Briefe 1848 - 1910 - Leo N. Tolstoi - E-Book

Briefe 1848 - 1910 E-Book

Leo N. Tolstoi

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Beschreibung

Leo N. Tolstoi stand durch seine Korrespondenz im Austausch mit Menschen auf der ganzen Welt. Er erhielt mehr als fünfzigtausend Zusendungen - aus allen Teilen des Erdkreises - in insgesamt 26 Sprachen. Seine eigenen Briefe füllen dreißig von neunzig Bänden der großen Gesamtausgabe in russischer Sprache. Die vorliegende Neuedition einer Übersetzung der Sammlung von P. A. Sergejenko (1911) erschließt einen beachtlichen Ausschnitt: "Durch Tolstois Briefe werden wir nicht nur mit seinem Schaffen, sondern auch mit seinem Leben vertrauter. Die trennenden Schranken, die für Fremde zwischen Werk und Persönlichkeit stehen, weichen; man tut tiefe Einblicke in die Geisteswerkstatt Tolstois, lernt seine Häuslichkeit, sein Familienleben, seinen Umgang, die Lektüre - kurz das ganze innere und äußere Leben kennen. Dass dieses außerordentlich arbeitsreiche Leben zuletzt die halbe Welt umspannte, ist bekannt. Tolstoi hat mit sehr vielen Personen in Briefwechsel gestanden; an Kaiser und Fürsten, Minister und Arbeiter, Lehrer, Künstler und Philosophen seine mahnenden Worte gerichtet; aus China und Japan, Amerika und allen Gegenden Europas Anfragen beantwortet, wie man sich in dieser oder jener Gewissensfrage zu verhalten habe. In letzter Zeit aber wandte Tolstoi sich mit Vorliebe an Hoch und Niedrig, wenn es galt, irgend ein Unrecht zu verhüten, Fürsprache einzulegen, Bedrängten zu helfen und aufklärend zu wirken." (Vorwort des Übersetzers Dr. Adolf Heß) Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 10 (Signatur TFb_B010) Neuedition von Ingrid von Heiseler und Peter Bürger

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Die TFb-Buchausgaben

folgen dem Editionsprojekt

www.tolstoi-friedensbibliothek.de

Inhalt

Vorbemerkungen des Herausgebers zu dieser Neuedition

Vorwort von Dr. Adolf Heß (1910)

L

EO

T

OLSTOI

: B

RIEFE

1848-1910 Gesammelt von P. A. Sergejenko

_____

Anhang

Bibliographie. Editionen von Briefen und Tagebüchern Tolstois für eine deutschsprachige Leserschaft

Adressaten-Register zur vorliegenden Tolstoi-Briefsammlung von P. A. Sergejenko

Blatt aus dem 1911 edierten Album „Die letzten Tage von Leo Tolstoi“ von Vladimir Rossinsky (1847-1919), commons.wikimedia.org

VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

zu dieser Neuedition

„Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist Tolstoj ein geistiges Kraftfeld mit kolossalem Ansehen. […] Aus der ganzen Welt – nicht zuletzt aus Asien und Amerika – trafen bei dem Propheten in Jasnaja Poljana Grüße begeisterter Anhänger ein.“ „… in den Archiven finden wir mehr als fünfzigtausend Briefe aus allen Ecken der Welt“. GEIR KJETSAA1

„Leo Tolstoi war kein weltentrückter Träumer im Elfenbeinturm von Jasnaja Poljana. Er nahm jahrzehntelang Stellung zu den aktuellen politischen Ereignissen in Russland und in der Welt, führte eine immense Korrespondenz (in seiner 90-bändigen Gesamtwerkausgabe füllen die Briefe 30 Bände), empfing Besucher aus allen Teilen der Erde (von Rainer Maria Rilke bis zum japanischen Romancier Tokutomi Roka) …“. Dirk FALKNER2

Die „Tolstoi-Friedensbibliothek“ erschließt in Neuausgaben gemeinfreie Übersetzungen der ‚sozialethischen‘, kirchenkritischen und theologischen bzw. religiösen Schriften von LEO N. TOLSTOI (1828-1910). Die in sich abgeschlossenen Werke sind bereits vollständig in der Reihe A unseres pazifistischen Editionsprojekts zugänglich (TFb_A001 bis TFb_A014). In der Reihe B erscheinen u. a. Sammelbände bzw. Lesebücher zu unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten (Texte zu Gewalt/Krieg: TFb_B001 bis TFb_B005) sowie Übersetzungen von Selbstzeugnissen des russischen Dichters.

LEO N. TOLSTOI stand durch seine Korrespondenz im Austausch mit Menschen auf der ganzen Welt. Er erhielt mehr als fünfzigtausend Zusendungen aus allen Teilen des Erdkreises – in insgesamt 26 Sprachen3. Seine eigenen Briefe füllen, wie Dirk Falkner vermerkt, dreißig von neunzig Bänden der großen Gesamtausgabe in russischer Sprache (Moskau 1928-1957ff: Polnoe sobranije sočinenij).

Editionen zum Briefwechsel ermöglichen es uns, dem Menschen LEO NIKOLAJEWITSCH TOLSTOI in höchst unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenslagen zu begegnen. Ein Beispiel: Vor seiner Wandlung in den 1870er Jahren – vor allem in seiner Jugendzeit – hat der Dichter sich bedenkenlos beteiligt an jener abstoßenden Lebensführung, die die Klasse der besitzenden adeligen Herrenmenschen im zaristischen Russland auszeichnete. Erhaltene Briefdokumente belegen, dass TOLSTOI diesbezüglich mitnichten in seinen späteren Selbstbekenntnissen zu Übertreibungen tendiert.

Bezogen auf das Schrifttum des Russen bilden die Korrespondenzen eine Quelle zur Rekonstruktion der ‚Werkgeschichte‘. Zudem sind nicht wenige Texte zu besonderen Problemkreisen, die in Zeitschriften oder Sammlungen veröffentlicht wurden, Briefantworten auf Fragen aus der Lesegemeinde des Schriftstellers. Im Einzelfall ist aus den Anfängen eines Briefwechsels auch eine größere eigenständige Schrift hervorgegangen.4

Selbstredend kann in unserer Reihe nur ein vergleichsweise bescheidener Ausschnitt der Selbstzeugnisse LEO N. TOLSTOIS dargeboten werden. Wir beginnen mit der hier vorgelegten – dokumentarischen – Neuedition einer vom Schriftsteller und Journalisten PJOTR ALEXEJEWITSCH SERGEJENKO (1854-1930) gesammelten Auswahl „Briefe 1848-1910“, deren deutsche Ausgabe zuerst 1911 im Berliner Verlag J. Ladyschnikow erschienen ist. Der Anmerkungsteil, erweitert nur durch sehr wenige neue Fußnoten in eckigen Klammern, und das Adressaten-Register am Schluss (→S. 540-543) sind weitgehend unverändert aus der Erstauflage übernommen worden. Hinzugekommen ist lediglich eine sehr umfangreiche bibliographische Übersicht „Editionen von Briefen und Tagebüchern Tolstois für eine deutschsprachige Leserschaft“ (→S. 535-539).

pb

1 Geir KJETSAA: Lew Tolstoj. Dichter und Religionsphilosoph. Gernsbach: Casimir Katz Verlag 2001, S. 341 und 297.

2 Dirk FALKNER: Straftheorie von Leo Tolstoi. (= Juristische Zeitgeschichte – Abteilung 6, Band 57). Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2021, S. 191.

3 Vgl. Viktor SCHKLOWSKI: Leo Tolstoi. Eine Biographie. Übersetzung aus dem Russischen von Elena Panzig [1980]. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch 1984, S. 642: Tolstoi erhielt „Briefe in 26 Sprachen“.

4 Vgl. Leo N. TOLSTOI: Über das Leben. Übersetzungen von Raphael Löwenfeld und Willy Lüdtke, 1902/1929. (= Tolstoi-Friedensbibliothek: Reihe A, Band 8). Norderstedt: BoD 2023.

VORWORT

Dr. Adolf Hess

(1910)

Tolstois Briefe bilden eine reiche Fundgrube und wichtige Ergänzung zu seinen Schriften, den vollendeten, den begonnenen und den geplanten; und zu dem, was wir bislang von Tolstois Leben wussten. „Anna Karenina” und „Krieg und Frieden”, die „Kreutzersonate“ und „Worin besteht mein Glauben?“, die „Dekabristen“ und der geplante Roman aus der Zeit Perowskis – alle diese Schriften und viele andere werden in den Briefen besprochen, und bei einigen erfahren wir die ganze Entstehungsgeschichte, den äusseren Anlass, das Werden und Wachsen, das Ringen, den Kampf um die Vollendung, dann den Abschluss und schliesslich noch das eigene kritische Urteil über das Geschaffene.

