Begabungen von Kindern erkennen und fördern - Anne Vohrmann - E-Book

Begabungen von Kindern erkennen und fördern E-Book

Anne Vohrmann

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Beschreibung

Kinder haben individuelle Vorlieben und entwickeln unterschiedliche Begabungen. Dabei geht es nicht (nur) um gute Noten oder Hochbegabung, sondern darum, alle Kinder und Jugendlichen ihren Stärken entsprechend herauszufordern und sie zu unterstützen, sei es musisch-künstlerischer, verbaler oder kognitiver Art. Dieser Band geht den Fragen nach, wie PädagogInnen und Eltern verschiedene Begabungen erkennen können, welche Art von Fördermaßnahmen es gibt und welche Perspektiven sich auch jenseits der Schule in der Freizeit, der Familie oder im Übergang zum Berufsleben bieten. Als Praxisbeispiele dienen zahlreiche Figuren aus literarischen Texten. Anhand dieser inspirierenden Beispiele werden acht Begabungsbereiche beleuchtet und Themen wie Kreativität im Kontext besonderer Begabungen den Eltern und PädagogInnen für den Erziehungsalltag und die eigene Praxis nähergebracht.

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Praxiswissen Erziehung

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

 https://shop.kohlhammer.de/praxiswissen-erziehung

Die AutorInnen

Dr. Anne Vohrmann ist Postdoktorandin am Internationalen Centrum für Begabungsforschung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Dr. David Rott ist Studienrat im Hochschuldienst am Institut für Erziehungswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Anne Vohrmann/David Rott

Begabungen von Kindern erkennen und fördern

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-037607-6

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-037608-3

epub:        ISBN 978-3-17-037609-0

Inhalt

 

 

Einleitung

Teil 1   Hintergrund

1      Verschiedene Perspektiven auf Begabung

1.1   Begabung und Intelligenz

1.2   Begabungsbereiche

1.3   Begabung als Wechselspiel

1.4   Begabung und Kreativität

2      Warum Begabungen überhaupt finden und fördern? Zwei Perspektiven

2.1   Begabungsförderung zur Persönlichkeitsentwicklung

2.2   Begabungsförderung zur gesellschaftlichen Verantwortungsübernahme

Teil 2   Verschiedene Begabungen erkennen und fördern

3      Überblick zum zweiten Teil

4      Kognitive Begabung

4.1   Kognitive Begabungen erkennen

4.2   Räume zur Entfaltung kognitiver Begabungen

5      Sprachliche Begabung

5.1   Sprachliche Begabungen erkennen

5.2   Räume zur Entfaltung sprachlicher Begabungen

6      Logisch-mathematische Begabung

6.1   Logisch-mathematische Begabungen erkennen

6.2   Räume zur Entfaltung logisch-mathematischer Begabungen

7      Visuell-räumliche Begabung

7.1   Visuell-räumliche Begabungen erkennen

7.2   Räume zur Entfaltung visuell-räumlicher Begabungen

8      Körperlich-kinästhetische Begabung

8.1   Körperlich-kinästhetische Begabungen erkennen

8.2   Räume zur Entfaltung körperlich kinästhetischer Begabungen

9      Musikalische Begabung

9.1   Musikalische Begabungen erkennen

9.2   Räume zur Entfaltung musikalischer Begabungen

10    Inter- und intrapersonale Begabungen

10.1 Inter- und intrapersonale Begabungen erkennen

10.2 Räume zur Entfaltung inter- und intrapersonaler Begabung

Fazit und Ausblick

Leseliste und weitere Leseempfehlungen

Literaturverzeichnis

Einleitung

 

 

Ausführungen zum Thema Begabung gibt es viele – und auch viele gute. Angesprochen werden oftmals Lehrpersonen. Eigentlich sind es aber zumeist Studien- und Lehrbücher, die sich für den Einsatz in der universitären Lehre, vor allem in der Erziehungswissenschaft, eignen. Wir haben uns dazu entschieden, diesen Band in der Reihe »Praxiswissen Erziehung« zu schreiben, der sich deutlich von den üblichen Einführungen oder auch Ratgebern abhebt. Eltern oder Professionelle im Kontext der Erziehung (also etwa Erzieherinnen oder Sozialarbeiter) wollen wir als Adressatinnen und Adressaten1 in den Mittelpunkt rücken. Wir wollen ihnen Perspektiven aufzeigen, wie die eigene pädagogische Praxis so gestaltet werden kann, dass sie Kinder und Jugendliche darin bestärkt, ihre Begabungen und Talente zu erproben, zu entwickeln und schlichtweg auszuleben.

