luft.

Wenig später hält Ellie unweit des Postamts von Soufrière, einem Dorf an der Südwestküste der Insel. Der dünne Schal, den sie sich wie einen Turban um den Kopf gewickelt hat, verbirgt ihr blondes Haar; die riesigen Gläser der Sonnenbrille verdecken den Großteil ihres Gesichts. Die weiß schimmernden Lippen hat sie mit dem Zink-Sunblocker eingecremt, die künstlichen Fingernägel mit den Glitzersteinchen reflektieren das Licht in alle möglichen Richtungen, als sie aus dem Wagen steigt. Es ist drückend schwül, und einen Moment lang fällt ihr das Atmen schwer. Sie greift in ihre Tasche und kramt den gepolsterten Umschlag hervor. Die Adresse hat sie in anonymer Blockschrift daraufgeschrieben.

Das Dorf macht einen fröhlichen, kunterbunten Eindruck. Die Fassaden der niedrigen Häuser sind königsblau, orangerot, knallrosa oder lavendelfarben gestrichen, auch wenn viele Gebäude schon bessere Zeiten gesehen haben. Das Postamt, grau, massiv und gepflegt, bildet die große Ausnahme. Als Ellie die Straße überquert, blockiert ihr ein Rudel streunender Hunde mit hoch erhobenen Schwänzen und Schnauzen den Weg. Sie hecheln, schnüffeln, wollen etwas zu fressen ergattern. Sie wirken gutmütig, doch sie hält trotzdem einen Augenblick lang inne, weil es so viele sind. Sie zählt die Köter durch, während sie an ihr vorbeitrotten. Elf insgesamt. Eine verlotterte Hundefamilie. Plötzlich fühlt sie sich einsam, mutterseelenallein.

Sie ruft sich die Notiz ins Gedächtnis, die sie geschrieben hat: Sie kennen mich nicht, und ich kenne Sie nicht. Aber Rob hat mir gesagt, dass Sie der Einzige sind, auf den wir jetzt noch zählen können.

Hilf mir, Obi-Wan Kenobi. Sie ist drauf und dran, laut loszukichern, reißt sich dann aber zusammen. Hysterie war noch nie ein guter Verbündeter.

Sie betritt das Postamt. Drinnen ist es dunkel. An der Decke quirlt ein Ventilator die schwüle Luft. Die Frau hinter dem Tresen – pechschwarze Haut, tausend Rastazöpfchen, zum Teil orange gefärbt, lange, mit Zebramuster lackierte Krallennägel – sieht desinteressiert auf. Weder Ellies hinter der Sonnenbrille verborgenes Gesicht noch ihre grotesk geschminkten weißen Lippen sind ihr einen zweiten Blick wert, doch dann flackert es in ihren Pupillen, als sie Ellies Fingernägel erspäht. Billiger, geschmackloser und auffälliger geht es nicht. Das nennt man Ablenkungsmanöver. Es kommt eben auf die Kleinigkeiten an. Jene Art Detail, die so ins Auge sticht, dass sich hinterher niemand an irgendwelche anderen Einzelheiten erinnern kann – das hat ihr Rob erklärt, wenn auch unter völlig anderen Umständen und obendrein zu einer Zeit, die Jahrmillionen zurückzuliegen scheint. Während sich Ellies Augen langsam an das trübe Licht gewöhnen, schweifen ihre Gedanken zu jenem Tag, und sie fragt sich, ob er sie womöglich irgendwie auf diesen ganzen Wahnsinn vorbereiten wollte. Sie fröstelt, doch dann strafft sie die Schultern und schreitet zur Tat.

Alles geht ruck, zuck. Zunächst mietet Ellie ein Postfach für einen Monat, zahlt im Voraus und schreibt die Postfachnummer fein säuberlich als Absenderadresse auf die Rückseite des Umschlags. Dann öffnet sie ihr Fach, deponiert dort ein weiteres Kuvert, schließt ab und steckt den Schlüssel in den gepolsterten Umschlag, den sie zuklebt.

