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Diese Neuedition einer Sammlung von 1923/25 (Originaltitel: Tolstoi und der Orient) eröffnet Einblicke in die interreligiösen Studien und Dialoge von Leo N. Tolstoi (1828-1910). Die dargebotenen Briefe oder Abhandlungen des russischen Christen beziehen sich überwiegend auf die Lehren von Krishna, Buddha, Konfuzius, Laotse und Mohammed (Indien, China, Russland, Japan, Persien). Der Bearbeiter Pavel Birjukov schreibt in seinem Nachwort: "Suchen wir nach ... charakteristischen Kennzeichen für die Verwandtschaft Tolstois mit dem Orient. Ein solches Merkmal ist zweifellos ihre gemeinsame Abneigung gegen die europäische Zivilisation. Unter Zivilisation müssen wir hier erstens einmal die staatlichen Einrichtungen verstehen, die von den selbstbewussten Europäern als etwas Höheres gepriesen werden, das man den Orientalen mit Gewalt aufzwingen dürfe; dann aber die ganze okzidentale Kultur, soweit sie den Menschen geradezu der Religion entfremdet ..., das Verständnis für wahres Leben in ihm erstickt und ihn den Sinn des Lebens mit Hilfe der sogenannten Wissenschaft und Technik in eigensüchtigem, raffiniert entwickeltem Sinnengenuss finden lässt. Eine Zivilisation, die zu Sklaverei, Krieg, Revolution, Hass, Lüge und endlich zur Selbstvernichtung führt, d.i. zu völligem Wahnsinn. Die Vertreter des Orients nun empfinden diese 'weiße Gefahr' und suchen mit Leo Nikolajewitsch nach einem Kriterium, um sich unter diesem Andrang von Europäismus und Amerikanismus zurechtzufinden, ihm nur das zu entnehmen, was ihnen von Nutzen sein könnte, und sich ihr gutes Altes zu bewahren, das sie auf einen neuen Lebensweg führen soll. Zu dieser Ablehnung der weltlichen Kultur gehört auch der Widerspruch gegen die Vormundschaft der Kirche und das Suchen nach einer unmittelbaren Verbindung Gottes mit dem Menschen, d.h. nach dem Leitprinzipe des Lebens. Auf diesem Boden fanden sich Tolstoi und die Vertreter des Orients." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 12 (Signatur TFb_B012) Neuedition von Ingrid von Heiseler und Peter Bürger
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Seitenzahl: 386
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Vorbemerkungen des Herausgebers der Tolstoi-Friedensbibliothek
Vorwort von Pavel Birjukov (1923)
Von der Schriftleitung
I. Teil B
RIEFWECHSEL
L
EO
T
OLSTOIS MIT DEN
V
ERTRETERN DER ORIENTALISCHEN
R
ELIGIONEN
Erstes Kapitel
.
Tolstoi und die Indo-Brahmanen
Zweites Kapitel
.
Tolstoi und die Mohammedaner Indiens
Drittes Kapitel
.
Tolstoi und die persischen, ägyptischen und türkischen Mohammedaner
Viertes Kapitel
.
Tolstoi und die russischen Mohammedaner (Kaukasus, Krim, Zentralasien, Wolga)
Fünftes Kapitel
.
Tolstoi und die Chinesen
Sechstes Kapitel
.
Tolstoi und die Japaner
Erläuterungen (E 1 – E 19) von P. Birjukov
II. Teil A
BHANDLUNGEN ÜBER ORIENTALISCHE
R
ELIGIONEN
Erstes Kapitel
.
Über das Studium alter Religionen. Von Leo Tolstoi
Zweites Kapitel
.
Krishna (Auswahl, übertragen unter der Leitung Leo Tolstois)
Drittes Kapitel
.
Buddha (nacherzählt und ausgelegt von Leo N. Tolstoi)
Viertes Kapitel
.
Mohammed (Auswahl, übertragen unter der Leitung Leo Tolstois)
Fünftes Kapitel
.
Die Lehre der Mitte des Konfuzius (Aus dem Tagebuch Leo N. Tolstois von 1900)
Sechstes Kapitel
.
Aussprüche Lao Tses (Tolstoi über das Wesen der Lehre Lao tses)
Schlußwort von P. Birjukov
Beilage: Bibliographisches Verzeichnis der von Tolstoi gelesenen Werke über den Orient
_______
Bibliographie zu wichtigen Texten in dieser Neuedition der Sammlung „Tolstoi und der Orient“
1. Über Buddha (1905)
2. Brief an einen Chinesen (1906)
3. Brief an einen Hindu / Inder (1908/09)
4. Sprüche Mohammeds (1909)
5. Die Lehre des Laotse (1909)
6. Sprüche des Laotse (1909)
7. Briefwechsel mit Gandhi (1909/1910)
Übersicht zu den schon vorliegenden Bänden der Tolstoi-Friedensbibliothek
Verzeichnis der Namen (Register zu diesem Band)
der Tolstoi-Friedensbibliothek
„Tolstoi ging bis aufs Urchristentum zurück, da es die Menschen noch tatsächlich vom ‚Drachen des Wahnes und des Todes‘ zu erlösen imstande war […], [so] dass er ohne Bedauern auf den Namen eines Christen verzichtete, nur um nicht mit der sog. Christenheit in einen Topf geworfen zu werden, einer Christenheit, die mit ihren Kriegen, Hinrichtungen, Verachtung, Hass, Lüge und allen Lastern längst schon die Menschheit in die Gewalt jenes Drachen gebracht hatte, von dem Tolstoi sich befreite, indem er sich zur reinen Lehre Christi bekannte.“
PAVEL BIRJUKOV (→S. →)
„Man braucht weder Christ noch Buddhist, weder Konfuzianer noch Taoist noch Mohammedaner zu sein. Es gibt keine äußere Autorität, an die der Mensch glauben müsste. Aber ein jeder muss Religion haben, d. h. eine vernünftige Anschauung vom Zweck seines Daseins. Diese vernünftige Lebensanschauung findet ein jeder in seiner Religion. Und die Anschauung selber ist in allen Religionen immer die gleiche.“ LEO N. TOLSTOI: Brief an den japanischen Studenten Tamura, 14. März 1905 (→S. → f)
Da Leo N. Tolstoi (1828-1910) in seiner persönlichen Hinwendung zur ‚Lehre Christi‘ die auf Machtausübung bzw. Außenlenkung zielenden Grundlagen der Kirchendogmatik hinter sich ließ, konnte er zum vorauseilenden Wegbereiter eines neuen interreligiösen Dialoges werden.1 Jede ‚wahre Religion‘ bezeugt mit dem 1. Johannes-brief, dass Gott die Liebe ist. Sie errichtet keine Mauern, sondern führt zur Erkenntnis der einen Menschheit und überwindet jene abgründige (Un-)Heilslehre der Gewalt, die namentlich auch im ‚Okzident‘ der Kriegskirchenklerus an die Stelle der Botschaft Jesu gesetzt hat. In weisheitlichen Anthologien2 mit Texten aus unterschiedlichen Kulturen wollte Tolstoi einer großen Leserschaft jenen universalen Glauben nahebringen, der uns ein neues Selbstverstehen – jenseits der getriebenen Selbstsicherung – ermöglicht und sich bewahrheitet durch ein Einfinden in das ‚Wohlwollen‘ Gottes, welches jedem Menschen – allem, was lebt – gilt.
In seiner erstmals 1925 erschienenen, hier unter neuem Titel edierten Sammlung3 hat der Tolstoi eng verbundene russische Pazifist Pavel Ivanovič Birjukov (1860-1931) Briefe und sonstige Zeugnisse über die Beziehungen des Dichters zu den „Vertretern orientalischer Religionen“ zusammengestellt. Die dargebotenen Korrespondenzen, Aufsätze und Übertragungen beziehen sich überwiegend auf die Lehren von Krishna, Buddha, Konfuzius, Laotse und Mohammed sowie den Bahaismus (Länderbezüge: Indien, China, Russland, Japan, Persien). – Hinzugetreten sind in der vorliegenden Edition lediglich einige Fußnoten in eckigen Klammern, eine teilweise kommentierte Bibliographie zu zentralen Texten der Sammlung (→S. →-→) sowie die Übersicht zu den bislang vorliegenden Bänden unserer Tolstoi-Friedensbibliothek (→S. →-→).