Dabei maßen wir uns nicht an zu sagen, welche Schritte in welchem Fall immer die richtigen sind: Erziehung ist Beziehungsarbeit, es geht um die einzelnen Menschen, die in Erziehungszusammenhängen zusammentreffen und die das Miteinander gestalten müssen. Und Erziehung ist eingebunden in gesamtgesellschaftliche Bedingungen und Prozesse, in denen diese persönlichen Beziehungen aufgebaut und gepflegt werden. Ein technisches oder mechanisches Verständnis von Begabung ist da fehl am Platz.

Doch was ist Begabung nun überhaupt? Wir wollen versuchen, uns dem Konstrukt Begabung weiter anzunähern, und müssen dabei feststellen, dass Begabung ein schillernder Begriff ist. Wenn wir Fortbildungen geben, mit unseren Studierenden arbeiten oder aber wenn wir begabungsfördernde Angebote in Schulen, für Stiftungen oder in sozialen Einrichtungen durchführen und dort mit den Kindern und Jugendlichen sprechen, stoßen wir immer wieder auf Klischees. Auf die Frage, welche Personen oder fiktiven Figuren die Kinder und Jugendlichen, Studierenden oder aber Lehrpersonen mit dem Begriff Begabung verbinden, bekommen wir immer wieder dieselben genannt: Albert Einstein, Stephen Hawking, Marie Curie – das ist die Naturwissenschaftsfraktion. Sheldon Cooper aus der TV-Serie Big Bang Theory, Sherlock Holmes, Raimond aus dem Film Rain Man – das sind Filmfiguren, die sich alle dadurch auszeichnen, dass sie dem Autismus-Spektrumsstörungsbereich zugeordnet werden können und die alle, in unterschiedlichem Maße, sozial eher weniger kompatibel sind. Hinzu kommen die Sportlerinnen und Sportler (Boris Becker, Steffi Graf), die Musikerinnen und Musiker (Mozart, Anne-Sophie Mutter) oder Künstlerinnen und Künstler (Picasso, Frida Kahlo). Dabei fällt auf, dass gerade historische Personen zu Ikonen in ihren Bereichen geworden (etwa Albert Einstein) und fiktive Figuren oftmals stark überzeichnet sind (etwa Lisa Simpson aus der Zeichentrickserie »Die Simpsons« als leistungsversessene Streberin). In dieser Listung wird deutlich, dass der Begriff Begabung verbunden ist mit Stereotypen und Vorurteilen – und dass dieser Begriff alles andere als geklärt ist. Dies gilt übrigens nicht nur für die Alltagssprache, sondern auch für den wissenschaftlichen Diskurs.

Dieses Buch soll dazu beitragen, den Terminus Begabung als einen pädagogischen Begriff besser verstehen zu können. Es soll helfen, Begabung in unterschiedlichen Facetten zu erkennen. Und es soll helfen, Angebote zu machen, die für Kinder, Jugendliche oder auch Erwachsene Räume schaffen, um diese Begabungen zu entfalten. Die Ausgestaltung solcher Prozesse ist immer auch an gesellschaftliche Rahmenbedingungen geknüpft und nicht im luftleeren Raum denkbar. Trotz dieser Einschränkungen werden wir in unserer Arbeit von der Idee geleitet, dass Begabungen zum einen etwas zutiefst Individuelles sind, zum anderen aber auch, dass Menschen, die ihre Begabungen und Talente kennen und diese nicht nur für den eigenen Vorteil, sondern für die Gesellschaft insgesamt fruchtbar machen, das Zusammenleben verbessern können. Das ist unser normatives Leitgerüst, wenn es uns um begabungsförderliche Erziehung geht: die einzelne Person stärken, die dann die Gesellschaft in einem demokratischen Sinne mitgestalten kann. Die Begriffe Teilhabe und Partizipation sind zentral für pädagogisches Arbeiten. Wie können wir dazu beitragen, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Ganzen oder in einem speziellen Feld stärker an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen können?

