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Ihre Währung sind die Geheimnisse der anderen – aber niemand darf ihr eigenes erfahren.
Catherine beerdigt keine Toten. Sie rettet die Lebenden – aus unerträglichen, gewaltvollen, gefährlichen Lebensumständen. Ihr im Darknet ansässiges Schutzprogramm ist oft die letzte Hoffnung für Frauen, die keinen anderen Ausweg mehr wissen: Catherine verschafft ihnen neue Identitäten. Sie ist effektiv und schnell. Sie ist die Beste auf ihrem Gebiet. Nur ein einziges Mal hat sie einen Fehler begangen, mit tödlichen Konsequenzen. Sie glaubt, ihn erfolgreich verschleiert zu haben. Doch plötzlich holt die Vergangenheit sie wieder ein – und die einzige Person, die sie retten kann, ist sie selbst …
Ein packender Thriller, der süchtig macht!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 383
NINA SADOWSKY, geboren in New York, war jahrelang Vorsitzende einer Filmproduktionsfirma und unterrichtet heute in Los Angeles Skriptentwicklung. Sie hat bereits zahlreiche Drehbücher geschrieben und Filme produziert und legte mit »Be My Girl« ihr packendes Thrillerdebüt vor. »Die Erlöserin« ist ihr zweiter Roman. Sie ist verheiratet und hat vier Kinder.
Außerdem von Nina Sadowsky lieferbar:
Be my Girl
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NINA SADOWSKY
DIE ERLÖSERIN
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch von Juliane Pahnke
Dieses Buch ist meinen wunderbaren Kindern gewidmet, Raphaela und Xander (die beide nichts von den Figuren haben, die darin vorkommen).Ihr inspiriert mich immer und auf jede erdenkliche Weise.
Begräbnisgesellschaften gibt es in vielen Kulturen.
Ihre Mitglieder haben sich dazu verpflichtet, zu gewährleisten, dass der Tod und die Begräbnisrituale in einer Gemeinschaft mit Würde und Mitgefühl vorgenommen werden.
Die Pflichten der Gesellschaft werden als ultimative Akte der Nächstenliebe betrachtet und können auch beinhalten, im Falle eines Todes anwesend zu sein, über den Leichnam zu wachen, ihn zu säubern und einzuhüllen, ihn während der Bestattung zu begleiten, das Begräbnis zu vollziehen, ohne dafür eine Gebühr zu berechnen, sowie der Familie des Verschiedenen Unterstützung zu bieten.
Teil 1 Annäherung
Könnte ich die Geschichte anders erzählen, es wäre eine Geschichte über Mut. Über Ehre und Loyalität. Opfer und gerechte Rache.
Und Liebe. Natürlich Liebe.
Aber ich will erzählen, was tatsächlich geschah.
Catherine Konzentration
Ich kann das tun. Und ich werde es tun.
Ich habe es schon viele Male zuvor getan. Und unter widrigeren Umständen, versichere ich mir. Ich habe das Timing und das Vorgehen berechnet, die Beseitigung und die Flucht. Es wird riskant, vielleicht sogar tödlich – sofern mir nicht gnädigerweise Glück und perfektes Timing zugutekommen.
Aber das hat der Kunde nun einmal bestellt, und der Kunde hat immer recht. Und die Bezahlung? Riesig. Das Geld ist mir eigentlich egal, es gibt andere Dinge, die hier für mich herausspringen.
Warum bin ich so nervös?
Ich hasse die Warterei. Dadurch habe ich viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Mein Herz hämmert.
Konzentration.
Ich lasse den Blick über die Straße schweifen.
Zwei dünne Amerikaner, mit Rucksäcken beladen, die Hände verschränkt, saugen jedes noch so kleine kostbare Pariser Detail auf: Ein kleiner Junge von vielleicht drei Jahren, der noch unsicher auf seinen knubbeligen Beinen läuft, wackelt hinter seinen sorgfältig gekleideten, heftig zankenden Eltern her. Eine zartgliedrige Verkäuferin, die gerade ihre Schicht beendet hat und auf deren Miene sich die Verachtung für die zahllosen chinesischen Touristen abzeichnet, die sie am heutigen Tag bedient hat. Tatsächlich drängt gerade eine Gruppe dieser Chinesen zurück in ihren quietschbunten Reisebus, bewaffnet mit ihrer Ausbeute von Ralph Lauren, Hugo Boss, Façonnable, Gerard Darel. Ein teuer gekleideter Rockertyp mit einem flauschigen Zwergspitz an einer schicken Glitzerleine weicht dem Pulk aus und beschimpft wütend seinen Hund (oder vielleicht auch die Chinesen).
In diesem Teil von Paris herrscht so etwas wie ein Hunger vor, trotz der breiten, von Haussman geplanten Boulevards, der eleganten Geschäfte, der Bäume. Das Geld, die Designerlabels, die Gier nach Status, sie alle füttern einen habgierigen Rachen, der ständig verzweifelt nach »mehr« verlangt, der keine Sättigung kennt. Und dann sind da all jene, die die Überreste dieser Gier beseitigen, die Verkäuferinnen und Türsteher, Chauffeure und persönlichen Assistentinnen, die Bettler und Diebe. Der Boulevard Saint-Germain mag wie der Inbegriff diskreten Wohlstands und unaufdringlichen Luxus wirken, aber ich weiß es besser. Ich kenne die Dunkelheit, die sich hinter der schillernden Fassade verbirgt.
Nur weil mein Kunde wohlhabend ist, finde ich mich hier wieder. Paris ist seit etwas mehr als drei Jahren mein Zuhause, aber dieses Arrondissement ist nicht mein üblicher Tummelplatz. Dennoch sehe ich heute so aus, als gehörte ich dazu – ich trage Skinny Jeans aus schwarzem Leder von Givenchy, ein 400-Euro-Shirt im Knitterlook, Plateauschuhe von Robert Clergerie, habe meine hellbraunen Haare zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden, in meinen Ohren glitzern Brillantstecker, meine Augen werden von einer übergroßen Chanel-Sonnenbrille verdeckt … ein angeberischer Look, aber zugleich bin ich unsichtbar. Wo immer ich bin, wer auch immer das Ziel ist, ich muss mit dem Hintergrund verschmelzen wie ein Chamäleon.
Ich mache das schon so lange, dass ich mich nicht daran erinnere, wer ich überhaupt bin, an mein reales Ich, jenes Ich, das ich zurückgelassen habe. Aber darüber später mehr. Jetzt muss ich mich auf mein aktuelles Ziel konzentrieren.
Konzentration.
Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Die Fakten geprüft. Die erste Rate, eine Überweisung an ein Schweizer Bankkonto, wurde bestätigt. Ich bin meiner Zielperson zwei Wochen lang gefolgt, ohne entdeckt zu werden, habe ihre Tagesabläufe und ihre Gewohnheiten ausgekundschaftet und, was vielleicht wichtiger ist, auch die des Bodyguards, der sich nie weit von ihr entfernt. Ich habe Delphine als Fahrerin für heute engagiert, bin ihr dankbar für ihr verlässliches stillschweigendes Einverständnis mit Plänen und Bezahlung.
