Bedrohte Humanität - Maximilian Gottschlich - E-Book

Bedrohte Humanität E-Book

Maximilian Gottschlich

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Beschreibung

Sympathy is a basic human need and provides the basis for coexistence. Without sympathy, social relationships atrophy, and if we lack sympathy we are not doing justice to our humanity. However, this existential capacity for sympathy is now increasingly being lost. Growing hatred, narcissistic egomania and a spreading attitude of global indifference are symptoms of a sick society that is increasingly suffering from a loss of sympathy. How can sympathy, and with it our humanity, be rescued in times of profound social and technological upheaval? Maximilian Gottschlich provides a clear answer: we need a new culture of empathetic communication & because sympathy develops primarily within language-mediated social relationships, in speech that takes an interest in the personality and existence of another person, in every word in which fellow human beings feel that they are being taken seriously and their concerns and needs are being understood. The ethical foundations on which this type of language of sympathy is based and its distinctive features are made clear in this committed and interdisciplinary plea for a new empathetic communication culture.

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Der Autor

Maximilian Gottschlich ist emeritierter Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Seine zahlreichen Bücher, Aufsätze und Artikel setzen sich mit der modernen Kommunikationsgesellschaft, der Medien- und Kommunikationsethik, der Problematik des Antisemitismus, dem Verhältnis von Religion, Medien und Gesellschaft sowie der Arzt- Patienten-Kommunikation auseinander. Als Christ mit jüdischen Wurzeln beschäftigt er sich seit vielen Jahren mit Fragen jüdisch-christlicher Verständigung und Spiritualität. Seit Beginn seines Ruhestandes widmet sich Gottschlich wieder vermehrt der abstrakten Malerei.

Maximilian Gottschlich

Bedrohte Humanität

Plädoyer für eine empathische Kommunikationskultur

Verlag W. Kohlhammer

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Titelbild: Maximilian Gottschlich, Blaue Komposition, Acryl auf Leinwand, 2021 (Foto: Gerd Frühwirth).

Autorenportrait: Manfred Bobrowsky.

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-042657-3

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-042658-0

epub:        ISBN 978-3-17-042659-7

Inhaltsverzeichnis

 

 

Vorwort

Einleitung

Teil 1    Über Mitgefühl

Vorbemerkung

1   Biologisches Programm

Gespiegelte Gefühle

Ohne Du, kein Ich

2   Moralische Aufgabe

Einfühlen und Mitfühlen

Solidarität der Verletzbaren

3   Politisches Projekt

Das Gewicht fremden Leids

Neue Metaerzählung

4   Therapeutische Kraft

Macht des Unglücks

Existenzielle Beziehung

5   Spirituelle Erfahrung

Schöpferisches Potenzial

Jüdisch-christliche Markierungen

Teil 2    Die Feinde des Mitgefühls

Vorbemerkung

6   Hass

Destruktives Vorurteil: Antisemitismus und Judenhass

Destruktive Ängste

Digitaler Hass

7   Narzissmus

Leitneurose unserer Zeit

Frühe Bindungsstörungen

Digitale Egomanie

8   Gleichgültigkeit

Tugend oder Mangel

Flucht in die Indifferenz

Selbstentfremdung

Teil 3    Die Sprache des Mitgefühls

Vorbemerkung

9   Verbale Achtsamkeit

Schwieriges Terrain

Sprachliche Existenz

Empathisches Verstehen

Kommunikatives Gewissen

10 Anteilnehmende Fürsorge

Existenzielle Grundbefindlichkeit

Partizipative Intersubjektivität

Vom Beobachter zum Teilnehmer

11 Bewahrte Würde

Eine Frage der Achtung

Erwartungsfreies Engagement

12 Wiederhergestellte Integrität

Über andere zum Selbst

Soziale Unsichtbarkeit

13 Gerechte Kommunikation

Asymmetrische Beziehung

Intimität und Scham

Epilog

Nur universales Mitgefühl kann uns retten

Literaturverzeichnis

Vorwort

 

 

Während ich diese Zeilen schreibe, im Zentrum Wiens, mit Blick über eine sich friedlich ausbreitende Dachlandschaft, aus der zum Greifen nahe die filigrane Eleganz des Stephansdoms in den Frühsommerhimmel ragt, fallen in nicht allzu weiter Entfernung russische Bomben und Raketen auf ukrainische Städte. Seit 100 Tagen führt Russlands Präsident Wladimir Putin einen Terrorkrieg gegen die Ukraine, die es seiner ideologischen Überzeugung nach als Nation nicht geben darf, und es ist nicht absehbar, wie lange dieser Krieg noch dauern und wie er enden wird. Derzeit konzentriert sich die russisch Armee auf die Eroberung der östlichen Region der Ukraine, den heißumkämpften Donbass, und betreibt mithilfe ihrer Artillerie und dem Bombardement durch die Luftwaffe eine Strategie der »Entvölkerung« und der »Auslöschung der Zivilisation«, wie es Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock formulierte.

Seit dem denkwürdigen 24. Februar 2022 ist die Welt eine andere geworden. Was in den Jahrzehnten der Entspannung zwischen Ost und West unvorstellbar schien, ist plötzlich bittere Realität geworden: Krieg in Europa. Tagtäglich erschüttern Nachrichten und Bilder des Grauens Europa und die westliche Welt. Wohngebäude, Spitäler, Altenheime, Theater, Schulen, Kindergärten, ja selbst Geburtskliniken werden dem Erdboden gleich gemacht. Männer, Frauen und Kinder sterben im Granat- und Kugelhagel einer Invasionsarmee, die zwischen militärischen Anlagen und ziviler Infrastruktur, zwischen Soldaten und Zivilisten keinen Unterschied macht. Mittlerweile sind Millionen Menschen, vorwiegend Mütter mit ihren Kindern, auf der Flucht, während die wehrdienstfähigen Männer zurückbleiben, um ihr Land gegen die Usurpatoren zu verteidigen. Wer sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen kann, ist der Willkür und Barbarei der russischen Besatzer ausgesetzt, den Vergewaltigungen, Morden, Plünderungen und Verwüstungen. Dort, wo die russische Soldateska wütete, pflastern Leichen ziviler Opfer russischer Massaker die Straßen und Plätze. Immer mehr Massengräber ermordeter Zivilisten werden gefunden. Nach dem Rückzug russischer Einheiten dokumentieren Vertreter internationaler Organisationen, Forensiker und andere Experten die Gräueltaten der Besatzer. Bisher konnten an die 15.000 Kriegsverbrechen dokumentiert werden – und das ist erst der Anfang der Bilanz des Schreckens. Inzwischen werden gegen die für diese Verbrechen unmittelbar Verantwortlichen und auch gegen Putin sowie seinen engsten Beraterkreis vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag Anklagen wegen Kriegsverbrechen und Völkermordes vorbereitet. Europa und das westliche Verteidigungsbündnis, die Nato, befinden sich in anhaltendem Alarmzustand. Angesichts der durch den Ukrainekrieg veränderten geopolitischen Lage beginnt die EU, ihre Sicherheitsarchitektur neu zu entwerfen. In einem ersten Schritt wird die Nato-Ostflanke militärisch aufgerüstet, während die bis dahin bündnisfreien Staaten Finnland und Schweden vor ihrer Aufnahme in die Nato stehen. Von Tag zu Tag eskaliert die Situation. Die westliche Unterstützung der ukrainischen Armee mit modernen Waffensystemen, die eine effiziente Verteidigung möglich machen sollen, wird von der Sorge begleitet, ob die russische Invasionsarmee bei ihrem Eroberungsfeldzug nicht auch chemische, biologische oder gar atomare Waffen zum Einsatz bringen wird, um die Ukraine zur Kapitulation zu zwingen. In den EU-Staaten wächst die Angst vor einer atomaren Eskalation und einer Ausweitung des Krieges.