Um diese Ideen zu verdeutlichen und breit diskutieren zu können, haben wir uns dazu entschieden, nicht auf konkrete Fälle einzugehen, die uns in unserer pädagogischen Praxis begegnen. Wir arbeiten beide an der Universität Münster im Kontext des Internationalen Centrums für Begabungsforschung und in die Beratung oder zu unseren Angeboten kommen oft Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, bei denen Begabung als Problem ausgemacht wird – sie sind in ihren Umgebungen unangepasst, sorgen für Ärger, weil sie viel hinterfragen, und gehen ganz eigene Wege. Sie kommen in der Schule nicht klar, haben Stress mit ihren Eltern. Aber diese Menschen sind nur ein ganz kleiner Prozentsatz derer, die wir in diesem Buch beschreiben wollen: Begabung ist für uns nicht ein Problem, ein Ärgernis, ein Stressfaktor, sondern etwas Spannendes und Anregendes, das Raum zur Entfaltung benötigt. Denn, und das ist Fakt, die meisten Menschen, die man als begabt bezeichnen kann, fallen gar nicht auf: Sie sind angepasst, mehr oder weniger erfolgreich, haben Freunde, Familie, sind sozial eingebunden. Begabung ist also kein medizinischer oder psychologischer Befund, sondern etwas ganz Normales.

Statt eben auf die Problemfälle zu schauen, wollen wir einen anderen, unkonventionellen Weg gehen und Sie einladen, sich darauf einzulassen. Die Fälle, die wir in diesem Band heranziehen, sind fiktional und entstammen Kinder- und Jugendbüchern, in denen Protagonistinnen und Protagonisten auftauchen, die jeweils über besondere Begabungen verfügen, und sind ganz unterschiedlich gelagert. Ben Fletcher zum Beispiel ist ein Jugendlicher, der das Stricken für sich entdeckt, Flavia De Luce ist eine Chemieexpertin, Detektivin und Giftmischerin erster Güte oder aber Ruby Redford Codeknackerin und Geheimagentin. Ihnen wird auffallen, dass die aufgeführten Protagonisten und Protagonistinnen alle »ein wenig anders« sind. Das ist für uns kein Makel, sondern ein großer Pluspunkt.

Exkurs: Biografische Kinder- und Jugendbücher

Neben diesen fiktiven Figuren hat sich in den vergangenen Jahren auch ein ganz eigenes Genre der Biografien beeindruckender Persönlichkeiten für Kinder etabliert. Diese werden wir nicht in dieses Buch als Fallbeispiele aufnehmen, wollen Sie aber zu mindestens darauf aufmerksam machen. Exemplarisch sind hier die Good Night Stories for Rebel Girls von Elena Favilli und Francesca Cavallo (2017) oder die Bilderbuch-Reihe Little People, Big Dreams von María Isabel Sánchez Vegara (erscheint seit 2014, bisher über 30 Bände im Insel Verlag) zu nennen, in denen in knapper und inspirierender Form bekannte, besondere Menschen vorgestellt werden. Während Good Night Stories for Rebel Girls (2017) jeweils eine Doppelseite einer Person widmet und hierbei, wie der Titel verdeutlicht, vor allem Mädchen ansprechen und ermutigen will, eigene Wege zu gehen, richtet sich das Buch »Stories for Boys who dare to be different – Vom Mut, anders zu sein« (Brooks, 2018) vor allem an Jungen. Ob es dieser Geschlechtertrennung hier Bedarf, sei dahingestellt.

Jeder Band der Reihe Little People, Big Dreams befasst sich hingegen mit einer Person. Hannah Arendt, Maria Montessori oder Elton John werden ausgehend von ihrer Kindheit und ihren Ideen vorgestellt, die Entwicklungen aufgezeigt und in ihren Leistungen gewürdigt. In einem Anhang werden die Personen noch einmal vertiefend über Zeitleisten und historische Fotos präsentiert. Diese Bücher eignen sich gut zum Vorlesen zuhause, aber auch zum pädagogischen Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen außerhalb der eigenen vier Wände. Sie sind inspirierend und können Visionen ermöglichen, wie man selbst – und die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, mit denen man arbeitet – gern wäre. Sie bieten Perspektiven an und viel Identifikationspotenzial, indem sie die Personen nicht überhöhen, sondern in ihren Entwicklungen, Fragen, Problemen und Errungenschaften zeigen. Dieses menschliche Bild der Protagonistinnen und Protagonisten schafft für die Lesenden einen ermutigenden Zugang.