Ich bringe mich in Position. Das Schaufenster von Sonia Rykiel ist wie immer sehr ansprechend. Hinter der makellosen Glasfront stehen die Holzregale, vom Boden bis zur Decke mit Hardcovern bestückt. Die kräftigen Farben der Buchrücken spiegeln sich in den kunstvollen, über glatzköpfigen Alabasterpuppen drapierten Ensembles. Schichten komplexer Stickereien auf teuerster Seide, Fransen und Pelze, Pailletten, die unter den kunstvoll ausgerichteten Strahlern funkeln. Es dämmert, und während der Tag der Dunkelheit weicht, beginnen die Schaufenster zu strahlen.
Ich schinde etwas Zeit, indem ich ein Päckchen Gitanes aus meiner Louis-Vuitton-Handtasche nehme.
Der pummelige Knirps und seine streitenden Eltern überqueren vor mir die Straße. Der kleine Junge stolpert, landet auf seinem gut gepolsterten Hinterteil, während seine Eltern weitergehen, ganz in ihren erhitzten Streit vertieft. Sein kleiner Mund formt sich zu einem empörten O, während er kurz blass wird.
»Netter Sturz!«, lobe ich das Kleinkind auf Französisch. »Das nächste Mal solltest du dafür sorgen, dass deine Eltern es sehen, damit du mehr Aufmerksamkeit bekommst.«
Der Kleine mustert mich mit feuchten Augen. Soll er losheulen? Angst bekommen? Er ist unentschlossen. Dann wirft er mir ein verschmitztes, fröhliches Grinsen zu, rappelt sich auf und läuft zu seinen Eltern, nur um vor ihnen dramatisch auf den Boden zu plumpsen und aufzuheulen, den Mund weit aufgerissen, die Augen fest zugekniffen. Ich unterdrücke ein Lachen.
Und plötzlich ist sie da. Sie verlässt die Boutique. Meine Zielperson. Hohe slawische Wangenknochen, dichtes, glänzend blondes Haar, ein voller Mund und ein kräftiges Kinn, das ihrem Gesicht einen Hauch von Herablassung verleiht. Elegant gekleidet, Alexander McQueen. Himmelhohe Stilettos. Atemberaubend schöne Cabochon-Smaragdohrringe. Angespannt, trotz der Eleganz und der teuren Klamotten. Wie ein hochgezüchtetes Vollblut, das auf das Signal der Startglocke wartet.
Sie hat leere Hände, aber natürlich werden die Einkäufe dieses Tages in ihr Apartment in der Avenue Montaigne geliefert. Als hätte sie stets erwartet, nach Hause zu gehen. Ebenso wie er.
Der Bodyguard, stiernackig und mit leerem Blick, folgt ihr nach draußen.
Meine Nervosität lässt nach. Ich bin eiskalt, wie immer im entscheidenden Moment. Schon besser. So mag ich mich. Jetzt gibt es nur noch Aktion und Reaktion, wohlkalkuliert und souverän. Skrupellos.
Ich tue so, als müsste ich in meiner Handtasche nach einem Feuerzeug oder Streichhölzern wühlen. Nähere mich ihr. Ich frage auf Französisch, ob sie Feuer hat. Ich halte ihr mein Päckchen Zigaretten hin, als Einladung.
Sie sieht mich unter dichten schwarzen Wimpern an. Ich weiß, dass sie heimlich raucht, wenn sie sich unbeobachtet glaubt. Ich habe sie in den letzten vierzehn Tagen siebenunddreißig Mal dabei beobachtet. Dies ist das achtunddreißigste Mal.
Hinter ihr macht der Bodyguard einen beschützenden Schritt nach vorne, doch sie winkt ab. Ich bin niemand, den sie fürchten muss, nur ein anderes reiches, verwöhntes Luxusgeschöpf, das dringend eine Dosis Nikotin braucht.
Sie greift in ihre Handtasche und zieht ein Feuerzeug von Cartier heraus, nimmt eine Zigarette aus meinem Päckchen. Wir beugen unsere Köpfe über die Flamme, und meine Hand umschließt ihre. Die Tür zu dem Van hinter uns gleitet auf.
»Leisten Sie keinen Widerstand«, flüstere ich auf Englisch. Ihr Blick trifft mich. Sofort ist sie alarmiert. Ich verstärke den Griff um ihr Handgelenk, stoße sie mit einem brutalen Ruck in den Van und schnipse meine brennende Zigarette in das Gesicht des Bodyguards. Mit einem bellenden Laut schlägt er die glühende Asche weg, ist einen Moment lang zu abgelenkt, um den zielstrebigen Tritt meines Plateauschuhs in seinen Unterleib abzuwehren. Er stolpert nach hinten, taumelnd, fluchend, während ich in den Van steige.
Ich ramme die Spritze mit Fentanyl in den Hals meines Zielobjekts, als sie ihren schönen Mund öffnet, um zu schreien. Sie wird in meinen Armen schlaff. Ich schlage die Tür zu.
Routiniert lenkt Delphine den Van über den Boulevard. Ich sehe den Bodyguard, der außer sich vor Wut hinter uns herrennt und dabei sein Handy hervorzieht. Aber darauf sind wir vorbereitet.
Drei rasche Kurven, und wir halten in einer engen Gasse, verfrachten unsere bewusstlose Zielperson in ein wartendes Taxi. Delphine schwingt sich hinters Steuer, und wir brausen davon, tauchen anonym im fließenden Verkehr unter. Unterdessen schiebe ich die schlaffe Zielperson auf dem Rücksitz so gegen den Polstersitz, dass sie es bequem hat, schnalle sie an, streiche ihr eine blonde Strähne von dem markanten Wangenknochen. Ihr Leben ist die Hölle gewesen. Aber jetzt ist diese Hölle vorbei.
Natalie Bluterguss
Natalie Burrows dreht sich um die eigene Achse und betrachtet den Horizont. Sie schaut auf ihr Handy und prüft die Uhrzeit. Er kommt spät.
Der Parc Monceau ist geradezu magisch: Schwere Tore mit schmiedeeisernen Gittern und goldenen Spitzen, weitläufige, sorgsam gepflegte Rasenflächen, üppig blühende Wildblumen. Der hübsche, im 8. Arrondissement gelegene Park bietet eine Miniaturpyramide, eine holländische Windmühle, eine große Rotunde und eine klassische Kolonnade mit Blick auf einen künstlich angelegten See, in dessen Mitte eine Insel mit einer majestätischen Trauerweide aufgeschüttet wurde. Der als »Verrücktheit de Chartres« bekannte Park war im späten 18. Jahrhundert angelegt worden, wobei die Details vor allem Freude machen und überraschen sollten, was dank der verschlungenen Wege, der üppigen Blumenfelder und der außergewöhnlichen Bauten hervorragend gelingt.
Es fühlt sich gut an, wieder in Paris zu sein. Natalie liebt dieses Juwel von einem Park, und sie liebt das nobel eingerichtete Apartment in der Nähe, das Brian für den Sommer angemietet hat. (Sie hat gerade erst damit begonnen, ihren Vater »Brian« zu nennen. Selbst in ihrem Kopf fühlt sich das seltsam und ungewohnt an. Aber mit achtzehn ist sie jetzt erwachsen und will ausprobieren, ob es funktioniert.)
Natalie entdeckt die kleine Windmühle, deren Blätter sich zuerst müßig, dann schneller drehen, als der Wind auffrischt. Ein Lächeln spielt um ihre Mundwinkel, als sie an Derek denkt, den englischen Rucksacktouristen, mit dem sie die letzten Tage (und Nächte) in Amsterdam verbracht hat. Da sage noch einer, die Engländer wären leidenschaftslos und teigig! Derek hatte Power ohne Ende, verbrachte den ganzen Tag mit Sightseeing, zog bis in die Puppen durch die Klubs und hatte dann noch wilden Sex mit ihr, während die Sonne aufging. Vielleicht hat Derek sich ein ganz klein wenig in sie verliebt.