Während ihn die Frau hinter dem Tresen auf die Waage legt und Ellie den Preis für die Expresszustellung bezahlt, unterhalten sich die beiden über die Kunst der Nagelpflege. Zwei Fremde, die im Handumdrehen zu Freundinnen geworden sind. Und der Scheck – oder, genauer gesagt, die Lippe – ist so gut wie unterwegs.

DAMALS

Er zielte und drückte ab.

Nichts.

Genervt schüttelte er sein Handgelenk aus und versuchte es noch einmal.

Zap! Ein roter Lichtblitz. Und schon standen zwölf Weingläser von Waterford Kristall auf der Wunschliste.

Rob hielt eine Scanpistole in der Hand. Sie befanden sich in einem Nobelkaufhaus, wo man einen Hochzeitstisch für sie eingerichtet hatte.

»Siehst du, das macht echt Spaß.« Sie lächelte ihn an, und wie immer wurde ihm dabei ganz warm ums Herz. »Oh, sieh dir mal diesen Kerzenständer an. Wahnsinn! Ich wollte schon immer einen mit Meerjungfrauen haben.« Wie eine Elster fühlte sie sich magisch angezogen von allem, was glitzerte und glänzte.

Als Ellie ihre eigene »Pistole« auf den Kerzenständer richtete, fiel sein Blick auf einen Mann in einem schwarzen Anzug. Rob erstarrte. Irgendetwas an dem Kerl kam ihm bekannt vor – dieser seltsam wippende Gang, die leicht bedrohliche Körperhaltung … Rob wandte sich ab, musste husten, als ihm plötzlich Galle in die Kehle stieg. Er eilte zur Rolltreppe. Während er eine Etage tiefer fuhr, schickte er Ellie eine SMS: Stewart hat gerade angerufen. Bin in zehn Minuten zurück.

Quinn war Rob zuletzt in New York über den Weg gelaufen. Da er seit Wochen argwöhnte, dass ihn jemand beschattete, traf ihn sein Anblick zwar nicht völlig unerwartet, aber dennoch wie ein Schock. Sein Instinkt sagte ihm, dass er Quinn von Ellie weglotsen sollte, obwohl ihm nur allzu bewusst war, wie zwecklos das war. Was wusste er? Welche Karten musste Rob ausspielen, welche Hebel in Bewegung setzen, um Ellie zu schützen? Er musste eine Strategie entwickeln, so viel stand fest.

Später saßen sie zusammen im Café des Kaufhauses. Rob, mit dem Rücken zur Wand, ließ immer wieder unauffällig den Blick durch den Raum wandern.

»Schön, dass dein Gespräch so gut gelaufen ist. In der Zwischenzeit habe ich richtig zugeschlagen. Jedenfalls bleibt dir jetzt nichts anderes mehr übrig, als dich mit den Serviettenringen im Kuckucksuhr-Design anzufreunden. Ganz zu schweigen von dem geblümten Teekannenwärmer, dem skandinavischen Käse-Set und dem Soda- Stream.«

»Ernsthaft?«

Eine Art amüsierte Zuneigung spiegelte sich auf ihrer Miene. »Quatsch. Ich habe der Verkäuferin gesagt, dass ich ohne meinen Verlobten keine Entscheidung treffen möchte und wir uns das Ganze erst noch mal durch den Kopf gehen lassen wollen.«

»Und jetzt?«

»Lass uns lieber auf den Hochzeitstisch verzichten. Stattdessen bitten wir um Spenden für die Stiftung.«

Abermals ließ Rob den Blick durch den Raum schweifen, während er sich fragte, ob ihm sein Verstand einen Streich gespielt hatte. Doch selbst wenn es tatsächlich Quinn gewesen war – handelte es sich womöglich um nichts weiter als einen blöden Zufall? Er runzelte die Stirn. Im Leben nicht.

»Rob? Alles okay?«

Er verdrängte den Gedanken wieder. »Entschuldige, ich habe nur gerade über Kerzenständer nachgedacht.« Er lächelte.