Wir beide lesen gerne diese Bücher in unserer Freizeit, aber sie sind nicht einfach entspannende Lektüre: Über diese Bücher haben wir uns selbst oftmals dem Thema Begabung noch einmal stärker genähert. Gerade auch im Austausch mit Kindern, Jugendlichen, Studierenden, Kolleginnen und Kollegen oder pädagogisch Tätigen sind es oftmals diese Figuren, die Gespräche angeregt und die Blickwinkel auf das Thema Begabung noch einmal stark erweitert haben.

Gleichzeitig können Bücher der Art, wie wir sie hier aufführen, auch der Begabungsentfaltung von Kindern und Jugendlichen selbst dienen, wenn sie gelesen werden.

Die Bücher, auf die wir uns hier beziehen, sind oft lustig, meistens spannend und vor allem: nicht so stark problemorientiert. Und das ist es, was wir möchten. Wir möchten uns lösen von der oftmals stark vertretenen Idee des Helfens und dazu kommen, Begabung ein wenig entspannter in den Blick zu nehmen. Denn in den Büchern wird oftmals deutlich: Begabung ist ein Thema, aber die Probleme sind doch eher andere: die nervigen Geschwister, die kranken Eltern, die fehlenden ökonomischen Ressourcen, die Geschlechterklischees, die begrenzenden Institutionen oder Kriminalfälle. Die fiktiven Figuren laden ein, sich zu identifizieren, sich hineinzuversetzen und neue pädagogische Ideen zu entwickeln.

Wir haben während des Schreibens mit vielen Personen über unser Buch gesprochen: mit Eltern, Kindern, Schülerinnen und Schülern, Studierenden, Kursteilnehmenden, Sozialarbeiterinnen oder Erziehern. Und wir haben gespürt, wie inspirierend der Austausch zum Thema Begabung sein kann, wenn Begabung nicht als Problem verstanden wird. Hier möchten wir Sie ermuntern, neue Ideen, Wege oder Inspirationen für Ihr pädagogisches Handeln zu gewinnen. Und wir hoffen natürlich, dass die fiktiven Figuren, die wir Ihnen vorstellen, Sie dazu anregen, selbst zum Kinder- oder Jugendbuch zu greifen und noch einmal genauer nachzulesen, was den Protagonistinnen und Protagonisten eigentlich passiert, und im besten Fall ausgewählte Bücher interessierten Kindern und Jugendlichen empfehlen.

Im ersten Teil dieses Buches werden wir die Hintergründe darlegen, die bekannt sein müssen, um Begabungsförderung ausgestalten zu können. Hierzu beschäftigen wir uns mit dem Begriff Begabung und nähern uns diesem Konstrukt von unterschiedlichen Seiten. Dabei sind immer schon Ideen oder Beispiele für die pädagogische Praxis eingebunden. Gleichzeitig versuchen wir, Ihnen als Leserin oder Leser durch gezielte Fragen Anreize zur Reflexion zu setzen. Wir stellen Ihnen Begabung als komplexen Begriff vor und laden Sie ein, hier mitzudenken und das eigene Handeln zu hinterfragen, um Weiterentwicklungen unterstützen zu können.

Im zweiten Teil werden wir dann ausgehend von diesen Überlegungen die Frage ausschärfen, wie sich Begabungen in den unterschiedlichen Bereichen eigentlich sinnvoll erkennen lassen und wie eine Förderung aussehen kann.

Am Ende des Buches gehen wir noch einmal in die Vogelperspektive und binden die unterschiedlichen Stränge in einem Fazit und Ausblick zusammen. Hier finden Sie auch eine Leseliste in der Hoffnung, dass Sie weitere Inspiration für Ihr pädagogisches Arbeiten finden mögen.