Bezogen auf Anregungen aus ‚nichtchristlichen Religionen‘, die für Tolstois Weg bedeutsam waren, sei auch auf einen neueren theologischen Sammelband und das entsprechende Kapitel in einer Studie von Dirk Falkner hingewiesen.4 | pb
1 Vgl. in unserer Reihe bes. Band TFb_A013 | Leo N. TOLSTOI: Was ist Religion? Die Übersetzungen von Nachman Syrkin und Iwan Ostrow (1902), nebst weiteren Texten. Norderstedt: BoD 2023.
2 Vgl. Band TFb_A014 | Leo N. TOLSTOI: Der Weg des Lebens. Ein Buch für Wahrheitssucher. Neuedition der Übertragung von Adolf Heß, 1912. Mit einer Hinführung von Holger Kuße. Norderstedt: BoD 2023, S. 470 (bibliographische Übersicht zu den entsprechenden ‚Lesewerken‘).
3 Paul BIRUKOFF (Hg.): Tolstoi und der Orient. Briefe und sonstige Zeugnisse über Tolstois Beziehungen zu den Vertretern orientalischer Religionen. (Reihe: Tolstoi Dokumente, herausgegeben von Paul Birukoff). Zürich und Leipzig: Rotapfel-Verlag 1925. – Der Titel und die Schreibweise des Bearbeiter-Namens wurden in unserer Neuedition abgeändert; das irritierende Inhaltsverzeichnis der Erstausgabe haben wir nur behutsam redigiert (die z.T. vom Hauptteil abweichenden Schreibweisen im Namen-Register →S. 243-247 bleiben hingegen unverändert).
4 Martin GEORGE/Jens HERLTH/Christian MÜNCH/Ulrich SCHMID (Hg.): Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker. Zweite Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015; Dirk FALKNER: Straftheorie von Leo Tolstoi. (= Juristische Zeitgeschichte – Abteilung 6, Band 57). Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2021, S. 36-46: ‚Nichtchristliche Religionen‘ (mit weiterführenden Literaturhinweisen).
Pavel Birjukov
(1923)
Nach Vollendung meiner umfangreichen Aufgabe der Lebensbeschreibung Leo Nikolajewitsch Tolstois, die das Bild eines großen Mannes im ganzen umreißt, ist es, glaube ich, nunmehr zweckmäßig, ausführlichere Untersuchungen anzustellen, die sich mit einzelnen besonderen Seiten seines Lebens befassen. Zunächst denke ich mich auf ein Gebiet zu beschränken, auf dem sich Tolstoi mit besonderer Klarheit ausgesprochen hat, und das die brennendsten Fragen für die Menschheit der Gegenwart umfaßt.
Das gewaltige biographische Material, an dem ich mehr denn zwanzig Jahre gearbeitet habe, liefert mir dafür Unterlagen zur Genüge.
Wir kennen die Anschuldigungen, denen unsere Zivilisation von allen Seiten unterliegt. Die Ankläger verweisen zumeist auf den Orient, als ein Gebiet, auf dem sich die Übel der Zivilisation noch nicht allzu übermäßig entwickelt haben, das sich vor der westlichen Pest noch bewahren ließe und woher frische Kräfte zu einer Erneuerung der Welt gewonnen werden dürften.
Tolstoi war einer jener Ankläger, einer von denen, die auf die Mittel hinwiesen, wodurch die Menschheit von den Übeln, an denen sie krankt, geheilt werden könnte. Und Tolstoi wandte seine Blicke häufig nach dem Osten.
Wir halten es für wichtig, ein mehr oder weniger vollständiges Bild der Beziehungen Tolstois zum Orient zu gewinnen durch eine Zusammenstellung von Originalzeugnissen, von Briefen, Tagebüchern und Bemerkungen Tolstois sowohl als auch seiner Korrespondenten.
Wir halten es ferner für angebracht, der Rundschau selber einen kurzen historisch-biographischen Umriß vorauszuschicken, der uns Tolstois Bestrebungen und seine Vorliebe für den Orient entwickeln soll.
Eine solche Vorliebe Tolstois läßt sich schon in den Kinderjahren feststellen. In seinen Jugenderinnerungen spricht er davon, wie er durch die Märchen aus Tausendundeiner Nacht gefangen genommen wurde, deren bunte Abenteuer ein Blinder allabendlich in der Schlafstube seiner Großmutter mit geheimnisvoll eintöniger Stimme beim matten Scheine des Nachtlichtes vortragen mußte, bis die alte Frau einschlief. Für sein ganzes Leben grub sich in Tolstois Seele die Erinnerung an die hinreißende Gewalt dieser Märchen und an ein gewisses Grauen, das dabei das empfängliche Gemüt des späteren genialen Künstlers überkam.
Als er die Universität in Kasan bezog, wählte er, der Grund dafür ist uns unbekannt, orientalische Sprache und Literatur als Studium. Aber er kam damit nicht vorwärts. Er sattelte zur Juristerei um, hatte aber auch hierin keinen Erfolg und verließ nach zwei Jahren die Universität.
In seinen Tagebüchern berichtet er gleich auf den ersten Seiten davon, wie er eine Zeitlang aus Anlaß einer geringfügigen Krankheit im Kasanschen Lazarett zubrachte. Es war das im Jahre 1847. Im Gespräche mit mir erzählte Leo Nikolajewitsch, daß in diesem Hospitale neben ihm ein Burjätenlama lag, der unterwegs von einem Straßenräuber angefallen und verwundet worden war. Als Tolstoi ihn des näheren ausfragte, erfuhr er zu seinem Staunen, daß der Lama als Buddhist sich gegen den Räuber nicht zur Wehr gesetzt, sondern mit geschlossenen Augen unter Gebeten seinen Tod erwartet hatte. Auch dieses Erlebnis machte einen starken Eindruck auf Tolstois junge Seele und weckte Hochachtung in ihm vor der Weisheit der Orientalen.
Nach einigen Jahren regellosen Lebens wurde Leo Nikolajewitsch durch seinen ältesten Bruder bewogen, in den Kaukasus zu ziehen. Das ergab abermals Berührungen mit den Völkern und der Kultur des Orients, insbesondere der Mohammedaner.
Tolstoi war erstaunt über die Gelassenheit, Weisheit und Nüchternheit der religiösen Mohammedaner. Und er gab diese Eindrücke in Kunstwerken wieder wie „Der Gefangene im Kaukasus“, „Hadschi Murad“ und anderen. Nachdem er 1856 seinen Militärdienst quittiert hatte, brachte er einige Jahre ohne jede Berührung mit dem Orient, vielmehr in stetem Verkehr mit den okzidentalen Nationen zu, und dieser Verkehr, das muß betont werden, befriedigte ihn keineswegs.
Als Anno 1862 seine Gesundheit erschüttert war, gab er seine Beschäftigung mit Schulfragen auf und reiste zu seiner Wiederherstellung in die Steppen bei Samara zu den Baschkiren, um dort eine Kumyskur zu machen5. Dort lebte er im Zelt mit den Nomaden, Baschkiren und mohammedanischen Tataren, schloß mit vielen Freundschaft, lernte ihre Sitten und Bräuche kennen und schilderte sie in zahlreichen Kunstwerken.
In den siebziger Jahren, in der Schaffenspause zwischen den Romanen „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“, stellte Tolstoi eine ganze Reihe von Lesebüchern fürs Volk zusammen und brachte darin Legenden und Märchen verschiedener Nationen, darunter eine Anzahl von indischen und arabischen Legenden. Er mußte sich also bereits damals mit der Literatur des Orients vertraut machen.
Er stand somit schon in dem Lebensabschnitt, der seiner religiösen Krise voranging, in fast ununterbrochenem geistigen Verkehr mit dem Oriente. Und dieser Verkehr hinterließ seine Spuren in der Seele und in der Weltanschauung Tolstois.
