Begegnungen in Edinburgh - Louise M. Moran - E-Book

Begegnungen in Edinburgh E-Book

Louise M. Moran

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Beschreibung

Islas Leben spielt sich hauptsächlich im Büro, im Supermarkt und auf der Couch ab. Wegen zahlreicher Überstunden hat sie eigentlich gar keine Zeit für Gavin, den sie nach einem Raubüberfall auf offener Straße kennenlernt. Eigentlich ... Ein humorvoller, nachdenklicher Roman über Unternehmensfusionen, Taschenschirme, unterdrückte Gefühle und Spaziergänge.

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Inhalt

Begegnung im Dunkeln

Begegnung im Freien

Begegnung in der Teestube

Begegnung im Supermarkt

Begegnung im Restaurant

Begegnung im Dunkeln

Ein grünes Lämpchen leuchtete, nachdem ich den Chip ans Lesegerät gehalten hatte. Ich drückte die Tür des Personaleingangs auf. Kalte Januarluft schlug mir entgegen. Ich trat auf den Gehweg und wartete, bis die Tür hinter mir sanft ins Schloss fiel.

Es war wieder einmal spät geworden, weil ich die Rede für meinen Chef mit ein paar Bonmots angereichert hatte, für die er inzwischen berühmt-berüchtigt war. Dass alles, was offiziell aus seinem Mund kam, in Wirklichkeit aus meiner Feder stammte, wussten selbst auf unserem Stockwerk nicht alle. Auch heute noch glaubten die meisten Mitarbeiter, bei einer Persönlichen Assistentin handle es sich um eine Vorzimmertippse, die für die Terminvergabe und die Bereitstellung warmer und kalter Getränke verantwortlich sei. Dass so manche PA als Ghostwriterin tätig war, passte vielen nicht ins Weltbild.

Vor meiner Nase raste ein Motorroller über die hohe Bordsteinkante auf den Gehweg. Erschrocken blickte ich ihm hinterher. Ein Stück von mir entfernt stand mit dem Rücken zu mir und einem Telefon am Ohr ein dunkel gekleideter Mann zwischen dem Haupteingang und der Einfahrt zur Tiefgarage. Schräg vor ihm stoppte der Motorroller abrupt. Der Sozius sprang ab, riss dem Mann das Mobiltelefon aus der Hand, zog ihm den Mantel hoch und schien etwas aus der Gesäßtasche zu holen. Der Mann hob währenddessen die Hände und ließ alles widerstandslos geschehen. Der Sozius sprang zurück auf seinen Sitz; der Motorroller fuhr auf die Straße und raste davon. Das Opfer des Überfalls lief ein paar Schritte hinterher, blieb stehen und trat dann mehrmals mit dem Fuß gegen einen Laternenpfahl.

Ich hatte den Mund aufgerissen, doch der dazugehörige Schrei blieb mir im Hals stecken. Warum hatten sie ihn überfallen und nicht mich? Warum fühlte ich mich deshalb schuldig? Warum hatte ich vergessen, mir das Kennzeichen zu merken? Ich Trottel!

Meine Finger krallten sich wie von allein um den Gurt meiner Handtasche, als ich aus der Schockstarre erwachte. Klar! Diese Vorsichtsmaßnahme war ja auch echt sinnvoll, nachdem die beiden längst über alle Berge waren! Ich lief mit klappernden Absätzen zu dem Mann, der sich zu mir umdrehte.

Im Schein der Straßenlaterne leuchtete sein helles Gesicht wie eine Totenmaske. Er sah mich wütend an.

Ängstlich zuckte ich zusammen. Unwillkürlich verlangsamte ich meine Schritte. Die Kombination aus dunklen Haaren, dunklen Augen, dunklem Mantel und blasser Haut wirkte wie nicht von dieser Welt. Das geschieht dir recht!, schimpfte ich in Gedanken mit mir. Warum hast du bloß vor zwei Jahren während der Bilanzzeit zum Abschalten diese armseligen Vampirromane gelesen? Mir kam sein Gesicht von irgendwoher bekannt vor. Doch ich konnte mich ums Verrecken nicht erinnern, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte. Im Bus? Im Supermarkt zwei Straßen weiter? Ganz woanders?

