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Ich kann nur beschreiben, was ich kenne, darum muß ich oft lügen, denn ich sehe scharf und will niemandem weh tun. Marlen Haushofer In diesem ersten Band mit Erzählungen ist die frühe Kurzprosa Marlen Haushofers versammelt.Die frühen Texte, die in den Jahren zwischen 1947 und 1958 entstanden, zeigen bereits die literarische Differenziertheit und thematische Vielfalt der Autorin.
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Das Buch
Marlen Haushofer war keine Sammlerin. Wenn etwas für sie als abgeschlossen galt, wandte sie sich Neuem zu. Vieles von dem, was sie schrieb, hat sie nicht aufgehoben, nicht datiert, nicht bewahrt. Dieser erste Band der Gesammelten Erzählungen enthält Geschichten, die bisher zum großen Teil nur in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht worden sind. Die frühen Texte, die in den Jahren zwischen 1947 und 1958 entstanden, zeigen schon literarische Differenziertheit und die thematische Vielfalt der Autorin. Manche der Erzählungen sind hell, duftig, fast schwebend. Andere haben schon etwas von der Traurigkeit der späteren Romane. Immer aber zeigen sie etwas Wesentliches. Der Tod der Großmutter, der erste Kuß, ein Sonntagsspaziergang – im begrenzten Ausschnitt offenbart sich der sensible und betroffene Blick einer Frau, die ihre Welt wahrnahm wie eine Seherin. Viele Kindheits- und Familienerlebnisse sind eingeflossen, viel Nähe zu der österreichischen Landschaft, die sie umgab, und immer sind die Ereignisse der Zeit ganz lebendig.
Wie durch eine Lupe betrachtet Marlen Haushofer Vorgänge und Situationen des Lebens und bringt sie in einer ihnen angemessenen, mitunter erstaunlichen Form dem Verstand und Gemüt des Lesers nahe. Ohne ausdrücklich aufeinander bezogen oder komponiert zu sein, stellen die Erzählungen in ihrer Gesamtheit eine große vielsätzige Suite, eine Variationsreihe über das uns immer wieder bewegende Thema »Unser Leben« dar.
»Ich kann nur beschreiben, was ich kenne, darum muß ich oft lügen, denn ich sehe sehr scharf und will niemandem weh tun.«
Marlen Haushofer
Die Autorin
Marlen Haushofer wurde am 11. April 1920 in Frauenstein / Oberösterreich geboren. Sie studierte Germanistik in Wien und Graz und lebte später mit ihrem Mann und zwei Kindern in Steyr. Marlen Haushofer starb am 21. März 1970 in Wien. Obwohl sie unter anderem 1968 mit dem Österreichischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet wurde, hatten ihre Bücher erst nach ihrem Tod großen Erfolg, als die Frauenbewegung sie für sich entdeckte.
In unserem Hause sind von Marlen Haushofer bereits erschienen:
Bartls Abenteuer
Schreckliche Treue. Gesammelte Erzählungen
Wir töten Stella / Das fünfte Jahr. Novellen
Himmel, der nirgendwo endet
Die Mansarde
Die Wand
Marlen Haushofer
Begegnung mit dem Fremden
Erzählungen
claassen
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de
2. Auflage 1985
ISBN 978-3-8437-0862-3
© 1985 by claassen Verlag GmbH, Düsseldorf
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eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Ihre Mutter war eine ganz gewöhnliche Hauskatze und hieß Milli. Schlicht und einfach Milli, wie schon ihre sechs oder sieben Vorgängerinnen geheißen hatten.
»Die Milli kommt mir nicht ins Haus«, pflegte meine katzenfeindliche Mutter zu sagen. Wir Kinder waren betrübt darüber, mussten uns aber damit abfinden, dass nur die beiden Hunde ungehindert durch die Wohnung traben durften. Überall hinterließen sie die Spuren ihrer großen, schmutzigen Pfoten, schleppten riesige Knochen über den Gang, und manchmal – wenn sie sich in der gedüngten Wiese gewälzt hatten – rochen sie so abscheulich, dass man alle Fenster aufreißen musste. Aber da sie als Hunde geboren worden waren und sogar einen Stammbaum aufzuweisen hatten, mussten wir ihre schlechten Gewohnheiten hinnehmen wie vom Schicksal über uns verhängt.
Die Katzen mit ihren appetitlichen rosa Schnauzen hingegen hatten im Stall und auf dem Heuboden zu hausen. Trotzdem war ihr Fell sauber und glänzend, wenn man darüberstrich, knisterte es und sprühte Funken.
Oft genug versuchten wir, eine Milli ins Haus zu schmuggeln, im Puppenwagen oder unter der Schürze, aber es endete immer damit, dass Mutter sie mit spitzen Fingern am Nackenfell aufhob und die kläglich Miauende schwungvoll in den Hof beförderte. Eine Milli hatte eben nichts im Haus verloren!
Wenn junge Katzen geboren wurden, verschwanden am nächsten Tag alle bis auf eine, und wenn diese zu einer großen getigerten, schwarzen oder gefleckten Milli herangewachsen war, verschwand auch ihre Mutter auf rätselhafte Weise.
Einer einzigen Katze gelang es, bis zu ihrem natürlichen Tod bei uns auszuharren, und auch das nur, weil sie unserer alten Nanni den Daumen glatt durchgebissen hatte. Seither wurde sie von allen Hausbewohnern gemieden, sie hieß aber nicht mehr Milli, sondern »die Böse«, und begann, ein freies Leben zu führen. Sie erschien nicht mehr, um ihre Milch zu schlecken, und behandelte ihre gutartige Tochter mit verächtlichem Hochmut. Die Hunde pflegte sie – sozusagen im Vorbeigehen – zu ohrfeigen, und wir warteten nur darauf, dass sie eines Tages auf unsere Türschwelle spucken würde.
Aber unsere letzte Milli, eine bescheidene schwarze Katze mit einem leichten Hang zur Melancholie, sollte zu großen Ehren gelangen. Sie wurde nämlich Melusinens Mutter.