Zugleich erhält das Bild europäischer Einheit und Geschlossenheit in der Ächtung des russischen Eroberungskriegs erste Risse. Die anfänglich nahezu überbordende Hilfsbereitschaft und empathische Solidarität weichen inzwischen wachsendem nationalem Eigeninteresse. Denn die umfänglichen Boykottmaßnahmen der EU gegen Russland bleiben auch für die europäischen Staaten nicht ohne spürbare Folgen: Rasant steigende Energiekosten treiben die Preise in die Höhe, für breite Kreise der Gesellschaft wird der gewohnte Lebensstandard immer weniger leistbar. Haushalte mit niedrigerem Einkommen sind davon besonders betroffen und lassen überall in der EU den Ruf nach staatlichen Unterstützungsmaßnahmen laut werden. Dass das Embargo des Westens zwar Putin und seiner Entourage schadet, aber auch Europa in wirtschaftliche, insbesondere energiepolitische Schwierigkeiten stürzt, wurde zwar vorhergesehen, macht sich aber erst jetzt schmerzlich bemerkbar. Solidarität ist ein hoher humanitärer und politischer Wert, sie hat aber auch ihren Preis, den immer weniger Menschen im Westen zu zahlen bereit sind, je länger der Krieg dauert und je ungewisser sein Ausgang ist. Und so stellt sich die Frage, wie lange dieses blau-gelbe Band der Solidarität Europas und der USA mit dem um seine Freiheit, Souveränität und territoriale Integrität kämpfenden ukrainischen Volk der Zerreißprobe standhalten wird, wenn die ökonomischen Belastungen und die Sorge vor einem Dritten Weltkrieg zunehmen?

Ich habe dieses Buch knapp vor der russischen Invasion fertiggestellt. Und auch der gewählte Titel Bedrohte Humanität stand fest, noch bevor sich die Szenen eines »postapokalyptischen Schlachtfelds«1 in unser Bewusstsein einbrannten, noch bevor Butscha und Kramatorsk zum schrecklichen Symbol für das Monströse geworden sind, das Menschen anderen Menschen antun können. Schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn machte der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, in einem Appell an die Führer der Weltreligionen deutlich, dass in diesem Vernichtungsfeldzug der Begriff der Humanität außer Kraft gesetzt werde. Kein Tag des Kriegs vergeht, an dem sich diese bittere Einsicht nicht auf immer neue, immer perversere Art bestätigte.

Aber die Humanität wird nicht erst durch entfesselte kriegerischer Gewalt, durch Verbrechen gegen die Menschlichkeit und durch Völkermord außer Kraft gesetzt. Sie ist schon wesentlich niederschwelliger in Gefahr, verwässert, missachtet oder überhaupt zum Verlöschen gebracht zu werden. Die langsame Erosion der Humanität vollzieht sich in unseren alltäglichen sozialen Beziehungen – überall dort, wo die für unsere persönliche und soziale Entwicklung unverzichtbare Emotion des Mitgefühls unterdrückt, missachtet oder ganz zum Verschwinden gebracht wird. Wo es an Mitgefühl mangelt, dort ist die Unmenschlichkeit nicht weit. Unsere Humanität hängt nicht an unseren intellektuellen Fähigkeiten und Leistungen, nicht am wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt, sondern an unserer Fähigkeit zum Mitgefühl. Das Mitgefühl ist das Zentrum der Menschlichkeit. Sich auf einen anderen, seine Situation und sein Schicksal ganz einzulassen, ist ein kommunikativer Akt, der besondere Achtsamkeit für die Person und auch besondere Aufmerksamkeit für die Sprache erfordert. Sprache ist mehr als ein bloßes Instrument des Informationsaustausches oder der Verständigung. Sprache kann viel mehr. Sie kann Wunden schlagen, vermag aber auch, in Gestalt des mitfühlenden Wortes geschlagene Wunden zu heilen. Es ist gerade dieses Thema des heilstiftenden Potenzials der Sprache, das mich seit vielen Jahren beschäftigt. In meinen Publikationen zur Problematik defizitärer Arzt-Patienten-Beziehungen habe ich zu zeigen versucht, dass empathische Kommunikation in der Medizin nicht nur eine ethische Verpflichtung ist, sondern dass das mitfühlende ärztliche Wort unmittelbaren und empirisch nachweisbaren positiven Effekt auf das Heilungsgeschehen hat. Mitfühlende kommunikative Praxis ist also auch eine therapeutische Notwendigkeit.

In diesem Buch nun lege ich eine breitere Perspektive an: Nicht nur die Medizin, sondern die Gesellschaft insgesamt bedarf einer neuen empathischen Kommunikationskultur, will sie nicht ihren humanitären Anspruch verlieren. Das ist eine Herausforderung, die nicht von heute auf morgen zu bewältigen ist, sondern die an die gesellschaftlichen Institutionen – allen voran Pädagogik, Bildung, Politik, Kunst und Kultur – ja, die primär an jeden von uns gerichtet ist. Mitgefühl kann nicht von oben herab verordnet werden, es kann nur als Prinzip unserer sprachlich vermittelten sozialen Beziehungen gelebt und solcherart eingeübt werden. Die Ausgangslage für eine solche empathische Kulturrevolution ist allerdings, das muss man nüchtern sehen, nicht gerade ermutigend. Denn das Mitgefühl hat mächtige Gegenspieler: allen voran die negativen und destruktiven Emotionen Hass, Narzissmus und Gleichgültigkeit. Sie sind Symptome eines gesellschaftlichen Entfremdungsprozesses, der unweigerlich in die Inhumanität führt. Es stellt sich daher die dringliche Frage, wie wir das Mitgefühl inmitten tiefgreifender gesellschaftlicher und technologischer Umbrüche als humane Grundhaltung bewahren und fördern können. Die Antwort, die ich in diesem Buch zu geben versuche: Es sind vor allem unsere kommunikativen Beziehungen, die wir zum fruchtbaren Boden einer neuen Kultur des Mitgefühls machen müssen. Wie dies geschehen kann, welche besonderen Ansprüche eine Sprache empathischer Empfindsamkeit erfüllt und an welchen kommunikationsethischen Maßstäben sie sich bemisst – damit setzt sich dieses Plädoyer zur Rettung des Mitgefühls in einer zunehmend empathielosen Gesellschaft auseinander.