In seiner „Beichte“ erzählt Tolstoi die orientalische Legende vom Wanderer, Drachen, Tiger und den Mäusen, um die Tragik des Menschenlebens überhaupt und seines Lebens insbesondre – ohne Führer, ohne Verständnis für den Sinn des Daseins – zu kennzeichnen. So sehen wir ihn in der wichtigsten Krise seines Lebens bei den Orientalen nach Bildern suchen, um seinen Seelenzustand zu veranschaulichen.
Nun aber hat er endlich den Sinn des Daseins gefunden und macht sich eine neue christliche Lehre, frei von kirchlichen Vorurteilen, zu eigen. Mit seiner weitreichenden Stimme wendet er sich an die Welt, ruft sie zur Selbstverleugnung auf und betritt als erster den von ihm gewiesenen Weg. Die christlichen Theorien befriedigen ihn nicht ganz, und er wirft sich aufs Studium der Religionen des Orients. In ihnen findet er den neuen Kräftequell zur Vervollkommnung der Menschheit.
Zunächst beschäftigt er sich mit chinesischer Philosophie. Er liest die „Heiligen Bücher des Ostens“ und legt aus Anlaß dieses Studiums zahlreiche Bemerkungen in seinen Tagebüchern nieder. So heißt es einmal 1884:
„Konfuziusʼ Lehre von der Mitte – wundervoll! Dasselbe wie bei Lao Tse: Die Erfüllung des Naturgesetzes, das ist – Weisheit, Kraft, Leben. Und dies Gesetz erfüllt sich geräuschlos, den Sinnen unfaßlich. Es ist Tao, wenn es schlicht, unmerklich, ohne Zwang sich entwickelt, und dann ist es von gewaltiger Wirkung. Ich weiß nicht, was aus dieser meiner Beschäftigung mit Konfuziusʼ Lehre noch wird, aber schon hat sie mir viel Gutes gebracht. Ihr Kennzeichen ist Wahrhaftigkeit, Einheit, nicht Zwiespältigkeit. Er sagt, der Himmel handelt stets wahrhaftig.“
Nachdem er die Religion des alten China gründlich erforscht, macht er sich ans Studium indischer Weisheit. Er liest die Werke Burnoufs, Max Müllers, Rhys Davids, Subhadra Bhikshus und anderer und entwirft eine Skizze vom Leben Buddhas, doch vollendet er sie nicht, von dringlicheren Arbeiten in Anspruch genommen6.
Aber der Gedanke, dem russischen Volke die Weisheit des Orients zugänglich zu machen, verläßt ihn nicht mehr. Er entwirft eine kurze Erläuterung der wichtigsten Religionen und verweist auf ihre innere Zusammengehörigkeit. Doch auch diese Arbeit führt er nicht zu Ende und beschränkt sich schließlich auf die Sammlung: „Die Gedanken der Weisen“, worin zum ersten Male die Evangelien neben den Betrachtungen eines Sokrates, Buddha, Lao Tse, Krishna, Pascal und anderen erscheinen.
Zu der Zeit, d. h. zu Ende des vorigen und Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts, verbreitet sich der Ruf Tolstois als eines internationalen Genies über die ganze Welt, in allen ihren fünf Teilen, und seine Persönlichkeit wird zum Mittelpunkte für alle ihm verwandten Bestrebungen.
Er empfängt Arbeiten der Schriftsteller und Denker von allen Seiten der Welt und tritt in Briefwechsel mit ihnen. Immer wieder aber fesselt seine Aufmerksamkeit und gewinnt seine Sympathien vor allem der Orient.
Er liest die Arbeiten Svami Vivekanandas über die Philosophie des Yoga, die ihn außerordentlich anspricht. Er liest Baba Bharatis Buch über Krishna, die Schriften Spri Shankara Acaryas über die Philosophie des Vedanta und anderes. Endlich kommt er in unmittelbare briefliche Beziehungen mit Japanern, Chinesen, Indern, Brahmanen und Mohammedanern, mit Revolutionären und mit solchen, die jede Gewaltanwendung verwerfen. Vor allem zieht ihn Indien, das alte und das neue, an. All diesen Orientalen ist er bemüht, den Wert ihrer kostbaren alten Weisheit wieder vor Augen zu führen, er warnt sie vor den Gefahren des Westens und weist sie darauf bin, was ihnen das Licht eines Christentums geben kann, das noch nicht durch Priester, die sich der Staatsgewalt verkauft haben, entstellt ist.
Solche Beziehungen und Erwägungen veranlaßten Tolstoi, seine Sammlung von Weisheitslehren zu vermehren und den sogenannten „Lesekreis“7 [Krug čtenija / Lesezyklus, 1904-1906 f] herauszugeben. Mit der Arbeit daran bringt er seine letzten Lebensjahre zu, und allmählich entwickelt sich diese Sammlung zu einer Grundlage der künftigen internationalen Menschheitsreligion, ohne Unterschied der Rassen und Bekenntnisse. Er starb über dem Werk, das indessen weit genug gediehen war, um veröffentlicht werden zu können. Damit hinterließ er sein geistiges Vermächtnis, eine Weihegabe für die brüderliche Einigung aller Menschen.
Er war selbst von dieser Arbeit befriedigt, er sagte: „Ich glaube, daß all meine künstlerischen Werke unwichtig sind und in Vergessenheit geraten werden, diese Arbeit aber wird bleiben, da sie der Menschheit zum Nutzen gereicht.“
In der Entwicklung seiner religiösen Ideen vermögen wir deutlich seine allmähliche Befreiung von allen Formen und äußeren Unterschieden zu verfolgen, wodurch sich die Menschen in ihrem Streben nach Wahrheit trennen lassen.
In seiner Antwort an den Synod auf den Erlaß, der ihn aus der orthodoxen Kirche ausstieß, spricht er diese Idee ganz klar mit den Worten aus: von egoistischen Trieben ausgehend, hätte er sich anfangs einen nationalen Glauben zu eigen gemacht, dann aber sei er durch die kosmopolitische Lehre des Christentums hindurch zur Erkenntnis einer einzigen reinen, allgültigen Wahrheit gelangt.
Im Tagebuch seiner letzten Jahre vermerkt Tolstoi, die Bezeichnung ‚christlich‘ enge ihn ein; er wünsche der Religion, die er verkünde, überhaupt kein Eigenschaftswort beizulegen, da sie eine allgemeingültige Wahrheit zum Ausdruck bringe und daher internationalen Charakter tragen müsse.
Wir nehmen an, daß unsere Sammlung von lebendigen Zeugnissen über die Beziehungen dieses großen okzidentalen Denkers zum Orient den Lesern von großem Interesse sein wird. Diese Zeugnisse können zu einer friedlichen Annäherung beider Welten mit beitragen, zu einer Synthese der für beide Welten gültigen Wahrheiten und so den Grund legen zu einer Herrschaft wahrhaften Friedens und Wohlgefallens auf Erden.
Ein großer Inder der Gegenwart, der Dichter und Denker Rabindranath Tagore, hat es in einer Vorlesung „Die Religion der Wälder“ ausgesprochen, die er an der Universität zu Genf am 6. Mai 1921 hielt:
„Die große Aufgabe Indiens, die es noch in seinen Herzenstiefen birgt, um ihre Stunde abzuwarten, sie besteht in der Vereinigung von Hinduismus, Mohammedanismus, Buddhismus und Christentum, einer Einigung weder durch Zwang noch infolge apathischer Selbstverleugnung, sondern in der Harmonie tätigen Zusammenarbeitens.“
Wir möchten durch unser Werk zu einer Verwirklichung solcher Bestrebungen beitragen.
Ein andrer großer Inder, Mahatma Gandhi, trat in unmittelbaren Verkehr mit Tolstoi: aus den Werken des russischen Dichters schöpfte er Kraft zum Kampfe und sprach ihm seine Bewunderung aus. Und Tolstoi antwortete ihm in rührend liebevoller Weise.