Zur Orientierung im Buch

Aufgaben    Merkmale der Begabungen

Anregungen

1     Im Text verwenden wir wahlweise abwechselnd männliche und weibliche Bezeichnungen, um den Lesefluss zu vereinfachen, häufig schreiben wir aber auch weibliche und männliche Bezeichnungen aus.

Teil 1   Hintergrund

1          Verschiedene Perspektiven auf Begabung

In diesem Teil des Buches finden Sie die grundlegenden Überlegungen zum Thema. In einem ersten Schritt (Kap. 1.1) werden wir eine Abgrenzung von Begabung und Intelligenz vornehmen, die für die pädagogische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen geboten scheint. Daran schließt die Darstellung von Begabung in verschiedenen Bereichen an (Kap. 1.2), in der wir die Theorie der multiplen Intelligenzen von Howard Gardner als Grundlage der weiteren Argumentation bestimmen. Dass Begabung als Wechselspiel zu verstehen ist (Kap. 1.3), wird mit dem Integrativen Lern- und Begabungsmodell von Christian Fischer erläutert. Der Zusammenhang zwischen Begabung und Kreativität ist Thema des letzten Teils des ersten Kapitels (Kap. 1.4).

Wir stellen Ihnen hier also den Begriff der Begabung vor. Bevor Sie mit der Lektüre fortfahren, bitten wir Sie, sich mit der folgenden Frage zu beschäftigen und Ihre Antwort schriftlich festzuhalten.

Was verstehen Sie unter Begabung? Ein Kind/Jugendlicher/Erwachsener ist für mich begabt, wenn …

Wenn Sie sich Ihre Notiz anschauen, dann werden Sie wahrscheinlich unterschiedliche Aspekte notiert haben, mit denen Sie das Konzept Begabung und auch begabte Menschen beschreiben. Wahrscheinlich haben diese Gesichtspunkte viel mit der Motivation zu tun, warum Sie dieses Buch lesen. Sie haben vielleicht einen bestimmten Jugendlichen oder ein Kind im Kopf, an dem Sie Begabung festmachen können. Sie haben vielleicht Ansichten notiert, die mit Ihrem Arbeitsfeld zusammenhängen. Eine Handballtrainerin wird eher sportliche, motorische oder motivationale Dinge notieren als vielleicht ein Klavierlehrer, der neben Motivation vor allem musische Blickwinkel einnimmt, oder eine Mutter, die ihr eigenes Kind vor Augen und damit eher eine ganzheitliche Betrachtungsweise hat.

Dennoch werden sich, aller Wahrscheinlichkeit nach, folgende Aspekte in Ihrer Definition finden: Es geht um Leistungen in einem spezifischen Bereich, in dem sich Begabungen zeigen. Zudem können Motivation und Interesse begleitende Konzepte sein, die Sie berücksichtigt haben. Und sehr wahrscheinlich wird es darum gehen, dass jemand dann als begabt zu bezeichnen ist, wenn sie oder er etwas besser kann als andere, etwa im Vergleich zu Altersgenossinnen und -genossen.

Auf diese Dinge werden wir im Verlaufe des Buches immer wieder zurückkommen. Wir werden auch versuchen, Begabung und Kreativität miteinander in Beziehung zu setzen. Außerdem werden wir anhand eines Begabungsmodells eine schematische Darstellung des komplexen Begabungsbegriffs liefern, das helfen kann, sich mehrperspektivisch und analytisch mit Begabungen auseinanderzusetzen, die einem in der pädagogischen Praxis begegnen.

Zunächst wollen wir jedoch den Intelligenzbegriff etwas näher beleuchten, der nicht außen vor gelassen werdend darf, wenn man sich mit Begabung beschäftigt.

1.1       Begabung und Intelligenz

Befasst man sich mit dem Thema Begabung, spielt Intelligenz immer eine Rolle. Wenn eine Begabung identifiziert werden soll, dann stellt sich stets die Frage, wie das geschehen kann, denn Begabung ist abstrakt. Man kann sie nicht direkt sehen, sondern muss immer auf sie schließen. Sehen kann man in den unterschiedlichen Bereichen Leistungen, die Personen zeigen. Von diesen Leistungen aus kann dann auf eine vorhandene Begabung zurückgeschlossen werden, aber der Zugriff auf die Begabung erfolgt immer noch moderiert über eine entsprechende Leistung.