Viele Einsichten und Überlegungen dieses Buches verdanke ich besonders jenen Begegnungen und Gesprächen, in denen mir die eigenen Mängel im kommunikativen Umgang mit anderen deutlich vor Augen geführt wurden. Scheiternde Gespräche sind immer eine vergebene Chance. Aber wir alle lernen aus unseren Fehlern. Der große Martin Buber schrieb einmal in seiner Dialogphilosophie:

»Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke. Unsere Schüler bilden uns, unsere Werke bauen uns auf […], wie werden wir von unseren Kindern, wie von Tieren erzogen! Unerforschlich einbegriffen leben wir in der strömenden All-Gegenwärtigkeit«.2

In diesem Sinne danke ich meinen Kindern Max, Markus, Theresa und Elias für ihre Liebe und Geduld und oft genug auch für ihre Nachsicht mit dem Vater, wenn er seinen eigenen »gepredigten« kommunikativen Ansprüchen nicht gerecht wird. Dass sie nie aufgehört haben, mich an ihrem Leben und ihrer Entwicklung Anteil nehmen zu lassen, ist ein besonderes Geschenk. Meiner langjährigen Lebensgefährtin, Muse und Ärztin, Ingrid Wernhart, danke ich nicht nur für ihre unermüdliche Sorge um mein gesundheitliches und emotional-seelisches Wohlergehen, sondern auch für die vielen wertvolle Erfahrungen empathischer Beziehungspraxis, die ich an ihrer Seite auf unserem gemeinsamen Weg durch die Wechselfälle des Lebens mit all’ den Höhen und Tiefen machen durfte. Wie schon bei früheren Publikationen, begleitete auch diesmal wieder ihre gleichermaßen liebevolle wie unbestechliche, jedenfalls immer inspirierende Kritik den Entstehungsprozess dieses Buches. Meinem ältesten Sohn Max bin ich für seine sachkundigen philosophischen Einlassungen, wertvollen Anregungen und bereichernden Gespräche dankbar. Meine Tochter Theresa stand mir, wie schon so oft bei Texten und früheren Büchern, auch diesmal wieder hilfreich und geduldig bei der Bewältigung so mancher überraschungsreicher Eigenheiten und Raffinessen meines Computers zur Seite. Besonderer Dank gilt Peter Kritzinger, der maßgeblich dafür sorgte, dass dieses Buch in das Verlagsprogramm von Kohlhammer aufgenommen wurde. Bei Julius Alves bedanke ich mich herzlich dafür, dass er das Manuskript mit so großer Sorgfalt und Umsicht lektorierte.

Widmen möchte ich dieses Buch dem Andenken dreier Menschen, ohne deren empathisches Engagement es meine gesamte Familie, einschließlich meiner Person, nicht gäbe. Die Geschichte geht weit zurück in die Vergangenheit: Wien im Februar oder März des Jahres 1923. Eine verzweifelte junge Frau, ihr Name ist Grete Bugram, sie stammt aus Oberösterreich und arbeitet als Dienstmädchen in Wien, ist in einem westlichen Wiener Außenbezirk unterwegs. In ihren Armen ein Neugeborenes, eingehüllt in eine Decke. Eine zufällig vorbeikommende Passantin sieht sie an, bleibt stehen und fragt unvermittelt im breiten Wiener Dialekt: »Warum schau’ns denn so? Wollen’s gar das Kind’l da weggeben?« Die junge Frau erzählt von ihrem Schicksal, dass das Kind unehelich geboren wurde, der Vater aber nichts davon wissen wolle, dass der Säugling, ein Mädchen, viel zu früh auf die Welt gekommen sei und sie nicht wisse, wie sie das Neugeborene mit knapp mehr als zwei Kilo am Leben erhalten könne. Spontan fordert die Unbekannte die unglückliche junge Frau auf, mitzukommen – sie kenne nicht weit von hier ein Ehepaar, das kinderlos geblieben sei und das Baby vielleicht in Pflege nehmen könne. Dieses Ehepaar, Barbara und Martin Hamernik, lebt in einer Hausmeisterwohnung bestehend aus Küche und kleinem Kabinett in den sogenannten Bahnhäusern unweit der Trasse der Westbahnstrecke. Die Hamerniks hören sich die Geschichte der jungen Mutter an und willigen kurzentschlossen ein, das Kind in Pflege zu nehmen, obwohl sie beim auffällig unterernährten Zustand des Winzlings stark daran zweifeln, ob es überhaupt überleben werde können. Weil der Säugling keinerlei Nahrung bei sich behält, ist er auch mehr zum Sterben als zum Leben. Die Armut im Wien der 1920er Jahre ist groß, es mangelt überall an Nahrung und Heizmaterial. Die Hamerniks pachten zu dieser Zeit unterhalb der Bahntrasse einen kleinen Schrebergarten, in dem sie etwas Gemüse anpflanzen. Und weil das Baby, das sie nun in Pflege haben, außer Kakao, der lediglich mit Wasser angerührt wurde, nichts anderes verträgt, kommen sie auf die Idee, es mit Ziegenmilch zu probieren. Irgendwie gelingt es ihnen, eine Ziege zu besorgen und im Schrebergarten zu halten. Und wirklich: Die Ziegenmilch bringt die Wende und sichert dem Säugling das Überleben. Das Baby ist auf den Namen Cäcilia getauft und wird von den Hamerniks liebevoll Lilli gerufen. Cäcilia war meine Mutter, die nach einem erfüllten Leben im hohen Alter von 86 Jahren starb.