Ja, Indien im besonderen war es, mit dem Tolstoi am meisten gemein hatte, und diesem großen Volke in seiner Unterdrückung und seinem großen Führer widmen wir unser Buch.
Genf, 3. Mai 1923
5Kumys, gegorene Pferdemilch.
6 Weiter unten bringen wir eine kurze Darstellung des Lebens und der Lehre Buddhas aus Tolstois letzter Zeit.
7 [Ausgaben in deutscher Sprache | Leo TOLSTOI: Für alle Tage. Ein Lebensbuch. Erste vollständig autorisierte Übersetzung. Herausgegeben von Dr. E. H. Schmitt und Dr. A. Škarvan. Band I. Dresden: Verlag von Carl Reißner 1906; Band II. Dresden: Verlag von Carl Reißner 1907. (= Übertragung von: Krug čtenija, 19041906). – Lew TOLSTOI: Für alle Tage. Ein Lebensbuch. Mit einem Geleitwort von Volker Schlöndorf und einem Nachwort von Ulrich Schmid. Auf Grundlage der russischen Ausgabe letzter Hand von Christiane Körner revidierte und ergänzte Übersetzung von E. Schmitt und A. Škarvan. München: C. H. Beck 2010. / sowie Lizenzausgabe, Berlin: Fröhlich & Kaufmann Verlag 2018. (= Übertragung der zweiten, erweiterten Ausgabe von: Krug čtenija).]
(1923)
Unsere Sammlung zerfällt in zwei Teile:
Im ersten, dem Hauptteile, bringen wir den gesamten uns erreichbaren Briefwechsel Tolstois mit Orientalen. Glücklicherweise ist es uns gelungen, viele Briefe von Orientalen an Leo Nikolajewitsch ausfindig zu machen, die die Korrespondenz vervollständigen, so daß die darin behandelten Fragen von beiden Seiten beleuchtet werden.
Der erste Teil zerfällt in sechs Kapitel.
Das erste enthält den Briefwechsel mit Indobrahmanen, das zweite mit Mohammedanern Indiens.
Dieses Kapitel bildet gewissermaßen den Übergang vom Hinduismus zum Mohammedanismus, worauf das dritte den Briefwechsel Tolstois mit Mohammedanern verschiedener Länder bringt, nämlich Persiens, Ägyptens und der Türkei. Das folgende, vierte, ist seinen Beziehungen zu den Mohammedanern Rußlands und der damit politisch verknüpften Länder gewidmet: des Kaukasus, der Krim, Turkestans und des Wolgagebietes, das von zahlreichen Tatarenstämmen bevölkert ist.
Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit China und das sechste mit Japan.
Der zweite Teil erläutert die orientalischen Religionen. Als Einführung bringen wir einen Brief Tolstois an W. A. Posse „Über das Studium alter Religionen“. Diese prächtige Abhandlung ist wenig bekannt und bringt seine Anschauungen in dieser wichtigen Frage klar zum Ausdruck.
Darauf folgen die unter seiner Leitung vorgenommenen Erläuterungen der Lehren Krishnas, Buddhas, des Konfuzius, Lao tses und Mohammeds, mit kurzen Mitteilungen über ihr Leben.
Zum Schluß bemühten wir uns, aus der Weltanschauung Tolstois die Grundprinzipien zusammenfassend herauszuheben, die einen lebhaften Widerklang bei den Repräsentanten der orientalischen Religionslehren fanden und sie zu ihrer Annäherung an ihn veranlaßten.
In einer Beilage endlich geben wir ein Verzeichnis der Werke über orientalische Religion, Philosophie, Geschichte und Kultur, die sich in der Bibliothek zu Jasnaja Poljana befinden und die Tolstoi augenscheinlich zum Studium des orientalischen Innen- und Außenlebens benutzte, da sie von seinen Randbemerkungen wimmeln.
Dieses Verzeichnis haben wir einer ausführlichen Beschreibung der Bibliothek zu Jasnaja Poljana entnommen, einem Werke W. F. Bulgakows, des früheren Sekretärs von Tolstoi.
Eine heikle Frage ist bei der Zusammenstellung dieser Sammlung aufgetaucht: die Frage nach dem Eigentumsrecht der Autoren an den Briefen, die wir bringen. Infolge der ungeheuren Entfernungen, in Unkenntnis der Anschriften der meisten Korrespondenten und im Hinblick darauf, daß der jüngste der hier veröffentlichten Briefe vor fünfzehn Jahren abgefaßt wurde, während zugleich Briefe vorliegen, die schon über fünfundzwanzig Jahre alt sind, infolge all dieser Umstände war es mir unmöglich, alle um die gesetzliche Ermächtigung zur Veröffentlichung anzugehen, und ich entschloß mich, der Anweisung meines großen Lehrers Leo Tolstoi zu folgen: ich führe dazu Bruchstücke aus drei Briefen an, die aus solchem Anlasse geschrieben wurden.
1
Aus einem Briefe Leo Tolstois an
Wladimir Grigorjewitsch Tschertkow
Jasnaja Poljana, 30. Januar 1909
Wladimir Grigorjewitsch,
Da Sie eine Gesamtausgabe meiner Schriften vorbereiten und zu dem Zwecke frei über meine Privatbriefe an verschiedene Persönlichkeiten verfügen möchten, bestätige ich Ihnen hiemit: Falls Sie oder diejenigen, die Sie mit der Weiterführung dieser Sache betrauen, es für wünschenswert halten sollten, irgendwelche Privatbriefe von mir aufzunehmen, so ermächtige ich Sie sowohl wie Ihre Nachfolger, alle solche Briefe, von denen Sie Abschriften schon besitzen, oder die Sie durch mich oder auf anderem Wege noch erhalten, an wen gerichtet sie immer sein mögen, nach Ihrem oder Ihrer Nachfolger Ermessen zu veröffentlichen.
Ich erteile Ihnen diese Ermächtigung auch, einesteils weil ich annehme, daß einige meiner Briefe von allgemeinem Interesse sein mögen, und überzeugt bin, daß Sie und diejenigen, die Sie mit der Weiterführung Ihrer Arbeit betrauen, sie auf die zweckmäßigste Weise verwenden werden; dann aber auch, weil ich ein literarisches Eigentumsrecht überhaupt nicht anerkenne und es nicht wünsche, daß meine Briefe in den persönlichen Besitz der Leute übergehen, an die sie gerichtet sind.
Leo Tolstoi
2
Aus einem Briefe L. N. Tolstois
an An. Fed. Koni
… Ich habe mich ein für allemal aller Rechte an meinen Briefen sowohl als an meinen sonstigen Schriften entäußert: ich wünsche nichts mehr, als daß meine Briefe, die an A[lexandra] A[ndrejewna] Tolstaja sowohl als die an Sie, niemals in den ausschließlichen persönlichen Besitz irgend jemandes gelangen möchten, Kopien aber sollten meinem Freunde Tschertkow, W. G., übergeben werden, der alle meine Schriften sammelt und herausgibt.
10. Februar 1909
3
Aus einem Briefe W. G. Tschertkows
an P. A. S-ko
21. Oktober 1909
… Wegen Ihrer Absicht, einige Briefe von Leo Tolstoi an verschiedene Personen herauszugeben, habe ich mich mit ihm aus eben den Erwägungen heraus in schriftliche Verbindung gesetzt, und er hat mich gebeten, Ihnen folgendes mitzuteilen:
Erstens erkennt er kein literarisches Eigentumsrecht an und wünscht nicht, daß seine Briefe, welcher Art sie auch sein mögen, Privatbesitz der Personen werden, an die sie gerichtet sind, er wünscht vielmehr, daß gelegentlich der ersten Ausgabe seiner Briefe eine bestimmte Erklärung darüber abgegeben wird, daß keinerlei Eigentumsrecht an ihnen haftet und daß sie jeder abdrucken darf.
… Zweitens bittet er Sie, wegen der Ausgabe seiner Briefe nicht mit ihm selber verhandeln zu wollen, sondern sich unmittelbar an mich zu wenden, da er mir in dieser Beziehung jede Vollmacht erteilt hat.