Durch Tolstois Briefe werden wir nicht nur mit seinem Schaffen, sondern auch mit seinem Leben vertrauter. Die trennenden Schranken, die für Fremde zwischen Werk und Persönlichkeit stehen, weichen; man tut tiefe Einblicke in die Geisteswerkstatt Tolstois, lernt seine Häuslichkeit, sein Familienleben, seinen Umgang, die Lektüre – kurz das ganze innere und äussere Leben kennen. Dass dieses ausserordentlich arbeitsreiche Leben zuletzt die halbe Welt umspannte, ist bekannt. Tolstoi hat mit sehr vielen Personen in Briefwechsel gestanden; an Kaiser und Fürsten, Minister und Arbeiter, Lehrer, Künstler und Philosophen seine mahnenden Worte gerichtet; aus China und Japan, Amerika und allen Gegenden Europas Anfragen beantwortet, wie man sich in dieser oder jener Gewissensfrage zu verhalten habe. In letzter Zeit aber wandte Tolstoi sich mit Vorliebe an Hoch und Niedrig, wenn es galt, irgend ein Unrecht zu verhüten, Fürsprache einzulegen, Bedrängten zu helfen und aufklärend zu wirken. Und die Folge war, dass sich allmählich ein anfangs kleiner, dann aber stets zunehmender Anhängerkreis, eine Schaar von Jüngern bildete, die seine Worte – nicht seine Lehre; Tolstoi wollte von einer Lehre nichts wissen – überall verbreiten. Diesem Ziele werden auch die hier veröffentlichten Briefe dienen.

P. A. Sergejenko hat Tolstois Briefe in langjähriger Arbeit gesammelt, eine sorgfältige Auswahl getroffen, die Briefe mit Tolstoi durchgesehen und z. T. Fussnoten hinzugefügt. Tolstoi hat die Ausgabe autorisiert. In Russland erscheinen von den Briefen aus bestimmten Gründen nur etwa die Hälfte. Die deutsche Übersetzung nebst einigen Fussnoten rührt vom Unterzeichneten und mehreren anderen Übersetzern her.

Dr. Adolf Hess.

Berlin, Anfang Dezember 1910.

Leo Tolstoi

BRIEFE

1848-1910

Gesammelt von

P. A. Sergejenko

L. N. Tolstoi in einem Gewölbezimmer – Jasnaja Poljana:

Ölgemälde des Jahres 1891 von

Илья Ефимович Репин Ilya Repin (1844-1930)

commons.wikimedia.org

Nr. 1 An den Grafen S. N. Tolstoi1

Petersburg, 13. Februar 1848.

Ich schreibe Dir diesen Brief aus Petersburg, wo ich für immer zu bleiben beabsichtige. … Ich habe beschlossen, hier zu bleiben, ins Examen zu gehen und dann zu dienen; sollte ich das Examen nicht bestehen (es kann ja alles passieren) so werde ich meinen Dienst mit der 14. Rangklasse beginnen; ich kenne viele Beamte zweiten Grades, die ihren Dienst nicht schlechter machen, als ihr vom ersten Range. Kurz gesagt, das Petersburger Leben übt einen grossen und wohltuenden Eindruck auf mich aus, es gewöhnt mich an eine Tätigkeit und ersetzt mir unwillkürlich einen Stundenplan; es ist unmöglich, hier nichts zu tun, alles ist beschäftigt, alles rennt hin und her und man findet keinen Menschen, mit dem man ein liederliches Leben führen könnte – und allein ist das doch unmöglich.

Ich weiss, Du wirst absolut nicht glauben, dass ich mich geändert habe und wirst sagen: „Das passiert nun schon zum zwanzigsten Mal und noch immer wird nichts aus dir. Du leichtsinniger Bursche!” Nein, diesmal habe ich wirklich eine Wandlung durchgemacht und zwar eine andere wie früher. Früher sagte ich mir: „So, nun will ich mich ändern” jetzt sehe ich jedoch, dass ich mich geändert habe und sage: „Ich habe mich geändert.”

Das Wichtigste ist, dass ich jetzt vollkommen davon überzeugt bin, dass man vom Spekulieren und Philosophieren nicht leben kann, sondern Positives leisten, d. h., wie ein praktischer Mensch leben muss. Das ist ein grosser Fortschritt und eine grosse Wandlung, wie ich sie bisher noch nie durchgemacht habe. Wenn einer jung ist und leben will, so gibt es in Russland keinen anderen Ort dafür als Petersburg; welcher Richtung er auch angehört, hier kann er jedes Bedürfnis befriedigen, alle Fähigkeiten entwickeln und zwar leicht und ohne jegliche Mühe. Und was den Lebensunterhalt anlangt, so ist das Leben hier für einen Junggesellen nicht teuer, sondern abgesehen von den Wohnungen noch billiger und besser als in Moskau. Übermittele allen Angehörigen viele Grüsse und Küsse und sage ihnen, dass ich noch nicht bestimmt weiss, ob ich im Sommer auf dem Lande sein werde; ich möchte mir dann Urlaub nehmen und die Umgegend von Petersburg bereisen; auch nach Helsingfors und Reval möchte ich einmal hinüberfahren. Schreibe mir um Gotteswillen, wenn auch nur einziges Mal in Deinem Leben; ich möchte wissen, wie Du und alle Angehörigen diese Nachricht aufnehmen; bitte sie in meinem Namen, mir zu schreiben; ich habe ihnen so lange nicht geschrieben, dass sie mir wahrscheinlich böse sind. Tante Tatjana Alexandrowna2 gegenüber habe ich vor allem Gewissensbisse, bitte sie in meinem Namen um Verzeihung.

Nr. 2 An den Grafen S. N. Tolstoi

Petersburg, 1. Mai 1848.

Lieber Serjoscha! Ich glaube, Du sagst schon jetzt, ich sei ein „leichtsinniger Bursche” und Du sagst die Wahrheit. Weiss der Himmel, was ich angerichtet habe. Ich bin ohne jeden Grund nach Petersburg gefahren, habe dort nichts Ernstes getan, sondern nur eine Unmenge Geld ausgegeben und Schulden gemacht. Dumm! Unerträglich dumm! Du glaubst gar nicht, wie mich das quält. Hauptsächlich die Schulden, die ich so schnell als möglich bezahlen muss, da ich sonst ausser dem Gelde noch meinen guten Ruf einbüsse. Bis ich wieder etwas einnehme, muss ich 3500 Silberrubel haben; 1200 für den Vormundschaftsrat, 1600 um die Schulden zu bezahlen und 700 um zu leben. Ich weiss, Du wirst ach! und weh! schreien, aber was soll man machen? Solche Dummheit macht man nur einmal im Leben. Ich musste für meine Freiheit büssen (es war niemand da, der mich hätte durchprügeln können, das war das grösste Unglück!) und für meine Philosophie, und nun büsse ich in der Tat. Tu’s mir zu liebe und sorge dafür, dass ich ausser dieser zweideutigen und ekelhaften Lage, in der ich mich befinde – ohne einen Groschen Geldes und überall tief in den Schulden steckend – befreit werde.

Du weisst gewiss, dass unsere sämtlichen Truppen in den Krieg ziehen, dass ein Teil (2 Korps) die Grenze bereits überschritten hat und sich, wie man sagt, schon in Wien befindet.

Ich war in’s Kandidatenexamen gegangen und hatte bereits zwei Prüfungen recht gut bestanden, aber jetzt habe ich meinen Entschluss geändert und will als Junker in das Garde-Kavallerie-Regiment eintreten. Ich schäme mich, dir dies zu schreiben, da ich werde nolens volens genötigt sein, bis zum Offizier auf [… fehlende Zeile(n) im Druck] […]flächlichkeit zu Herzen nimmst. Ich bin während des Schreibens sogar einige Male aufgestanden, weil mir der Brief die Schamröte ins Gesicht trieb. Auch Du wirst erröten, wenn Du den Brief liest, aber was soll man machen? Das Vergangene ist nicht mehr zu ändern, die Zukunft aber hängt von mir ab.

So Gott will, werde ich mich bessern und noch einmal ein ordentlicher Mensch werden: mehr als alle rechne ich auf meine Junkerzeit, sie wird mich an das praktische Leben gewöhnen und ich werde nolens volens genötigt sein, bis zum Offizier aufzurücken. Wenn ich Glück habe, d. h. wenn die Garde am Kampfe teilnimmt, kann ich auch schon nach Ablauf der zweijährigen Dienstzeit befördert werden. Die Garde rückt Ende Mai aus. Ich kann jetzt nichts tun, da ich erstens das Geld, das ich benötige, nicht besitze und zweitens zwei Geburtsscheine aus Jassnaja nötig habe. Veranlasse, bitte, dass sie mir so schnell als möglich gesandt werden. Sei mir bitte nicht böse, sonst fühle ich meine Hohlheit und Erbärmlichkeit noch lebhafter und erledige bitte, so schnell als möglich, meine Aufträge.

Leb’ wohl! Bitte zeig diesen Brief nicht der Tante, ich möchte sie nicht betrüben.

Nr. 3 An den Grafen S. N. Tolstoi

Petersburg, Mai 1848.

Serjoscha, in meinem letzten Briefe habe ich Dir verschiedene Dummheiten geschrieben; die grösste war die, dass ich die Absicht hätte, bei der Garde-Kavallerie einzutreten, jetzt gebe ich diesen Plan nur in dem Falle auf, wenn ich das Examen nicht bestehe und es mit dem Krieg ernst wird.

Nr. 43 An T. A. Jergolskaja

Moskau, 9. Dezember 1850.

Liebe Tante!

Mit meiner Entzündung geht es besser, aber ich habe noch nicht das Zimmer verlassen; ich rechne damit, dass ich es morgen, d. h. am Sonntag, werde tun können. Kein Unglück ohne Glück, ich sage das deswegen, weil ich in gewisser Beziehung sogar damit zufrieden bin, krank und dadurch genötigt gewesen zu sein, fast eine Woche lang nicht auszugehen. Ich habe wenigstens Zeit gehabt, mich einzurichten.