»Sind Sie verletzt, Sir?«, fragte ich atemlos, als ich ihm gegenüberstand.

»Ja. Mein Fuß tut weh.« Er lachte verlegen. »Aber daran bin ich selbst schuld. Keiner hat mich gezwungen, gegen die verdammte Laterne zu treten.«

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Lassen Sie mich überlegen, Madam. Ich wurde überfallen. Ich gab einer Laterne ein paar satte Tritte. Fällt Ihnen noch eine dritte Möglichkeit ein, wie ich mich an einem durchschnittlichen Freitagabend zum Idioten machen kann?«

Ich sah ihm verwirrt in die dunklen Augen. Wie passten die zu dieser blassen Haut? »Brauchen Sie eine Zeugin für die Polizei?«

»Haben Sie sich das Kennzeichen gemerkt?«

»Nein.« Verschämt blickte ich zu Boden. »Sie haben recht. Zwei dunkel gekleidete Personen auf einem dunklen Motorroller. Das klingt auch ohne meine Bestätigung glaubhaft.« Ich kramte mein Portemonnaie hervor, entnahm ihm einen Geldschein und reichte ihn dem Fremden.

Mir war selbst nicht klar, warum ich mich für ihn verantwortlich fühlte. Auf unerklärliche Weise empfand ich Schuldgefühle, weil mir nichts passiert war. Wie nach einer überwältigenden Katastrophe in einem anderen Land wollte ich mich durch eine kleine Spende loskaufen, um mein eigenes unbeschwertes Leben weiterführen zu können.

Der Mann runzelte die Stirn. »So viel? Wieso?«

»Irgendwie müssen Sie nach Hause kommen.« Ungeduldig hielt ich ihm den Schein hin. »Leider hab’ ich’s nicht kleiner.«

Er blickte mich schweigend von oben bis unten an.

Ja, du Snob, dachte ich. Mein Mantel ist sechs Jahre alt. Deshalb habe ich aber auch noch zwanzig Pfund für jemanden wie dich übrig. Ich fragte: »Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«

»Ja, bitte«, antwortete er leise. Endlich nahm er den Schein. »Machen Sie sich keine Gedanken wegen des Kennzeichens. Das war vermutlich ohnehin gefälscht.«

Ich holte mein Smartphone aus der Handtasche.

»Einen Moment«, bat der Fremde. »Ich glaube, ich hätte doch gern Ihre Adresse. Dann kann ich Ihnen das Geld zurückerstatten.«

»Das ist nicht nötig«, meinte ich verlegen. Mir wurde die Sache langsam peinlich.

»Für die Polizei?«, fügte er hastig hinzu. »Vielleicht wollen die mit Ihnen sprechen.«

Ich kramte in meiner Handtasche, bis ich ein Notizbuch fand, schrieb meine Adresse und Telefonnummer auf, riss das Blatt heraus und reicht es der Zufallsbekanntschaft.

»Isla. Ein hübscher Name.« Der Fremde lächelte. Wieder hatte ich das Gefühl, ihn irgendwo schon einmal gesehen zu haben.

»Soll ich Ihnen jetzt das Taxi rufen?«, fragte ich verlegen.

»Ja, bitte. Danke für Ihre Hilfe!«

Nachdem ich den Anruf erledigt hatte, verabschiedete ich mich von dem Mann.

Mein Bus war natürlich längst weg, als ich die Haltestelle erreichte. Leider musste ich auf den nächsten warten. Ich fühlte mich unwohl. Wenn im Stadtteil Leith neuerdings Passanten überfallen wurden, war es nur eine Frage der Zeit, bis es mich erwischte. Ich musste endlich lernen, pünktlich Feierabend zu machen, damit ich in der dunklen Jahreszeit im Pulk statt allein unterwegs war.