Von Tolstoi beigefügt:
In diesem Schreiben hat W. G. Tschertkow meine Wünsche in bezug auf Veröffentlichungen und Ausgaben meiner Briefe vollkommen richtig wiedergegeben.
23. Oktober 1909, Jasnaja Poljana
Leo Tolstoi
_______
Da mir der Wunsch meines großen Freundes Leo Tolstoi von vornherein bekannt war, wandte ich mich natürlich an W. G. Tschertkow, um von ihm die Ermächtigung zu dieser Ausgabe zu erlangen. Er gab sie mir gerne, indem er mir die oben genannten Dokumente zur Verfügung stellte. Viele dieser Briefe sind schon, in verschiedenen Sammlungen verstreut, veröffentlicht worden. Viele aber, und darunter sehr wichtige, erscheinen hier zum ersten Male.
Ich glaube unter all diesen Voraussetzungen den mir teuren Willen des großen Denkers Leo Tolstoi zu erfüllen, der kein Gesetz für menschliche Beziehungen anerkannte, außer dem göttlichen inneren Gesetze, dem Gesetze der Vernunft und der Liebe.
Genf, 3. Mai 1923 P. Birukoff
In unserem Vorworte haben wir schon die Beziehungen Tolstois zum Orient in Form eines kurzen geschichtlichen Umrisses entwickelt und dabei auf seine Vorliebe für Indien hingewiesen. Diese seine Sympathien für indische Weisheit und ihre religiösen Grundlagen sind vollauf gerechtfertigt worden durch die Äußerungen tiefer Verehrung, Ergebenheit und, des öfteren, von Entzücken, mit denen in Indien nicht minder seine religiösen Werke aufgenommen wurden als auch seine Briefe an viele Vertreter der indischen Intelligenz, die den Pfad einer geistigen Erneuerung Indiens betrat. Der Briefwechsel ist sehr interessant, da er in vielen Punkten ein völliges Zusammengehen seiner Ideen mit indischer Religionsweisheit ergibt, in andern wieder den Unterschied klarstellt, der durch Ort und Zeit der Entwicklung dieser Ideen ebenso bedingt ist wie durch den individuellen Charakter ihrer Vertreter.
Nach der Zusammenstellung dieser Zeugnisse wollen wir in einem Schlußwort versuchen, die Ähnlichkeiten und Gegensätzlichkeiten hervorzuheben und unsere Schlüsse daraus zu ziehen.
Die unmittelbaren Beziehungen Tolstois zu den Vertretern der geistigen, religiösen und sozialen Bewegung im modernen Indien begannen mit dem Anfang dieses Jahrhunderts. (→E 1)8
Im Juni 1901 erhielt er in Jasnaja Poljana, vor seiner Reise in die Krim, ein Schreiben jener Gruppe der indischen Intelligenz, von der in Madras die Zeitschrift „The Arya“ (→E 2) in englischer Sprache herausgegeben wurde. Der Hauptschriftleiter A. Rama-Seshan, der das Schreiben unterzeichnete, wendete sich an Tolstoi im Namen seiner Gesinnungsgenossen. Dieser erste Brief ist leider nicht mehr vorhanden, aber aus den folgenden ergibt sich das charakteristische Wesen der Gruppe zur Genüge. Leo Nikolajewitsch antwortete auf den Brief mit einem Schreiben, das im Tolstoiarchiv in russischer und englischer Fassung vorliegt:
„Meinen Dank für Ihren interessanten Brief. Ich stimme Ihnen darin vollkommen bei: die von Europa vorgeschlagene Lösung der sozialen Frage kann Ihr Volk, da sie seiner eigenen Entscheidung nicht entspricht, unmöglich annehmen. Die Gesellschaft oder das Gemeinwesen, das seine Einheit durch Zwang wahrt, befindet sich nicht nur in einem bloß provisorischen, sondern auch in einem bedenklichen Zustande. Die Bande, die eine solche Gesellschaft zusammenhalten, laufen ständig Gefahr, zerrissen zu werden, und die Gesellschaft ist den unglücklichsten Zufällen ausgesetzt. In einem solchen Zustande aber befinden sich gegenwärtig alle europäischen Staaten. Die einzig mögliche Lösung der sozialen Frage besteht für vernunftbegabte und der Liebe fähige Wesen in der Aufhebung jeden Zwanges und dem Aufbau der Gesellschaft auf der Grundlage gegenseitiger Liebe und verständiger Grundsätze, die von allen freiwillig angenommen werden. Ein solcher Zustand kann nur durch Verbreitung wahrer Religion herbeigeführt werden. Unter wahrer Religion verstehe ich die Prinzipien, die allen Religionen zugrunde liegen, und zwar 1. die Erkenntnis, daß die Menschenseele göttlicher Herkunft ist, und 2. die Achtung vor ihrer Emanation, dem Menschenleben. Ihre Religion ist sehr alt und von großer Tiefe bei ihren metaphysischen Feststellungen in bezug auf das Verhältnis des Menschen zum Allgeist zum „Atman“ (→E 3): aber ich glaube, Ihre Ethik, d. h. die praktische Anwendung aufs Leben ist durchs Kastenwesen entstellt worden. Diese Anwendung aufs Leben wurde, soviel ich weiß, lediglich vom Jainismus (→E 4), Buddhismus und einigen anderen indischen Sekten, z. B. der des „Kabir Panthis“ (→E 5) konsequent durchgeführt, und da erscheint als erster Grundsatz die Lehre von der Heiligkeit des Lebens und demzufolge das Verbot, irgendein Wesen, vor allem aber einen Menschen, ums Leben zu bringen.
Alles Unglück, das Sie erleiden – Hunger, und was viel folgenschwerer ist, die Entsittlichung Ihres Volkes durchs Fabrikleben – es wird so lange währen, als Ihr Volk sich dazu hergibt, Wesen seinesgleichen zu töten und Soldat zu werden („Sipay“).
Parasiten finden sich nur auf unsaubern Leibern. Ihr Volk muß danach trachten, sittlich rein zu sein, und in dem Maße, als es sich frei von Mord und der Bereitheit zum Morden halten wird, in eben dem Maße wird es von der Herrschaft, unter der es jetzt schmachtet, frei werden.
Ich bin ganz Ihrer Meinung, daß Sie den Engländern für alles dankbar sein müssen, was die zu Ihrem Wohle getan haben, und daß Sie ihnen in allem behilflich sein sollen, was der Zivilisation Ihres Volkes dient, aber Sie sollen die Regierung als Vertreterin der Engländer bei Gewaltanwendung nicht unterstützen und unter gar keinen Umständen an einer Organisation teilnehmen, die sich auf Zwang gründet. Meiner Meinung nach besteht demzufolge die Pflicht eines jeden gebildeten Inders darin, all die alten Vorurteile zerstören zu helfen, durch die den Massen die Grundprinzipien wahrer Religion verhüllt werden: die Erkenntnis, daß die Seele göttlichen Ursprungs ist, und die Achtung vor dem Leben eines jeden Geschöpfes ohne Ausnahme – diese Erkenntnis gilt es in weitestem Umfange zu verbreiten. Mir scheint, daß sich diese Grundsätze, wenn auch nicht unmittelbar ausgesprochen, in Ihrer alten und tiefsinnigen Religion bergen und bloß aus ihr heraus entwickelt und entschleiert zu werden brauchen.
Ich glaube, nur ein solches Wirken kann die Inder von den Übeln befreien, unter denen sie leiden, und als vornehmstes Mittel zur Erreichung ihres Zieles dienen.