Sie lächelte zurück. »So besorgt, wie du gerade ausgesehen hast, kaufen wir lieber keinen. Lass uns nach Hause fahren.«

Noch später saß Ellie rittlings auf ihm. Mit kraftvollen Bewegungen versenkte er sich in ihr, und sie kam ihm rhythmisch entgegen. Ihre Körper waren schweißbedeckt, Ellies Brustwarzen fest und rosa. Rob packte ihre schmalen Hüften und drang tief in sie ein, dann drehte er sie auf den Rücken. Spielerisch glitt er ein Stück aus ihr heraus, aber nur, um gleich wieder mit einem Seufzer der Lust in sie hineinzugleiten. Sie krallte die Nägel in seinen Rücken, und er nahm sie wieder und wieder, bis sie mit einem tiefen, lang gezogenen Schrei kam und er in ihr explodierte. Sie zog ihn fest an sich, während sein Schwanz in ihr pulsierte. Sie bebte am ganzen Körper, vergrub das Gesicht an seiner Schulter.

»Ich liebe dich«, stieß sie heiser hervor.

Er bedeckte ihren Hals mit sanften Küssen. »Und ich dich noch viel, viel mehr«, wisperte er.

HEUTE

Ellie sitzt an der Strandbar eines Hotels, weit vom Grand Sucre entfernt. Vor ihr steht ein typisch tropischer Cocktail, nicht ihr erster am heutigen Abend. Der billige Sarong steht ihr gut, irgendwie sieht er an ihr viel teurer aus. Den dünnen Schal trägt sie nicht länger als Turban, sondern hat ihn zu einem lockeren Kopftuch geschlungen, unter dem ein paar schimmernde blonde Strähnen hervorsehen – zwangloser Chic, präzise kalkuliert. Die Lippen sind nicht mehr weiß, sondern rot geschminkt. Ihre Augen funkeln. Sie hat Wimperntusche aufgetragen, sich nach allen Regeln der Kunst in Schale geworfen. Sie sieht aus wie eine schöne junge Frau, die einen Urlaubstag mit ein paar Drinks an der Bar ausklingen lässt und eventuell nichts gegen ein kleines Abenteuer einzuwenden hätte. Selbstredend nur, wenn es sich auch »lohnt«. Wer auch immer da kommen mag, er muss sie sich erst verdienen. Aus Erfahrung weiß Ellie, dass ein gewisses Maß an Gleichgültigkeit bei Männern ein geradezu erstaunliches Interesse wecken kann. Außerdem weiß sie, was momentan ganz oben auf der Prioritätenliste steht. Zumindest für heute Nacht. Ein Platz, wo sie schlafen kann, ohne ihren Ausweis oder ihre Kreditkarte vorzeigen zu müssen. Sie braucht Anonymität. Und Ruhe. Zeit zum Nachdenken, um verdammt noch mal den Kopf freizukriegen, weil die Polizeigarantiert schon auf der Suche nach der Blonden ist, die eine Leiche in ihrem Hotelzimmer zurückgelassen und sich mit einem gestohlenen Cabrio aus dem Staub gemacht hat. Kurz kommt ihr noch einmal der Wagen in den Sinn, den sie mit laufendem Motor und steckendem Schlüssel in einer Gasse in Soufrière abgestellt hat. Sie hofft, dass er längst gestohlen oder komplett ausgeschlachtet worden ist.

Ellie sieht zu einem Mann am anderen Ende der Bar hinüber. Die Bräune steht ihm gut, seine blauen Augen wirken leicht getrübt von Sonne, Seeluft und Dirty Bananas (Rum, Bananen- und Kaffeelikör). Kein Ehering. Besser noch, nicht einmal der Schatten eines Eherings. Mittlerweile weiß Ellie die einfachen Dinge zu schätzen. Sie erwidert seinen Blick, entknotet ihren Schal und schüttelt ihr seidenweiches blondes Haar aus. Eine kleine Show, nur für ihn. Ihr Lächeln ist echt, auch wenn es keinerlei Interesse an ihm ausdrückt (wie er sich natürlich einbildet). Sie lächelt darüber, wie einfach es ist, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