Dabei weiß er noch nicht einmal, dass sie in Wahrheit Natalie heißt.
Ihr Lächeln wird breiter, als sie sich im Geiste von »Carolyn Somers« verabschiedet, der Vorzeigestudentin im zweiten Jahr an der University of Chicago. Zuerst hatte sie behauptet, Carolyn würde Internationale Beziehungen mit Wirtschaft im Nebenfach studieren, doch beim Anblick von Dereks panischer Miene hat sie ihn liebevoll angestoßen und gemeint: »War bloß ein Scherz. Kunstgeschichte.« Zum Glück hat sie ein bisschen Ahnung von Kunstgeschichte.
Natalie weiß nicht, warum sie sich dazu hinreißen ließ, Derek anzulügen. Sie kannten beide die Parameter ihrer Affäre, seit sie sich das erste Mal in einer Kneipe begegnet waren: Vier Tage. Tulpen und Windmühlen und Hering aus dem Foodtruck. Grachten und das Anne-Frank-Haus, Radtouren, Cannabis und Coffeeshops. Nachtklubs und ein Ausflug ins Rotlichtviertel unter viel Gekicher und Gelächter. Ein letzter zärtlicher Kuss, ausgetauschte Nummern (wobei Natalies logischerweise nicht stimmte) und dann der Abschied. Es hat sich wunderbar angefühlt, jemand anders zu sein. Befreiend. Obwohl es nur für ein paar Tage war.
Aber jetzt ist sie zurück. Sie ist Natalie Burrows, aufgewachsen in Westport, Connecticut, wohnhaft zuletzt in New York, über den Sommer in Paris. Ab Herbst geht sie an die Rhode Island School of Design in Providence. Tochter von Brian. Schwester von Jacob. Zweites Kind von Mallory Armstrong Burrows (vermisst und vermutlich tot). Eine dunkle Wolke schiebt sich vor die Sonne, und Natalie fröstelt.
Wo steckt Jake? In Amsterdam haben sie vereinbart, sich nach ihrer Rückkehr im Park zu treffen und gemeinsam in das Apartment zurückzugehen. Brian braucht nicht zu wissen, dass sein kleines Mädchen leidenschaftlichen Sex mit einem Fremden hatte. Und Natalie braucht nicht zu wissen, was ihr Bruder in der Zwischenzeit getrieben hat. Trotzdem. Sie müssen sich ein wenig abstimmen, damit ihre Geschichten für Dad plausibel klingen. Brian.
Natalie blickt wieder auf ihr Handy. Inzwischen ist Jake definitiv zu spät dran. Sie runzelt die Stirn. Das ist untypisch für ihn. Gerade als sie ihm eine Nachricht schreiben will, tut sich die dunkle Wolke über ihrem Kopf auf, und dicke Regentropfen prasseln auf sie herab. Natalie steckt ihr Handy in die Tasche und läuft los. Es ist immer noch sonnig, selbst dann noch, als der Regen schlimmer wird. Natalie lacht vor Begeisterung über den Guss, den blauen Himmel, als sie aus dem Park hinaus und in Richtung des Apartments in der rue Murillo läuft. Ihre Sneakers klatschen auf das nasse Pflaster. Regentropfen fallen von ihrer Nase. Sie legt den Kopf in den Nacken und fängt sie mit der Zunge auf.
Als sie sich dem Wohnhaus nähert, taucht plötzlich eine Frau auf. Sie hat ihr hellbraunes Haar zu einem hohen Zopf frisiert und trägt einen kakifarbenen Trenchcoat mit festgezurrtem Gürtel. Unter ihrem Arm klemmt eine schwarze Tasche. Sie verströmt diesen lässigen Chic, wie ihn die Französinnen so scheinbar mühelos erlangen. Die Frau schlägt den Mantelkragen hoch und läuft durch den Regenschauer, fort von Natalie. Obwohl Natalie sie noch nie gesehen hat, fühlt sie sich merkwürdig von ihr angezogen. Herausfinden, ob die Frau in unserem Haus wohnt. Mit ihr anfreunden. Lernen, mich so zu stylen wie sie, denkt sie.
Natalie bleibt kurz unter dem kleinen Vorsprung vor der Haustür stehen und lässt den Rucksack von ihren Schultern gleiten. Schwarze Regenschirme werden überall auf dem Bürgersteig aufgespannt. Die Fußgänger, die von dem plötzlichen Schauer überrascht werden, stoßen spitze Schreie und Flüche aus. Ein fuchsiafarbener Regenschirm öffnet sich auf der anderen Straßenseite, genau in der Sekunde, als ein Regenbogen am Himmel erscheint.
Denk daran, dankbar zu sein, denkt Natalie. Für jeden einzelnen Tag.
Okay. Fest steht, dass sie nicht wie eine Vollidiotin hier draußen im Regen herumstehen kann. Sie wird Jake eine Nachricht schicken und ihm erklären, er solle sagen, er hätte auf dem Weg zurück ins Apartment noch etwas erledigen müssen. Dann können sie Erschöpfung vortäuschen und haben Gelegenheit, ihre Notizen zu vergleichen, bevor sie morgen früh Brian von ihrer Reise erzählen. Natalie schickt die Nachricht ab und schließt die Haustür auf.
Sie läuft die Stufen hinauf. Dieser blöde Rucksack. Sie macht die Wohnungstür auf.
Das Sommerapartment atmet förmlich Geschichte: Elegante Räume mit hohen Stuckdecken und strahlend weißen Wänden, Fischgrätparkett und Bleiglasscheiben in den Fenstertüren. Überall hängen Gemälde (zumeist öde Motive) in schweren, verschnörkelten Rahmen, dazu eingebaute Bücherregale, kostbare Antiquitäten und dicke cremefarbene Vorhänge. Natalie liebt es, sich Geschichten über die früheren Bewohner des Apartments auszudenken; ihr Skizzenbuch ist voll imaginärer Szenen, die sich einst hier abgespielt haben könnten.
»Brian«, ruft sie. »Ich bin zu Hause!«
Keine Antwort. Hmmm. Dad hat gesagt, er wäre bestimmt da, wenn sie zurückkämen. Vielleicht wurde er bei der Arbeit aufgehalten. Das löst zumindest das Problem mit Jakes Verspätung.
Natalie schlüpft aus ihren nassen Sneakers, lässt den Rucksack und die nasse Windjacke fallen und trottet auf feuchten Socken in ihr Zimmer, wobei sie sich das T-Shirt über den Kopf zieht. Ihr Blick fällt auf ihren halb nackten Körper in dem goldgerahmten Spiegel an der Wand. Ich bin superheiß, beschließt sie, und der Spiegel wirft denselben verlangenden Blick zurück, mit dem sie Derek bedacht hat.
Sie studiert ihre schmale Taille, ihre zarten Schultern, ihre Brüste. B-Körbchen. Nicht zu klein und nicht zu groß. Ihre Rippen sind kaum sichtbar unter der straffen Haut, ebenso wenig wie die Knochen ihres Rückgrats, als sie sich umdreht. Sie wendet sich wieder dem Spiegel zu und betrachtet ihr Gesicht. Sie ist zufrieden mit ihrem Gesicht. Sie hat das Beste von ihrer Mutter mitbekommen – einen vollen Mund, weit stehende graue Augen, scharf geschwungene Augenbrauen – und auch das Beste von Brian – eine ausgeprägte Adlernase und ein kantiges Kinn, das ihrem Gesicht etwas Entschlossenes verleiht.