Ohne diese drei Menschen, die sich von der Not eines anderen Menschen berühren ließen, ihrer Intuition folgten und beherzt handelten, wäre alles ganz anders gekommen. Ich habe den Namen dieser großen Unbekannten, die den Kontakt zu den Pflegeeltern meiner Mutter herstellte, leider nie erfragt, als noch Zeit dazu gewesen wäre. Barbara und Martin Hamernik haben mich liebevoll durch meine Kindheit und Jugend hindurch begleitet – ich wünschte, ich hätte ihnen schon Zeit ihres Leben die Anerkennung und Wertschätzung entgegengebracht, die sie verdient haben.

Postscriptum: Grete Bugram, meine Großmutter, wanderte im Zweiten Weltkrieg nach England aus, wo sie in einem Londoner Spital als Krankenschwester arbeitete. Später übersiedelte sie nach Cork in Irland, heiratete und verbrachte dort einige Jahre mit ihrem Mann, Jim Murphy, bevor beide schließlich in die USA emigrierten und bis zu ihrem Tod in der kleinen Stadt Poughkeepsie im Bundesstaat New York lebten. Grete blieb ohne weitere Kinder.

 

Wien, Pfingsten 2022 und Schawuot 5782

Maximilian Gottschlich

1     Simone Brunner: Zuerst Butscha, dann Putin. In: Die Zeit, Nr. 16 vom 13.04.2022, S. 19.

2     Martin Buber: Das dialogische Prinzip. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 200911, S. 19 f.

Einleitung

 

 

Mitgefühl ist zur kostbaren Ressource geworden, die zwar die boomende Branche der Psychotherapeuten, aber immer seltener unsere zwischenmenschlichen Beziehungen bereichert. Unser zunehmend automatisierter Alltag ist empathiearm geworden. Je mehr wir dem Diktat des Digitalen ausgeliefert sind, uns von algorithmusgesteuerten Computerprogrammen bestimmen lassen und unser Denken der Logik der Systeme Künstlicher Intelligenz angleichen, desto dringlicher stellt sich die Frage nach dem, was uns noch von selbstlernenden Maschinen unterscheidet und als Menschen auszeichnet. Dazu gehört in erster Linie unsere emotionale und soziale Kompetenz, allen voran die Fähigkeit zum Mitgefühl. Wenn wir das Mitgefühl verlieren, verlieren wir unsere Menschlichkeit. Dann verwandeln wir uns zu roboterhaften Humanoiden. Mitgefühl ist das eigentlich Menschliche im Menschen, das Herzstück unserer Humanität. Aber dieses Herzstück schwächelt zunehmend, seine lebenserhaltende Kraft droht zu erlahmen. Seit Langem schon beobachten Soziologen eine zunehmende »Vereisung des sozialen Klimas« und ein zunehmend »verrohendes Bürgertum« (W. Heitmeyer). Die brennenden Krisen unserer Tage spalten die Gesellschaft, rufen kollektive Ohnmachtsgefühle und Bedrohungsängste hervor und befeuern autoritäre Einstellungen, Wut, Empörung und Hass. Nicht nur die Corona-Pandemie macht uns schmerzlich bewusst: Wir sind verwundbarer als wir es für möglich hielten. Der »verzweifelte Zustand unserer Welt« (Dalai Lama) ist ein Stresstest für die Widerstandskraft unseres demokratischen Bewusstseins gegen die wachsende autoritäre Versuchung und Radikalisierung in vielen westlichen Gesellschaften. Zugleich ist er auch der Prüfstein für unsere moralische und emotionale Sensibilität.

Ist die Zeitenwende, die wir erleben, eine Wende zur empathielosen Gesellschaft? Die Alarmsignale sind unüberhörbar: Wie ein Flächenbrand verbreiten sich Hass und eine Sprache rassistischer, antisemitischer und sexistischer Gewalt in den sozialen Netzwerken, vergiften die private wie auch öffentliche Kommunikation und hinterlassen weithin Ratlosigkeit, wie dem wachsenden Übel der Hasskriminalität beizukommen wäre. Nicht weniger alarmierend sind die diagnostischen Hinweise auf eine sich ausbreitende narzisstische Egomanie. Narzissmus gilt inzwischen als internetaffine Leitneurose unserer Zeit. Narzissmus steht der Fähigkeit entgegen, tiefe und echte Beziehungen einzugehen und am Schicksal anderer uneigennützig Anteil zu nehmen. Dazu kommt eine dritte Kraft, die das empathische Vermögen lähmt: wachsende Gleichgültigkeit – Gleichgültigkeit und Indifferenz oftmals nicht trotz, sondern wegen eines Übermaßes an Information. Die Kluft zwischen den globalen und dringend lösungsbedürftigen Problemen und einer sich ausbreitenden Haltung »globaler Gleichgültigkeit« (Papst Franziskus) wird immer größer statt kleiner. Viele Menschen fühlen sich durch die anschwellende Flut an Informationen kognitiv und emotional überfordert und schalten einfach ab. Geht in der postfaktischen Epoche des omnipräsenten Einflusses sozialer Medien nicht nur die Wahrheit verloren, sondern auch das Mitgefühl? Verlieren wir das Mitgefühl, verlieren wir alles, was uns als Menschen und als reife Gesellschaft auszeichnet.

Wie also lässt sich eine so notwendige neue Kultur des Mitgefühls inmitten des digital turns der modernen Kommunikationsgesellschaft etablieren? Und auf welche Weise könnte sie gegen Hass, Narzissmus und Gleichgültigkeit immunisieren? Die Antwort, die ich in diesem Buch zu geben versuche: Der Weg zu einer neuen Kultur des Mitgefühls führt über unsere Sprache. Denn Mitgefühl entfaltet sich primär in unseren sprachlich vermittelten sozialen Beziehungen, in unserem Sprechen, das Anteil nimmt an der Person und dem Leben des anderen, in jedem Wort, in dem sich der andere in seinen Sorgen und Nöten ernst genommen und verstanden fühlt. Wenn das Mitgefühl nicht in unserer mitfühlenden Sprache ist, wo dann sollte es sein? Die Sprache empathischer Empfindsamkeit folgt anderen Prinzipien als unsere meist auf Funktionalität, Effizienz und Durchsetzung von Interessen aller Art orientierte Kommunikation. Ich versuche in diesem Buch einige dieser mir zentral erscheinenden Prinzipien zu beschreiben und zu begründen, warum sie für empathische Beziehungen unverzichtbar sind. Nicht immer geht es dabei um kommunikative Zuwendung zu Menschen, die von Schicksalsschlägen betroffen sind, um Krankheit, Kummer, Not und Sorge. Aber dort, wo es um diese existenziellen Grenzerfahrungen geht, wo ein anderer – sei er uns nahe oder auch fern – des tröstenden Zuspruchs, der anteilnehmenden Fürsorge oder auch nur des schweigenden, aber aktiven Zuhörens bedarf, dort ist in besonderer Weise unser Sprechen, unsere Sprache der Empfindsamkeit gefordert. Das ist keine Frage sprachlicher Techniken oder rhetorischer Finesse – die Sprache empathischer Empfindsamkeit gleich eher einer Kunst. In der Sprache des Mitgefühls geht es nicht um die Darstellung oder Mitteilung von Sachverhalten, nicht um Artikulation von Interessen, auch nicht um Argumentation oder gar um Überredung. Die Sprache empathischer Empfindsamkeit ist eine Sprache, in der nichts verhandelt wird, die nicht im Dienst irgendwelcher Interessen oder Erwartungen steht, in der es nichts durchzusetzen gilt, in der es auch nicht um Wahrheit oder Richtigkeit geht. Nichts davon macht das Eigentliche empathischer Intersubjektivität aus. In jeder Frage, wie es einem anderen geht oder was ihn quält, ist sowohl eine Stellungnahme als auch ein unausgesprochenes Versprechen enthalten: Ich habe Dich und Deine Not wahrgenommen – als wahr angenommen; Dein Schicksal ist mir nicht gleichgültig, ich ignoriere es nicht, sondern wende mich Dir in der Absicht zu, Dir zu helfen. Dort, wo mit der empathischen Zuwendung zugleich die innere Bereitschaft gegeben ist, zu helfen, für den anderen da zu sein – dort ist empathisches Sprechen mehr als bloß Rhetorik.