In den letzten Tagen hat Ellie ganz neue Fähigkeiten entwickelt, aus einem einfachen Grund: Es geht ums pure Überleben. Die Frau, die sich stets als geradlinig, intellektuell, jedenfalls ganz bestimmt nicht als Mädchen verstanden hat, setzt plötzlich auf die Kunst der Verführungstechnik. So kommt man einfach schnellervon A nach B. Erst war sie fast ein bisschen schockiert, wie einfach es funktioniert, schließlich erleichtert, amüsiert, wenn auch ein bisschen verärgert über sich selbst – die Waffen einer Frau hätte sie durchaus ein wenig früher entdecken können. Kurz erinnert sie sich, wie sie den Mann am Flughafenschalter angelächelt und ihren Stand-by-Flug gebucht, ganz beiläufig die Hand des Zollbeamten am Airport von St. Lucia berührt hat. Ganz zu schweigen von Carter Williamson, Ellies Opfer, der ihren wiegenden Hüften nur allzu bereitwillig ins Grand Sucre Hotel gefolgt ist.

Der Mann am anderen Ende der Bar prostet ihr zu, sieht sie an.

Ellie leert ihr Glas, wirft den Kopf in den Nacken und lässt den letzten Schluck die Kehle hinunterrinnen.

»Darf ich Ihnen noch einen Drink ausgeben?«

Diverse Cocktails später lacht Ellie über irgendetwas, das ihre Bekanntschaft gerade gesagt hat. In Wahrheit aber hat sie gar nicht richtig zugehört. Wichtig ist nur, dass der Typ auf sie abfährt, und das tut er. Sie spult ihr Programm wie auf Autopilot ab, könnte ihn im Schlaf um den kleinen Finger wickeln. Sie denkt an Rob, daran, wie sicher, wie behütet, wie geborgen sie sich in der (jetzt so jäh geplatzten) Blase ihrer trauten Zweisamkeit gefühlt hat. Sie fragt sich, ob sie ihn je wiedersehen wird. Sie fragt sich, ob er womöglich schon tot ist.

Ellie trinkt den nächsten Cocktail aus. Sie spürt, dass der Typ ein bisschen Ermunterung braucht, deshalb schenkt sie ihm ein Lächeln und ein Kichern. Worauf er gleich die nächste Runde bestellt.

»Ich heiße übrigens Harry.«

Zurückhaltend streckt sie ihm die Hand entgegen. Einen Moment senkt sie den Blick. Hebt den Kopf. Und sieht ihm dann direkt in die Augen, wobei sie den großen schwarzen Fleck in einer seiner grauen Iris bemerkt. Dann klimpert sie kokett mit den Wimpern. »Ich heiße Lauren.«

DAMALS

Ellie trug die letzten mit Küche beschrifteten Kartons herein und stellte sie auf Robs Granitarbeitsplatte ab. Unsere Arbeitsplatte, korrigierte sie sich in Gedanken und lächelte.

Sie war außer sich vor Freude. Kurz nach seinem spontanen Heiratsantrag hatte Rob vorgeschlagen, dass sie bei ihm einziehen solle. Er sehe keinen Grund, länger damit zu warten, hatte er gesagt, sondern wolle, dass ihr gemeinsames Leben so schnell wie möglich anfing. Also hatte sie mit ihrem Vermieter ausgehandelt, dass er sie früher aus dem Mietvertrag entließ, um alles andere hatte sich Rob gekümmert: Er hatte eine Umzugsfirma angeheuert und darauf bestanden, die Kosten zu übernehmen. Gemeinsam hatten sie sich darauf geeinigt, welches Sofa, welchen Fernseher, welchen Couchtisch sie behalten wollten. Rob hatte den Verkauf ihres überflüssigen Hausrats organisiert und das eingenommene Geld auf ein Gemeinschaftskonto eingezahlt. Ihre erste gemeinsame Anschaffung war ein neues Bett aus massivem Walnussholz samt neuer Bettwäsche und einer luxuriösen Tagesdecke aus pflaumenblauer Seide. Das Bett sollte am Tag von Ellies Einzug geliefert werden, was nicht nur praktisch, sondern auch eine romantische Geste war, die den Beginn ihres gemeinsamen Lebens markierte.