Ein Vorgehen, das oft erfolgt, ist die Intelligenzmessung. Intelligenz wird als Fähigkeit bezeichnet, sein Denken auf neue Forderungen einzustellen (vgl. Stern, 1916). Intelligenz wird umgangssprachlich häufig als Denken-Können bezeichnet und ist wahrscheinlich das am besten erforschte Konstrukt in der Psychologie (Berger & Schneider, 2011). Es liegen zum Beispiel viele Studien vor, die nachweisen, wie sehr Intelligenz und Schulleistungen oder auch Berufs- und Lebenserfolg zusammenhängen (z. B. Rost, 2009). Aus unserer pädagogischen Sicht ist es notwendig, zwischen Intelligenz und Begabung zu differenzieren. Um zu illustrieren, wieso wir das so sehen, werfen wir zum einen fünf Diskussionsfragen auf, die am Ende dieses Kapitels in einer Quintessenz auch noch einmal gebündelt betrachtet werden.

Fallbeispiel Lotta (Hach, 2019)

Leseempfehlung

Hach, L. (2019). Grüne Gurken. München: Mixtvision.

Zum anderen machen wir Sie an dieser Stelle mit Lotte bekannt, mit der wir diese Diskussionsfragen durchspielen. Lotte aus dem Roman Grüne Gurken von Lena Hach (2019) ist 14 Jahre alt, tollpatschig, selbstironisch und gerade unfreiwillig mit ihren Eltern aus einem hessischen Dorf nach Berlin Kreuzberg umgezogen. Neben der Herausforderung, mit dem Umzug in die Großstadt und der ersten Liebe umzugehen, hat sie noch ein Problem:

»Bestimmt ist es schon deutlich geworden: Meine Familie ist überdurchschnittlich clever. Ich bin die unfreiwillige Ausnahme. Deshalb halte ich das Ergebnis meines letzten IQ-Testes auch geheim.« (Hach, 2019, S. 11)

Gleich mehr zu Lotte.

Erste Diskussionsfrage: Was misst ein Intelligenztest?

Die Höhe der Intelligenz wird mit Hilfe von Intelligenztests gemessen. Haben Sie schon einmal selbst einen Intelligenztest bearbeitet? Oder waren Sie dabei, wenn jemand einen Intelligenztest bearbeitet hat? Wahrscheinlich haben Sie die eine oder andere typische Aufgabe eines solchen Intelligenztestes vor Augen. Für Lotte sehen Intelligenztests wie folgt aus:

»Auf jeden Fall haben meine Eltern mich noch nicht aufgegeben. Jahr für Jahr schleppen sie mich in ein wechselndes Konferenzhotel zur offiziellen Aufnahmeprüfung. Da schwitze ich dann zwischen anderen, mehr oder weniger ehrgeizigen Sprösslingen von definitiv ehrgeizigen Menschen. Und wir alle suchen das nächste logische Zeichen für irgendeine bescheuerte Reihe. Muss ich erwähnen, dass meine Cousins und Cousinen es auf Anhieb geschafft haben?« (Hach, 2019, S. 11–12)

Bei einem Intelligenztest bekommen Sie also beispielsweise Reihen von Mustern vorgelegt und müssen entscheiden, wie das Muster weitergeführt wird oder aber, welches Muster nicht in die vorgegebene Reihe passt. Sie bekommen eine ganze Reihe solcher Aufgaben, die Sie in einer vorgeschriebenen Zeit bearbeiten müssen. Am Ende werden dann die korrekten Ergebnisse zusammengezählt und in das Verhältnis zu Ihrem Lebensalter gesetzt. Der Begriff Intelligenzquotient kommt daher, dass lange Zeit das Ergebnis im Intelligenztest in ein Intelligenzalter übertragen und das dann durch das Lebensalter geteilt wurde. Es wurde also ein Quotient gebildet. Heute ist das Vorgehen angepasst worden, aber der Begriff ist geblieben (Stumpf & Perleth, 2019).

Und schon haben Sie den Intelligenzquotienten, also den IQ. Der IQ wird mithilfe von Intelligenztests sehr zuverlässig gemessen. Ein Intelligenztest erfasst also das Denken des Menschen, die kognitiven Fähigkeiten.