Melusine war ihr einziges Kind und eine schneeweiße kleine Schönheit. Ihr Fell war lang und buschig, und ihre Augen blieben auch später, wenn sie bei den anderen Katzenkindern gelb zu werden pflegen, himmelblau. Sie war ein richtiges Wunder, und wir zerbrachen uns den Kopf über ihre Herkunft.
Zunächst waren wir uns alle darüber einig, dass sie keine Milli war. Aber es dauerte lange, ehe wir auf den Namen Melusine verfielen – »Prinzessin« war uns zu langweilig, »Gretchen« zu bürgerlich, und »Schneeweißchen« lehnten wir einstimmig ab, weil der Vorschlag von Tante Rosi stammte, die immer alles besser wusste.
Melusine wuchs heran und wurde so schön, dass die Leute von weit und breit herzukamen, um sie zu bewundern. Sogar das Herz meiner Mutter hatte sie längst bezwungen.
Sie war immer sehr damit beschäftigt, ihren prächtigen Angorapelz zu waschen und zu glätten. Wenn sie damit fertig war, entdeckte sie, dass der Wind sie wieder zerzaust hatte, und sie musste von vorn anfangen. Unsere Liebe ertrug sie mit Gleichmut. Ihr natürlicher Anstand erlaubte ihr nicht, ihre wahren Gefühle bei unseren allzu stürmischen Zärtlichkeiten zu zeigen. So weit ging ihre Nachsicht mit unseren Schwächen, dass sie nicht einmal den Kopf abwandte, wenn wir sie auf die Nase küssten.
Melusine fing niemals Mäuse. Sie stand stundenlang im Bach auf einem Stein und wartete, die gekrümmte Pfote erhoben, auf die vorüberschwimmenden Forellen. Eigentlich hätte sie deshalb vertilgt werden müssen, aber es gab so viele Forellen und nur eine Melusine.
Als es Herbst wurde, zog sie sich ins Haus zurück und bezog ihren Platz auf Mutters Nähtischchen. Sie brachte das Wollkörbchen in Unordnung und schärfte ihre Krallen auf dem polierten Holz. Wenn Mutter sie schalt, gähnte sie herzhaft und zeigte ihren rosa Gaumen.
Bald genügte es uns nicht mehr, dass Melusine das Kind einer einfachen schwarzen Hauskatze war, und so einigten wir uns schließlich dahin, dass sie eine Waise sei und Milli sie nur aufgezogen habe. Damals trieb sich im Forst ein großer Wildkater herum, ein scheues Tier, das wir niemals zu Gesicht bekamen, aber an den kalten, windigen Oktoberabenden hörten wir seinen langgezogenen Ruf vom Walde her: »Kau-au, Kau-au …« Melusine spitzte ihre weißen buschigen Ohren, und ein wilder Glanz trat in ihre blauen Augen.
»Weißt du«, behauptete eines Tages mein Bruder, »der Wildkater ist bestimmt ihr Vater und schreit nach ihr.«
Das leuchtete mir ein, und es tat mir nur leid, dass nicht ich auf diesen Gedanken verfallen war.
Wir beobachteten sie ganz genau. Immer wenn sie sich dem Wald näherte, stand es für uns fest, dass sie ihren Vater besuchte, und immer fürchteten wir im Geheimen, sie könnte eines Tages nicht zurückkommen. Aber abends, wenn uns der kalte Wind ins Haus trieb, lag Melusine schon auf dem Nähtischchen. Dann blieb sie eines Tages aus. Wir riefen und lockten vergeblich, bis uns die Dunkelheit vertrieb. An jenem Abend rührten wir unsere Suppe nicht an, und niemand konnte uns beruhigen.
Als wir in den Betten lagen, hörten wir den Ruf des Wildkaters: »Kau-au, Kau-au …« – wild und triumphierend wie nie zuvor.
Ich schwieg beklommen, und mein kleiner Bruder begann unter der Decke zu schluchzen.
Um uns ein wenig zu trösten, erfand ich nun jeden Abend eine Melusinengeschichte. In jenem Winter kamen wir in den Geruch außerordentlicher Bravheit, weil wir immer gleich nach dem Abendessen ohne Widerrede zu Bett gingen. Niemand kannte unser Geheimnis.
Erst vor wenigen Jahren habe ich erfahren, dass Melusine damals von einem wildernden Hund zerrissen worden war. Man hatte ihren kleinen blutbesudelten Körper unter einer Haselstaude gefunden.
Aber immer noch, wenn ich an sie denke, sehe ich sie an der Seite ihres großen Vaters Kau-au durch den Forst streifen, von Abenteuer zu Abenteuer bis in das geheimnisvolle Herz des Waldes.
Mit dreizehn Jahren bestand ich zum größten Teil aus Armen, Beinen und einem zausigen Haarschopf. Wahrscheinlich befand ich mich auch sonst in keiner besonders liebenswerten Verfassung, und so beschloss mein Vater, mich in den Ferien zu Onkel Emmerich aufs Land zu schicken.
Ich hatte diesen Onkel noch nie gesehen, wusste aber, dass er irgendwo als Verwalter lebte und dass es seine große Leidenschaft war, alle Verwandten und Bekannten einzuladen. Trotz seiner Gastfreundschaft aber schien niemand großen Wert auf seine Einladungen zu legen. Mutter pflegte in solchen Fällen zu seufzen: »Du lieber Gott, schon wieder von Emmerich. Was soll ich denn tun?« Worauf Vater mit leiser Erbitterung entgegnete: »Schreib ihm, wir hätten alle Masern und den Anstreicher im Haus.«
Aus diesen Bemerkungen und gewissen Andeutungen verschiedener Tanten und Vettern schloss ich, Onkel Emmerich müsse zumindest ein mit Krätze behafteter Gewohnheitssäufer sein, und ich gab mich großen Erwartungen hin.
Als ich ihn dann auf der kleinen Station kennenlernte, war ich fast enttäuscht. Er war ein großer, fröhlicher Mann, der sich nur durch einen gekräuselten roten Vollbart auszeichnete. Jedenfalls schien er über meinen Besuch ganz außer sich vor Freude zu sein, was mir, da ich einen derartigen Empfang nicht gewöhnt war, außerordentlich schmeichelte.