Zu schade, dass dieser Blick gelegentlich irreführend ist.
Ist da etwa ein Fettpölsterchen über ihrer linken Hüfte? Prüfend kneift Natalie die Haut, während sie den Blick von dem Mädchen im Spiegel abwendet. Sie knetet ihr Fleisch, bis es sich dunkel verfärbt.
Angewidert untersucht Natalie den Schaden, den sie verursacht hat, kneift ein letztes Mal heftig in die gerötete Haut. Sicher nicht das Schlimmste, was sie sich bisher angetan hat. Trotzig starrt sie erneut in den Spiegel. Ich kann damit aufhören. Ich schaffe das.
Denk daran, dankbar zu sein. Für jeden einzelnen Tag.
Catherine Marseille
Wir sind seit sieben Stunden unterwegs. Delphine fährt in Richtung des Vieux Port. Ich schaue aus dem Fenster, sehe jedoch nur verschwommene Umrisse im pechschwarzen Dunkel; trotzdem kann ich mir denken, wo wir gerade sind: Mietskasernen, in denen die unzähligen Einwanderer untergebracht sind. Synagogen und Moscheen und griechisch-orthodoxe Kirchen. Weitläufige Baugrundstücke zur »urbanen Totalsanierung«, die schon vor ihrer Vollendung grauenvoll aussehen. Und dann, etwas freundlicher, die Oper, öffentliche Gärten und boomende Industrieparks.
Ich schließe kurz die Augen, kämpfe gegen die Erschöpfung, die mich zu überwältigen droht. Sobald ich meine Zielperson abgesetzt habe, werde ich mich in einem Hotel einmieten und den Schlaf der Gerechten schlafen. Oder zumindest den Schlaf der Gerechtfertigten.
Ein leises Stöhnen lässt mich aufschrecken. Ich öffne die Augen. Meine Zielperson regt sich, hebt zitternd ihre elegante Hand und berührt ihre Stirn. Sie stöhnt erneut.
Ich betrachte ihr Gesicht. Vor ihrer Hochzeit war sie Model, war mit nur vierzehn Jahren aus ihrer Heimatstadt Wologda zu einem offenen Casting nach Moskau gereist, eine gertenschlanke blonde Schönheit mit einer Ernsthaftigkeit und Tiefe in ihren kobaltblauen Augen, die eine alte Seele widerspiegelte. Aus meinen Recherchen weiß ich, dass sowohl der Flug nach Moskau als auch ihr vorsichtiges Lächeln auf das Konto ihres Stiefvaters gehen, ein Regierungsbeamter, der aufs Heftigste ihre Anschuldigung bestritt, er hätte sie seit ihrem elften Lebensjahr sexuell missbraucht.
Sie wurde von einer internationalen Model-Agentur unter Vertrag genommen und reiste die folgenden sieben Jahre rund um den Globus, von einer Modenschau und einem Fotoshooting zum nächsten. Sie lief in Paris, Mailand, New York, São Paulo und Tokio über den Laufsteg, war in der Bikini-Ausgabe von Sports Illustrated abgebildet und zweimal auf dem Cover der Vogue. Sie versuchte sich in der Schauspielerei und spielte eine Version von sich selbst in einem Actionfilm in Hollywood. Sie verdiente eine Menge Geld und gab es auch großzügig wieder aus. Die Paparazzi machten gnadenlos Jagd auf sie, und ihre Liebesgeschichten (von denen einige in einer Katastrophe endeten) wurden zum lüsternen Vergnügen der Leser von Klatschblättern überall auf der Welt seziert. Und all die Jahre blieb dieser wachsame Ausdruck in ihren Augen.
Ihren Mann lernte sie während eines Urlaubs auf Ibiza kennen. Er war ebenfalls Russe, älter, schwerreich, charmant, intelligent. Er erzählte ihr, er würde Maschinen herstellen. Es war die erste vieler Lügen.
Nach einer kurzen, heftigen Romanze folgte die opulente Hochzeit in London. Die Klatschblätter berichteten, der Empfang hätte mehr als eine Million Pfund gekostet. Exklusive Fotos wurden für Hunderttausende an das Magazin OK! verkauft. Die drei Kleider, die sie im Laufe des Abends trug, ernteten das Lob sämtlicher Mode-Bloggerinnen, die sie zu ihrer geschickten Auswahl beglückwünschten, mit der sie drei ihrer Lieblingsdesigner ehrte: Monique Lhuillier für die Trauung, Stella McCartney für den Cocktailempfang und Reem Acra für das Abendessen und die anschließende Party.
Das Paar verbrachte die Flitterwochen auf der Jacht des Bräutigams, eine sechswöchige Kreuzfahrt zu den griechischen Inseln, die vor allem durch das Foto Bekanntheit erlangte, das die Braut splitternackt beim Sonnenbaden zeigte (wobei sie wohl glaubte, sie wäre gänzlich ungestört).
Verstehen Sie jetzt, warum es mir Sorgen bereitet, diese Frau verschwinden zu lassen? Ihr Gesicht und ihr Körper gehören zu den bekanntesten des Planeten.
Natalie Aufheulen
Die Dusche ist herrlich, dampfend heiß. Eingehüllt in eine Jasminwolke, tritt sie heraus und schlüpft in ihren flauschigen rosa Bademantel. Sie wischt den beschlagenen Badezimmerspiegel ab und putzt sich die Zähne. Es ist ein herrliches Gefühl, so sauber zu sein. In dem übergroßen Bademantel sieht sie genau so aus, wie sie sein will: klein, fast elfenhaft. Sie zieht den Gürtel fester.
Wo steckt Jake? Und wo ist ihr Vater? Langsam ist Natalie etwas besorgt. Sie verlässt das Badezimmer und ruft nach den beiden. Vielleicht sind sie ja zurückgekommen, während sie gerade unter der Dusche stand.
Natalie kommt an der Tür zum Schlafzimmer ihres Dads vorbei und bemerkt aus dem Augenwinkel seine Aktentasche. »Brian?«, fragt sie und öffnet die Tür vollends.
Gedämpftes Licht fällt durch das Oberlicht und taucht den Raum in gräuliche Schatten. Brian liegt ausgestreckt auf dem Bett. Sein Gesicht ist aschfahl, fremd. Seine Augen starren leer nach oben. Sein Kopf ist merkwürdig verdreht.
Getrocknetes rostfarbenes Blut klebt an der cremefarbenen Tagesdecke.
Natalie sinkt zu Boden, während ein gequältes Heulen aus ihrem Mund dringt.
Catherine Rettung
Die Lider meiner Zielperson flattern. Sie leckt ihre trockenen Lippen.
Ich hole eine Maske aus der Tasche neben meinen Füßen und ziehe sie mir über den Kopf. Es ist ein Alienkopf, der in der Dunkelheit leuchtet, mit schrägen, mandelförmigen Augen, einem Schlitz als Mund und nur der Andeutung von Nasenlöchern. Sie sieht albern aus, und darunter ist es unangenehm warm, doch sie bietet den Vorteil, dass sie meine Stimme verzerrt und zugleich meine Gesichtszüge verdeckt. So nahe an der Zielperson kann ich mich nun einmal nicht unsichtbar machen.