Angesichts eines unendlichen, nie versiegenden Stroms des Unglücks und Leids, mit dem wir tagtäglich konfrontiert sind, laufen Mitleid und Mitgefühl Gefahr, abzustumpfen und über das Niveau flüchtiger und austauschbarer Affekte nicht hinauszukommen. An diesem Prozess der Unterminierung des Mitgefühls zugunsten schnell wechselnder Affekte haben die sozialen Medien erheblichen Anteil. Ich werde im weiteren Verlauf des Buches zeigen, inwiefern das Digitale im Allgemeinen und die sozialen Medien im Speziellen systematisch unsere Fähigkeit zum Mitgefühl untergraben. Der bloße Affekt begründet noch kein Mitgefühl im eigentlichen Sinne. Affekte sind kurzfristige, anlassbezogene, steuer- und manipulierbare Gefühlsregungen, mit denen etwa Politik, Wirtschaft und Medien Aufmerksamkeit herstellen. Das Internet und mit ihm die sozialen Medien sind ausgesprochene Affektmedien, die Gefühlsregungen und Stimmungen unterschiedlichster Art mobilisieren – Empörung, Wut, Hass, Angst, Neugier, Begehren und eben auch Mitgefühl. Wir haben keinen Mangel an Affekten. Wir haben aber einen Mangel an echtem Mitgefühl, wobei ich unter echtem Mitgefühl eine Grundhaltung wohlwollender Interessiertheit an anderen verstehe. Mitgefühl ist, so betrachtet, ein moralisches Gefühl, eine Tugend oder Einstellung, die – im Unterschied zum bloßen Affekt – der steten Einübung bedarf. Die Tugend des Mitgefühls ist keine kurzfristig aufflackernde Stichflamme, die in dem Moment erlischt, in dem ihr der Sauerstoff oder das Brennmaterial entzogen wird. Wir müssen, mahnt der Dalai Lama, »die grundlegenden Sichtweisen verändern, auf denen unsere Gefühle beruhen […]. Jeder von uns ist dafür verantwortlich, dass wir versuchen auf der tieferen Ebene unseres gemeinsamen Menschseins hilfreich zu handeln.«3 Das ist ein moralischer Anspruch, der weit über spontane Affektreaktionen hinausgeht. Wie wir diesen Anspruch in unseren alltäglichen sozialen Beziehungen einlösen können und wie sehr es dabei auf unsere Sprache ankommt – das ist Thema dieses Buches.

3     Dalai Lama: Empathie. Es fängt bei dir an und kann die Welt verändern. Freiburg im Breisgau: Herder 2017, S. 21 f.

Teil 1

Über Mitgefühl

Vorbemerkung

 

 

»Doch das Mitgefühl ist die in uns eingebaute Schranke zum Unmenschlichen. Mit seiner Unterdrückung und Verzerrung ist die Geschichte unserer Zivilisation nicht nur verflochten, sie ist ihr Fundament.«(Arno Gruen)

»Du bist der andere meiner Selbst«(Karl Löwith)

Wir brauchen Mitgefühl zum Leben und zum Überleben. Mitgefühl ist ein menschliches Grundbedürfnis und die Basis unseres sozialen Zusammenlebens. Unsere gesamte psychische, intellektuelle und soziale Entwicklung ist unabdingbar an die Erfahrung mitfühlender Zuwendung gebunden. Häufig jedoch bleibt dieses Bedürfnis ungestillt. Wir sind zwar durch allerlei smarte Kommunikationstechnologien engmaschig miteinander vernetzt, aber wir sind einander nicht nahe. Im Gegenteil: Unterhalb der Oberfläche einer laut tönenden Kommunikationsgesellschaft kommt es zu einem unheimlichen Verstummen, wenn es um die eigentlichen, die Menschen berührenden existenziellen Fragen geht. Da ist vielfach niemand da, der Trost und Halt in schwierigen Phasen unseres Lebens gibt. Wo es an mitfühlenden Worten und Gesten empathischer Zuwendung mangelt, dort wachsen Einsamkeit und seelische Not. Umgekehrt wissen wir aber auch: Nichts vermag seelische Verletzungen besser zu heilen als die Begegnung mit wahrhaft empathischen Menschen, die an dem, was uns quält, bedrückt und ängstigt, Anteil nehmen. Aber da ist immer seltener jemand, der uns seine Aufmerksamkeit schenkt und zuhören möchte. Vielfach stehen wir im Bann unserer eigenen Probleme und wollen gar nicht so genau wissen, wie es dem anderen, dem wir begegnen, wirklich geht. Daher scheuen wir oftmals davor zurück, uns allzu intensiv in die Lebens- und vielleicht auch Leidensgeschichte anderer, uns nicht so nahestehender Personen involvieren zu lassen.

Im Folgenden werde ich die, für unser Mensch-Sein so wichtige, ja unverzichtbare Emotion des Mitgefühls aus fünf unterschiedlichen, aber einander wechselseitig bedingenden Perspektiven beleuchten.