Endlich befreite mich Tante Emma aus seiner Umarmung. Sie war eine kleine, rundliche Dame von freundlichem, aber temperiertem Wesen. Die fünfzehnjährigen Zwillinge stießen einander mit den Ellenbogen und reichten mir verlegen grinsend ihre nicht ganz sauberen Hände. Sie schienen etwas befangen, und ich glaube, das kam daher, dass Onkel Emmerich sie in einer Anwandlung von Humor Emmeline und Emeran genannt hatte.
Aber schon ein paar Minuten später, als sie begriffen, dass ich nicht gekommen war, um sie deshalb aufzuziehen, tauten die beiden auf, und wir freundeten uns rasch an.
Außer ihnen befand sich auch noch eine alte Kinderfrau im Haus, die zur Familie gezählt wurde, und ein kleiner, erbärmlich aussehender Spaniel namens Diana, der hinter dem Ofen saß und grunzende asthmatische Geräusche von sich gab.
Das Abendessen bestand aus einer Platte gebackener Forellen, die Onkel Emmerich eigens für diesen Zweck gefangen hatte, und verlief in ausgezeichneter Stimmung, wenn man davon absieht, dass der alten Kinderfrau von Zeit zu Zeit eine Gräte im Hals steckenblieb und die übrige Familie einträchtig ihren gebeugten Rücken mit den flachen Händen bearbeitete. Daraufhin erholte sie sich überraschend schnell und angelte flink einen neuen Fisch auf ihren Teller, um nicht hinter uns zurückzubleiben.
Sie war übrigens stocktaub und brachte mich dadurch in Verwirrung, dass sie vergnügt kicherte, als von einem Todesfall die Rede war, oder tiefbekümmert über den Tisch starrte, wenn Onkel Emmerich einen jener Witze erzählen wollte, deren Pointe ihm Tante Emma meist mit einer sanften, aber bestimmten Geste im Mund erwürgte.
Wir tranken alle Wein, und ich bekam schließlich einen Schwips und begann zu singen.
Dann wusste ich eine Zeitlang nichts und erwachte erst wieder mitten in der Nacht und musste scharf nachdenken, ehe ich dahinterkam, wo ich mich befand. Dann war ich plötzlich sehr wach und gar nicht mehr beschwipst.
Irgendwo in der Nähe brauste ein Wasserfall und versetzte mich in feierliche und dankbare Stimmung. Weshalb nur waren wir nie zuvor zu Onkel Emmerich gefahren, wo es doch viel lustiger war als zu Hause, und warum sprach die ganze Familie in so abfälligem Ton von ihm?
Am Morgen fragte ich Tante Emma nach dem Wasserfall. Sie lachte und sagte, das käme vom Wein und den Fischen, und ich schämte mich ein wenig.
Später ging ich mit den Zwillingen zum Bach, um Krebse zu fangen, und nachher durfte ich die alte Stute auf die Weide reiten, das heißt, ich klammerte mich krampfhaft an ihre Mähne, während sie vorsichtig über die Wiese trabte, jedes Mauseloch vermeidend, das mein Gleichgewicht hätte gefährden können.
Den ganzen Tag verbrachte ich glücklich, hungrig und voll Neugierde, und am Abend verbargen wir Kinder uns im Keller und lauerten mit Schrotgewehren auf die hin und her huschenden Ratten.
Und wieder weckte mich das Rauschen des Wasserfalls, obgleich ich keinen Tropfen Wein getrunken hatte. Während ich angestrengt lauschte, erhob sich ein fernes, verzweifeltes Schluchzen. Ich fühlte meine Stirn feucht werden und hielt den Atem an. Es war dunkel im Zimmer, und Tante Emma, die nichts mehr fürchtete als eine Feuersbrunst, hatte mir keine Kerze gegeben. Schließlich verstummte das herzzerreißende Weinen, und ich wäre beim Rauschen des Wasserfalls wieder eingeschlafen, wenn nicht plötzlich etwas an der Türschwelle gekratzt hätte.
Ich kroch in die äußerste Ecke des Bettes und zog die Knie, so hoch ich konnte, ans Kinn. Es hüstelte und schnarrte vor der Tür, und ich sank aufatmend zurück. Ich hatte die Stimme des kleinen Hundes erkannt.
Am Morgen erzählte ich Emmeline davon, und sie erklärte mir, das käme von Dianas Arterienverkalkung.
»So«, sagte ich, »stört euch denn das nicht?«
»Nicht sehr«, war die dunkle Antwort. »Weißt du, es kommt uns nicht darauf an.«
Ich erwähnte weder den Wasserfall noch das bittere Schluchzen und hoffte, den Dingen selber auf die Spur zu kommen, wobei ich allerdings vergaß, dass mich mein morgendlicher Mut in der Finsternis sogleich verlassen würde.
So wundervoll die folgenden Tage wurden, so schrecklich waren die Nächte. Stundenlang lag ich wach und lauschte dem fernen Weinen; manchmal hörte ich nackte Füße über den Gang tappen, und wenn ich endlich eingenickt war, weckten mich schrille Schreie zu neuem Entsetzen. Es kam so weit, dass ich mich geradezu beruhigt fühlte, wenn die verrückte Diana an der Schwelle kratzte.
Auf diese Weise vergingen vierzehn Tage. Tante Emma stopfte unglaubliche Mengen von Milch und Butter in mich hinein, Onkel Emmerich erzählte mir seine Lebensgeschichte in den verschiedensten Variationen, und mit den Zwillingen schloss ich Blutsbrüderschaft.
Nirgendwo auf der Welt hätte es mir besser gehen können, und trotzdem konnte ich mich nicht erholen. Jeden Morgen, wenn ich mich im Bett aufrichtete, starrte mir ein kleines verzagtes Gesicht wie ein apfelgrünes Gespenst aus dem Spiegel entgegen. Ich war überzeugt davon, in einem Spukhaus zu leben, und hatte nicht das Herz, Tante Emma, die so gut zu mir war, einzuweihen.
Eines Nachts aber war meine Nervenkraft zu Ende. Ich sprang auf und rannte wie gehetzt in Emmelines Zimmer.