Daheim in Tollcross hatte ich zwar eine Haltestelle früher aussteigen wollen, um den Lebensmitteleinkauf fürs Wochenende zu erledigen, aber nun fürchtete ich mich und verschob ihn feige auf den Samstagvormittag. Zu Hause sichtete ich meine spärlichen Vorräte. Mangels großartiger Alternative entschied ich mich für Porridge. Der Schreck saß mir noch in den Knochen, sodass ich ohnehin keinen großen Appetit verspürte.

Eigentlich gehörte es zu den festen Gewohnheiten in meinem ereignislosen Leben, den Freitagabend lesend zu verbringen. Da ich jedoch den Einkauf vertagt hatte, zwang ich mich, zumindest das Staubwischen und Staubsaugen bereits heute zu besorgen.

Danach rächte sich das spartanische Abendessen. Hungrig verzog ich mich mit Buch, grünem Tee und einer Tafel Bitterschokolade auf die Couch, wo ich im Laufe des restlichen Abends allen dreien den Garaus machte. Als ich zu Bett ging, war mein seelisches Gleichgewicht wiederhergestellt.

Der Typ hatte es richtiggemacht und sich souverän ausrauben lassen. So war er selbst unverletzt geblieben. Ich beschloss, einen Taschenalarm anzuschaffen, um weiterhin erhobenen Hauptes im Dunkeln allein zur Bushaltestelle gehen zu können. Mir blieb ohnehin nichts anderes übrig.

Am Samstag stand ich gegen halb zehn auf, trank einen Becher Tee und stürzte mich im Supermarkt ins Gewühl. Anschließend hatte ich so die Nase voll, dass ich dem Taschenalarm noch eine Schonfrist zubilligte. Ich beschloss, den Rest des Tages daheim zu bleiben, statt mir im Kaufhaus endgültig den Frust zu holen. Den Taschenalarm konnte ich zur Not auch im Internet bestellen.

Zu Hause rückte ich erst der Küche und dann dem Badezimmer putzenderweise zu Leibe. Gerade als ich meinen allgemeinen Unmut an der Kloschüssel ausließ, klingelte mein Mobiltelefon, das ich im Flur auf den Schuhschrank gelegt hatte. Fluchend zog ich die Gummihandschuhe aus, hielt die verschwitzten Hände kurz unter den Wasserhahn, trocknete sie im Gehen ab und nahm den Anruf entgegen. Die Nummer war mir unbekannt.

»Hi. Hier ist Gavin.« Pause.

Dafür hatte ich mühsam die Gummihandschuhe ausgezogen? »Hi, Gavin«, antwortete ich mit übertriebener Fröhlichkeit. »Ich glaube, du hast die falsche Nummer, Gavin. Denn ich kenne gar keinen Gavin, Gavin. Goodbye, Gavin!«

»Warte!«, rief der Typ am anderen Ende. »Ich bin der Idiot, der neue Schuhe kaufen muss, weil er gestern mit der Laterne Fußball spielen wollte.«

»Oh!« Leider fiel mir keine geistreichere Erwiderung ein.

»Ich dachte, wir könnten uns mit dem Vornamen anreden. Ist das okay, Ms Mason?«

»Äh … Ja, klar. Hallo, Gavin.« Meine letzten Hirnzellen hatte ich vorhin offenbar beim Kampf mit der Selbstbedienungskasse eingebüßt.

»Hallo, Isla.« Er lachte leise. »Ich möchte dir gern das Geld zurückgeben und dich zum Dank zum Lunch einladen. Hast du nachher Zeit?«

Woher wusste er, dass ich allein lebte und weder ein Ehemann noch ein halbes Dutzend Kinder hinter mir durch die Wohnung wuselten? Probierte er es einfach einmal auf gut Glück?