1

Biologisches Programm

Der Mensch ist von Natur aus zum Mitgefühl befähigt. Damit er sich aber auch tatsächlich zum mitfühlenden Wesen entwickeln kann, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Wie alle anderen emotionalen und kognitiven Fähigkeiten, die den Menschen auszeichnen, bedarf auch das Mitgefühl zu seiner Entfaltung kontinuierlicher Impulse und Anregungen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld des Individuums. Es ist das frühkindliche Erleben positiver, emotionaler und mitfühlender Beziehungen zu den engsten Bezugspersonen – in der Regel den Eltern –, die zur Grundlage dafür werden, dass das Individuum später selbst zu einer mitfühlenden Persönlichkeit reifen kann. Die moderne Gehirnforschung zeigt, dass sowohl die frühkindliche emotionale Entwicklung als auch die schrittweise Selbstwerdung des Menschen eine neurobiologische Basis in Gestalt neuronaler Netzwerke haben. Damit sich diese Nervennetzwerke entfalten können, bedürfen sie der ständigen Anregung von außen, also der kontinuierlichen Interaktion und Kommunikation mit der Umwelt. Fehlen diese Kommunikationsangebote, dann bleiben sie mangels anregender Informationen unterversorgt und verkümmern.

Gespiegelte Gefühle

In der »neuronalen Architektur« des Menschen spielt das System der Spiegelneuronen eine besondere Rolle.1 Aufgabe dieser Art von Nervenzellen ist es, beobachtbare Körpersignale oder Handlungen im Gehirn des Beobachters zu simulieren und nachzubilden. Das Gehirn »spiegelt« gleichsam beobachtbare Handlungen oder den körpersprachlichen Ausdruck anderer Menschen. Spiegelneuronen »lesen« Körpersignale und sorgen dafür, dass im Empfänger von Körpersignalen eine Resonanz ausgelöst wird, die denjenigen Gefühlszustand widerspiegelt, der im Sender vorhanden war.2

Diese Spiegelsysteme im Gehirn des Menschen sind die neurobiologische Basis für die emotionale Entwicklung des Menschen, für das intuitive Wissen, den Austausch von Emotionen und Empfindungen, die sich in der Körpersprache manifestieren. Spiegelneuronen sorgen dafür, dass beobachtbare Handlungen im Gehirn des Beobachters mitvollzogen werden. Wenn sich Menschen im Laufe ihrer Entwicklung an den verschiedensten Vorbildern orientieren, ihnen nacheifern, sie imitieren, dann lernen sie am Modell. Dieses Lernen am Modell lässt sich an der Wirkung sogenannter Influencer in den sozialen Medien als massentaugliches Phänomen gut beobachten. Es hat seine neuronale Grundlage im System der Spiegelneuronen. Die Spiegelung ist dabei wechselseitig, ein Vorgang wechselseitiger Repräsentation des einen im anderen. Jeder der Partner entwirft in sich ein mentales Bild des jeweils anderen, an dem er sich in seinem Kommunikationsverhalten orientiert. Bevor zwei Menschen, die einander begegnen, ein mehr oder minder wortreiches Gespräch beginnen, deuten sie einander auf Basis körpersprachlicher Zeichen, die sie wechselseitig interpretieren und die mitentscheidend dafür sind, ob ein Gespräch stattfindet und wenn ja, welche Richtung ihm gegeben wird. Diese wechselseitige Spiegelung nonverbaler Körpersignale führt zu einem ersten intuitiven Verständnis des jeweils anderen. Die sozialen Neurowissenschaften haben mit bildgebenden Verfahren herausgefunden, dass das Gehirn von jemand, der beobachtet, dass ein anderer Schmerz empfindet, so reagiert, als würde er selbst unter Schmerzen leiden. Das dafür zuständige Gehirnareal, die vordere Insula, zeigt nicht nur bei eigenem, sondern auch bei beobachtetem Schmerz entsprechende Aktivität. Der beobachtete Ausdruck des Schmerzes wird im Beobachter dank der Spiegelnervenzellen nachempfunden. Sie sind die neurobiologische Basis von Empathie. Spiegelnervenzellen sind Teil eines neurobiologischen Resonanzsystems, das dazu verhilft, dass der Mensch auf dem Weg von Resonanzreaktionen seine Um- und Mitwelt und damit auch sich selbst zu deuten lernt.

Alles beginnt mit diesem intuitiven Erschließen der Umgebung und der engsten Bezugspersonen mithilfe von Resonanzen. Resonanzreaktionen sind die Grundform kommunikativer Beziehungen. Bereits von den ersten Lebenstagen an tritt der Säugling in intensive, nonverbale Interaktion mit den Menschen, die ihm am nächsten sind. Schon unmittelbar nach der Geburt findet ein »Tanz der Augen« zwischen Mutter und Kind statt. In diesem intimen Interaktionsprozess, in dem der Säugling die freudigen Augenreaktionen, die Mimik, Gestik und liebevolle Stimme der Mutter zu lesen lernt, bahnt sich die Mutter-Kind-Bindung an. Untersuchungen zeigen, dass zwölf Tage alte Säuglinge bereits differenziert auf den emotionalen Gesichtsausdruck Erwachsener reagieren können.3 Das Lächeln des Kindes wird mit einem Lächeln der Eltern beantwortet. Diese frühen Formen der Interaktion und Kommunikation des Kleinkindes mit seiner engsten sozialen Umwelt beruhen auf intuitiven Spiegelresonanzen. Sie lassen die Mutter oder den Vater spüren, wie es dem Kind geht, ob es sich wohl oder unwohl fühlt, zufrieden oder unzufrieden ist. Umgekehrt liest schon das Kleinkind in den nonverbalen Ausdrücken der Mimik und Gestik, auch in der Tonalität der Sprache, wie sein eigenes Verhalten auf die Eltern wirkt. Zunächst ist es ausschließlich die Körpersprache und die von ihr ausgehenden Spiegelresonanzen, über die sich das Kind auf vorsprachliche, nonverbale Weise mit seiner Mitwelt verständigt. Schon in den ersten beiden Lebensjahren bildet sich die Basis für die Fähigkeit zum intuitiven Verstehen anderer, die uns durch unser ganzes Leben hindurch begleiten wird und die in unseren späteren Entscheidungsprozessen eine nicht unerhebliche Rolle spielt.