»Elena«, knurre ich leise. »Bist du wach?« Mein Russisch ist ganz brauchbar.
Langsam schlägt Elena die Augen auf. Sie ist benommen und blinzelt. Bei meinem Anblick schreckt sie zurück.
»Trink etwas Wasser«, befehle ich und reiche ihr eine Flasche. Sie trinkt sie gehorsam aus.
»Hab keine Angst«, fahre ich fort. »Es wird alles gut, solange das Lösegeld bezahlt wird.«
Ich sehe die Panik in ihren Augen aufflackern. Sie blickt zur Tür; ich weiß, sie schätzt die Geschwindigkeit des Wagens ab, die Möglichkeit einer Flucht. Ich packe ihr Handgelenk fest.
»Denk nicht mal daran«, murmele ich und ramme ihr noch eine Spritze in den Hals. Sie weiß es noch nicht, aber ich bin ihre Rettung.
Nun wissen Sie es: Ich bin die Begräbnisgesellschaft.
Jake
Waisen
Natalies zerbrechlicher Körper liegt zusammengerollt in einer Ecke ihres Betts, ihre Atemzüge sind endlich gleichmäßig, wenn auch flach. Der Arzt hat ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht.
Jake wacht über ihren Schlaf. Er weiß, dass der von dem Medikament verschaffte Frieden nur von kurzer Dauer ist.
Brians Leiche wurde inzwischen weggebracht, sein Schlafzimmer überprüft und versiegelt. Zwei Gendarmen warten im Salon auf ihn. Jake ist sich nicht ganz sicher, warum sie noch hier sind; er hat ihnen alles erzählt, was er wusste. Er kam nach Hause, fand seine Schwester völlig hysterisch und seinen Vater tot vor.
Er kann hier nicht länger bleiben. Der junge Polizist mit dem von Aknepickeln übersäten Gesicht wollte ihn sogar in Natalies Zimmer begleiten, aber Jake hat ihm versichert, es würde nur eine Minute dauern, er wolle sich lediglich davon überzeugen, dass Natalie endlich schlief. Jetzt fragt Jake sich, ob der Polizist weniger besorgt um sein Wohlergehen war, sondern sich vielmehr gefragt hat, was er vorhaben könnte. Als könnte er Natalie jemals wehtun! Seine Schwester ist der einzige Mensch auf Erden, den er vorbehaltlos liebt … der einzige Mensch, der ihm bleibt.
Wir sind jetzt Waisen. Das Wort kommt ihm altmodisch vor. Es ruft Bilder von Arbeitshäusern und Oliver Twist hervor, von zerrissener Kleidung und traurigen Gesichtern, hohlwangig vor Hunger.
Ist Natalie wieder zu dünn? Wo ihr Rückgrat unter der buttergelben Decke auftaucht, kann er die scharf konturierten Knoten ihrer Wirbelsäule erkennen. Er hätte sie niemals mit diesem Jungen in Amsterdam allein lassen dürfen. Doch gleichzeitig ist ihm bewusst, wie irrelevant der Gedanke ist. Der junge Brite hat Natalie nicht verletzt; es ist diese neuerliche Katastrophe, die sie brechen könnte.
Jakes Gedanken überschlagen sich: Können Nat und er in dem Apartment bleiben? Sollten sie das überhaupt tun? Wie lange? Wenigstens heute Nacht, denn Natalie schläft endlich. Aber sicher nicht darüber hinaus. Wo sollen sie hin? Wie viel Geld haben sie? Können sie Zugriff auf die Konten ihres Dads bekommen? O Gott, werden sie jetzt wieder von der Presse gejagt? Scheiße. Sollte er Onkel Frank anrufen? Brauchen sie einen Anwalt? Einen Übersetzer? Sollte er die Botschaft kontaktieren? Wie sollen sie Brians Leiche nach Hause überführen? Hat er ein Testament hinterlassen? Eine Verfügung für seine Bestattung? Wie kommt es, dass Jake diese Dinge schlicht nicht weiß?
Dann sind da die Gedanken, die ihn noch mehr quälen. Was werden die Leute über ihn und seine Schwester denken, nachdem ihre beiden Eltern ermordet wurden? Werden sie sie noch mehr bemitleiden? Jake hasst Mitleid. Werden die Leute glauben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt? Dass eine Art Fluch auf ihnen lastet? Ist es so? Ist seine ganze Familie in eine Verkettung von Tragödien verstrickt? Wie konnte das nur passieren? Die Erinnerung an Brians brutal gebrochenes Genick lässt Jake erschauern.
Er hebt die Hände und betrachtet sie. Sie wirken fremd. Hände können so viele Dinge tun. Ein Feuer entzünden, ein Sandwich machen, eine Landschaft malen, einen Football werfen, über eine Tastatur fliegen. Eine Geliebte liebkosen, einen Rücken einseifen, einen einsamen Orgasmus heraufbeschwören. Einen Rasierer führen, einen Baseballschläger schwingen, auf einen schweren Sack schlagen. Einen Abzug drücken. Eine Kehle zudrücken, bis das Opfer keinen Atemzug mehr machen kann.
Eine Kehle aufschlitzen.
Jake kämpft seine aufsteigenden Tränen nieder. Er hat sich viele Male gewünscht, sein Vater wäre tot. Selbst bevor Mallory verschwand, hatten sie sich gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Mallory war der Elternteil, der blieb, während Brian durch die Welt reiste und irgendwelche Aufträge erfüllte. Jake wurde der »Mann im Haus«, während Brian weg war. Und seine Abneigung wuchs noch, wenn sein Vater nach Hause kam, weil dann spätabends wütende Stimmen aus dem Schlafzimmer seiner Eltern drangen, die tiefe Falten in das Gesicht seiner Mutter gruben.
Aber jemandem den Tod zu wünschen und der tatsächliche Tod sind zwei völlig unterschiedliche Dinge.
Oder nicht?
Catherine Übergabe
Ein hämatomvioletter Himmel kündigt die Ankunft des neuen Tags an. Der Vieux Port erwacht zum Leben, Fischer und die Crews der Ausflugsboote machen sich für den vor ihnen liegenden Tag bereit. Delphine hält an der vereinbarten Stelle, worauf Zahida, eine Bosnierin mit rundem Gesicht, sich aus dem Schatten löst.
Z arbeitet als Reinigungskraft auf einem kleinen Kreuzfahrtschiff (dreihundert Personen Kapazität) und wird dafür sorgen, dass meine immer noch bewusstlose Zielperson sicher in einer ungenutzten Kabine erster Klasse untergebracht wird (wo sie vermutlich schlafen wird, bis das Schiff im Hafen des ligurischen Genua anlegt). Außerdem wird Z dort meine Zielperson an den nächsten Betreuer übergeben. Z weiß nicht, wen sie versteckt, und es ist ihr auch egal. Ich habe Z einst aus einer verzweifelten Lage befreit (vielleicht erzähle ich die Geschichte ein anderes Mal), jedenfalls habe ich mir damals ihre Dankbarkeit und Loyalität verdient, und jetzt bezahle ich sie gut.
Z und ich heben meine Zielperson aus dem Taxi, während Delphine sich mit einem knappen Gruß auf den Weg macht. Wir verfrachten den schlaffen Körper der Zielperson in ein wartendes Beiboot, dann fährt Z los. Ich bleibe am Kai stehen und beobachte, wie sie aufs offene Wasser hinausfährt.