Als ich mich über ihr Bett neigte, fuhr sie hoch und stieß einen mörderischen Schrei aus. Ich setzte mich auf den Bettvorleger und stammelte:
»Du bist das also, du schreist im Schlaf …«
Sie schien erst jetzt richtig zu erwachen. »Habe ich vielleicht geschrien?«, fragte sie und glitt aus dem Bett, hockte sich zu mir und begann, mich zu streicheln.
»Du Dummes«, tröstete sie mich, »wir dachten, du hättest so einen festen Schlaf, weil du nie etwas gesagt hast. Wir waren so froh … Weißt du, die anderen sind alle nach der zweiten oder dritten Nacht weggefahren und nicht wiedergekommen.«
»Emmeline«, sagte ich ungläubig, »der Wasserfall, das Schluchzen und die nackten Füße, das sind also gar keine Gespenster?«
»Aber wo! Vater schnarcht wie ein Wasserfall, Mama weint im Schlaf, und Emeran ist mondsüchtig. Und ich, na, ich schrei halt ab und zu ein bisschen.«
Ich begann laut zu lachen und lachte auch noch, als plötzlich Onkel Emmerich im Nachthemd, eine Kerze in der Hand, auf der Schwelle stand und uns bestürzt anstarrte. Tante Emma tauchte hinter ihm auf, rosig und erstaunt und ganz und gar nicht wie eine Frau, die im Traum bitterlich schluchzt.
»Sie hat dich für einen Wasserfall gehalten, Vater«, stieß Emmeline unter Lachen krampfhaft hervor. »Stell dir das nur vor!«
Schließlich lachten wir alle zusammen, bis auch noch die arme kleine Diana erschien und uns ratlos beschnupperte. Nur Emeran fehlte, es war gerade Neumond, und er schlief wie ein Ross.
In den folgenden Wochen nahm ich sechs Kilo zu, und mein Aussehen wurde von Tag zu Tag ländlicher.
Ich versprach, im nächsten Sommer wiederzukommen, und wir weinten alle beim Abschied, einschließlich der alten Kinderfrau, die mich liebgewonnen hatte, weil ich ihre eingewachsenen Zehennägel beschnitten hatte, und ausschließlich Emerans, der die Tränen heldenhaft schluckte, und der verkalkten Diana, die die Lage nicht begriff.
Zu Hause angekommen, betrachtete mein Vater mich eingehend, ehe er zu Mutter sagte: »Das hast du jetzt von deinen komischen Ideen, sie hat sich dort oben die Wangen erfroren.«
»Aber ich bitte dich«, wandte Mutter ein, die längst vergessen hatte, dass meine Verschickung Vaters Entschluss gewesen war, »ich bitte dich … mitten im Sommer …«
»Bei Emmerich ist alles möglich«, schnitt ihr Vater das Wort ab, »oder« – sein Blick verfinsterte sich – »sie hat sich geschminkt.« Er befeuchtete seinen Zeigefinger und fuhr mir fest über die Wange.
»Es geht nicht ab«, sagte er betroffen, und dann, nach einer Pause: »Dieses Kind muss Nerven haben wie Stricke …«
Bei uns daheim hatte der Vater die Elektrizität gepachtet, das heißt, ihm allein war gestattet, Sicherungen auszuwechseln, Birnen aus- und einzuschrauben und Schalter zu reparieren.
Er tat es höchst ungern – vermute ich –, wahrscheinlich nur, um sich keine Blöße zu geben. Jedenfalls war es immer ein feierlicher Moment, wenn er, auf der Leiter stehend, ernsten Blickes und gerunzelter Stirn, die neue Sicherung einsetzte, während wir, in respektvoller Entfernung, seinen Mut bestaunten.
Das Haus war so beschaffen, dass bei heftigem Gewitter – und damals gab es noch heftige Gewitter – regelmäßig Feuer aus dem Telefon sprang, die ganze Leitung knisterte und knackte und schließlich mit einem Knall das Licht ausging.
Wenn Vater gerade nicht daheim war, saßen wir dann zwei, drei Tage bei der Petroleumlampe und warteten auf seine Heimkehr und auf den feierlichen Akt des Sicherungs-Wechselns.
Mutter litt sehr unter der Vorstellung, wir könnten in den Steckdosen stochern, und verklebte sie, solange wir klein waren, einfach mit Leukoplast. Später erzählte sie uns die traurige Geschichte des Kindes, das mit einer Haarnadel in die Steckdose gefahren und verkohlt war. Es war dies nicht ihre einzige abschreckende Geschichte. Da gab es noch ein Kind, das im Bett Äpfel gegessen hatte und – natürlich – dabei erstickt war, das Kind mit dem durch die Fleischmaschine gedrehten Daumen, die Unzahl der in Seen, Bächen und Flüssen ertrunkenen Kinder und die Kinder, die kaltes Wasser getrunken hatten und an Lungenentzündung gestorben waren. Außerdem entsinne ich mich eines Kindes, das in die Kalkgrube gefallen war und von dem man nur ein paar Knöchlein gefunden hatte.
Aber das war noch nicht das Schlimmste. Eine wohlmeinende Tante kannte die Geschichte des kleinen Mädchens, das sich beim Einschlafen immer die Tuchent über den Kopf zog und nicht auf die Ermahnungen seiner Kinderfrau hörte. Was geschah? Eines Nachts kam der Teufel und nähte die Tuchent rundherum am Bett fest, und das Kind erstickte jämmerlich.
Seither wage ich selbst in den kältesten Winternächten nicht, die Decke über die Ohren zu ziehen – schließlich kann man doch nicht wissen. Und mein Bruder – ich hoffe, er verzeiht mir die Indiskretion – kann, und sei ihm noch so heiß, nicht die Zehen aus dem Bett strecken, denn sofort fällt ihm das unselige Kind ein, dem der Ramsamperl die Zehen mit der Beißzange abzwickte.
Für weniger gebildete Leser füge ich hinzu, dass der Ramsamperl ein kleiner Bruder des Pelzmärtel ist und seinen Stammsitz im Kamin hat.