Leo Tolstoi.“
Bald darauf erhielt Tolstoi Rama-Seshans Antwort. Sie lautet, aus dem englischen Original übertragen:
An Seine Erlaucht den Grafen Leo Tolstoi, Moskau Redaktion der Zeitschrift Arya, Black Town,
Madras, 22. August 1901
Herr Graf,
Nehmen Sie bitte meinen und meiner Landsleute aufrichtigen Dank entgegen für Ihre gütige Botschaft und meinen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wiedergenesung. Wir verfolgten besorgt den Verlauf Ihrer Krankheit nach den Zeitungsberichten. Und die letzte Post brachte uns eine große Beruhigung dadurch, daß wir ihr entnahmen, Gott habe es gefallen, Ihr Leben fernerhin zu erhalten, dessen Europa und somit die ganze zivilisierte Welt dringend bedarf. Ihre Selbstbeherrschung während der kritischen Momente Ihrer Leidenszeit gemahnt uns an einige unserer Weisen in ihren letzten Augenblicken: sie verschieden singend, den Namen Gottes auf den Lippen, mit klarem Einblick ins Jenseits, in Erwartung des ewigen Heils. Wir beteten darum, daß Ihr so wertvolles Leben auf lange Zeit noch erhalten bleibe, und daß Ihre Anstrengungen, die europäische Menschheit zu echter Religion und zu wahrem Leben zurückzuführen, von Erfolg gekrönt sein möchten.
Was Ihr Schreiben an uns angeht, so seien Sie überzeugt, es wird hier, wenn es in meiner Zeitschrift erscheint, mit tiefer Ehrfurcht aufgenommen werden. Vielleicht wird es einige geben, die Ihnen nicht zustimmen, wenn Sie von unserem Kastenwesen sprechen. Sein Ursprung, seine Entwicklung, seine Bedingungen in der Gegenwart haben ihre eigene Geschichte. Aber ich will Sie bei Ihrem augenblicklichen Gesundheitszustande nicht mit Weiterem in dieser Frage belästigen. Ich stelle das zur Zeit zurück, bis Sie in voller Gesundheit die Besonderheiten unserer Gesellschaftsbildung sich werden vor Augen führen können. Einig mit Ihnen werden aber alle darin sein, worin Sie die Lösung unserer Aufgabe sehen. Es ist erstaunlich, wie jemand, der, so weit von uns entfernt, unserer Tradition und Geschichte fremd gegenübersteht, es vermocht hat, bis zum Kernpunkt dessen, was uns not tut, einzudringen und die endgültige Lösung unserer Aufgabe zu finden.
In der Hoffnung, daß Sie der Brief wiederhergestellt antrifft, verbleibe ich, Herr Graf, mit freundschaftlichen Gefühlen stets Ihr aufrichtig ergebener
A. Rama Seshan
Diesem Schreiben folgte ein zweites mit dem inzwischen abgedruckten Briefe Tolstois als Anlage und mit einigen sehr vorsichtigen und ehrerbietigen Entgegnungen.
An Seine Erlaucht den Grafen Leo Tolstoi,
Chamownitscheski per. , beim Dewitschje Polje,
Moskau, Rußland, Europa
Redaktion der Zeitschrift Arya, Black Town,
Madras, 12. Sept. 1901
Herr Graf,
Mit diesem Briefe sende ich Ihnen auch die Augustnummer der Zeitschrift Arya, die Ihr gütiges Schreiben an uns enthält. Ich lege Ihnen zugleich Zeitungsausschnitte bei, um Sie wissen zu lassen, wie unser Publikum die beherzigenswerten Worte aufnimmt, die Sie an uns gerichtet haben. „Der Hindu“ ist ein indisches Tageblatt, das immer bemüht war, seinen Lesern die Hauptpunkte Ihrer Lehre vor Augen zu führen, und das daher auch jetzt aus Anlaß Ihres Briefes in ernsthaften Leitartikeln von uns fordert, Ihr Schreiben vollauf zu würdigen. Es ist das führende indische Provinzblatt. „Madras Mail“ ist unsre führende englisch-indische Zeitung und das Organ der regierenden Klasse.
Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit für den kurzen Aufsatz, den ich Ihrem Briefe in der Augustnummer des Arya folgen ließ. Ich erläuterte darin kurz zusammengefaßt unsere Meinung über unsere Schwächen und wies auf die Wege hin, die wir zu gehen hätten, wenn wir vorwärts kommen wollten. Ich erwähnte dabei auch eine Stelle Ihres Briefes, in bezug auf welche unsere Ansichten ein wenig voneinander abweichen dürften. Daß ich auf diese Meinungsverschiedenheit hingedeutet habe, bitte ich mir zu vergeben. Wir sind mit Ihnen vollständig einig darin, daß wir unsere Religion von einer Menge abergläubischer Vorstellungen reinigen müssen, die Ausgeburten der jüngsten Tage darstellen.
Dennoch glauben wir gleichzeitig, daß in unseren alten Werken die klarste, reinste Form von Religion enthalten ist und wir sie nicht antasten lassen dürfen. Der Buddhismus hat keinen Erfolg in Indien wegen des Nirwana. Diese völlige Auflösung kann dem indischen Geiste nicht genügen. Zweifellos ist Buddhas Ethik ersten Ranges. Aber eine Sittenlehre, die sich nicht auf die lebendige Gegenwart eines alliebenden, allmächtigen Gottes gründet, hat keine Aussicht, sich zu halten. Indischer Geist verlangt durchaus einen lebendigen, persönlichen Gott, obwohl einige unserer großen Religionslehrer, ähnlich wie Shankara, den metaphysischen Begriff eines Allmächtigen ablehnen neben der starken lebendigen Persönlichkeit, die sie im irdischen Leben finden. Diese schwache Seite des Buddhismus ist es, die ihn in Indien nicht aufkommen ließ, und die ihm mehr geschadet hat als alle gelehrten Streitigkeiten, und mehr als der gewaltige persönliche Einfluß des größten indischen religiösen Reformators, Shri Shankara. Auch der Jainismus betont lediglich stärker gewisse Prinzipien des Hinduismus. Aber ihm fehlt die ausgiebige metaphysische Grundlage und die Übereinstimmung mit den stammverwandten Lehren. Zur Zeit gibt es sehr wenig Jainisten, und auch die leben nur in einem bestimmten Landesteil und werden außerhalb selten angetroffen.
Lassen Sie mich Ihnen noch einmal für Ihre edelsinnige Botschaft an uns danken. Ich habe in Ihrem Briefe ein paar Wendungen aus leicht begreiflichen Gründen ausgelassen. Die betreffenden Zeilen sind nach Ansicht einiger unserer Führer gefährlich; sie könnten unsere englisch-indischen Freunde zu unerwünschten Auseinandersetzungen veranlassen, vom politischen Standpunkt aus. Ich bitte, mir diese Eigenmächtigkeit vergeben zu wollen. Und ich bin überzeugt, Sie werden sie mir gütig verzeihen.
Wir erwarten mit großem Interesse Ihre nächste Arbeit, die in kontinentalen und englischen Zeitungen angekündigt wird. Ich würde in aller Bescheidenheit bitten – und ich weiß mich hierin als Vertreter eines großen Teiles der indischen Gesellschaft –, Sie möchten uns die Ehre einiger guter Worte gönnen, jetzt und fernerhin. In jedem Falle werden wir Ihnen und Ihrer Lehre mit Ehrerbietung begegnen und wünschen, daß Sie uns den Weg zum Ziele erleuchten, nach dem wir streben.
In der Hoffnung, daß Sie vollständig wieder hergestellt sind, verbleibe ich, Herr Graf, mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr aufrichtig ergebener
A. Rama Seshan
Wir wissen nicht, ob dieser Briefwechsel fortgesetzt wurde, Spuren davon im Archiv finden sich nicht mehr. Bekanntlich übersiedelte Tolstoi im Herbste des Jahres mit seiner Familie in die Krim, wo er abermals und wiederholt schwere Krankheitsanfälle zu überstehen hatte, Lungenentzündungen und Bauchtyphus. Wie die Inder selber bezeugen, verfolgte alle Welt den Verlauf seiner Krankheit mit gespannter Aufmerksamkeit, bald erfreut, bald niedergeschlagen, je nach den Zeitungsberichten in allen Zungen. Durch diese allenthalben verbreiteten Berichte über die schwere Erkrankung Tolstois wird die zeitweise Unterbrechung seiner Beziehungen zum Orient erklärlich.