Ich sagte Ihnen ja, dass meine Wohnung sehr hübsch ist. Sie besteht aus vier Zimmern – dem Speisezimmer, wo ich schon einen kleinen Flügel habe, den ich mir lieh, dem Gastzimmer mit Sopha, Stühlen und Tischen aus Nussbaum, bedeckt mit rotem Tuch und geschmückt durch drei grosse Spiegel; dem Arbeitszimmer, worin mein Schreibtisch, das Pult und das Sopha steht, das mich an alle unsere Streitigkeiten wegen dieser Möbel erinnert, und noch einem Zimmer, gross genug, um als Schlaf- und Ankleidezimmer zu dienen, und ausserdem einem kleinen Vorzimmer.

Ich speise zu Mittag daheim, Kohlsuppe und Grütze, womit ich mich vollständig begnüge. Erwarte nur das Eingemachte und den Fruchtlikör, um alles zu haben, woran ich mich auf dem Lande gewöhnt habe.

Ich habe jetzt einen Schlitten für vierzig Rubel; diese „Poschewni“ eine Art Schlitten, sind jetzt in der Mode. Serjoscha muss wissen, was das ist. Ich kaufte das ganze Pferdegeschirr und es ist jetzt bei mir sehr elegant.

Leben Sie wohl, ich küsse Ihre Hände. Ich bin erstaunt, von Ihnen noch keinen Brief erhalten zu haben. Leo.

Die vielen Menschen schaffen mir keine Zerstreuung, zum Spiel lasse ich mich nicht verleiten.

Nr. 54 An T. A. Jergolskaja

Moskau, 24. Dezember 1850.

Liebe Tante!

Ich muss mich immer und immer wieder über Ihr Schweigen wundern, obgleich ich ja gestern Ihren Brief vom 16. Dezember erhalten habe – Ihre Antwort auf den ersten Brief, den ich Ihnen schrieb, wohingegen dieser mein vierter ist. Meine Gesundheit ist ausgezeichnet, dagegen steht es mit meiner Tasche keineswegs vortrefflich …

Warum sind Sie so empört über Isslenow?5 Wenn Sie beabsichtigen, mich ihm abspenstig zu machen, so ist das ganz zwecklos, da er gar nicht in Moskau ist. Alles, was Sie von dem verderblichen Einfluss des Spiels sagen, ist richtig und kommt mir häufig selber in den Sinn. Darum glaube ich auch, dass ich nicht mehr spielen werde: „Ich glaube”, hoffentlich kann ich es Ihnen jedoch bald in aller Bestimmtheit erklären.

Alles, was Sie über die Gesellschaft äussern, ist richtig, und überhaupt alles, was Sie – namentlich in Ihren Briefen – sagen: erstens, weil Sie so schreiben wie M–me de Savigny und weil ich nicht gewöhnt bin, zu streiten. Sie sagen auch viel Gutes über mich. Ich bin überzeugt, dass Lobreden ebensoviel nützen als schaden. Sie nützen, weil sie den Menschen veranlassen, sich die guten Eigenschaften, die an ihm gelobt werden, zu bewahren; sie schaden, weil sie unserer Eigenliebe Nahrung geben. Ich bin überzeugt, dass Ihr Lob mir nur Nutzen bringen wird – freilich nur in dem Masse, als ich dieses Lob verdiene – da es von einem aufrichtigen und freundschaftlichen Gefühl diktiert ist.

Mir scheint auch, dass ich dieses Lob verdient habe; während meines ganzen Aufenthaltes in Moskau bin ich mit mir zufrieden. Sagen Sie Sergei, dass ich ihn küsse und dass alle seine Aufträge gewissenhaft ausgeführt sind. Adieu, ich küsse Ihre Hände. Auf Wiedersehen!

Nr. 6 A T. A. Jergolska6

Moscou, le 8. Mars 1851.

Chère tante! Je crois d’après votre silence que vous êtes fâchée contre moi, en effet il y a longtemps que je ne vous ai ecrit, mais vous savez que s’il m’arrive d’avoir des torts envers vous, c’est bien malgré moi. Vous savez aussi que plus je reste longtemps sans vous voir, plus le sentiment que j’ai pour vous devient vif. Je me calomniais quand je disais que pour moi les absents ont tort.

Dernièrement dans un ouvrage que je lisais, l’auteur disait que les premieres indices du printemps agissent ordinairement sur le moral des hommes. Avec la nature qui renaît on voudrait se sentir renaître aussi, on regrette le passé, le temps mal employé, on se repent de sa faiblesse, et l’avenir nous paraît comme un point lumineux devant nous, on devient meilleur, moralement meilleur. Ceci quant à moi est parfaitement vrai, depuis que j ’ai commencé C vivre indépendement, le printemps me mettait toujours dans les bonnes dispositions, dans lesquelles je persévérai plus ou moins longtemps, mais c’est toujours l’hiver qui est une pierre d’achoppement pour moi.

Au reste en récapitulant les hivers passés, celui - là est sans doute le plus agréable et le plus raisonable que j’ai passé. Je me suis amusé, je suis allé dans le monde, j’ai gardé des souvenirs agréables et avec cela je n’ai pas dérangé mes finances, ni arrangé – c’est vrai.

Léon.

Nr. 6 An T. A. Jergolskaja

Moskau, 8. März 1851.

Liebe Tante!

Ich glaube aus Ihrem Stillschweigen schliessen zu müssen, dass Sie mir böse sind. In der Tat ist es so lange her, dass ich Ihnen nichts geschrieben habe: aber Sie wissen, widerfährt es mir einmal, dass ich ein Unrecht gegen Sie begehe, so geschieht es fraglos gegen meinen Willen. Sie wissen auch, dass, je längere Zeit ich, ohne Sie zu sehen, verbringe, mein Gefühl für Sie um so wärmer wird. Ich verleumdete mich, als ich sagte, dass für mich die Abwesenden stets Unrecht haben.

In einem Buch, das ich vor Kurzem las, schrieb der Autor: Die ersten Anzeichen des beginnenden Frühlings übten gewöhnlich die beste Wirkung auf die Menschenseele aus. Wenn die Natur zu neuem Leben erwacht, möchte man auch das Gefühl haben, dass man wiederauflebt, über die vergangene schlecht angewandte Zeit trauern und sich seine Schwäche eingestehen; die Zukunft erscheint einem wie ein Punkt vor uns, man wird besser, moralisch besser. Bei mir trifft das vollkommen zu; seit ich angefangen habe, selbständig zu leben, hat mich der Frühling stets in eine gute Stimmung versetzt, die längere oder kürzere Zeit anhielt; aber der Winter ist für mich stets ein Stolperstein.

Übrigens, im Vergleich mit den früheren Wintern, war dieser zweifellos der angenehmste und vernünftigste von allen, die ich erlebt habe. Ich habe mich gut amüsiert, viel in der Gesellschaft verkehrt, habe angenehme Erinnerungen zurückbehalten und doch meine Finanzen nicht in Unordnung gebracht, allerdings habe ich sie auch nicht in Ordnung gebracht [– das ist wahr7].

Nr. 78An T. A. Jergolskaja

Moskau, April 1851.

Nikolas9 hat mir gegenüber ein wenig über Sie geklatscht, er hat mir gesagt, Sie fürchteten ausserordentlich, ich könne eine schlechte Partie machen …

Nikolas Ankunft war für mich eine angenehme Überraschung, weil ich schon beinahe die Hoffnung verloren hatte, ihn bei mir zu sehen. Ich war so froh, als ich ihn sah, dass ich sogar meine Pflichten, oder richtiger, meine Gewohnheiten ausser Acht liess.

Jetzt bin ich wieder allein – und zwar im buchstäblichen Sinne des Wortes. Ich gehe nie aus und empfange niemand. Ich schmiede Pläne für den Frühling und für den Sommer. Werden sie Ihre Billigung finden? Ende Mai komme ich nach Jassnaja, wo ich einen oder zwei Monate verbringen will. Ich will den Versuch machen, Nikolenka recht lange hier festzuhalten und dann mit ihm eine Vergnügungsreise nach dem Kaukasus zu machen.

Adieu, liebe Tante, ich küsse Ihnen die Hände. Indem ich meine Zeilen, die ich schon an Sie geschrieben habe, noch einmal überfliege, werde ich vor die äusserst unangenehme Wahl gestellt, entweder diesen Brief, der Sie betrüben muss, an Sie abzusenden, oder mit dem Schreiben bis morgen zu warten. Aber im Grunde werden Sie, trotzdem Sie ein wenig verstimmt sind, doch zufrieden sein, von mir eine Nachricht zu erhalten. …

Nr. 810 An T. A. Jergolskaja

Kasan, April 1851.

Liebe Tante!

Von neuem erblicken Sie diese beiden Worte zu Häupten eines Briefbogens und ich bin von neuem in Verlegenheit darüber, was ich schreiben soll. Und doch habe ich Ihnen so viel zu sagen.

Unsere Reise ist, was Witterung und Wege anbetrifft, so glücklich wie möglich von statten gegangen. Wir haben zwei Tage in Moskau verbracht. …

Ich war auf einem Volksfest in Sokolniki11 und da das Wetter scheusslich war, traf ich dort keine von den Damen, die ich sehen wollte. Da ich nach Ihrer Meinung ein Mensch bin, der sich gern Prüfungen unterwirft, begab ich mich in das Zigeunerlager. Sie können sich leicht vorstellen, welch ein innerer Kampf sich da in mir erhob, übrigens ging ich aus diesem Kampfe als Sieger hervor, d. h. ich gab diesen fröhlichen Nachkommen der berühmten Pharaonen blos meinen Segen. Nikolas findet, dass ich ein sehr angenehmer Begleiter wäre, wenn ich nicht diese leidige Sauberkeit an mir hätte. Er ärgert sich, dass ich, wie er sich ausdrückt, zwölfmal am Tage die Wäsche wechsle. Ich finde, dass er auch ein sehr angenehmer Begleiter wäre, wenn er nur nicht so unsauber wäre. Ich weiss nicht, wer von uns beiden recht hat.