Eines Tages, als ich vor dem Herd hockte und – verbotenerweise – in der Glut stocherte, griff er mit seiner Feuerhand nach meinem Schopf, und im Nu stand ich in Flammen. Das war mir eine Warnung – auch eine Fünfjährige geht nicht gern mit einer rauchgeschwärzten Glatze herum.
Eigentlich war uns nahezu alles verboten: schnell laufen, im erhitzten Zustand trinken, Schnee essen (Lungenentzündung und Angina); auf Bäume, Zäune und Mauern klettern (Knochenbrüche); Kröten, Frösche und Eidechsen fangen (Warzengefahr); im Misthaufen wühlen (Starrkrampf); Werkzeug anfassen (blutige Verletzungen); hastig essen (Magendrücken); langsam essen (Darmkatarrh); gar nicht essen (siehe Suppenkaspar); zu viel essen (Magenerweiterung); nicht schlafen wollen (Nervosität); fortwährend schlafen wollen (langsame Verblödung); Obst ungewaschen essen (Würmer und Typhus); im Bett lesen (Kurzsichtigkeit); Most oder Wein trinken (Idiotie); auf dem Klosett Karl May lesen (Blasenkatarrh durch Zug von unten); mutwillig den Atem anhalten, beim Essen reden und einander kitzeln (Ersticken); Wasser auf Kirschen trinken (Zerplatzen).
Außerdem war verboten, aus Gründen, die ich vergessen habe, Wurst mit der Haut zu essen, die Augen zu verdrehen, den Hunden ins Maul zu fassen, die Katze zu küssen, auf dem Dachboden zu spielen, Löcher in die Hausmauern zu stemmen und einander die Fingernägel zu beschneiden.
Natürlich war es unmöglich, alle Gesetze zu befolgen, und so lebten wir ständig in Erregung, Furcht und Unruhe und führten ein geheimnisvolles, abenteuerliches Leben. Es gab keinen Tag, an dem wir nicht wenigstens ein Tabu verletzt hätten. Unser Schuldbewusstsein begann chronisch zu werden.
Wenn wir hinfielen oder uns sonst eine kleine Verletzung zuzogen, verbissen wir den Schmerz, um nicht noch für unseren Ungehorsam bestraft zu werden. Und als ich nach einer Blinddarmoperation hoffte, ein wenig verhätschelt zu werden, musste ich mir sagen lassen, das sei die Strafe für mein unverbesserliches Kirsch- und Zwetschkenkernschlucken.
Bis die Sache mit der Kuh passierte.
Nichtsahnend und fromm stand mein Bruder eines Tages auf der Wiese, als plötzlich eine Kuh umfiel und ihm ein paar Rippen eindrückte. Er hatte die Kuh nicht gereizt, noch war er ihr nachgelaufen, kein Mensch konnte ihm einen Vorwurf machen.
Man verbot uns, in Zukunft gleichzeitig mit den Kühen auf der Wiese zu stehen, aber darauf legten wir ohnedies keinen Wert mehr.
Dieser Unfall hatte zur Folge, dass wir misstrauisch zu werden begannen. Wenn man auf Bäume kletterte – was ein sehr arges Vergehen war –, kratzte man sich das Knie auf, und wenn man gar nichts verbrochen hatte, bekam man gleich drei Rippen geknickt? Irgendetwas war daran verdächtig.
Wir fingen an, ungewaschenes Obst zu essen, die Katze zu küssen, im erhitzten Zustand zu trinken, mit Werkzeug zu spielen und auf dem Zaun zu balancieren. Unser Schuldbewusstsein schwand dahin, und bald waren wir so ungehorsam und fröhlich wie alle anderen Kinder.
Herr von Gayen wanderte durch sein Haus. Außer dem Kindermädchen hatte das Personal Ausgang, und seine Frau war zu einer Unterhaltung gegangen. Er war also ganz allein. Das Fenster in seinem Arbeitszimmer stand offen, und der starke Duft aus dem Garten hatte ihn unruhig gemacht und vertrieben. Er konnte diese weichen, lauen Frühlingsnächte nicht ausstehen, sie waren gerade das, was man verabscheuen musste – gefährlich und verwirrend.
Als er über den Korridor schritt, sah er eine kleine Gestalt im blauen Schlafanzug barfuß die Stiege aus dem Erdgeschoss heraufkommen. Es war Nandi, der ein Glas Wasser trug, vorsichtig und bedacht, es ja nicht zu verschütten. Er sah beinahe ungehörig fremdartig aus mit seinem dunklen Gelock, aber, wie Adrian zugeben musste, höchst reizvoll.
»Nandi«, sagte er so sanft wie möglich, um ihn nicht zu erschrecken, »was machst du hier mitten in der Nacht?«
Der Kleine hob den Kopf und sah ihn groß an. Nein, erschrocken war er nicht, sein Gewissen war engelsrein, obgleich er – um diese Zeit und obendrein barfuß – wirklich nicht im Haus umherzugeistern hatte.
»Ich war so durstig«, erklärte er heiter – dann verzog sich sein Gesicht nachdenklich, »ich weiß ein Geheimnis, Onkel Adrian«, flüsterte er, »wirst du es verraten?«
»Nein«, sagte Gayen, »ich pflege Geheimnisse nicht zu verraten.«
»Das könnte jeder sagen«, belehrte ihn Nandi ein wenig altklug. »Du musst mir nachsagen: Meine Hände und Füße sollen abfallen, wenn ich es verrate.«
»Woher hast du das?«, erkundigte sich Adrian interessiert.
»Die Köchin sagt es immer zu Fräulein Rosa, aber sag es schon nach.«
»Hände und Füße sollen mir abfallen, wenn ich dein Geheimnis verrate«, sagte Gayen feierlich.
Der Kleine fasste nach seiner Hand und zog ihn mit sich ins Kinderzimmer.
Auf dem Nachttischchen lag eine Hand voll Rosinen, und im Bett saßen schön ordentlich der Teddybär, zwei Stoffhunde und eine äußerst mitgenommen aussehende Giraffe.
»Setz dich daher«, befahl Nandi und schob seinem Stiefvater einen Hocker hin.