Ich setze meine Sonnenbrille auf, ziehe mir die Mütze tief in die Stirn und gehe davon, entschlossen und zielstrebig, eine Frau, die weiß, wohin sie will.
Frank Die Kinder eines anderen Mannes
Frank Burrows hat es gründlich satt, mit seiner Exfrau zu streiten. Er kennt den Ablauf jeder ihrer Auseinandersetzungen in- und auswendig. Quintessenz: Sie hasst ihn aus tiefster Seele und wünscht ihm den Tod an den Hals.
Frank seufzt und versucht, Haltung zu bewahren, während Della zum Angriff übergeht. Schrill dringt ihre Stimme durch die Leitung. Er unterbricht sie. Sein Bruder ist gestorben, um Gottes willen. In Paris. Sein Neffe Jake und seine Nichte Natalie sind ganz alleine dort. Frank versucht immer noch, das alles zu begreifen, was er ihr auch sagt, und jede vernünftige Frau würde verstehen, dass er hinfahren muss und es nicht, wie Della schreit, »doch bloß wieder eine Entschuldigung« ist, damit er seine eigenen Kinder nicht sehen muss. Sie ist außer sich vor Wut! Dabei hat er sich auf die zwei Wochen mit den Mädchen gefreut, die Reservierungen sind gemacht, die Flugtickets gebucht. Und, fügt er hinzu (wobei er lauter und barscher wird, obwohl er genau weiß, dass er im Gespräch mit Della weder Logik noch Mitgefühl erwarten durfte, also warum sollte er sich überhaupt bemühen, seine Stimme zu mäßigen?), sein Bruder ist tot. Brian wurde ermordet.
»Es ist einfach, als würdest du deine eigenen Töchter im Stich lassen, damit du dich um die Kinder eines anderen Mannes kümmern kannst«, zetert Della.
»Wie kannst du so herzlos sein?«, schreit er und knallt den Hörer auf.
Wie konnte er nur diese Frau heiraten? Das kommt davon, wenn man sich über etwas hinwegtrösten möchte. Schon früh war ihm klar, dass sie komplett durchgeknallt ist, aber leider erst, nachdem sie mit den Zwillingen schwanger war. Jetzt ist er sein Leben lang an dieses Miststück gefesselt.
Analise und Adelaide sind inzwischen elf, immer noch kleine Mädchen, die an der Schwelle zu der Achterbahnfahrt der Pubertät stehen. Er liebt seine Töchter von ganzem Herzen. Vor ein paar Monaten hat er Addy dabei ertappt, wie sie Lipgloss trug. Auf sie muss er aufpassen. Ana dagegen spielt immer noch mit ihren Puppen.
Er wird es wiedergutmachen. Wenn das alles vorbei ist, werden sie etwas ganz Tolles unternehmen. Aber jetzt muss er sich auf Jake und Natalie konzentrieren.
Als er seine Reise nach Paris zu planen beginnt, Flüge und Zugfahrpläne vergleicht und sein Büro informiert, ist ihm bewusst, dass er vermeidet, was er als Erstes hätte tun müssen.
Seine Mutter anrufen.
Oder zumindest das Altenheim informieren. Susan Burrows leidet unter Demenz. Es gibt immer noch gute Tage, aber nachdem sie vor zwei Jahren die Einbauküche ihrer Gartenwohnung angezündet hat, mussten Brian und Frank sie nach Meadowfield bringen, »das Beste, was Erwachsenenpflege zu bieten hat«. Frank fand immer, der Name der Einrichtung sei weit hergeholt – sind eine Weide und ein Feld nicht im Grunde dasselbe? Dieser Name ist eine etymologisch ironische Randnotiz, ausgetragen auf dem Rücken derer, die sich nicht länger an ihre eigenen Worte erinnern.
Und wer wird jetzt für Meadowfield bezahlen? Brian hat die Kosten ganz selbstverständlich übernommen, denn er wusste, dass er nicht nur viel mehr Geld verdient als Frank, sondern dass die Alimente Franks Einkommen erheblich mindern.
Frank stapelt Klamotten auf dem Hotelbett und faltet sorgfältig seine Sachen zusammen. Was für ein Glücksfall, dass er gerade für eine Fachmesse in London ist. In wenigen Stunden wird er bei Jake und Natalie sein.
Vielleicht ruft er lieber noch nicht im Heim an. Vielleicht ist es ja ein Segen für sie, wenn sie eine Weile noch nicht Bescheid weiß, zumindest für den Augenblick. Doch die amerikanischen Nachrichten werden den Vorfall bald genug aufgreifen. Und sobald die Journalisten herausfinden, dass es sich bei Brian um Brian Burrows handelt, den Ehemann von Mallory Burrows, deren Verschwinden vor drei Jahren besonders schlüpfrige Schlagzeilen machte, werden sie sich die Hände reiben. Frank verdrängt die Frage, weil er nicht weiß, wie er mit alldem umgehen soll.
Er hält inne, zerknüllte Socken in der Hand. Brian. Tot. Ihre Beziehung war nicht immer einfach. Aber bei welchen Brüdern ist sie das schon? Doch die Endgültigkeit trifft ihn schwer. Nun wird vieles für immer unausgesprochen bleiben.
Catherine Auf geht’s
Erleichterung durchströmt mich beim Anblick des unscheinbaren kleinen Hotels. Der Tag wird wieder brüllend heiß werden. Schon jetzt scheint eine widerliche Mischung aus Hitze und penetrantem Gestank vom Pflaster aufzusteigen.
Das Hotel ist heruntergekommen, mit bröckeligen Mauern, zerbrochenen Stufen und einer verwitterten, in einem verblassten Türkis gestrichenen Tür. Ich betrete die kühle, trübe erleuchtete Lobby und blinzele, damit sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnen.
»Ah, Mademoiselle. Willkommen«, begrüßt mich Gabriel, der uralte, mürrische Besitzer. Gabriel und ich haben eine Übereinkunft. Ich zahle bar, und er stellt keine Fragen.
Gabriels Hände sind knotig von der Arthritis, bewegen sich jedoch recht flink, als er das Bündel Euroscheine einsteckt, das ich ihm gebe. Im Gegenzug überreicht er mir einen Schlüssel. Zimmer 3. Mein Lieblingszimmer.
Ich steige die schiefen, knarzenden Stufen in den zweiten Stock hinauf und stecke den Schlüssel ins Schloss. Ein eisernes Bettgestell ist mit fadenscheinigen Laken und einer ausgebleichten Paisley-Tagesdecke bezogen. Es gibt einen Stuhl mit einer kaputten Rattansitzfläche und einen Rattantisch. Die zartblaue Wandfarbe hat Risse und löst sich, der Boden und die Sockelleisten sind zerschrammt, die einzige Stehlampe mit dem verzierten schmiedeeisernen Gestell und dem kobaltblauen Fransenschirm ist staubig.
Warum also ist das mein Lieblingszimmer?
Ich trete an das Fenster und spähe auf die enge Straße hinaus. Die Wände sind dünn genug, dass ich jeden kommen höre, aber die Jalousien so dicht, dass ich das ganze Licht ausblenden kann. Deshalb ist es mein Lieblingszimmer.
Ich verriegle die Tür, schließe auch die Jalousien und hülle den Raum in Dunkelheit. Dann schlüpfe ich aus meinen schweren Plateauschuhen und sinke dankbar auf das Bett. Sofort fallen mir die Augen zu.