Im Jahre 1903 erneuert sich sein Briefwechsel mit Indern. Anfangs Oktober erhielt er ein Schreiben Das Sharmas vom 25. September. Auch dieses Schreiben hat Kollektivcharakter. Augenscheinlich begannen zu der Zeit die Anschauungen Tolstois ins große Publikum Indiens zu dringen und öffentlich besprochen zu werden. Anbei das kurze, aber inhaltsreiche Schreiben in Übersetzung aus dem Indischen.
Von Das Sharma an Tolstoi
Chandausi, Bezirk Moradahad, Vereinigte Provinzen, Indien,
25.9.1903
Werter Herr,
Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie die Freundlichkeit hätten, mir über folgende Punkte Auskunft zu geben, die uns zur Beurteilung einer religiösen Angelegenheit nötig sind. Wir stellen unser Urteil zurück, bis wir Ihre Antwort erhalten.
1. Sind Sie Christ? 2. Wenn ja, welcher Kirche gehören Sie an? 3. Was halten Sie, wenn Sie Christ sind, von der Göttlichkeit Christi und was von seiner Himmelfahrt, und wie stellen Sie sich sein Weilen zur Rechten Hand Gottes vor?
Hochachtungsvoll
P. M. Das Sharma
Tolstoi antwortete sofort.
An P. M. Das Sharma
Chandausi, Bezirk Moradahad, Vereinigte Provinzen, Indien,
3.11.1903
Werter Herr,
1. Ich bin kein Christ im herkömmlichen Sinne dieses Wortes. 2. Ich gehöre keiner Kirche an. 3. Ich glaube nicht an die Göttlichkeit Christi und an die Wunder, die ihm zugeschrieben werden.
Meine Gedanken über Religion finden Sie in meinen Büchern „Worin mein Glaube besteht“ und „Die christliche Lehre“.
Leo Tolstoi
Weitere Spuren eines Briefwechsels mit dieser Gruppe von Indern finden sich nicht im Archiv. Dennoch ist die kurze Anfrage, und vor allem die ebenso kurze, gedrängte und entschiedene Antwort unserer Meinung nach von großer Bedeutung. Leo Nikolajewitsch war sicher ein Christ, seiner Erziehung wie seiner geistigen Eigenentwicklung nach und seiner Liebe zur Persönlichkeit Christi zufolge. Aber in diesem Briefe zieht er einen schroffen Trennungsstrich zwischen sich und jenen Scharen von christlichen Missionaren, die den Orient überfluten und nach den Worten Christi selber „Land und Wasser umziehen, daß sie Einen bekehren, und wenn es geschehen ist, machen sie aus ihm ein Kind der Hölle, zwiefältig mehr dann sie sind.“ (Matth. 23, 15.)
Wir werden im Verlaufe unserer Abhandlung noch Gelegenheit finden, uns mit der Missionsfrage zu beschäftigen. Jetzt wollen wir uns dem Briefwechsel Tolstois mit einer anderen Gruppe indischer religiöser Denker zuwenden.
Im Jahre 1904 unterbrach einer der grausamsten Kriege, der russischjapanische, die Verbindung Tolstois mit dem Orient auf eine Weile.
Am 13. Mai veröffentlichte Tolstoi in der Londoner „Times“ seinen Aufsatz zum Kriege unter dem Titel: „Besinnet euch, Menschen!“ Er wurde in der ganzen zivilisierten Welt gelesen.
Da erhielt Tolstoi zu Ende des Krieges das Schreiben eines Inders aus Amerika. Wir besitzen nur ein Bruchstück davon, das Tolstois Freund, Dr. Makowizki, zitiert9. In seinem Tagebuch schreibt er am 22. Februar 1905: „Kürzlich hat Leo Nikolajewitsch einen Brief des Inders Baba Bharati (→E 6) erhalten, der unter anderem schreibt: ,Niemand empfindet mehr Kummer über den russisch-japanischen Krieg als ich, ein friedliebender Inder. Ihr Okzidentalen solltet Euch mit Eurer Zivilisation und Kultur uns Orientalen anvertrauen. Mögen uns unsere christlichen Brüder immerhin Heiden heißen, wir unsrerseits werden ihnen nie mit dem gleichen erwidern. Wenn das Christentum so ist, wie es handelt, sind wir Euch ebenbürtig. Bringt uns das Beste Eurer Zivilisation, aber zerstört uns nicht unsere alten Kulturgrundlagen. Hierin liegt die Ursache des Konflikts zwischen Okzident und Orient.ʼ“
Unter demselben Tagebuchdatum zitiert Makowizki noch ein Bruchstück, augenscheinlich aus ebendem Briefe, obwohl man nach seinen Worten schließen könnte, daß der Autor ein anderer sei.
„Mein Teurer, Mahatma! Das bedeutet in der Sprache des Sanskrit ,große Seele‘. Und das sind Sie durchaus. Sie sind der einzige wahrhaft große Mensch im materialistischen, von seiner Machtfülle geblendeten, von seinem Verstande betörten Okzident10.“
Aller Wahrscheinlichkeit nach antwortete Leo Nikolajewitsch darauf nicht selbst, sondern ließ es eine seiner Töchter tun, denn der Inder erwähnt in einem späteren Schreiben, der Brief, den er in seiner Zeitschrift abgedruckt, sei von einer Tochter Tolstois. Ein Brief des Vaters aus jener Zeit ist nicht vorhanden. Damals wohl sandte Baba Premanand Bharati (so lautet der volle Name des Inders) an Tolstoi seinen Aufsatz „Die weiße Gefahr“, den Leo Nikolajewitsch außerordentlich schätzte.11
Weiterhin übermittelte Baba Premanand Bharati ihm sein Werk „Über Krishna“. Dieses Buch las Tolstoi mit religiösem Enthusiasmus und ließ Abschnitte daraus übersetzen, die wir im zweiten Teile bringen.
Leo Nikolajewitsch schrieb dem Autor daraufhin folgenden ergreifenden Brief:
An Baba Premanand Bharati
Los Angeles
Lieber Bruder,
Es ist mir eine Freude, Ihnen zu schreiben aus dem brüderlichen Gefühl heraus, das ich einem Menschen gegenüber hege, der mir, wenn er auch körperlich weit entfernt ist, doch dem Geiste nach nahesteht. Grade habe ich Ihr Buch „Krishna“ ausgelesen und befinde mich noch unter dem starken Eindrucke.
Ich kannte wohl von früher her die Lehre Krishnas, doch eine so klare Vorstellung davon, wie ich sie aus den beiden Teilen Ihres Buches empfing, habe ich noch nie gewonnen.
Da ich Sie aus Ihrem Buche kenne, will ich alle gesellschaftlichen Rücksichten beiseite lassen und ganz offen mit Ihnen sein, ohne alle Besorgnis, Sie mit dem zu verletzen, was ich Ihnen zu sagen habe. Die in Ihrem Buche so trefflich ausgelegten metaphysisch-religiösen Grundsätze bilden die ewige und internationale Grundlage aller Religionen und aller philosophischen Systeme.
Die Wahrheit, daß das Wesen alles Seins nicht anders empfunden und verstanden werden kann denn als Liebe, und daß die Seele eine Emanation dieses Seins ist, das sich in seiner Entwicklung als Menschenleben darstellt – diese Wahrheit wird mehr oder weniger bewußt von allen Menschen aufgenommen, und sie ist daher dem wissenschaftlich aufs höchste entwickelten Verstande ebenso zugänglich wie einem ganz primitiven. Sie ist das Fundament der Religion Krishnas wie aller Religionen. Aber in der Religion Krishnas wie in allen alten Religionen finden sich Behauptungen, die nicht nur unbeweisbar sind, sondern geradezu als Erzeugnisse einer zügellosen Phantasie erscheinen, überdies völlig belanglos sind für das Erfassen der Grundwahrheiten und die Bekräftigung der Lebensregeln, die sich aus den wesentlichen Lehrsätzen ergeben.