Über diese frühe Erfahrung lernt das Kleinkind, Emotionen wahrzunehmen und zu unterscheiden. Fehlt diese Resonanz der Umwelt, kann sich kein Spiegelsystem ausbilden. Die Folge: Dem Kind fehlt die Orientierung, die es zunächst nur durch Resonanz durch seine Umwelt, in der Regel durch seine Eltern gewinnen kann. Wenn diese frühkindliche Interaktionsbereitschaft auf keine oder nur ungenügende Resonanz stößt, keine den Erwartungen und Bedürfnissen des Säuglings adäquate Reaktion seitens seiner nächsten Bezugspersonen erfolgt, dann reagiert der Säugling entweder verzweifelt oder gar mit Apathie. Menschen, die als Kind in ihrer emotionalen Befindlichkeit wenig gespiegelt wurden, können später ihr eigenes emotionales Empfinden – wie etwa Mitgefühl – nicht ausreichend differenziert entwickeln. Sie selbst sind dann auch wenig resonanzfähig und haben Schwierigkeiten, sich in andere Menschen einzufühlen. Der Mangel an positiver emotionalen Resonanzerfahrungen im frühen Kindesalter kann dazu führen, dass in späteren Jahren die neurobiologischen Programme fehlen, die dafür verantwortlich sind, dass die Gefühle, die bei anderen wahrgenommen werden, spontan und unwillkürlich rekonstruiert werden können. Sind diese neuronalen Systeme der Spiegelnervenzellen mangels positiver, mitfühlender Interaktionserfahrungen in der frühen Kindheit nicht ausreichend entwickelt, dann bleibt auch die Fähigkeit zum Mitgefühl unterentwickelt. Diese Menschen tun sich damit schwer, Mitgefühl zu empfinden und zu zeigen.4

Ihnen fehlt gleichsam die notwendige Software, das neuronale Empathie-Programm, das in empathischen Interaktionsbeziehungen von früh auf gebildet wird und mit der Entwicklung des Kindes und der Qualität der Interaktionsbeziehungen mit seiner sozialen Umwelt mitwächst. Herrscht ein Mangel an solchen positiven Interaktions- und Kommunikationsbeziehungen vor, dann wirkt sich das nachteilig auf die emotionale Entwicklung des heranwachsenden Menschen aus. Das Verabsäumte kann später nicht mehr aufgeholt werden und führt oftmals zu bleibenden psychischen Schäden. Emotionale Defizite, die durch die schmerzliche Erfahrung des Mangels an liebevoller Zuwendung und positiver emotionaler Resonanz entstehen, werden dann nicht selten – so sie nicht therapeutisch aufgearbeitet werden – durch allerlei Ersatzhandlungen kompensiert. Dazu zählen neben Drogen und Alkohol eine übermäßige Erfolgs- oder Konsumfixierung oder auch die Flucht in die verschiedensten Angebote der Unterhaltungsindustrie.

Ohne Du, kein Ich

Ein Mangel an positiven Kommunikationserfahrungen in der Kindheit wirkt sich nicht nur negativ auf die Empathiefähigkeit des Menschen aus, sondern insgesamt auf seine Selbstwerdung. Unser Selbst ist ein kommunikatives Selbst, das eines permanenten kommunikativen Austausches bedarf und das sich ohne intensive Kommunikation und Interaktion mit der Umwelt nicht zu entwickeln vermag. Auch für die kommunikative Konstruktion des Selbst bildet das System der Spiegelnervenzellen die neuronale Basis. Selbstwerdung gelingt nicht als isoliertes Individuum, sondern nur im engen Austausch mit der Umwelt. Dieser identitätsbildende Austausch, das machen die modernen Neurowissenschaften klar, beginnt bereits im Säuglingsalter mit dem Erlebnis von Spiegelungserfahrungen. Denn, so beschreibt der Neurobiologe und Psychotherapeut Joachim Bauer den beginnenden Prozess der Selbstwerdung,

»die an das Kind adressierten Resonanzen sind überlebenswichtig, sie führen den bei der Geburt hochgradig unreifen Säugling langsam aus seiner postnatalen Desorientierung heraus […]. Die anfängliche Desorientierung des Säuglings weicht einer sich Stück für Stück etablierenden inneren Grundordnung zwischen zwei Polen: einem Ich und einem Du, einem Selbst und einem signifikanten Anderen. Beide Vorstellungen, sowohl die vom Du als auch die des Ich, entstehen gemeinsam. Das Selbst des Menschen ist sozusagen ein Zwei-Perspektiven-Selbst. Innere Bilder von Du und Ich werden […] tatsächlich in einem gemeinsamen neuronalen Netzwerk abgespeichert.«5

Um Ich werden zu können, muss der Mensch schon von Geburt an im anderen, zunächst den engsten Bezugspersonen, Resonanz auf sein eigenes Wesen finden können. Unterbleiben diese Resonanzen, wird auch der Prozess der Selbstwerdung gefährdet.

Damit untermauern die Erkenntnisse der modernen Neurowissenschaften eindrucksvoll, wovon Philosophen von Johann Gottlieb Fichte über Georg Friedrich Hegel bis hin zu Martin Buber immer schon ausgegangen sind: Der Mensch wird nur durch andere Menschen zum Menschen. Um Ich zu werden, um also ein um sich selbst wissendes Bewusstsein ausbilden zu können, bedarf es der Beziehung zu einem Du. Die Begegnung mit sich selbst führt immer über den Umweg eines Du, in dem sich das Ich spiegeln kann. In diesem Sinn macht Martin Buber in seiner dialogischen Ethik deutlich, dass das Ich nur Ich sein kann, wenn es sich in einem Du erkennt. Neurobiologie und Philosophie greifen hier direkt ineinander. Paul Celan gibt dieser wesensbestimmenden Verflechtung von Ich und Du, in der erst das Selbst des einen wie des anderen hervorgebracht wird, mit der Gedichtzeile »Ich bin du, wenn ich ich bin«6 einen bleibenden literarischen Ausdruck. Prosaischer gesagt: Das Selbst des Menschen entsteht und wandelt sich in kommunikativer Resonanz mit der Mitwelt. Dieser existenzielle Kommunikationsprozess setzt bereits bei der Geburt ein und verläuft zunächst noch auf non-verbaler Ebene, indem der Säugling lernt, die ihm widergespiegelten verbalen, mehr aber noch non-verbalen Reaktionen seiner Bezugspersonen auf sein Verhalten zu deuten. Er beginnt Schritt für Schritt, sich von seiner Mitwelt zu unterscheiden und bestimmte Muster des Verhaltens auszubilden, wobei ihm stets die ihm widergespiegelte Reaktionen seiner Mitwelt gleichsam als Orientierung in Form von Verstärkung oder Versagung, Zuspruch und Erfüllung oder auch Widerspruch und Verweigerung dienen. Kurz: Der Heranwachsende lernt durch Resonanz sich selbst kennen und erkennen, also erste Schritte zur Ausbildung eines Selbstkonzepts zu setzen.