Ich habe von Moskau aus an Valerius geschrieben, dass ich 400 Rubel gewonnen habe. Hoffentlich beunruhigt Sie das nicht, Sie werden glauben, dass ich spiele, und dass ich wieder spielen werde. Beruhigen Sie sich, es war nur ausnahmsweise. …

Sie haben sich Mühe gegeben, bei unserer Abreise nicht traurig zu erscheinen; ich habe es wohl bemerkt und danke Ihnen dafür.

Leo.

Nr. 9 A T. A. Jergolska

Astracan, Mai 1851.

Chère tante! Nous sommes à Astracan et sur notre départ, pour ce qui fait, que nous avons encore un voyage de 400 k. à faire. J’ai passé à Kasan une semaine des plus agréables. Mon voyage jusqu’a Saratoff a été désagreable, mais, en revanche, de là le trajet en petit bateau jusqu’à Astracan – très poétique et plein de charmes par la nouveauté des lieux et par la manière même de voyager pour moi. J’ai ecrit hier une longue lettre à Marie où je lui parle de mon séjour à Kasan. Je ne vous en dis rien de crainte de me répéter, quoique je suis sûr que vous ne confondrez pas les deux lettres. Je me trouve très content jusqu’à présent de mon voyage. J’ai beaucoup de choses qui me font penser et puls le changement même des lieux est agréable. En passant par Moscou je me suis abonné, de sorte que j’ai beaucoup de lectures que je fais même en tarantas. Puis, comme vous le pensez bien, la société de Nicolas contribue beaucoup à mon contentement. Je ne cesse de penser à vous et à tous les miens; je me reproche même quelquefois d’avoir quitté cette vie que me rendait si douce votre affection, mais ce n’est qu’un retard et je n’aurai que plus de plaisir à vous revoir. Si je n’étais pressé, j’aurais écrit à Serge, mais je remets cela au moment où je serai casé et plus tranquil. Embrassez-le de ma part et dites lui que je me repens beaucoup de la froideur qu’il y a eu entre nous avant mon départ et de laquelle je n’accuse que moi.

Adieu, chère tante, je vous baise mille fois les mains.

Léon.

Astrachan, Mai 1851.

Liebe Tante!

Wir sind jetzt in Astrachan, stehen kurz vor der Abreise und haben noch 400 Werst zurückzulegen. In Kasan habe ich eine Woche sehr angenehm verbracht. Die Reise bis Saratow war nicht sehr angenehm, dagegen war die Reise von dort bis Astrachan, die wir in einem Kahn zurücklegten, dank der Neuheit der Landschaft und der Art der Fortbewegung ungemein poetisch und entzückte mich auf das lebhafteste. Gestern schrieb ich Mascha einen langen Brief, in welchem ich ihr meinen Aufenthalt in Kasan schilderte. Ich schreibe Ihnen nichts darüber, da ich befürchte, dass ich mich sonst wiederholen könnte, obwohl ich überzeugt bin, dass Sie die Briefe nicht verwechseln würde. Vorläufig bin ich mit meiner Reise sehr zufrieden. Mancherlei gibt mir Anlass zum Nachdenken und dann ist mir der Wechsel des Aufenthalts selbst sehr willkommen. Auf der Durchreise durch Moskau habe ich ein Abonnement in der Bibliothek genommen, so dass ich reichlich mit Lektüre versorgt bin, mit der ich mich sogar im Reisewagen beschäftige. Ferner trägt, wie Sie es wohl begreifen werden, auch Nikolas’ Anwesenheit zu meinem Wohlbefinden bei. Ich denke unaufhörlich an Sie und all die Meinen. Ich mache mir sogar nicht selten Vorwürfe, dass ich dieses Leben aufgegeben habe, das Ihre Liebe zu mir so angenehm gestaltet hat. Meine Reise bedeutet für mich aber eine kurze Unterbrechung, nach der die Freude des Wiedersehens nur um so grösser sein wird. Wenn ich nicht solche Eile hätte, würde ich Serjoscha schreiben, aber ich schiebe das bis zu dem Augenblick auf, wo ich mich eingerichtet und wieder beruhigt haben werde. Küssen Sie ihn von mir, und sagen Sie ihm, dass ich aufs tiefste bedaure, dass vor meiner Abreise zwischen uns eine solche Kälte eintrat, an der ich allein die Schuld trage.

Adieu, liebe Tante, ich küsse Ihnen tausend mal die Hände. Leo.

Nr. 10 An N. N.12

Kaukasus Stary Jurt, 11. Juni 1851.

Gestern habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen. Nachdem ich an meinem Tagebuche geschrieben hatte, fing ich an zu beten. Es ist mir unmöglich, das süsse Gefühl zu schildern, das ich während des Betens hatte. Ich wiederholte alle Gebete, die ich herzusagen pflege: Das Vaterunser, das an die Mutter Gottes, das an die heilige Dreieinigkeit, das an das Tor der Gnade, das Gebet an meinen Schutzengel und fuhr dann weiter fort zu beten. Wenn man das Gebet als eine Bitte oder als einen Ausdruck des Dankens definiert, so habe ich nicht gebetet. Wonach ich mich sehnte, das war etwas ganz Hohes, Gutes, wofür mir jedoch der Ausdruck fehlt, obwohl ich ganz deutlich fühlte, wonach ich verlange.

Ich wollte zusammenfliessen mit dem allumfassenden Wesen, und ich bat es, mir meine Sünden zu vergeben. Doch nein, ich bat nicht, denn ich fühlte: wenn es mir diesen seligen Augenblick geschenkt hatte, so hatte es mir schon vergeben. Ich bat und fühlte zugleich, dass ich nichts zu bitten hatte, und dass ich nicht zu bitten vermag und auch nicht zu bitten verstehe. Ich dankte ihm jedoch nicht mit Worten, sondern mit Gedanken. Ich vereinigte alles in einem einzigen Gefühl: mein Flehen und meine Dankbarkeit. Das Gefühl der Furcht war vollständig verschwunden und ich hätte kein einzelnes Gefühl, weder das der Liebe, des Glaubens, oder das der Hoffnung von dem einen allgemeinen Gefühl ablösen können – doch nein, das Gefühl, das ich gestern hatte, war folgendes: Die Liebe Gottes, eine hohe Liebe, die alles Gute in sich vereinigt und alles Schlechte ausschliesst. Wie schrecklich war es für mich, an all das Kleinliche und Sündhafte in unserem Leben zu denken. Ich verstehe es nicht, wie dies mich je locken konnte. Wie bat ich Gott aus vollem reinem Herzen darum, mich in seinen Schoss aufzunehmen! Ich fühlte mein Fleisch nicht mehr – ich war – doch nein, das elende fleischliche Leben gewann wieder Macht über mich, und es verging keine Stunde, als ich schon wieder die Stimme des Lasters, der Eitelkeit, der Nichtigkeit vernahm; ich wusste, woher diese Stimme kam, wusste, dass es meine Seligkeit vernichtet hatte, kämpfte gegen sie an und unterlag ihr. Ich schlief ein und träumte von Ruhm, von den Frauen usw., aber ich bin nicht schuld daran, ich konnte nicht anders.

Eine ewige Seligkeit ist hier auf Erden unmöglich, und die Leiden sind etwas Notwendiges. Warum? Ich weiss es nicht. Und wie durfte ich sagen: ich weiss nicht! Wie durfte ich glauben, man könne die Wege der Vorsehung erforschen. Sie ist doch die Quelle der Vernunft, und die Vernunft wollte erkennen, was …

Der Verstand verliert sich in diesen Abgründen der Aberweisheit, das Gefühl aber fürchtet sich, ihn zu verletzen. Ich danke ihm für die Augenblicke der Seligkeit, die mich meine Nichtigkeit und meine Grösse erkennen liessen. Ich möchte beten und verstehe es nicht, ich möchte erkennen und wage es nicht. In deinen Willen befehle ich mich, o Gott!

Nr. 1113 An T. A. Jergolskaja

Kaukasus, Starogladowskaja Staniza14, Juli 1851.

Liebe Tante!

Lange habe ich Ihnen nicht geschrieben, aber auch von Ihnen nur einige Zeilen in dem Brief an Valerius erhalten. Gestatten Sie, dass ich Ihnen deswegen Vorwürfe mache.

Ich bin am Ende des Monats gesund und lebendig, aber ein wenig traurig in Starogladowskaja Staniza eingetroffen. Ich habe das Leben, das Nikolas führt, aus unmittelbarer Nähe beobachtet und habe die Offiziere kennen gelernt, die seine Gesellschaft bilden. Die Lebensweise ist durchaus nicht sehr verlockend, wie es mir anfangs schien, denn die Gegend selbst, die ich für sehr schön hielt, ist keinesfalls reizvoll. Da das Dorf in einer Niederung liegt, ist keine schöne Aussicht vorhanden, die Wohnung ist schlecht, und ebenso ist es mit allem Komfort und Bequemlichkeit bestellt. Was die Offiziere anbelangt, so sind es, wie Sie sich wohl selbst denken können, Leute ohne jede Bildung; aber es sind prächtige Menschen, die Nikolas sehr lieb haben.