Was war schon dabei, wenn Rob in letzter Zeit ein wenig geistesabwesend war. Nicht immer, aber es kam vor, so viel stand fest. Sie dachte darüber nach, wann es ihr das erste Mal aufgefallen war. An dem Tag, bevor sie in dieses Kaufhaus gefahren waren, um ihren imaginären Hochzeitstisch einzurichten, hatte er ihre Eltern kennengelernt. Mochte er sie vielleicht nicht? Viele Menschen kamen nicht mit ihren Schwiegereltern klar. Na und? Sie hatte schließlich selbst Probleme mit ihnen (mit ihrer kontrollsüchtigen Mutter und ihrem viel zu passiven Vater). Hatte Rob Angst, ihr zu gestehen, dass er sie nicht leiden konnte? Sie streute gezielt ein paar abfällige Bemerkungen über sie ein (wobei sie ihr schlechtes Gewissen wegen dieses Verrats verdrängte), um ihm Gelegenheit zu geben, seinen Gefühlen Luft zu machen, doch er war nicht darauf angesprungen. Oder hatte die Bestellung ihres nicht existierenden Hochzeitstisches die bevorstehende Ehe realer für ihn gemacht? Bekam er kalte Füße? Unwillkürlich spürte sie Angst aufsteigen. Wollte er sie verlassen? Jeder, den sie mochte, schien sie irgendwann zu verlassen. Ansonsten lief alles bestens zwischen ihnen, die Planung der Hochzeit, Ellies Einzug bei Rob. Sie zermarterte sich das Gehirn, ob sie etwas gesagt oder getan haben könnte. Eines Abends nahm sie all ihren Mut zusammen und sprach ihn direkt darauf an (und wappnete sich insgeheim für eine schmerzliche Antwort), aber er meinte nur, es liege an der Arbeit und hätte nichts mit ihr zu tun. Sie tröstete sich damit, dass sie immerhin nachgefragt hatte. Diesmal würde sie nicht die Augen verschließen, sondern wachsam und vorsichtig sein.

Ellie sah zu, wie Rob methodisch jede einzelne Tasse im Regal in der Küche umdrehte. »Ist das wirklich notwendig?«, fragte sie amüsiert.

»Ja«, antwortete er. »Wenn man die Becher andersherum reinstellt, fliegt Staub rein, der dann im Morgenkaffee schwimmt.«

»Wie viel Staub soll sich da schon ansammeln?«, neckte sie ihn. »So viele Tassen haben wir schließlich nicht, sie sind ständig in Benutzung.«

»Wie viel Staub willst du schlucken?«, fragte er und fuhr mit seiner Beschäftigung fort. »Die korrekte Antwort lautet: Gar keinen.«

»Du bist ein ziemlicher Spinner, was?«, bemerkte sie liebevoll.

»Stimmt, aber ich bin dein Spinner«, gab er grinsend zurück und begann, sie quer durch die Wohnung zu jagen, um halb ausgepackte Kartons herum, um die Möbel, die ihren endgültigen Platz noch nicht gefunden hatten, und um die Müllsäcke mit den wenigen Habseligkeiten, die Ellie aus ihrer alten Wohnung mitgebracht hatte – eine willkürlich zusammengeraffte Mischung aus Bügeleisen und Kosmetika, kaum getragenen Winterpullovern, die sie um ein Haar aus den hintersten Fächern ihres Schranks auszuräumen vergessen hätte, und der inzwischen halb leeren Riesenschachtel Küchentücher, mit denen sie ihre alte Bleibe geputzt hätte, damit ihr Vermieter die Kaution nicht einbehielt.