»Wo hast du denn so schnell das Geld dafür aufgetrieben?«, fragte ich das Naheliegende.

»Ich habe es mir geliehen. Noch scheine ich in meinem Umfeld als kreditwürdig zu gelten. Schön, dass ich das bei der Gelegenheit auch gleich mal klären konnte.«

»Du leihst dir Geld, um geliehenes Geld plus Lunch zurückzuzahlen?«

»Ja, ich weiß, das klingt nach Schneeballsystem, aber es funktioniert hervorragend. Zumindest am Anfang. Die ersten Investoren bekommen ihr Geld nebst Zinsen garantiert zurück. Die späteren hingegen …« Er ließ den Satz unvollendet.

Ich lachte. »Da habe ich also Glück, dass ich so früh in dieses Anlagemodell eingestiegen bin.«

»Wenn alle Stricke reißen, kenne ich inzwischen noch einen anderen Weg, wie man zu Geld kommt. Dazu müsste ich mir jedoch einen Motorroller zulegen.«

»Warst du schon bei der Polizei?«

»Ja, das war der einfachere Teil. Alle Karten sperren zu lassen und neue zu beantragen, nahm mehr Zeit in Anspruch. Außerdem muss ich ein neues Portemonnaie und ein neues Mobiltelefon anschaffen.« Er lachte. »Und neue Schuhe.«

»Worin bewahrst du denn momentan dein Bargeld auf, mit dem du mich einladen willst?«, fragte ich verschmitzt.

»Ich würde jetzt unheimlich gern in meiner rechten Socke sagen, aber am Ende glaubst du mir das und ekelst dich vor dem Zwanziger, den ich dir zurückgeben möchte.«

Ich kicherte.

Er fuhr unbeirrt fort: »Deshalb gestehe ich lieber die langweilige Wahrheit: in dem Etui für meine Sonnenbrille.«

»Worin bewahrst du die währenddessen auf? In deiner linken Socke?«

»Super! Du hast das Prinzip erkannt! Wie sieht es aus, Isla? Hast du Lust, diese sensationelle Konversation in einem nicht allzu teuren Restaurant fortzusetzen? Denk bitte nicht, dass du und deine selbstlose Tat mir kein teures Essen wert wärt. Meine Kreditwürdigkeit hatte heute Morgen leider gewisse Grenzen.«

»Ich bin anspruchslos und zahle selbstverständlich für mich selbst«, meinte ich verlegen.

»Sehr sympathisch, Isla, aber einladen will ich dich unbedingt. Isst du gern italienisch?«

Nach kurzem Zögern antwortete ich: »Ja.«

»Habe ich etwas Falsches gesagt? Das tut mir sehr, sehr leid.« Er klang plötzlich ernst.

»Du musst mich nicht einladen«, stellte ich klar. »Die zwanzig Pfund haben Zeit. Steck sie einfach irgendwann, wenn du deine Karten hast, in einen Umschlag. Meine Adresse kennst du ja.«

»Isla.«

»Mmh?«

»Ich möchte dich gern wiedersehen. Wenn nicht heute, dann ein andermal. Ist das möglich, oder muss ich mir dich aus dem Kopf schlagen?«

Ich nagte an meiner Unterlippe. Was sollte ich darauf antworten? Natürlich war das möglich. Doch was machte ich in seinem Kopf? Vor meinem geistigen Auge sah ich sein Gesicht und lächelte traurig. Männer wie er waren für Frauen wie mich nie auf Dauer zu haben. Diese bittere Lektion hatte ich damals in meiner kurzen Ehe gelernt.

Er seufzte. »Du schweigst. Du bist also in festen Händen und triffst dich nicht mit fremden Männern.« Er atmete tief durch. »Eigentlich hätte ich es ahnen können. Frauen wie du sind immer bereits vergeben.«

Frauen wie ich? Stand er auf Langweilerinnen? »Nein«, hörte ich mich flüstern.