Wenn Sie eine vergleichsweise große Gruppe von Menschen bitten, einen Intelligenztest durchzuführen, werden Sie feststellen, dass die Testergebnisse eine große Spannweite abdecken. Wenn Sie der gleichen Gruppe einen anderen Intelligenztest vorlegen, werden Sie feststellen, dass die Ergebnisse der einzelnen Testpersonen vergleichbar ausfallen. Sollten Sie eine Gruppe von Kindern bitten, einen Intelligenztest durchzuführen, werden Sie auch hier ähnliche Variationen hinsichtlich der Ergebnisse feststellen. Werden die Kinder älter und Sie testen diese erneut mit einem Intelligenztest, werden Sie feststellen, dass sich die Testergebnisse der Kinder zwar verändern, die Relation der Testergebnisse unterhalb der Kinder aber vergleichbar bleibt (Boring, 1923).

Intelligenz ist also zuverlässig über einen IQ-Test messbar. Es ist natürlich gut, so ein zuverlässiges messbares Konstrukt zu haben. Aber wer mit Menschen arbeitet, weiß, dass noch mehr hinter einem klugen Kopf steckt, als vorgegebene Aufgaben in einer vorgegebenen Zeit zu lösen. Lotte beispielsweise hat eine Begabung, die nicht unmittelbar mit Intelligenztests abgebildet wird, und zwar zeichnet sie Grafiken. Andere schreiben Tagebuch, sie entwirft Torten-, Block- und Mengendiagramme. So wie dieses hier:

Abb. 1: Warum jemand denkt, ich sei hochbegabt (Hach, 2019, S. 13)

Zweite Diskussionsfrage: Wie viel sagt ein Intelligenzwert aus?

Mit dem IQ liegt also ein gutes Vergleichsmaß für intellektuelle Fähigkeiten vor, die in einem entsprechenden Test abgefragt werden – nicht mehr und nicht weniger. Er wird häufig als Schwellenwert, als sogenanntes Cut-Off-Kriterium genutzt, um beispielsweise den Zugang zu einem speziellen Förderprogramm zu gewähren oder zu verweigern. Erzielt eine Person in einem Intelligenztest etwa einen IQ-Wert von über 115 Punkten, gilt sie als überdurchschnittlich intelligent. Erzielt sie einen Wert von über 130 Punkten, gilt sie als weit überdurchschnittlich intelligent. In unserer Gesellschaft bedeutet der erreichte Wert von 130 zum Beispiel – zumindest vereinfacht ausgedrückt –, dass die Person von nun an als hoch intelligent bezeichnet wird und beispielsweise in den Verein Mensa in Deutschland e. V. eintreten kann.2 Lottes Ergebnis im Intelligenztest reicht nicht als Eintrittskarte aus. Sie äußert sich wie folgt zur Höhe ihres IQ:

»Es reicht zu wissen, dass ich damit kein Mitglied im Verein der Intelligenzbestien werden kann. Den Verein gibt es wirklich. Nur er heißt anders, irgendwas mit Gesellschaft und hochbegabt. Oder war es Gemeinschaft und gottbegnadet? (Das gehört zu den Dingen, die ich verdränge.) […] Verständlicherweise sind meine Eltern enttäuscht. Schon ihre Eltern und Großeltern waren in dem Verein. Es ist sozusagen Familientradition. Wie Käsefondue zum Jahreswechsel. Und Sommerurlaub in der Toskana.« (Hach, 2019, S. 11).

Für Lotte sind Intelligenztestungen durch die Erwartungen ihrer Familie an großen Stress und Frust gebunden. Nicht wirklich gute Voraussetzungen, um in einer solchen Testsituation gut abzuliefern, oder?

Und selbst wenn Diagnosen unter kontrollierten Bedingungen erstellt werden, macht die Tagesform einiges aus: Sind Sie gesund oder haben Sie einen Schnupfen? Haben Sie gut geschlafen? Sind Sie nervös? Kennen Sie das Prinzip, nach dem Intelligenztests funktionieren? Wie sympathisch oder unsympathisch ist Ihnen die testende Person?