Kreischend vor Vergnügen rannte Ellie durch das Apartment, bis sie lange genug stehen blieb, dass Rob sie fangen und aufs Sofa werfen konnte, wo sie schwer atmend und lachend liegen blieben.

»Du hast dich fangen lassen, stimmt’s?«

»Du bist schlau«, gab sie zurück. »Deshalb liebe ich dich wohl so.«

»Und ich dachte, das liegt an meinem Bombenhintern und meinen Wahnsinnsmuskeln.«

»Jetzt, wo du es sagst … Ja. Es sind die Muskeln. Und der Hintern.«

»Wie bitte? Ich bin also nur ein Stück Fleisch für dich?«

»Absolut. Ich bauchpinsele nur deinen Verstand, damit dein fragiles männliches Ego nicht zusammenbricht.«

»Ach ja?« Er packte sie und kitzelte sie gnadenlos durch, obwohl sie kichernd und japsend um Gnade bettelte. Erst als sie keine Luft mehr bekam und ihr vor Lachen die Tränen übers Gesicht liefen, ließ er von ihr ab und küsste sie auf die Nasenspitze.

Er setzte sich auf und zog sie auf seinen Schoß. Sie ließ den Kopf an seine Schulter sinken und stieß einen tiefen Seufzer aus, eine Mischung aus Zufriedenheit und jenem köstlichen Gefühl der Entspannung, wie es sich nur nach einem herzhaften Lachanfall einstellt.

»Womit haben wir bloß dieses Glück verdient?«, fragte sie sanft und streichelte seine Wange.

»Wir müssen im letzten Leben besonders gute Menschen gewesen sein«, erwiderte er. »Menschen wie Mutter Teresa oder Gandhi, die große persönliche Opfer gebracht haben, um anderen zu helfen.«

»Willst du dich etwa mit Gandhi vergleichen?« Sie zog die Nase kraus, um nicht laut loszuprusten.

»Nicht mein heutiges Ich, sondern das aus einem vorherigen Leben. Und du könntest Mutter Teresa gewesen sein, auch wenn du einen besseren Modegeschmack hast. Und ich bezweifle, dass sie in puncto Blowjob an dich herangekommen wäre.«

»Oh, das bin ich also für dich, ja? Ein anständiger Blowjob?«

»Absolut. Und ich bauchpinsele all deine anderen Qualitäten nur, damit dein weibliches Ego nicht zusammenbricht, aber letzten Endes geht es nur um den Blowjob, ja.«

»Vielleicht sollte ich dir einen zukommen lassen. Du weißt schon, der Balance wegen.« Verschmitzt grinsend, zog sie den Reißverschluss seiner Hose herunter.

»Wie könnte ich etwas gegen die Wahrung der Balance sagen?«, fragte er, während sie sich hinunterbeugte. Er schloss die Augen und ließ den Kopf in den Nacken fallen, während sich ihr Mund um seinen Schwanz schloss.

HEUTE

Detective Lucien Broussard von der Royal St. Lucia Police Force beginnt den Tag mit einem Traum. Es ist immer derselbe: Er schläft. Und im Schlaf hört er ein Kind weinen. Lucien versucht aufzuwachen, aber sein Körper fühlt sich zentnerschwer an, lässt sich nicht bewegen. Er kann die Augen nicht öffnen, weil ihm auch die Lider nicht gehorchen wollen. Schließlich hebt er mühsam die Hände, um sie aufzudrücken. Aber er ist blind. Seine Augen sind offen, doch er kann trotzdem nichts sehen.

Schweißgebadet und schwer atmend, wacht er auf.

Seit dem Tag, als das erste Kind verschwand, quält Detective Broussard dieser Albtraum. Seit sieben Monaten, genauer gesagt seit zweihundertneunzehn Tagen. Seither wurden noch drei weitere Jungen als vermisst gemeldet. Insgesamt sind es also vier. Ihre Familien waren zuerst hysterisch vor Angst, dann folgten Trauer, Schuldgefühle und völlige Hoffnungslosigkeit, als die Wochen verstrichen. Die letzte Meldung liegt gerade einmal vier Tage zurück. Ein Junge, fünf Jahre alt, der mit seiner Mutter einen Freiluftmarkt besucht hat und zu einer Steel Drum Band gelaufen ist, die direkt nebenan spielte. Seitdem ist er wie vom Erdboden verschluckt. Olivier Cassiel trug bei seinem Verschwinden Jeansshorts und ein rotes T-Shirt. Ein kleines Kind, angezogen von der unbeschwerten, lebensfrohen Musik, die so typisch für die Insel ist, und nun weiß niemand, was aus ihm geworden ist.