Alexejew – so heisst sein Vorgesetzter – ein kleines blindes Männchen, mit einem Schnurr- und Backenbart, seine Stimme klingt durchdringend, aber er ist ein guter Christ und erinnert ein wenig an A. S. Wolkow, ohne doch ein solcher Frömmler zu sein wie jener. Dann ist hier noch ein junger Offizier, namens D., ein vollständiges Kind, ein bon enfant, der mich an Petruscha erinnert. Ferner ein alter Hauptmann, Bilkowski von den Uralkosaken, ein schlichter, alter Soldat, aber sehr vornehm, tapfer und gutmütig. Ich gestehe, mir erschien an dieser Gesellschaft anfangs vieles recht abstossend, aber ich habe mich daran gewöhnt, obgleich ich mich mit den Herren nicht näher befreundet habe. Ich fand eine glückliche Form, mit ihnen zu verkehren und schlug weder einen hochmütigen noch familiären Ton gegen sie an. Übrigens brauche ich hierin nur Nikolas Beispiel zu folgen.

Nr. 1215 An T. A. Jergolskaja

Kaukasus, Stary Jurt, Juli 1851.

Kaum angekommen, erhielt Nikolas Ordre, nach Starogladowskaja-Staniza abzureisen, um Kranke nach Gorjatschewodsk zu eskortieren.

Er reiste eine Woche nach seiner Ankunft wieder ab, und ich bin seinem Beispiel gefolgt, so dass wir jetzt schon bald drei Wochen im Lagerzelt leben. Das Wetter ist gut, und da ich mich ein wenig an die Lebensweise gewöhnt habe, fühle ich mich ausgezeichnet. Hier gibt es wunderbare Aussichtspunkte. Ich beginne mit dem Punkt, wo sich die Quellen befinden. Das ist ein grosser Berg, der aus aufeinandergetürmten Felsblöcken besteht. Einige von ihnen sind abgestürzt und haben bei ihrem Sturze eine Art von Grotte gebildet, andere schweben in schwindelnden Höhen über dem Abgrunde. All diese Felsblöcke werden von heissen Wasseradern durchkreuzt, die an einigen Stellen geräuschvoll herabstürzen, und, namentlich am Morgen, den oberen Teil des Felsens in einen weissen Wasserdunst einhüllen, der von den siedenden Gewässern aufsteigt. Das Wasser ist so heiss, dass man in ihm in drei Minuten ein Ei hartkochen kann. In dieser Felsenschlucht befinden sich an den Bächen drei Wassermühlen, die eine ganz besonders hübsche Bauart zeigen. Den ganzen Tag über kommen Tatarenweiber zu den Bächen ober- und unterhalb der Mühlen, um ihre Wäsche zu waschen. Das sieht aus wie ein ewig beweglicher Ameisenhaufen. Die Frauen sind meist recht hübsch und gut gebaut; die Kleidung der orientalischen Bauern ist, trotz ihrer Armseligkeit, doch voller Anmut. Die reizenden Gruppen der Frauen, die wilde Schönheit der Landschaft, dies alles stellt ein bezauberndes Bild dar. Ich stehe oft stundenlang da und kann mich an der Landschaft nicht satt sehen. Die Aussicht vom Gipfel des Berges ist noch schöner und ganz eigenartig. Aber ich fürchte, Sie finden mich mit meinen Schilderungen zu langweilig.

Ich freue mich sehr, dass ich im Bade bin, und nütze diese Gelegenheit aus. Ich nehme eisenhaltige Bäder und fühle in den Beinen keinen Schmerz mehr. Ich litt stets an Rheumatismus, ausserdem habe ich mich während meiner Reise auf dem Wasser, wie ich glaube, noch erkältet. Selten habe ich mich so wohl gefühlt wie jetzt, und trotz der grossen Hitze bewege ich mich viel im Freien.

Die Offiziere hier haben viel Ähnlichkeit mit denen, die ich Ihnen geschildert habe, und sie sind sehr zahlreich vertreten. Ich kenne sie alle, und meine Beziehungen zu ihnen sind die gleichen.

Nr. 1316 An T. A. Jergolskaja

Starogladowskaja Staniza, 16. September 1851.

Liebe vortreffliche Tante!

Sie haben mir oft gesagt, dass Sie Ihre Briefe direkt ins Reine schreiben, ich folge Ihrem Beispiele, aber mir will das nicht so gut gelingen wie Ihnen, da ich meine Briefe oft zerreissen muss, nachdem ich sie noch einmal gelesen. Das geschieht nicht etwa aus falscher Scham. Ein orthographischer Fehler, ein falsch gewähltes Wort genieren mich nicht. Ich tue es aber, weil es mir nicht gelingen will, meine Feder und meine Gedanken in meine Gewalt zu bekommen. Ich habe soeben einen Brief zerrissen, den ich Ihnen geschrieben hatte, weil ich vieles darin gesagt hatte, was ich Ihnen nicht sagen wollte, und weil ich nicht das gesagt habe, was ich eigentlich darin sagen wollte. Sie werden vielleicht denken, ich sei ein verschlossener Charakter und werden sagen, es sei nicht gut, wenn man vor Leuten, die man liebt, und von denen man sich geliebt fühlt, etwas geheim hält. Ich bin ganz mit Ihnen einverstanden. Aber Sie werden doch auch folgendes zugeben müssen: einem gleichgültigen Menschen kann man alles sagen, aber je näher Ihnen jemand steht, desto mehr Dinge gibt es, die Sie vor ihm geheim halten möchten.

Soeben habe ich diese Seite beschrieben, und schon bereue ich es. Halten Sie das nicht etwa für eine Vorrede; erschrecken Sie nicht. Ganz unvermittelt ist mir dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, und ich habe Ihnen davon erzählt. Vorgestern habe ich Ihre Antwort auf den ersten Brief, den ich Ihnen vom Kaukasus geschrieben habe, erhalten. Zwei Monate für eine Antwort – das ist ungeheuer lang, besonders, wenn man unaufhörlich mit Ihnen plaudern möchte. Sie schrieben mir – ich fürchte, mein Brief kommt Ihnen etwas lang vor – ohne rhetorische Bilder; trotzdem ich wenigstens ein Dutzend Male einen jeden Ihrer Briefe durchlas, so scheinen sie mir doch derartig kurz, dass ich mich darüber wundere, wie Sie es fertig bekamen, so wenig zu schreiben, wo Sie doch soviel zu sagen hatten …

Vor zwei Wochen habe ich Nikolas verlassen. Er ist im Lager bei den heissen Wassern, und ich bin im Stabs-Quartier. Im September kehrt er zurück. Viele Leute reden mir zu, hier Dienst zu nehmen. Raten Sie mir dazu? Leben Sie wohl, ich küsse Ihre Hände.

Leo.

Nr. 1417 An T. A. Jergolskaja

Tiflis, 12. November 1851.

Liebe Tante!

In acht Tagen werden gerade vier Monate vergangen sein, dass ich von Ihnen keine Nachricht erhalten habe, aber jetzt hege ich doch wenigstens die Hoffnung, dass Ihre Briefe in Starogladowskaja lagern.

Wir sind tatsächlich am 25. abgereist, und nach einer siebentägigen Reise, die infolge des Mangels an Pferden auf den Stationen sehr langweilig, dagegen wegen der Schönheit der Gegend sehr angenehm war, am 1. hier eingetroffen.

Tags darauf bin ich zu dem General Brimmer gegangen, um ihm die Papiere zu überreichen, die ich aus Tula erhalten habe und mich ihm vorzustellen. Trotz seiner deutschen Liebenswürdigkeit und all seines guten Willens ist der General genötigt gewesen, mich abzuweisen, da meine Papiere nicht in Ordnung waren und die Dokumente fehlten, die sich augenblicklich in P…g befinden und auf die ich warten muss.

Wenn meine Papiere nicht in einem Monate eintreffen, verzichte ich auf den Militärdienst, da ich ja dann dieses Jahr doch nicht die Winterexpedition mitmachen kann, wonach ich einzig und allein Verlangen trug, als ich hier Dienst nahm …

… Wider mein Erwarten habe ich in Tiflis einen guten Bekannten aus P…g getroffen, den Fürsten Bagration, der mir eine grosse Stütze ist. Ein geistvoller, gebildeter Mann.

Tiflis ist eine sehr kultivierte Stadt, die grosse Anstrengungen macht, Petersburg nachzueifern, und zwar mit Erfolg. Hier gibt es eine zahlreiche, ausgewählte Gesellschaft, eine italienische Oper, ein russisches Theater, welche ich so oft besuche, wie meine geringen Mittel es erlauben. Ich lebe in der deutschen Kolonie, einem Vorort von Tiflis, der zwei grosse Vorteile für mich hat. Erstens ist das ein herrliches, von Gärten und Weinbergen umgebenes Fleckchen Erde, so dass man sich hier eher wie auf dem Lande, als wie in der Stadt fühlt. Es ist hier noch sehr warm, und die Luft ist klar; bis jetzt gab es weder Schnee noch Frostwetter. Der zweite Vorzug besteht darin, dass ich hier monatlich fünf Silberrubel für zwei ziemlich saubere Zimmer zahle, während man für eine solche Wohnung in der Stadt mindestens vierzig Rubel zahlen müsste. Endlich übe ich mich unentgeltlich im Gebrauch der deutschen Sprache; ich habe Bücher, arbeite und habe viel freie Zeit, da mich hier niemand stört, so dass ich mich im allgemeinen nicht langweile.