»Nein?« Er schien sofort wieder Oberwasser zu haben. »Heißt das nein, du bist nicht vergeben, oder nein, ein Treffen ist nicht möglich?«

»Was willst du von mir?«, fragte ich leise.

»Ich will dich kennenlernen. Wenn ich deine Handtasche klauen wollte, hätte ich gestern eine wunderbare Gelegenheit dazu gehabt. Dass ich sie ungenutzt verstreichen ließ, müsste mir doch ein paar Vertrauenspluspunkte einbringen. – Ist das ein Lachen? Ist das gut für mich oder schlecht?«

»Gut«, gestand ich.

»Super. Du lachst also über meine dummen Sprüche statt über mich. Wo waren wir stehengeblieben? Lunch! Ich kenne ein nettes italienisches Restaurant in New Town. Wir bräuchten nur einen eindeutigen Treffpunkt, an dem wir uns auf keinen Fall verfehlen, denn bekanntlich besitze ich momentan kein Mobiltelefon, auf dem du mich erreichen könntest. Dieses hier habe ich mir lediglich kurz ausgeliehen.« Er lachte leise. Sein Galgenhumor war erstaunlich!

»Wie wäre es mit dem Scott Monument?«, schlug ich kichernd vor. »Einen noch eindeutigeren Treffpunkt hat Edinburgh kaum zu bieten. Zumindest keinen scheußlicheren.«

»Ach, das Parlament kann es mit ihm in Bezug auf Scheußlichkeit locker aufnehmen. Schön. Treffen wir uns um eins am Scott Monument? Ich freue mich unheimlich, dass du kommen willst.«

»Ich freue mich auch«, sagte ich leise.

Obwohl ich ein wenig zu früh dran war, stand er schon da. Er hatte den Kragen seines dunklen Mantels hochgeschlagen, die Hände in den Taschen und schien den Himmel zu betrachten. Es sah nach Regen aus. Ich hatte jedoch ohnehin immer einen Taschenschirm dabei. Nun wusste ich, wie man sich ohne Mobiltelefon verabredete: Man kam einfach pünktlich an den vereinbarten Treffpunkt. Wer kein Smartphone zum Surfen hatte, um sich die Wartezeit zu vertreiben, betrachtete seine Umgebung.

»Hi, Gavin!«, begrüßte ich ihn.

»Schön, dass du tatsächlich gekommen bist, Isla!«, antwortete er lächelnd.

»Hast du daran gezweifelt?«

»Nein, aber ich betrachte nichts als selbstverständlich.«

»Schön, dass du tatsächlich gekommen bist, Gavin«, meinte ich schmunzelnd.

»Du verstehst sofort, was ich meine. Normalerweise ernte ich da einen zweifelnden, verständnislosen Blick und ein höfliches, leicht nachsichtiges Lächeln.«

»Etwa so?« Ich riss die Augen auf, schielte etwas und versuchte so naiv dreinzublicken, wie ich nur konnte.

»Ja, das trifft es sehr gut.« Er lachte. »Wir sollten los, bevor wir nass werden.«

»Bevor du nass wirst. Ich habe einen Schirm dabei.« Ich überließ ihm die Führung. Die Fußgängerampel sprang auf Grün. Wir überquerten die Princes Street.

»Schirme sind uncool und nichts für echte Alpha-Männer wie mich. Außerdem muss man nur mitleiderregend aus der Wäsche schauen. Schon darf man mit drunter.«

Ich lachte. »Wie sieht es denn aus, wenn ein echter Alpha-Mann mitleiderregend guckt?«

Er blieb auf der anderen Straßenseite breitbeinig stehen, stemmte die Hände in die Hüften, ließ die Unterlippe zittern und schaute sehr unglücklich drein. »Wenn ich dann den Kopf ein wenig in den Nacken lege, damit die Regentropfen übers Gesicht laufen, glaubst du, dass ich weine«, erläuterte er sachlich und ging weiter.