»Cathy.« Das Flüstern einer weiblichen Stimme streicht an meinem Ohr entlang. »Auf geht’s, Cathy. Auf geht’s.«
Ich schieße hoch, spähe in die Schatten. Mein Herz fühlt sich an, als wollte es mir aus der Brust springen.
Wo ist sie? Können wir rechtzeitig entkommen?
Ich bin allein.
Frank Im Bruchteil einer Sekunde
Frank lässt sich in seinen Sitz im Eurostar sinken. Überprüft die Uhrzeit. In sieben Minuten sollte der Zug abfahren. Bisher hat er nur mit Jake gesprochen; Natalie wurde ruhiggestellt. Frank macht sich Sorgen um sie, kann es kaum erwarten, sie endlich von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Jake klang zutiefst verstört. Zweifellos steht er unter Schock.
Ein weiteres Mal hält sich Frank vor Augen, wie froh er sein kann, dass er zufällig in London war. Ein gutes Timing inmitten dieser Tragödie.
Eine kräftige, nordisch aussehende Frau quetscht sich in den Sitz neben ihm, und Frank nickt ihr flüchtig zu. Er hofft bloß, sie ist keine Quasselstrippe. Er will in Ruhe gelassen werden, den Erinnerungen an seinen Bruder nachhängen.
Frank war acht, also muss Brian damals fünfzehn gewesen sein. Frank ging nach der Schule ganz allein von der Bushaltestelle nach Hause. Dafür musste er unterwegs nur eine Straße überqueren, aber es war das erste Jahr, in dem Frank diesen Weg allein gehen durfte. Vorsichtig und voller Stolz blickte er nach links und rechts, ehe er die Straße überquerte.
Er schloss die Haustür auf, ließ seinen Rucksack und die Schlüssel auf der Bank im Flur fallen, rief nach seiner Mutter. Keine Antwort.
Er fand sie zusammengesackt auf dem Fliesenboden in der Küche. Ihr Gesicht war nass von Tränen, der Inhalt einer halb leeren, eiskalten Wodkaflasche hatte sich über ihre Bluse ergossen. Sie wurde wütend, als sie ihn sah, und obwohl Frank inzwischen längst weiß, dass sie zutiefst beschämt gewesen war, empfand er damals nur Angst und Panik. Sie kam unsicher auf die Füße, schwenkte die Flasche und verschüttete dabei noch mehr Wodka, während sie ihn anschrie, er solle in seinem Zimmer verschwinden.
Frank war wie betäubt. Er hatte doch nichts falsch gemacht! Er weigerte sich. Seine Mutter packte seinen Arm, zerrte ihn zur Haustür und stieß ihn hinaus auf die Straße.
»Da kannst du bleiben!«, schnauzte sie ihn an, schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel um.
Aus seinem eigenen Elternhaus ausgesperrt und voller Angst vor diesem Ungeheuer, das die Kontrolle über seine Mutter gewonnen hatte, aber immer noch in der festen Überzeugung, dass er unschuldig war, hämmerte Frank an die Tür und schrie, sie solle ihn wieder reinlassen. Aber das tat sie nicht.
Vier Stunden später fand Brian ihn zusammengekauert vor der Tür, als er vom Baseballtraining zurückkam. Franks Tränen waren schon längst getrocknet. Der Saum seines T-Shirts war rotzverschmiert. Brian brachte Frank hinein und schickte ihn unter die Dusche. Als Frank aus dem Badezimmer kam, lag seine Mutter im Bett und schlief, ein Röhrchen Aspirin und ein Glas Wasser neben sich auf ihrem Nachttisch. Brian stand in der Küche und machte Sandwiches.
»Wir wollen Dad nichts davon erzählen«, bot Brian an. »Er braucht es nicht zu wissen.« Ihr Vater war bei einer Tagung in Hilton Head und würde in zwei Tagen zurückkommen.
Frank schwieg. Stundenlang hatte er geschrien und geweint, doch nun hatte er keine Worte mehr.
»Du weißt von Laurie?«, fragte Brian. Frank schaffte es, den Kopf zu schütteln.
Brian seufzte. »Es gab ein anderes Baby zwischen dir und mir. Ein Mädchen. Laurie. Heute ist ihr Geburtstag. Sie wäre zwölf geworden. Sonst ist Dad immer hier, aber …«
Frank bekam den klebrigen Bissen seines Erdnusssandwichs mit Johannisbeergelee nicht hinunter, deshalb spuckte er ihn sich in die Hand. »Was ist mit ihr passiert? Mit Laurie?«
»Na ja, diese Krankheit, wenn Babys einfach nicht mehr aufwachen. Plötzlicher Kindstod heißt das, glaube ich. Ich war zu klein, um mich zu erinnern, aber du musst das verstehen, Frank. Manche Tage sind für Mom einfach schwieriger als andere.«
In dieser Nacht fand Frank keinen Schlaf.
Doch wie gewohnt kehrte irgendwann der Alltag wieder ein. Frank ging zur Schule und zur Little League, fuhr auf dem Segelboot der Familie hinaus, ging ins Sommerlager.
Und auch wenn seine Mutter danach wieder die Mutter war, die er immer gekannt hatte, war ihm nach diesem Vorfall klar, dass er nun verstand, wie Dinge und Menschen sich im Bruchteil einer Sekunde ändern konnten.
Genauso wie jetzt.
Catherine Lösegeld
Das hübsche kleine Café unter freien Himmel im 1. Arrondissement ist zu drei Vierteln gefüllt. Marmortische mit Messing. Große grüne Schirme mit Pastis-Werbung spenden Schatten. Eine angenehme Brise, die warme Sonne. Ein herrlicher Tag in Paris.
Ich verliebe mich immer wieder aufs Neue in diese Stadt; es ist unmöglich, das nicht zu tun. Ich trage eine alte Boyfriend-Jeans, dazu ein in der Taille verknotetes Herrenhemd und Sneakers. Perfekte Kleidung, wenn man sich schnell bewegen will.
Ich sitze in der Ecke mit dem Rücken zur Wand und kritzele etwas in ein Notizbuch. Den breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen, picke ich an einem Stück Schokoladenkuchen herum.
Das Bild von Brian Burrows’ blutiger Leiche geht mir nicht aus dem Kopf, auch wenn ich es noch so gern verbannen würde.
Das geronnene Blut. Seine ausgestreckten Hände, offen und flehend.
Ich habe einen Job zu erledigen. Wenn ich damit fertig bin, kann ich darüber nachdenken, wie ich Brian Burrows’ Leiche entdeckt habe. Vorher nicht. Ich lasse einen cremigen Bissen der dekadent dicken Schokoladenglasur auf meiner Zunge schmelzen. Nippe an meinem bitteren Espresso.
Das Objekt meines Interesses sitzt mit zwei Freunden beisammen. Er raucht Kette und hustet, trinkt gierig seinen Rotwein. Als er den Kopf zurückwirft und lacht, unterdrücke ich ein Stirnrunzeln. So verhält sich doch kein Mann, dessen geliebte Frau gerade entführt wurde.
Dieses ganze Projekt basiert auf einer Reihe von Vermutungen, die ich im Zuge meiner Recherchen abgesichert habe. Für Fehler ist kein Platz.
Da ist sie, pünktlich wie immer. Delphine.
Sie sieht atemberaubend aus. Natürlich wusste ich das schon vorher. sie hat sich ziemlich gut entwickelt, seit wir uns das erste Mal begegneten, und selbst damals war sie schon eine ziemliche Nummer.