Liebes Tantchen, erinnern Sie sich an den Rat, den Sie mir einmal gaben – ich solle doch Romane schreiben. Ich befolge jetzt Ihren Rat: die Arbeit, von der ich Ihnen schrieb, ist ein litterarisches Werk. Ich weiss noch nicht, ob das, was ich schreibe, je das Licht der Welt erblicken wird, aber es ist trotzdem eine Arbeit, die mich anzieht, und in der ich schon zu weit vorgeschritten bin, um sie wieder aufzugeben. Das ist der genaue Rechenschaftsbericht, den ich Ihnen von meiner Beschäftigung gebe. Was meine Pläne anbetrifft, falls ich nicht in den Militärdienst trete, so werde ich mich hier um eine Zivilanstellung bemühen, keineswegs jedoch in Russland.

Leben Sie wohl, ich küsse Ihre Hände und erwarte Ihre Briefe. Adressieren Sie einfach nach Grusien, Stadt Tiflis.

Nr. 15 An den Grafen S. N. Tolstoi

Tiflis, den 23. Dezember 1851.

In den allernächsten Tagen muss die von mir so lange ersehnte Ordre eintreffen, auf Grund deren ich als Feuerwerker in die 4. Batterie eingereiht werde, und dann werde ich das Vergnügen haben, vor vorüberfahrenden Offizieren und Generälen Front zu machen und ihnen mit den Augen zu folgen. Selbst jetzt, wo ich in meinem Kaisermantel und Chapeau claque, für den ich hier 10 Rubel bezahlt habe, durch die Strassen schlendere, habe ich mich trotz meines grossartigen Kostüms schon so an den Gedanken gewöhnt, bald den grauen Militärmantel zu tragen, dass die rechte Hand unwillkürlich nach dem Chapeau claque mit Sprungfedern greift … ihn niederdrücken will. Übrigens – wenn mein Wunsch in Erfüllung geht, so fahre ich noch am Tage meiner Ernennung nach Starogladowsk und von dort sofort ins Feld, wo ich in einem kurzen Pelz oder einem Tscherkessenmantel herumlaufen oder herumfahren und nach Kräften daran teilnehmen werde, die räuberischen Völker und unbotmässigen Asiaten mit Hilfe von Kanonen auszurotten.

Lieber Serjoscha, Du siehst aus meinem Briefe, dass ich in Tiflis bin. Ich bin am 1. November hier angekommen und hatte bisher noch nicht viel Zeit, mit den Hunden, die ich dort (in Starogladowsk) gekauft habe, auf die Jagd zu gehen; die Hunde, die mir zugesandt worden sind, habe ich überhaupt noch nicht gesehen. Die Jagd hier (d. h. in Kosakendorf) ist herrlich! Weite Felder, Sümpfe, die nur so von Hasen wimmeln und nicht mit Wald, sondern mit Schilf bestandene Inseln, auf denen sich Füchse aufhalten. Ich bin im ganzen neunmal im Felde gewesen (10 bis 15 Werst vom Kosakendorf entfernt), und zwar in Begleitung zweier Hunde, von denen der eine vorzüglich und der andere gar nichts wert ist; ich habe zwei Füchse und ungefähr 60 Hasen geschossen. Wenn ich dorthin komme, werde ich es versuchen, Gemsen zu jagen.

Ich habe auch mehrere Hirsch- und Eberjagden mit der Flinte mitgemacht, aber nichts geschossen. Diese Jagden sind auch sehr angenehm, wenn man es aber gewöhnt ist, mit Windhunden zu jagen, so machen jene keinen Spass mehr. Es geht einem dabei ebenso, wie wenn man sich an den türkischen Tabak gewöhnt hat, dann wird man dem Schukower18 keinen Geschmack mehr abgewinnen, obwohl man darüber streiten kann, welcher von beiden der bessere ist. Ich kenne Deine Schwäche. Du willst wahrscheinlich wissen, mit wem ich jetzt verkehre und wie meine Beziehungen zu meinen hiesigen Bekannten sind. Ich kann Dir gestehen, dieser Punkt interessiert mich hier recht wenig, aber ich beeile mich, Deinen Wunsch zu befriedigen. In der Batterie gibt es nur wenig Offiziere, daher kenne ich sie alle, aber freilich nur recht oberflächlich, obwohl mich alle sehr gern haben; bei Nikolas und mir gibt es nämlich stets Wein, Wodka und einen Imbiss, wenn Gäste kommen, und auf derselben Basis beruht und hat sich mein Verkehr mit den übrigen Regimentsoffizieren herausgebildet, die ich in Stary Jurt (einem Badeort, wo ich den Sommer verbrachte) und bei Gelegenheit eines Überfalls, den ich mitgemacht habe, kennen lernte. Es sind ein paar ganz nette Leute darunter, aber da ich immer noch andere, interessantere Beschäftigungen habe als die Unterhaltung mit Offizieren, so blieben meine Beziehungen zu diesen noch die gleichen.

Der Kommandeur, Oberstleutnant Alexejew, Chef der Batterie, in die ich eintrete, ist ein sehr gutmütiger, aber etwas eitler Herr. Ich muss gestehen, dass ich mir diese letzte Schwäche etwas zunutze gemacht und ihm etwas Sand in die Augen gestreut habe – ich brauche ihn nämlich. Aber ich tue das ganz instinktiv und fühle nachher immer Reue. Unter eitlen und ehrgeizigen Menschen wird man selbst eitel und ehrgeizig.

Wenn Du Wert darauf legst, Deinen Bekannten das Neueste aus dem Kaukasus zu berichten, so kannst Du erzählen, dass ein gewisser Chadschi-Murat19, die bedeutendste Persönlichkeit nach Schamil, sich vor einigen Tagen der russischen Regierung unterworfen hat. Das war der forscheste Kerl (ein Dschigit20) von der ganzen Tschetschna21, und doch hat er die Gemeinheit begangen. Ferner kannst Du erzählen, dass in diesen Tagen leider der wegen seines Verstandes und seiner Tapferkeit berühmte General Slepzow getötet worden ist. Wenn Du aber wissen willst, ob er sehr gelitten hat, so kann ich Dir das leider nicht sagen.

L. Tolstoi.

Nr. 1622 An T. A. Jergolskaja

Tiflis, 6. Januar 1852.

Soeben erhielt ich Ihren Brief vom 24. November und beantworte ihn sofort (ich habe mir das schon zur Gewohnheit gemacht). Neulich schrieb ich Ihnen, dass Ihr Brief mir Tränen entlockt habe und dass ich der Ansicht bin, dass meine Krankheit die Ursache dieser Schwäche ist. Meine Annahme war falsch. Seit einiger Zeit üben alle Ihre Briefe dieselbe Wirkung auf mich aus. Ich war stets ein Heulpeter. Anfangs schämte ich mich meiner Schwäche, aber die Tränen, die ich in Gedanken an Sie und Ihre Liebe zu uns vergiesse, sind so herzerfrischend, dass ich sie ruhig und ohne falsches Schamgefühl fliessen lasse. Ihr Brief ist so traurig und musste daher solche Wirkung auf mich ausüben. Sie haben mir stets Ratschläge gegeben, und obgleich ich sie leider nicht befolgt habe, möchte ich doch mein ganzes Leben lang nur Ihren Anweisungen folgen. Gestatten Sie nun, das ich Ihnen die Wirkung schildere, die Ihr Brief auf mich ausgeübt hat, und die Gedanken, die mich bei der Lektüre desselben bewegten. Wenn ich zu offen sein sollte, so verzeihen Sie mir, wegen meiner Liebe zu Ihnen. Wenn Sie sagen, dass Sie nun an die Reihe gekommen sind, uns zu verlassen und sich mit denen zu vereinigen, die nicht mehr sind und die Sie so liebten; wenn Sie sagen, dass Sie Gott bitten, Ihrem Leben ein Ende zu machen, das Ihnen so einsam und unerträglich erscheint, verzeihen Sie mir, liebe Tante, – wenn Sie dies alles sagen –, so scheint es mir, dass Sie gegen Gott murren und mir und uns allen, die Ihnen mit solcher Liebe zugetan sind, Unrecht tun. Sie bitten Gott um Ihren Tod, das heisst um das grösste Unglück, das mir zustossen könnte (das ist keine Phrase, Gott ist mein Zeuge, dass die zwei grössten Unglücksfälle, die mich treffen könnten, Ihr oder Nikolas Tod, d. h. der Tod der Menschen sein würde, die ich mehr liebe, als mich selbst). Was würde mir denn noch übrig bleiben, wenn Gott Ihr Gebet erfüllen würde? Wem zuliebe würde ich mich denn noch bemühen, mich zu bessern, mir gute Seiten und einen guten Ruf in der Welt zu verschaffen? Wenn ich in bezug auf mein persönliches Wohlergehen Pläne für die Zukunft schmiede, so verlässt mich nie der Gedanke, dass Sie alles Gute mit mir teilen sollen. Wenn ich etwas Gutes tue, bin ich mit mir zufrieden, nur weil ich weiss, dass Sie mit mir zufrieden sein werden. Wenn ich schlecht handle, so fürchte ich mich am meisten davor, dass ich Sie betrüben könnte. Ihre Liebe bedeutet unendlich viel für mich, und Sie bitten Gott darum, dass er uns von einander trennen möge. Ich kann Ihnen nicht das Gefühl schildern, das ich für Sie hege, ich finde keine Worte dafür und fürchte, dass Sie denken könnten, ich übertreibe, während ich in diesem Augenblick, wo ich Ihnen schreibe, bittere Tränen vergiesse. Der schweren Trennung verdanke ich das Bewusstsein, was für eine Freundin Sie mir sind und wie sehr ich Sie liebe. Aber bin ich denn der einzige, der solche Gefühle für Sie hegt? Und Sie bitten Gott, dass er Ihnen den Tod senden solle! Sie sagen, dass Sie einsam sind! Wenn Sie an meine Liebe glauben und dieser Gedanke Ihnen als Gegengewicht gegen Ihr Herzeleid dienen sollte, so kann ich, obgleich ich so fern von Ihnen bin, doch von mir sagen, dass ich mich nie einsam fühle, so lange ich weiss, dass ich von Ihnen geliebt werde, so wie jetzt. Indessen, ich fühle, dass mir diese Worte von einem bösen Gefühl diktiert werden – ich bin auf Ihren Gram eifersüchtig.