Adrian ließ sich gehorsam nieder. »Wo ist eigentlich Fräulein Rosa?«, fragte er, »bist du denn ganz allein?«
Nandi kicherte aufgeregt. »Das ist ja unser großes Geheimnis. Weißt du, immer wenn Mama weggeht, gibt mir Rosa Zucker oder Rosinen und besucht ihren kranken Bruder.«
»So«, sagte Adrian, »das ist ja äußerst interessant.«
»Und lustig«, fuhr der Kleine begeistert fort, »wir« – er wies auf die Menagerie in seinem Bett – »essen Rosinen und trinken Wasser, bis wir müde werden und einschlafen.«
Gayen – so entrüstet er über das pflichtvergessene Mädchen war – fühlte sich gerührt. Wie kam dieses sonderbare Kind dazu, ihm so selbstverständlich seine kleinen Geheimnisse anzuvertrauen?
Er hatte sich nie mit ihm befasst – nicht aus Abneigung, sondern weil er jedem Kind gegenüber eine gewisse Verlegenheit empfand.
Selbst hatte er nie ein Kind gehabt, und so konnte er sich tatsächlich nicht vorstellen, was man mit ihnen reden könnte.
»Du wirst Rosa nicht ausschimpfen?«, fragte Nandi plötzlich ängstlich. »Weißt du, sie sagt, wenn ich sie verrate, bin ich ein Schuft.«
Adrian lachte. »Und du möchtest natürlich kein Schuft sein?«
»Nein«, sagte Nandi energisch, »alle Schufte stinken«, und nach einer kleinen nachdenklichen Pause: »Onkel Adrian, was ist denn eigentlich ein Schuft?«
»Ein Schuft«, erklärte Gayen, »ist ein Mensch, der sein Wort nicht hält.«
»Gibt es viele Schüfte?«
»Schufte«, verbesserte Adrian, »ja, leider gibt es ziemlich viele.«
Nandi saß in seinem Bettchen; seine Augen glänzten vor Aufregung, und er vergaß ganz, die Rosinen, die er zwischen den Fingern hielt, in den Mund zu stecken.
Plötzlich schien ihm etwas anderes einzufallen. »Ist es wahr, dass du reich bist?«
»Wie man’s nimmt«, meinte Adrian. »Es gibt reichere Leute, aber ich könnte zufrieden sein.«
»Rosa sagt, du bist ein reicher Mann und trotzdem anständig, und sie sagt, du hast ein großes Gut.«
»Ich werde es Marietta nicht erzählen«, beschloss Gayen im Stillen. Abgesehen von ihrem leichtfertigen Lebenswandel, schien diese Rosa doch keine schlechte Person zu sein. Außerdem, warum sollte er Nandi sein kleines nächtliches Vergnügen rauben?
»Erzähl mir, was ein Gut ist«, bettelte Nandi und legte seine zierliche Hand zutraulich auf Adrians Knie.
»Ein Gut«, begann Gayen, ein wenig verlegen über die liebevolle Berührung, »ist ein großes Haus, zu dem viele Wiesen, Felder und Wälder gehören und ein großer Stall voll Pferde, Kühe und Kälbchen.«
Nandi seufzte entzückt. »Weiter«, sagte er atemlos.
»Ja, und Katzen, Hunde, Enten, Gänse und Tauben gibt es dort auch, und Schweine natürlich, eine ganze Menge Schweine.«
»Und wieso bist du nicht dort, sondern hier bei uns?«, forschte Nandi unerbittlich.
»Ich habe einen Verwalter«, belehrte ihn Adrian. »Das ist ein Mann, der mich vertritt und die Leute beaufsichtigt.« Nandi runzelte die feinen Brauen.
»Warum tust du deine Arbeit nicht selbst? Ich werde mir keinen Verwalter nehmen, wenn ich einmal ein Gut habe.«
»Nein? Was wirst du denn tun?«
»Ich werde den ganzen Tag spielen mit den Pferden und Hunden«, sagte Nandi träumerisch, »und gar nie von ihnen fortgehen, bis ich ein alter Mann bin und sterbe.« Und nach einer Pause fast mitleidig: »Du bist wirklich dumm, Onkel Adrian!«
Gayen starrte in das aufrichtige kleine Gesicht seines Stiefsohnes und fühlte plötzlich das brennende Bedürfnis nach einer Zigarette.
»Da kannst du schon recht haben«, gab er zu. »Aber jetzt, mein Freund, wird geschlafen, deine Mutter wird gleich erscheinen.«
Er zog die Decke über die kleinen, warmen Schultern und strich unbeholfen über die wirren Locken.
Als er wieder vor seinem Schreibtisch saß, glaubte er noch immer, das weiche Kinderhaar auf seiner Handfläche zu spüren, und dann hörte er wieder die hohe bedauernde Stimme: »Du bist wirklich dumm, Onkel Adrian.«
Er zerdrückte die Zigarette im Aschenbecher und trat zum Fenster.
»Diesen Frühling«, dachte er zornig, »müsste man abschaffen, wegen anarchistischer Umtriebe.« Und mit einer jähen Bewegung schloss er die hohen Fensterflügel und verriegelte sie sorgfältig.
Peter hat von seinem Vater eine Ohrfeige bekommen, die eigentlich seinem älteren Bruder gebührt hätte, aber in der Eile ihm zugefallen ist.
Wie immer, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt, schleicht er in den Keller und verkriecht sich hinter einem Stoß alter Kisten und Holzwolle.
Voll hilfloser Wut bohrt er die schmutzigen Fäuste in die Augen und schluchzt wild und verzweifelt.
Er spürt, wie das Blut in seinen Ohren brennt und das Böse aus seiner Brust heraus will. Ein paar Sekunden kämpft er noch dagegen an, halb erstickt vor Zorn und Scham, dann stammelt er, von stoßendem Weinen geschüttelt, die hässlichen, schlechten Worte, die er auf der Straße gehört hat und die man niemals sagen darf: »Du Hund, du, du Vieh, du Sauhund, du, du Gauner …«
Dann wird ihm plötzlich kalt.
Es ist so still im Keller. Seine Wut hat sich in Schmerz verwandelt, und die Tränen fließen reichlich.
Die bösen Worte hängen in der Luft, schwer und drohend.
»Ich hab’s nur so gesagt«, flüstert Peter zu »Garniemand«.