Ich werfe einen kurzen Blick auf ihn. Bei jedem anderen Mann würden die wulstigen Lippen und die Knollennase hässlich wirken, doch seine breiten Wangenknochen und sein markantes Kinn verleihen seinem Gesicht eine unerwartete Eleganz. Er hat volles Haar, das er voller Eitelkeit pflegt; das erkenne ich daran, wie er sich darüberstreicht. Die dunklen Schatten unter seinen blutunterlaufenen Augen lassen allerdings ahnen, dass das Lachen vielleicht auch nur ein Zeichen von Stress war.
Es ist an der Zeit.
Delphine tänzelt an ihm vorbei. Ihr marineblaues Etuikleid wirkt auf den ersten Blick züchtig, bei genauerem Hinsehen jedoch enthüllt es jede geschmeidige Kurve ihres herrlichen Körpers. Die hohen Absätze heben ihren Hintern an, drücken ihre Brüste nach vorn. Ihre Augen sind hinter der Prada-Sonnenbrille nicht zu erkennen. Sie trägt eine Perücke, eine blond glänzende Lockenmähne, die sich über ihren Rücken ergießt. Wir wissen, dass er auf Blondinen steht.
Es läuft genauso ab, wie ich es vorhergesehen habe. Sein Blick folgt ihr. Er grunzt etwas auf Russisch. Seine Freunde lachen, drehen sich um und glotzen hinter ihr her. Ein dunkelhäutiger Teenager in der Kellnerkluft (Jumah, ein Freund von mir, dessen Bekanntschaft Sie später noch machen werden) geht an ihrem Tisch vorbei, lässt den dicken elfenbeinfarbenen Umschlag in den Schoß meines Russen fallen und verlässt das Café, ohne dass ihn jemand bemerkt.
Beiläufig stecke ich mein Notizbuch ein, lege einen Zwanziger für meinen Kuchen und den Kaffee auf den Tisch. Ich schlendere aus dem Café, verschwinde in den Massen der Fußgänger, die den herrlichen Sommernachmittag genießen.
Im Hintergrund höre ich die wütende Stimme und lächle. Die Nachricht wurde gelesen. Der Brief selbst ist ganz altmodisch, ausgeschnittene Buchstaben aus russischen Zeitungen, in Finnland gekauft, auf ein Stück steifes Pergament aus einem Geschäft für Kunstbedarf in Madrid geklebt, alles lediglich mit Handschuhen berührt.
Die Zahlungsmethode ist deutlich progressiver: Bitcoins.
Man darf nichts durcheinanderbringen, wenn man eine Lösegeldforderung überbringt.
Natalie Wiedervereinigung
Jake hatte darauf bestanden, dass sie ein wenig frische Luft schnappt; als sie sich sträubte, hat er erklärt, er müsse dringend einige »Details« mit Onkel Frank besprechen, die Natalie lieber nicht mitbekommen sollte. Sie hätte sich vehementer gewehrt, doch der Schock und die Medikamente haben sie lethargisch gemacht. Also hat sie sich erneut in den Parc Monceau geschleppt, doch im Gegensatz zu früher hasst sie ihn jetzt. Es ist der letzte Ort, an dem sie sich davor aufgehalten hat.
Das Problem ist, dass ihr Gehirn die grausigsten Bilder der »Details« heraufbeschwört, die ihr angeblich erspart werden sollten. Was konnte schlimmer sein als der Anblick ihres Vaters mit durchgeschnittener Kehle?
Sie findet etwas Trost in dem blutigen Fetzen Nagelhaut, den sie abbeißt, im Brennen der winzigen Schnitte, die sie sich heimlich an der Innenseite ihres Oberschenkels zugefügt hat.
Ein junger Polizist mit der Statur eines Gewichthebers steht in einiger Entfernung, von wo aus er sie beobachten kann. Sie starrt ihn an, malt sich aus, wie er unter ihrem sengenden Blick in Flammen aufgeht, zu Schlacke und pudriger Asche verbrennt.
Für jeden Tag dankbar sein? Scheiß drauf. Natalie zittert trotz der feuchten Wärme an diesem Nachmittag. Dann sieht sie sie: Jake und Onkel Frank.
Gott sei Dank. Onkel Frank wird wissen, was zu tun ist.
Sie läuft hinüber, um ihn zu begrüßen. Instinktiv formen sie sich zu einem engen Kreis, Arme um Schultern gelegt, Stirn an Stirn, isoliert wie auf einer Insel aus geteilter Liebe und Trauer.
Im ersten Moment ist Natalie überrascht, als sie erfährt, dass sie in ein Hotel ziehen müssen. Andererseits ist es nachvollziehbar. Das Apartment ist ein Tatort. Es ist eine Erleichterung, in gewisser Weise.
Begleitet von einer Polizeieskorte, fahren sie zu einem funktionalen, modernen Hotel. Durchs Fenster der Limousine beobachtet Natalie, wie die Straßen vorbeiziehen. Cafés, Geschäfte, Radfahrer. Restaurants, Sehenswürdigkeiten, Touristenfallen. Paris ist eine Stadt, die sich nach Krieg, Besetzung und Terrorismus immer wieder neu erfunden hat. Sie beneidet die Stadt um diese Widerstandsfähigkeit, obwohl sie sie nicht teilt. Sie würde am liebsten sterben. Sich einfach zusammenrollen und sterben.
Natalie fühlt sich vergiftet. Aber vielleicht ist ja sie das Gift. Keine Ahnung.
Sie checken ein. Sicherheitshalber wird der Gewichtheber-Gendarm auf dem Flur vor ihrer Suite postiert.
Endlich sind sie in der modern eingerichteten, in Orange- und Brauntönen gehaltenen Suite allein. Onkel Frank bedeutet ihnen, sich an den Esstisch für vier Personen zu setzen.
Niemand sagt etwas. Offensichtlich sind sie über die Plattitüden der Trauer hinaus. Es ist unerträglich, diese Last des Verlusts und der Trauer. Unerträglich.
Sie ist erleichtert, als Onkel Frank sich den logistischen Fragen zuwendet. Natürlich werden sie mit der Polizei kooperieren. Außerdem hat er für sie einen Termin bei der amerikanischen Botschaft vereinbart, gleich morgen früh. Danach bestellt er beim Zimmerservice etwas zu essen. Das grauenvolle Gefühl eines Déjà-vu ergreift Besitz von Natalie. Sie dachte, wenn Onkel Frank das Ruder in die Hand nähme, würde es ebenso beruhigend wirken wie damals, als Mom verschwand. Stattdessen macht diese Vertrautheit sie krank.
Tränen strömen über Natalies Wangen. Sie lässt den Kopf auf ihre verschränkten Arme sinken. Onkel Frank streichelt ihren Rücken, murmelt genau dieselben Banalitäten darüber, wie alles wieder gut wird, die Natalie hasst, denn sie hat sie schon zu oft gehört, und gar nichts ist wieder gut geworden.
Ein Krachen lässt sie zusammenzucken. Sie blickt auf, sieht Jake, der einen Stuhl über den Kopf schwingt und ihn gegen den bereits zerborstenen mannshohen Spiegel schleudert. Scherben regnen auf den Teppichboden.
Onkel Frank wird blass, springt auf. »Jake. Hör damit auf. Das bringt uns auch nicht weiter.«
»Scheiß drauf!«, schreit Jake. »Scheiß auf das Arschloch!« Sein Gesicht fleckig, sein Körper angespannt von so viel aufgestauter Aggression.