Heute ereignete sich etwas, was mich hätte veranlassen können, den Glauben an Gott zu erlangen, wenn ich nicht schon seit einiger Zeit an ihn glaubte.

Im Sommer hatten sich alle Offiziere in Stary Jurt ausschliesslich dem Spiel hingegeben, und zwar einem recht hohen Spiel. Da man sich häufig treffen muss, wenn man zusammen im Lager lebt, so wohnte ich dem Spiel nicht selten bei, hielt mich aber, trotz aller Aufforderungen, etwa einen Monat lang von jeder Beteiligung am Spiel fern. Eines schönen Tages jedoch setzte ich zum Schluss eine kleine Summe und verlor, dann setzte ich noch einmal und verlor wieder, das Unglück verfolgte mich, ich wurde von der Spielwut ergriffen und verlor in zwei Tagen alles, was ich an barem Gelde bei mir hatte, was mir Nikolas gab (etwa 250 Rubel) und ausserdem noch 500 Silberrubel, über die ich einen Wechsel auf den Januar 1852 ausstellte.

Ich muss hinzufügen, dass sich ein kaukasisches Dorf neben dem Lager befindet, das von Tschetschenzen bewohnt wird. Ein junger Tschetschenze, namens Sado, besuchte des öfteren das Lager und nahm gleichfalls am Spiel teil. Da er aber nicht zu schreiben und zu zählen verstand, fanden sich dort Halunken, die ihn betrogen. Darum wollte ich selbst auch nie gegen Sado spielen, ich sagte ihm sogar, dass er nicht mehr spielen sollte, da man ihn betrüge, und schlug ihm vor, dass ich statt seiner als sein Bevollmächtigter spielen wolle. Er war mir dafür sehr dankbar und schenkte mir einen Geldbeutel. Da es jedoch bei diesem Volke Brauch ist, sich gegenseitig Geschenke zu machen, schenkte ich ihm ein ziemlich schlechtes Gewehr, das ich für 8 Rubel gekauft hatte. Ich muss hinzufügen, dass man, um ihr Kunak, d. h. ihr Freund zu werden, ihnen erst ein Geschenk machen und dann im Hause des Kunak zu Mittag speisen muss. Hiernach wird man nach dem uralten Brauch dieses Volkes (der aber schwerlich anders als in der Überlieferung fortbesteht) Freund auf Leben und Tod, d. h. wenn ich ihn um all sein Geld, sein Weib, seine Waffen und seine grössten Schätze bitte, muss er mir alles geben, und ich darf ihm gleichfalls nie etwas verweigern. Sado lud mich ein, ihn zu besuchen, nachdem er mir den Vorschlag gemacht hatte, sein Kunak zu werden. Ich ging also zu ihm hin. Nachdem er mich auf seine Art bewirtet hatte, schlug er mir vor, mir etwas in seinem Hause auszusuchen: Waffen, ein Pferd, alles, was mir beliebte … Ich wollte mir den billigsten Gegenstand wählen und suchte mir einen mit Silber eingelegten Reitzaum aus; er sagte mir aber, ich würde ihn dadurch beleidigen, und zwang mich, einen kaukasischen Säbel anzunehmen, der mindestens 100 Silberrubel kostet.

Sein Vater ist ein reicher Mann, aber er hält sein Geld in der Erde vergraben, er gibt dem Sohne keine Kopeke. Um Geld zu bekommen, unternimmt der Sohn Raubzüge gegen seine Feinde, denen er Pferde oder Kühe stiehlt. Es kommt zuweilen vor, dass er wegen eines Gegenstandes, der nicht mehr als 10 Rubel kostet, zwanzigmal sein Leben aufs Spiel setzt; das tut er jedoch nicht aus Habgier, sondern weil das nun einmal in seiner Natur liegt. Ein gewandter Dieb wird sehr geachtet und „Dschigit“, d. h. ein braver Bursche, genannt. Sado ist manchmal im Besitz von tausend Rubeln, manchmal aber hat er keine Kopeke. Nach einem meiner Besuche bei ihm schenkte ich ihm Nikolas’ silberne Uhr, und wir wurden nun die innigsten Freunde. Er bewies mir öfters seine Ergebenheit, indem er meinetwegen sein Leben aufs Spiel setzte – das bedeutet aber nichts für ihn, das ist bei ihm einmal der Brauch und bereitet ihm Vergnügen.

Als ich Stary Jurt verliess, während Nikolas noch dort blieb, kam Sado täglich zu ihm und sagte zu ihm, dass er nicht wisse, was er ohne mich anfangen solle, und sich furchtbar langweile. Ich schrieb Nikolas, ich liesse ihn bitten, da mein Pferd erkrankt sei, mir in Stary Jurt eins aufzutreiben. Als Sado davon Kenntnis erhielt, fiel ihm nichts Besseres ein, als plötzlich bei mir in der Staniza zu erscheinen und mir trotz meiner Weigerung sein Pferd zu schenken.

Nach der Dummheit, die ich begangen hatte, als ich in Stary Jurt mein Geld verspielte, nahm ich keine Karte mehr in die Hand und hielt Sado, der ein leidenschaftlicher Spieler ist und, obgleich er das Spiel nicht kennt, doch stets sehr viel Glück hat, Moralpredigten.

Gestern abend war ich gerade mit dem Gedanken an meine Geldangelegenheit und meine Schulden beschäftigt. Ich sann darüber nach, wie ich meine Schulden bezahlen solle. Nachdem ich längere Zeit darüber nachgedacht hatte, kam ich zu dem Ergebnis, dass mir, wenn ich nur nicht so viel ausgeben würde, meine Schulden nicht lästig fallen und in zwei oder drei Jahren gedeckt sein würden; doch die 500 Rubel, die ich in diesem Monat bezahlen musste, brachten mich zur Verzweiflung. Ich war verzweifelt über die Dummheit, dass ich, nachdem ich schon an Russland Schulden gemacht hatte, hierher gekommen war, um neue zu machen. Als ich an diesem Abend betete, bat ich Gott, er möge mich aus dieser schwierigen Lage befreien, und ich betete sehr heiss. – „Wie kann ich mich denn aber aus dieser schwierigen Lage befreien?“, dachte ich, als ich zu Bett ging. Es kann doch nichts passieren, wodurch ich in die Möglichkeit versetzt werden könnte, diese Schuld zu bezahlen. Ich stellte mir lebhaft alle Unannehmlichkeiten vor, die mir wegen dieser Angelegenheit bevorstanden: wie mein Gläubiger den Wechsel protestieren würde, wie meine Vorgesetzten Auskunft darüber verlangen würden, warum ich nicht zahle, und: „Gott, steh’ mir bei!“ sagte ich und schlief ein.

Am folgenden Tage erhielt ich einen Brief von Nikolas, dem Ihr Schreiben und noch viele andere beigelegt waren. Er schrieb mir:

„Dieser Tage war Sado bei mir, er hat Deine Wechsel von Knorring genommen und brachte sie mir. Er war so zufrieden und glücklich über diesen Gewinn und fragte mich so viele Male: ,Was glaubst Du, wird Dein Bruder sich freuen, dass ich das getan habe?‘, dass ich ihn herzlich liebgewann. Dieser Mensch ist Dir wirklich zugetan.“

Nicht wahr, ist es nicht erstaunlich, seine Bitte schon am folgenden Tage erhört zu sehen? Am erstaunlichsten aber ist es, dass Gott einem Wesen wie mir, das seine Gnade so wenig verdiente, diese Gnade erwies. Und nicht wahr, dieser herrliche Zug von Treue ist doch reizend? Sado weiss, dass ich einen Bruder namens Sergei habe, der Pferde liebt, und da ich ihm gesagt habe, dass ich ihn mitnehmen will, wenn ich nach Russland zurückkehre, so sagte er mir, es könne ihm hundertmal an den Kragen gehen, aber jetzt müsse er eins der schönsten Pferde stehlen und es ihm bringen.

Veranlassen Sie bitte, dass man mir in Tula eine sechsläufige Pistole und, wenn sie nicht allzu teuer ist, eine kleine Drehorgel kauft und mir beides zusendet. Das sind zwei Dinge, die ihm sehr gefallen werden.

Ich sitze in Tiflis und warte auf schön Wetter, d. h. auf Geld.

Adieu, liebe Tante, Leo küsst Ihnen tausendmal die Hand.