Aber der Keller glaubt ihm kein Wort, er hat alles gehört und verstanden.
»Immer«, verteidigt sich Peter, »krieg’ ich die Ohrfeigen, immer ich.«
»Lüg nicht«, sagt das Schweigen des Kellers. »Vorgestern hast du sie verdient und nicht bekommen.«
Etwas raschelt im finsteren Winkel. Peter möchte aufspringen und hinauflaufen, aber dann hätte der Keller recht behalten.
»Heute war ich nicht schuld«, sagt er trotzig.
Die Dämmerung verhält sich abwartend und ein wenig ungläubig.
»Du glaubst noch immer nicht.« Verzagt beginnt er die Nägel zu beißen. Dann fällt’s ihm ein – aufschreiben muss man es, was auf dem Papier steht, gilt!
Er zieht einen Bleistiftstummel aus der Hosentasche und malt mit Blockschrift auf ein Stückchen Pappe: HEUTEWARMEINVATERUNGERECHT.
Die Mühe hat sich gelohnt, das beklemmende Schweigen der Luft weicht einem leisen Hin- und Herfluten. Peter kann wieder atmen, und ein letztes Schluchzen stößt ihn in der Kehle. Dann nimmt er den Zettel, stopft ihn in eine Mauerspalte und schmiert ein wenig Lehm darüber. Das böse Geheimnis ist vergraben, man kann es vergessen.
Peter wischt sich die Hände an den Kartoffelsäcken ab und geht hinaus, ohne sich umzuschauen. Auf der Stiege steht sein Vater und lächelt ihm zu, er hat die Ohrfeige schon vergessen. Peter fühlt ein wenig Schuldbewusstsein und einen süßen kleinen Triumph.
Du weißt es nicht, denkt er, niemand weiß es. Und er senkt die langen Wimpern auf die Wangen, um sich nicht zu verraten.
Martina schaut betrübt auf ihren grauen Strickstrumpf nieder. Es ist der erste in ihrem Leben und will nicht fertig werden. Ohne es zu wissen, seufzt sie tief und wischt die feuchten Finger an der Schürze ab.
Ob alle kleinen Mädchen so schwer arbeiten müssen?, denkt sie. Aber wenn ich groß bin, stricke ich keine einzige Masche mehr.
Am liebsten würde sie den Strumpf hinwerfen und in den Winterabend hinauslaufen.
Da stößt plötzlich die Mutter einen leisen Schrei aus. Sie hat sich gestochen. Ganz tief. Die roten Tropfen rollen über ihre Hand und färben Vaters Wollsocken purpurn. Verwirrt starrt sie auf ihre Stopfarbeit nieder und rührt sich nicht.
Der Vater runzelt die Stirn, ärgerlich glühen seine blauen Augen auf, dann liest er wieder seine Zeitung. Aber die Mutter ist ganz sonderbar heute Abend. Ihre Augen glänzen, und das Blut ist in ihre Wangen gestiegen. Sie dehnt sich, streckt die Arme über den Kopf und sagt aufrührerisch: »Einmal zieh ich meinen neuen Mantel an und geh fort, und ihr seht mich nie wieder. Dann könnt ihr euch die Socken selber stopfen!«
Da legt der Vater vorsichtig die Zigarre an den Rand des Aschenbechers und meint lächelnd: »Das, mein liebes Kind, hättest du dir vor zehn Jahren überlegen müssen. Du hast dich ja freiwillig für dieses Leben mit zerrissenen Socken und langen Winterabenden entschieden.«
Seine Stimme klingt leise und sanft, wie immer, wenn er im Begriff ist, böse zu werden. Sein blonder Schnurrbart zittert, und Martina senkt ärgerlich die Augen auf ihren Strumpf. Mit klopfendem Herzen hört sie die Stimme der Mutter.
»Vor zehn Jahren war ich gerade siebzehn.« Es klingt nachdenklich und ein wenig traurig.
Zum ersten Male sieht Martina, dass die Mutter schön ist.
Wie kann der Vater nur so böse zu ihr sein? »Geh zu Bett!«, sagt er zu Martina, und das Mädchen schiebt sich verschüchtert zur Tür hinaus.
So finster ist es auf dem langen Gang. Martina ist ein Angsthase. Wie gehetzt rennt sie jeden Abend bis zu ihrer Zimmertür und atmet erst wieder auf, wenn sie den Schalter umgedreht hat und der kleine Raum im hellen Lichte daliegt: sauber und freundlich mit dem weißen Bettchen und dem Blumenstrauß auf dem kleinen Tisch.
Endlich liegt das kleine Mädchen im Bett und horcht auf den Wind, der vor den Fenstern faucht wie eine große, wilde Katze. Manchmal plumpst ein Klumpen Schnee vom Dach, und unaufhörlich tropft das Wasser von den langen Eiszapfen auf die Steinplatten im Hof, unaufhörlich …
Immer ist es in der Nacht ein bisschen unheimlich. Laut und drohend surren im Winter die Telefondrähte, im Herbst und Frühling fährt der Sturm ums Haus, und kläglich schreit in den kurzen, hellen Sommernächten das Käuzchen im Apfelbaum, und die riesigen Nachtfalter stoßen mit leisem Gedröhn gegen die Scheiben. Alles ist verändert in der Nacht.
Das kleine Mädchen zieht die schwere Tuchent über die Ohren und horcht auf die Stimmen, die aus dem Wohnzimmer heraufdringen. Plötzlich fällt ihm ein, dass die Frau des Verwalters von ihrem Mann weggegangen ist – mitten in der Nacht – und ihn mit dem kleinen Bübchen ganz allein gelassen hat. Jetzt will sich der Verwalter scheiden lassen.
Wie, wenn sich nun Mutter auch scheiden lässt, weil sie die vielen weißen Wollsocken nicht mehr stopfen will? Wird man sie, Martina, dann ins Waisenhaus stecken? Und wer wird für Pluto, den großen Vorstehhund, sorgen? Die graue Katze wird aus dem Haus laufen, und die Blumenstöcke auf dem Fensterbrett werden verdorren. Man darf gar nicht darüber nachdenken, sofort wird es heiß in der Kehle, und Martina darf doch nicht weinen, sie hat schon wieder kein Taschentuch unter dem Kopfpolster.