Nach der präverbalen Phase kommt ab dem zweiten Lebensjahr der Sprache entscheidende Bedeutung bei diesem Prozess der Entwicklung eines Selbst zu. Auch die Sprache erwirbt der Mensch durch Spiegelung und Resonanz:

»Die im kindlichen Gehirn durch die an das Kind gerichtete Sprache hervorgerufene Resonanz hinterlässt eine bleibende Spur, eine Art Fingerabdruck, der dem Kind bei seinem eigenen ersten Sprachversuch auf die Beine hilft. Das Kind erwirbt die Sprache durch Imitationsversuche, deren Anmut bekanntlich jeden Vater und jede Mutter verzücken kann«.7

Wo diese Widerspiegelung durch vertraute Mitmenschen ausbleibt, es also zu keiner authentischen emotionalen Resonanz kommt, da verkümmert das eigene emotionale Erleben, und mit ihm die Fähigkeit zum emotionalen Verstehen anderer. Es erleidet aber auch die Entwicklung des Selbst des Menschen Schaden, weil fehlende Resonanz die Möglichkeit zur Orientierung unterbindet. Ohne Resonanz durch die Mitwelt kann der Mensch in kein Verhältnis zu sich selbst und zu anderen treten. Er hängt gleichsam in der Luft. Durch wechselseitig gespiegelte Resonanzen werden »Möglichkeitsräume« eröffnet, in die das Selbst des Kindes hineinwachsen kann. An das zunächst nonverbal, mittels Körpersignale vermittelte Resonanzgeschehen schließt etwa mit Beginn des dritten Lebensjahres die sprachlich vermittelte Resonanz an. So genannte Selbstsysteme sorgen nun dafür, dass das Kind über den Austausch von Worten und die Herstellung von Vergleichen und Ähnlichkeiten allmählich ein Verhältnis zu sich selbst und zu anderen gewinnt.8

Als Medium von Resonanz bleibt Sprache und sprachliche Kommunikation ein ganzes Leben lang von grundlegender Bedeutung. Ich werde in diesem Buch immer wieder auf den grundlegenden Zusammenhang von Mitgefühl und Sprache zu sprechen kommen. Mitgefühl bedarf der sprachlichen Beziehungen, um ein Verhältnis aktiver Anteilnahme am anderen begründen zu können, wie auch umgekehrt sprachliche Beziehungen der Haltung des Mitgefühls bedürfen, damit sich über das Wort das handlungsleitende Prinzip der Orientierung am Wohlergehen des anderen vermitteln kann. Der Grundstein dafür wird in den ersten Lebensjahren gelegt.

1     Vgl. Joachim Bauer: Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. München: Blessing 20192.

2     Vgl. ebd., S. 85.

3     Vgl. Arno Gruen: Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit. München: dtv 19982, S. 68 f.

4     Vgl. Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. München: Heyne 20065, S. 51 und S. 127. Vgl. auch: Maximilian Gottschlich: Medizin und Mitgefühl. Die heilsame Kraft empathischer Kommunikation. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007, S. 140–144.

5     Bauer, Wie wir werden, wer wir sind, S. 27.

6     Diese Zeile befindet sich in Paul Celans Gedicht Lob der Ferne, das er 1948 während eines kurzen Aufenthalts in Wien verfasste.

7     Bauer, Wie wir werden, wer wir sind, S. 45.

8     Vgl. ebd., S. 135–143.

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Moralische Aufgabe

Die neurowissenschaftliche Forschung konnte den Nachweis erbringen, dass wir von unseren biologischen Voraussetzungen her auf Mitgefühl hin angelegt sind. Es sind die neuronalen Resonanzsysteme, die uns zum homo empathicus befähigen. Dass die Forschung als biologischen »Sitz« des Mitgefühls die reziprok mit dem Thalamus und der Amygdala verbundene Inselrinde ausgemacht hat, ist ohne Zweifel eine wichtige neurowissenschaftliche Erkenntnis. Aber die neurobiologische Struktur des Mitgefühls macht noch keine mitfühlende Grundeinstellung, kein mitfühlendes Wort und kein empathisches, helfendes Handeln aus. Mitgefühl ist nicht nur ein Merkmal unseres Menschseins unter anderen Merkmalen, sondern Mitgefühl ist die Voraussetzung für unsere soziale Existenz und unsere Humanität. Wer sich menschlich verhält, der verhält sich im Prinzip auch mitfühlend und umgekehrt: Wer es an Mitgefühl mangeln lässt, der verhält sich unmenschlich, der wird dem Anspruch der humanitas nicht gerecht. Der Mensch erweist sich gerade im Mitgefühl als Mensch oder Unmensch.

Einfühlen und Mitfühlen

Wie ein roter Faden durchzieht die Philosophiegeschichte die Frage nach der Bedeutung von Gefühlen für unser Menschsein und die Art und Weise, wie der Mensch sein Leben im Spannungsfeld zwischen affektiv-emotionalem und kognitiv-rationalem Vermögen gestalten soll. Die Antworten, die darauf gefunden wurden, bieten sowohl in philosophischer als auch psychologischer Sicht ein höchst heterogenes und facettenreiches Bild.9 Die Begriffe Empathie und Mitgefühl weisen nicht nur eine miteinander »verwobene Geschichte« (F. von Harbou) auf, sondern werden häufig auch in einem rivalisierenden Verhältnis zueinander gesehen.

Unter Empathie wird häufig ein Vorgang neutralen Einfühlens in eine andere Person verstanden. Schauspieler brauchen Empathie, um eine Rolle glaubwürdig spielen zu können, Kriminalbeamte müssen in der Lage sein, sich in den mutmaßlichen Täter einzufühlen, um ihn der Tat überführen zu können, und Mediatoren bedürfen eines gewissen Maßes an Einfühlungsvermögen in die Konfliktpartner, um eine zufriedenstellende Konfliktlösung möglich zu machen. Der Wettstreit um politische Machtpositionen, Einflusssphären oder Marktanteile setzt die Fähigkeit voraus, sich in den politischen Gegner oder wirtschaftlichen Konkurrenten hineinzuversetzen, um dessen Motive und Handlungsstrategien zu antizipieren und schließlich konterkarieren zu können. Ohne diese Fähigkeit zur Einfühlung würden unsere zwischenmenschlichen Beziehungen nicht gelingen, wäre Verständigung unmöglich. Dann gibt es auch noch die dunklen Seiten der Empathie: Der Sadist entwickelt Empathie für sein Opfer, um es noch besser quälen zu können, und der Betrüger versetzt sich in die Situation derjenigen Person, der er mit viel List Geld aus der Tasche locken möchte.10 Das empathische Vermögen kann also auch zum Bösen missbraucht werden und zum Schaden für andere werden.