»Ja, das war unheimlich überzeugend. Ich hatte das dringende Bedürfnis, den Regenschirm über dir aufzuspannen, obwohl es noch gar nicht regnet. Wer trägt den eigentlich, wenn eine vertikal Herausgeforderte wie ich einen echten Alpha-Mann mit drunter nimmt? Ein Alpha-Mann fasst so einen verweichlichten Schirm doch sicherlich höchst ungern an. Wenn ich ihn aber trage, muss ich ihn entweder hoch über meinen Kopf halten, was auf die Dauer anstrengend wird und schlecht zu meinem Image als hilfloses Weibchen passt, oder der Alpha-Mann muss in gebückter Haltung gehen, was unterwürfig wirkt und keinesfalls zu seinem Image als Macher und Anführer passt.«

»Ein Dilemma! Wir haben offensichtlich beide ein Imageproblem«, stellte er fest. »Doch mir fällt ein Kompromiss ein: Du könntest den Schirm ganz normal tragen, und ich gehe trotzdem erhobenen Hauptes neben dir her.« Er watschelte mit geradem Rücken, gebeugten Knien und überheblichem Lächeln. »Man beachte die dünkelhaft erhobene Nase.«

»Solltest du nicht besser auf den Weg schauen?«, fragte ich scheinheilig. »Wie stolpert denn so ein Alpha-Mann mit erhobener Nase, ohne sein Image zu beschädigen oder seine Hose zu beschmutzen?«

Er schlenderte wieder normal den Gehweg entlang. »Das zeige ich dir beim nächsten Treffen«, meinte er schmunzelnd, öffnete die Tür zum Restaurant und ließ mir den Vortritt.

»Betrachtest du ein nächstes Treffen als selbstverständlich?«, neckte ich ihn.

»Nein, ich hoffe auf deine Neugier und deinen Humor«, flüsterte er mir ins Ohr, als ich an ihm vorbeiging.

Wir bekamen einen Tisch am Fenster und hängten unsere Mäntel über einen freien Stuhl. Gavin trug ein bordeauxrotes Hemd mit offenem Kragenknopf zur dunklen Hose, was förmlich und lässig zugleich wirkte. Ich hatte mich nach eingehendem Studium des Kleiderschrankinhalts für eine dunkelblaue Jeans und einen hellgrauen Pullover entschieden, weil mein Begleiter gleich sehen sollte, was ihn bei mir erwartete: nichts Besonderes.

Er betrachtete die Bergkristallgemme, die ich an einer langen Silberkette um den Hals trug. »Ein sehr hübscher Anhänger«, bemerkte er freundlich lächelnd.

»Danke. Ziemlich aus der Mode, aber ich mag ihn.«

»Deine Einstellung gefällt mir und kommt mir sehr entgegen. Ich bin nämlich ebenfalls aus der Mode.« Er schenkte mir ein zärtliches Lächeln.

»Flirtest du mit mir?«

»Ja. Warum fragst du? Stört es dich?«

Ich blickte angestrengt in die Speisekarte und merkte, dass meine Wangen heiß wurden. »Nein«, antwortete ich. »Ich wollte es nur wissen. Falls ich mich täusche. Man soll schließlich nichts als selbstverständlich betrachten, habe ich heute gehört.«

»Flirten ist bei mir auch keine Selbstverständlichkeit. Das hast du ganz richtig erkannt«, meinte er schmunzelnd.

Wir bestellten beide einen Salatteller. Danach entstand eine dieser unangenehmen Gesprächspausen, die ich so hasste.

Gavin zog ein dunkelblaues Brillenetui hervor, entnahm ihm einen Zwanziger und reichte ihn mir.

»Danke.« Verlegen steckte ich den Schein ein.

»Ich bedanke mich ganz herzlich bei dir. Ohne dich hätte ich gestern von Leith nach Hause laufen müssen.«

»Wäre das weit?«

»Es wäre machbar gewesen, wenn mir mein Fuß weniger wehgetan hätte.« Er lachte.