Endlich kommt der Schlaf über das kleine Mädchen. Aber er meint es heute auch nicht gut und schickt einen bösen Traum. Martina steht in der großen Küche vor dem Backtrog und kratzt mit einem breiten Messer die Teigreste ab. Die Sonne funkelt durch die frischgeputzten Scheiben und lässt die blauen Kacheln am Herd hell aufleuchten. Trotzdem ist etwas nicht in Ordnung, gleich wird etwas Schreckliches geschehen. Da öffnet sich ganz langsam die Haustür, die Mutter tritt heraus. In ihrem schwarzen Sonntagsmantel geht sie mit zögernden Schritten über den Hof. Keinen einzigen Blick wirft sie auf ihr kleines Mädchen zurück.
»Sie kommt nicht mehr!«, will Martina schreien, aber sie bringt keinen Laut heraus. Es brennt in ihrer Brust, und Bäche von Tränen stürzen ihr aus den Augen und fließen in den großen Trog. Und es sind keine gewöhnlichen Tränen, nein, Martinas Herzblut ist es, ganz voll ist der Trog schon – ein dunkelroter See.
Der Polster ist feuchtgeweint, und auf der Wange kratzt und beißt der nasse Zopf. Aber sie ist viel zu matt und leer geweint, als dass sie die Hand heben könnte. Der große Mond steht vor dem Fenster. Schwarze Wolken jagen vorüber und werfen ihre Schatten auf das Bett. Martina hat Angst. Noch nie hat sie sich so verlassen gefühlt. Weit weg sind Vater und Mutter und der liebe Gott – unerreichbar fern, weit hinter dem gelben Mond. Aber mit sieben Jahren kann man nicht länger als zehn Minuten traurig sein. Wie immer, wenn sie geweint hat, schläft sie blitzartig ein.
Am nächsten Morgen taumelt sie vor Müdigkeit wie eine kleine Betrunkene und muss sich von der Mutter beim Anziehen helfen lassen. Wie frisch und ausgeschlafen die Mutter wieder ist! Ihre Wangen glänzen vom kalten Brunnenwasser, und das dunkle Haar liegt glatt und weich um den Kopf. Fest sitzt das blaue Kleid an ihr, und die Spitzenrüsche am Hals leuchtet wie frischgefallener Schnee. Schnell drückt das kleine Mädchen die kalte Nase an den Handrücken der Frau und presst den zerzausten Kopf an den warmen, mütterlichen Leib.
Als die Mutter den grüngoldenen Honig auf die Butter streicht, tritt der Vater ins Zimmer. Gut gelaunt setzt er sich an den Frühstückstisch und versetzt seiner Tochter einen Nasenstüber. Martina weiß wieder einmal nicht, was sie von ihm halten soll. So komisch sind die großen Leute! Nie weiß man, was ihnen im nächsten Augenblick einfallen wird.
Der Vater beginnt sein Brot zu essen. Das schmutzige Schneewasser tropft von seinen Gamaschen und rinnt in grauen Bächlein über den frischgeriebenen Boden. Und die Mutter sagt kein Wort dazu. Vielleicht sieht sie es auch gar nicht, denn sie schenkt eben den Tee ein.
Plötzlich hebt Martina den Kopf und sagt nachdenklich: »Gelt, Mama, du lässt dich nicht scheiden?«
Erstaunt sehen sich die Eltern an. Dann lachen beide. Es klingt wie die zwei Kirchenglocken am Sonntag, tief und hell … Der Vater fährt mit seiner großen braunen Hand über die Stirn des kleinen Mädchens und zieht die Mutter an sich, so, dass ihr dunkler Kopf einen Augenblick lang an seiner Brust liegt.
Tief errötend vor Glück senkt das kleine Mädchen die festen Zähne ins Honigbrot. Schnell beschließt Martina, heute nicht zu weinen, wenn sie die groben Wollstrümpfe anziehen muss. Die hässlichsten Strümpfe können ja nicht so kratzen wie heute Nacht der Kummer in der Brust.
Aber jetzt ist ja für einen ganzen Tag alles wieder gut. Die blasse Februarsonne zeichnet gelbe Flecken auf den Fußboden, und die graue Katze schreitet würdevoll zu ihrer Milchschale.
Die Mutter aber füllt das grüne Kännchen mit lauwarmem Wasser und beugt sich über die Blumentöpfe auf dem Fensterbrett.
Vielleicht, denkt Martina, ist der liebe Gott doch nicht so weit weg. Manchmal, in der finsteren Nacht, schaut er hinter dem Mond hervor und sieht unsere blutigen Tränen.
Dankbar und zufrieden schleckt sie den Honig von ihren klebrigen Fingern.
Einmal bin ich als Kind in eine schreckliche Lage gekommen. Es war, glaube ich, in der zweiten Klasse Gymnasium.
Unser Katechet stand vor der Tafel und diktierte irgendetwas, was wir in kleinen Heftchen mitschreiben mussten.
Ich weiß nicht mehr, lag es am Vortrag, oder machte mich die Junisonne so müde; jedenfalls war ich nahe daran, einzuschlafen. Das durfte nicht geschehen! Der Katechet diktierte langsam und deutlich, und ich ließ meine Gedanken spazieren gehen: Wie es wohl wäre, wenn man »Evangelium« mit f und k schriebe? Spielerisch versuchte ich es. Komisch sah das Wort jetzt aus! Und erst »Apostel« mit b und ll – wie lächerlich! Langsam geriet ich in Eifer und stellte mir die Aufgabe, in jedem Wort zwei bis drei Fehler zu machen. Die Müdigkeit war wie weggeblasen.
Als wir drei Seiten geschrieben hatten – ich war eben dabei, das unschuldige Wörtchen »ist« zu verschandeln –, nahm mir der Katechet plötzlich das Heftchen aus der Hand, um das Geschriebene zum Vergleich noch einmal vorzulesen.
Seither weiß ich, wie dem letzten Menschen eine halbe Stunde vor dem Weltuntergang zumute sein wird.