Dazu gehören alle kosmologischen und historischen Behauptungen über die Erschaffung der Welt und über ihre Dauer, alle Wunderberichte, die Theorie von den vier Zeitaltern und die Begründung des unmoralischen Kastenwesens, das mit den Grundwahrheiten in Widerspruch steht.
Lieber Freund und Bruder, die Aufgabe, die uns gestellt ist, besteht in der Bekräftigung einer Wahrheit, die allen Menschen gemein ist, die die ganze Menschheit in einem und demselben Glauben und in den gleichen Lebensregeln, die darauf gegründet sind, vereinigen soll. Die Menschheit muß sich in einem und demselben Glauben vereinigen, denn die Menschenseele scheint bloß – wie Sie wohl wissen – vielfältig und unterschiedlich in jedem einzelnen, in der Tat ist es immer ein und dieselbe. Und daher, lieber Bruder, meine ich, müssen wir unsere nationalen Traditionen und Besonderheiten ablegen und nur die große internationale Wahrheit unserer Religion predigen.
Selbstentäußerung ist nicht nur in persönlichen Empfindungen geboten, sondern auch in nationalen Eigentümlichkeiten. Wir müssen unsere nationalen und poetischen Neigungen opfern um des großen Zieles willen, das wir vor Augen haben: der reinen Wahrheit teilhaftig zu werden und Sie zu verkünden, die allein alle Menschen vereinigen kann.
An der Erreichung dieses großen Zieles zu schaffen, dazu sind Sie, glaubʼ ich, berufen und verpflichtet. Ich habe mich viele Jahre gemüht, in dieser Richtung zu wirken, und wenn der Rest meines Lebens noch zu irgend etwas nutz sein sollte, so wird er es in der Arbeit hierfür sein. Werden wir wohl zusammenarbeiten?
Ihr Bruder und, wie ich hoffe, Mitarbeiter
L. Tolstoi
Ich hoffe, daß Sie mein schlechtes Englisch nicht daran hindern wird, mich zu verstehen.
Ich bitte, diesen Brief nicht zu veröffentlichen. Ich verfolge mit meinem Schreiben lediglich den Zweck, mit Ihnen in geistige Berührung zu treten, was, wie ich glaube, uns beiden förderlich sein wird.
Leo Tolstoi
Die Schlußworte scheinen die Veröffentlichung dieses Schreibens verbieten zu wollen; aber es ist lange her seitdem: beide Korrespondenten sind ins ewige Leben hinübergegangen, und damit entfällt die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf sie.
Auf dieses freundschaftliche Schreiben erfolgte eine ebenso freundschaftlich gehaltene, aber wortreichere Antwort Baba Premanand Bharatis. Wir bringen sie, unerachtet ihrer Längen, in vollem Wortlaut, da sie eine ganze Reihe religiöser Richtungen in Indien trefflich beleuchtet.
Haus Krishna, Indiens Licht,
730 West, Los Angeles, California,
21.3.1904
Teurer Bruder,
Mit größerer Freude vielleicht, als es die ist, mit der Sie mich Bruder heißen, habe ich Ihren wundervollen Brief voll wahrer Liebe, echter Philosophie und ungewöhnlicher Bescheidenheit der Selbsteinschätzung gelesen und wieder gelesen. Ich habe ihn nur weggelegt, um endlich Muße zu finden, Ihnen aus vollem Herzen zu antworten. Meine Zeit ist so mit Sorgen, Arbeiten und Verantwortlichkeit überfüllt, daß ich mir einen Ruck geben muß, um Ihnen auf Ihre so wichtige Botschaft antworten zu können. In diesem Lande des überall herrschenden Hasses, der Raffiniertheit und des Materialismus war ich genötigt, mein Leben von neuem aufzubauen. Ich kam vor nunmehr länger als vier Jahren hierher ohne jeden Besitz außer dem unerschütterlichen Glauben an die göttliche Vorsehung, dem aszetischen Lebensquell des Inders.
Vor vier Jahren langte ich in New York an ohne Pfennig, und der Herr hat mir geholfen. Der Herr, der mich im Osten behütete, hat es auch im Westen getan, denn beide sind Ihm untertan. Seit meiner Ankunft arbeitete ich mit aller Kraft meines Herzens und meines Kopfes, um den Seelen hier mit dem geringen Lichte zu dienen, das mir Gott und Guru (mein geistiger Führer) in ihrer Gnade verliehen – unbekümmert um materielle Bedürfnisse und unbesorgt um die Mittel, sie zu befriedigen, und sie wurden auch ohne mein Zutun befriedigt. Ich arbeitete von acht Uhr morgens bis zwei, drei Uhr nachts, tagaus tagein achtzehn bis neunzehn Stunden, um den Seelen hier im Westen zu dienen. Jetzt arbeite ich mit zwei Sekretären, und trotzdem wird es uns schwer, mit der täglich wachsenden Korrespondenz und der Überfülle anderer Nöte und Verpflichtungen fertig zu werden. Da muß ich mir denn die Zeit stehlen, die ich einer so großherzigen, segensreichen Liebesbotschaft und einer solch herzlichen Hilfsbereitschaft schulde. Ich glaube, schon in meinem letzten Schreiben habe ich zu erkennen gegeben, daß ich unsere geistige Verwandtschaft nicht weniger lebhaft empfinde als Sie.
Vor dreiundeinhalb Jahren begegnete mir folgendes: ich las von Ihren Anschauungen über das Amerika der Gegenwart. Es sind auch die meinen. Einer meiner Hörer brachte mir das Blatt. Die Tatsache ist offenkundig: wir beide beurteilen die Erscheinungen des modernen okzidentalen Lebens von demselben Gesichtspunkte aus, aus derselben seelischen Verfassung und aus einem, Gott sei es gedankt, bewußten Seelenzustand. Und mir ward, ich fliege über ganz Rußland hin in Ihre Arme. Dem Verstande der Weltleute mag es sehr sonderbar erscheinen, daß ein russischer Christ und ein Inder, ein „ Heide“, solche Liebe zueinander empfinden, ohne einander zu kennen – dem tieferen Fühlen ist es das nicht. Blut ist dicker als Wasser, aber Liebe noch dicker als Blut. Wir sind eins geworden im Geiste, im Urquell unseres Seins, in unserem Gotte, als dessen Manifestationen, wie Sie sagen, unsere Seelen sich zeigen. Sie sind ein wahrer Christ, da Sie Ihn überall und jederzeit erkennen, unabhängig von Seiner äußeren Erscheinung. Sie sagen, daß Sie von meinem Buch über Krishna einen starken Eindruck empfangen haben. Ich verstehe das, denn in Ihnen selbst lebt viel von meinem Krishna – soviel Liebe, soviel feines Empfinden für Liebe. Es ist nicht mein Buch, es ist das Buch meines Krishna, meines Guru, meines Lehrers. Ich habe es geschrieben, von Krishna selbst inspiriert, dem ich nahe gekommen, indem ich ihn suchte mit allem Liebesvermögen meines kleinen Herzens. Wenn wir in Liebe an jemanden denken, nehmen wir mit jedem Gedanken, den wir auf ihn konzentrieren, etwas von dem Wesen und den Eigenschaften des Geliebten in uns auf. Das ist klar wie das Einmaleins, eine Alltagsweisheit, dennoch sind manche so zerstreuten Geistes, daß sie es selten nur merken. Es gibt keine Wunder, Wunder ist die Wahrheit in uns, deren Materialisation gemeinhin übersehen, selten nur empfunden wird.
Sie finden, mein Buch sei klar, da ich es, von klarer Vorstellung getrieben, verfaßt habe: ich habe aus Tatsachen und Wahrheiten jene Klarheit erlesen, die mein Lehrer Guru in mich niederzulegen geruhte. Ihre Werke sind ebenso klar, wenn nicht klarer als die meinen. Ich habe bis jetzt nur eines Ihrer Bücher lesen können, das Buch, in dem Sie Ihre Lebensgeschichte und die Entwicklung Ihrer seelischen Umkehr erzählt haben.12