Nr. 1723 An T. A. Jergolskaja

Station Mosdok, 12. Januar 1852.

(auf dem Wege nach Tiflis.)

Ich teile Ihnen die Gedanken mit, die mir in den Sinn gekommen sind. Ich will versuchen, sie Ihnen darzulegen, weil ich an Sie gedacht habe. Ich habe mich in moralischer Beziehung sehr geändert, und das zum so und so vielten Male. Übrigens denke ich, dass es allen so ergeht. Je länger man lebt, desto häufiger verändert man sich; Sie besitzen grosse Erfahrung; sagen Sie mir also: ist es etwa nicht so? Ich denke, die Mängel und die guten Eigenschaften – die Grundlagen des Charakters bleiben immer dieselben, aber die Ansichten über das Leben und über das Glück müssen sich mit den Jahren ändern. Vor einem Jahr dachte ich mein Glück in Vergnügungen und Zerstreuungen zu finden; jetzt jedoch sehne ich mich vor allem nach einer moralischen und physischen Erholung. Ich stelle mir einen solchen Zustand der Ruhe ohne Langeweile vor, der von dem stillen Glück der Liebe und der Freundschaft erfüllt ist. Das ist für mich der Gipfel des Glückes. Übrigens spürt man den Zauber der Ruhe erst nach der Ermüdung, und die Freuden der Liebe nur nach dem Verlust. Ich bin jetzt eines wie des anderen beraubt, darum sehne ich mich so sehr danach. Wie lange muss ich noch ihrer beraubt sein? Weiss Gott! Ich kenne den Grund nicht, ich weiss aber, dass es sein muss. Religion und Lebenserfahrungen, so gering die letzteren auch waren, haben mich gelehrt, dass das Leben eine Prüfung ist. Für mich ist es mehr als eine Prüfung, es ist die Sühne aller meiner Sünden.

Mir scheint, dass der Gedanke, nach dem Kaukasus zu reisen, mir von einer höheren Macht eingegeben ist. Es ist die Hand Gottes, die mich führt, und ich lobe Ihn ununterbrochen. Ich fühle, dass ich hier ein besserer Mensch geworden bin (das ist noch nicht viel, da ich ein sehr schlechter Mensch war), und ich bin fest überzeugt, dass alles, was sich hier mit mir ereignen kann, mir von Nutzen sein wird, da Gott selbst es wünscht. Es ist vielleicht ein allzu kühner Gedanke, aber ich bin von seiner Richtigkeit überzeugt. Darum ertrage ich die Widerwärtigkeiten und physischen Entbehrungen, von denen ich spreche (was bedeuten physische Entbehrungen für einen gesunden Jungen von 23 Jahren!) als ob sie gar nicht da wären, ja sogar mit einem gewissen Genuss, dem Glück entgegensehend, das mich erwartet. Ich stelle es mir folgendermassen vor:

Nach einer Reihe von Jahren befinde ich mich, weder jung noch alt, in Jassnaja Poljana, meine Angelegenheiten sind geordnet, ich bin weder Belästigungen noch Unannehmlichkeiten ausgesetzt. Sie leben ja auch in Jassnaja, ein wenig gealtert, aber noch frisch und gesund. Wir führen ein Leben wie früher – morgens arbeite ich, wir sehen uns fast den ganzen Tag. Wir speisen zusammen zu Mittag, und am Abend lese ich Ihnen vor, was Sie interessiert. Dann unterhalten wir uns, ich schildere Ihnen das Leben im Kaukasus, Sie erzählen mir Ihre Erinnerungen an meinen Vater und an meine Mutter, oder auch die „Gespenstergeschichten“, die wir früher mit erschrockenen Augen und aufgerissenem Munde anhörten. Wir gedenken derer, die uns teuer sind und nicht mehr unter den Lebenden weilen. Sie beginnen zu weinen und ich ebenfalls, aber diese Tränen wirken beruhigend auf uns; wir sprechen von unseren Brüdern, die uns von Zeit zu Zeit besuchen, von unserer teuren Mascha, die mit all ihren Kindern gleichfalls einige Monate in Jassnaja verbringt, das sie so liebt. Wir haben keine Bekannten, niemand kommt zu uns, um uns zu ärgern und uns Klatsch zuzutragen. Das ist ein wunderbarer Traum. Es ist aber noch nicht alles, wovon ich mir zu träumen erlaube. Ich bin verheiratet, meine Frau ist ein stilles, gutes und liebreiches Weib; Sie werden von ihr geliebt, wie ich; wir haben Kinder, die Sie Grossmama nennen. Sie wohnen oben im grossen Hause, in demselben Zimmer, das die Grossmutter früher bewohnt hat. Das ganze Haus wird in derselben Ordnung gehalten wie zu Lebzeiten des Vaters, und wir beginnen dasselbe Leben wieder von vorn, nur mit vertauschten Rollen. Sie sind an die Stelle der Grossmutter getreten, sind aber noch besser und lieber als sie; ich vertrete den Vater, obgleich ich einmal hoffe, mich dieser Ehre würdig zu erweisen. Meine Frau vertritt die Mutter, die Kinder sind wir. Mascha24 übernimmt die Rolle der beiden Tanten, abgesehen von ihrem Kummer; und endlich vertritt Gascha25 die PrasskowjaIljischina26. Nur eine Person wird uns fehlen, die ihre Rolle im Leben unserer Familie übernehmen könnte. Niemals werden wir eine so herrliche Seele finden, die so liebreich ist, wie die Ihre. Sie haben keine Nachfolgerinnen. Es wird auch drei neue Gestalten geben, die zuweilen in unserer Mitte auftauchen werden – meine Brüder, namentlich der eine von ihnen, Nikolas, ein alter kahlköpfiger, pensionierter Hagestolz, immer gleich gut und edel.

Ich stelle mir vor, wie er, ganz wie in alten Zeiten, den Kindern Märchen erzählen wird, die er selbst ersonnen hat, wie die Kinder seine fettigen Hände küssen (die es aber wert sind), wie er mit ihnen spielt, wie meine Frau sich bemühen wird, ihm seine Leibspeisen zu bereiten, wie wir beide gemeinsame Erinnerungen an längst vergangene Zeiten auffrischen, während Sie auf Ihrem gewohnten Platze sitzen und uns mit Vergnügen zuhören; wie Sie uns alte Männer, ganz wie früher, Leochen und Niko nennen und mich schelten werden, dass ich mit den Händen esse, und ihn, dass seine Hände nicht sauber sind.

Ich weiss, Sie lieben es nicht, sich die Zukunft auszumalen, aber was ist Schlimmes dabei? Und wie angenehm ist es! Ich fürchte, meine Träume sind zu egoistisch, und ich habe Ihnen in diesem Glücksbilde einen zu winzigen Platz eingeräumt. Ich fürchte, dass der Kummer der verflossenen Jahre zu merkliche Spuren in Ihrem Herzen hinterlassen hat, und dass dies Sie daran hindern wird, sich dieser Zukunft, die mein Glück ausmachen würde, hinzugeben. Teures Tantchen, sagen Sie, würden Sie sich glücklich fühlen? Dies alles kann sich ja verwirklichen, und diese Hoffnung ist so tröstend.

Schon wieder weine ich. Warum weine ich, wenn ich an Sie denke? Es sind Tränen der Freude, ich bin glücklich im Bewusstsein meiner Liebe zu Ihnen, welches Unglück mich auch treffen sollte; solange Sie am Leben sind, werde ich mich nie vollkommen unglücklich fühlen.

Erinnern Sie sich noch, wie wir uns in der Iberischen Kapelle trennten, bevor wir nach Kasan reisten? In diesem Augenblick begriff ich, gleichsam einer Eingebung von oben folgend, was Sie mir waren, und obgleich ich noch ein Kind war, verstand ich es, Ihnen durch meine Tränen und einige abgerissene Worte mein Gefühl mitzuteilen. Ich habe nie aufgehört, Sie zu lieben; aber die Gefühle, die ich damals in der Kapelle und jetzt empfinde, haben wenig miteinander gemein; das Gefühl, das ich jetzt empfinde, ist ungleich stärker und erhabener als je zuvor.

Ich bekenne Ihnen, das ich mich schäme. Ich muss Ihnen das jedoch sagen, um mein Gewissen zu entlasten. Wenn ich früher Ihre Briefe las, in denen Sie von Ihren Gefühlen zu mir sprachen, so schien es mir immer, dass Sie übertreiben. Jetzt erst, wo ich Ihre Briefe nochmals lese, begreife ich Ihre grenzenlose Liebe zu uns und Ihre erhabene Seele. Ich bin überzeugt, dass jeder andere, der diesen und meinen vorigen Brief liest, mir denselben Vorwurf machen würde. Aber von Ihnen befürchte ich das nicht, Sie kennen mich zu gut und wissen, dass vielleicht meine einzige gute Eigenschaft die – Sentimentalität ist. Dieser Eigenschaft verdanke ich die glücklichsten Minuten meines Lebens. Jedenfalls ist dies der letzte Brief, in dem ich mir erlaube, solche hochtrabenden Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Hochtrabend für die Gleichgültigen, aber Sie werden mich schon richtig beurteilen.

Adieu, liebe Tante, ich hoffe Sie in einigen Tagen wiederzusehen, dann werde ich Ihnen schreiben. Leo.

Nr. 1827 An T. A. Jergolskaja

Pjatigorsk, 30. Mai 1852.

Liebe Tante!