Lucien reibt sich entschlossen die Augen, als wolle er das Bild von dem Foto, das ihm Oliviers Mutter überlassen hat, aus seinen Gedanken verbannen: ein verschmitzt grinsender Junge mit wilden Locken und mageren Ärmchen, die er in einer Muskelmann-Geste reckt.

Agathe, Luciens Frau, ist bereits aufgestanden. Er kann sie zu einem Song aus dem Küchenradio mitsummen hören. Er ist erleichtert. Er will nicht, dass sie ihn in diesem Zustand sieht – aufgelöst und bestürzt.

Lucien duscht und zieht sich an. Währenddessen trägt er im Geiste alles zusammen, was er über die Kinder weiß, so als würden ihm die Antworten, die ihm bislang fehlen, irgendwie vor die Füße fallen, wenn er die Tatsachen nur oft genug durchgeht. Vier Jungen, verschwunden auf einem Freiluftmarkt (Olivier, fünf Jahre), auf einem Spielplatz (Jacob, sechs Jahre), aus einem Restaurant am Hafen (Pierre, vier Jahre) und – am beängstigendsten von allen – mitten in der Nacht aus seinem eigenen Bettchen (Sebastien, drei Jahre). Der dunkle Schatten, der diese Kinder stahl, treibt auf der Insel sein Unwesen, scheinbar ohne jede Angst, erwischt zu werden. Keiner hat jemand Verdächtigen beobachtet, und der Täter hat bisher keinerlei Spuren hinterlassen.

Die Polizei hat die jeweilige Umgebung, in der die Jungen verschwunden sind, sorgfältig durchkämmt: die Docks, die Lagerhallen, den Constitution Park (trotz der kürzlich erfolgten Renovierung eine beliebte Anlaufstelle bei den Obdachlosen der Insel), Maison Marianne (eine mittlerweile leer stehende Villa und Tatort eines tragischen Doppelmordes mit anschließendem Selbstmord), eine Bananenplantage, die auch eines der schäbigsten Bordelle der Insel beherbergt, und die Baustelle eines neuen Ferienhotels – allesamt Orte, wo Kinder ohne Weiteres versteckt gehalten werden könnten.

Lucien betrachtet sich im Schlafzimmerspiegel. Seine tiefschwarze Haut sieht spröde aus, Erschöpfung spiegelt sich in seinen dunklen Augen wider. Er setzt eine neutrale Miene auf und tritt in die behagliche Küche.

Ihr Häuschen ist fröhlich eingerichtet: Gelbe Bistrogardinen, die Agathe selbst genäht hat, verleihen dem Herzen ihres Zuhauses, der Küche, Wärme und Gemütlichkeit, ebenso wie die karierte Tischdecke und die geschnitzten Holzmasken an den Wänden. Lucien und Agathe wohnen bereits ihr ganzes Leben in Castries, der Hauptstadt von St. Lucia, und die Masken, von denen jede eine eigene Geschichte hat, stammen von befreundeten einheimischen Künstlern.

Agathe, deren leuchtend grüne Augen sich von ihrer kaffeebraunen Haut abheben, hat die dichten Locken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Als Lucien hereinkommt, reicht sie ihm eine Tasse starken Kaffee.

»Hast du gar nicht geschlafen?«, fragt sie.

»Nicht besonders gut. Aber es geht schon. Ist der Kleine noch im Bett?«

»Ja. Ich habe gerade nach ihm gesehen. Zur Abwechslung sind wir zum Frühstück nur zu zweit.«