Darrel & Lou - Mit dem Schlagzeug quer durch London - Louise M. Moran - E-Book

Darrel & Lou - Mit dem Schlagzeug quer durch London E-Book

Louise M. Moran

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Beschreibung

Lou und Darrel genießen die Zweisamkeit, denn James glänzt tagelang durch Abwesenheit. Während die Bandmitglieder sich witzig-freche Wortgefechte liefern und rätseln, mit wem er sich heimlich trifft, ist Lou eingeweiht und freut sich sehr für James. Socks fühlt sich an seine Jugend erinnert. Auslöser ist Sarah, die sich in London ein neues Leben aufbauen will. Darrel und Socks arbeiten an neuen Songs und schmieden Zukunftspläne. Eine humorvolle und bittersüße Geschichte über Liebe, Freundschaft und die Leidenschaft für die Musik. Dies ist der zweite Band aus der Reihe »Darrel & Lou« und die Fortsetzung von »Darrel & Lou - Mit der Gitarre nach Kensington«.

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Inhalt

Sie kam und blieb

Stippvisiten

Image ohne Hose

Bühnengast

Zurück auf Anfang

Lektionen

Weihnachtsputz

Neue Wohnungen

1. Sie kam und blieb

Hi!«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. Sie zuckte zusammen und sah mich ängstlich an. Eigentlich hatte eher ich Grund, Angst zu haben, denn schließlich saß sie vor unserer Haustür auf der Treppe, und ich kam allein vom Friseur und wollte aufschließen.

»Darf ich bitte vorbei?«, fragte ich freundlich.

»Kein Problem. Sorry.« Sie stand auf und zog mit ihrer rechten Hand die zwei Reisetaschen beiseite, damit ich mich an ihrem gigantischen Koffer vorbeiquetschen konnte. Am linken Handgelenk trug sie einen Verband. Vermutlich war sie mit dem Auto oder einem Taxi gekommen, denn diese riesige Gepäckmenge hätte sie nicht einmal mit zwei gesunden Händen von der U-Bahn bis hierher transportieren können.

»Kann ich Ihnen helfen?« Sie tat mir leid. Ihr hübsches, von dunklen, halblangen Locken umrahmtes Gesicht war auf der rechten Seite durch zwei rote Flecke verunziert, die wie Prellungen aussahen und sicher sehr schmerzhaft waren.

»Nein. Kein Problem«, antwortete sie.

»Warten Sie auf jemanden?«

»Bei Mackay macht niemand auf. Kein Problem.« Sie lächelte verkrampft wie eine verunsicherte Servicekraft am ersten Arbeitstag.

»Werden Sie erwartet?« Mich wunderte, dass Maggie nichts davon erwähnt hatte.

»Sean hatte gesagt, dass ich jederzeit kommen darf. Ich wollte vom Bahnhof aus anrufen, aber er ist nicht erreichbar. Da schickte ich ihm eine SMS.«

»Er ist wahrscheinlich gerade beim Joggen und hat das Telefon nicht mitgenommen. Seine Frau ist bei der Arbeit.«

»Kein Problem. Ich warte.«

»Möchten Sie hereinkommen und bei uns warten?«

»Nein, kein Problem.«

»Es sieht aber nach Regen aus.«

»Ich stelle mich dort unter, wenn ich darf. Kein Problem.« Sie lächelte nervös und deutete auf den kleinen Bereich vor unserer Tür, der nur deshalb ein wenig geschützt war, weil diese einen halben Meter ins Haus hineinversetzt war. Mehr als ihr Gepäck hatte dort garantiert nicht Platz und das sagte ich ihr auch.

»Kein Problem«, war die Antwort, die mir langsam aber sicher auf den Geist ging. »Ich habe einen Schirm.«

»Sean und Maggie würden es mir nie verzeihen, wenn ich ihren Gast vor der Tür im Regen stehen lassen würde. Ich bin Lou.« Ich streckte ihr die Hand hin, die sie vorsichtig ergriff.

»Ich bin Sarah. Kein Problem. Sean weiß noch nicht, dass ich komme.«

»Aber bald weiß er es.«

»Kein Problem. Ich verpetze Sie nicht, Ma’am.«

»Nenn mich bitte Lou. Und jetzt komm rein, Sarah. Das ist nämlich überhaupt kein Problem.« Ich schloss die Tür auf und nahm wie selbstverständlich die beiden Reisetaschen mit, um endlich Tatsachen zu schaffen. Als ich mich umdrehte, zog sie ihren Koffer Stufe für Stufe herauf.

»Lass mich das machen.«

»Kein Problem!« Sie lächelte mich kurz an und wandte sich wieder ihrem Koffer zu.

Da sie mir bei meinem Vorhaben im Weg stand, fasste ich sie kurz an den Schultern, um sie beiseitezuschieben, aber sie zuckte dermaßen zusammen, dass ich die freundlich gemeinte Geste sofort bereute. »Tut mir so leid! Habe ich dir wehgetan?«

»Nein, kein Problem!« Sie lächelte wieder nervös, ging aber wenigstens ins Haus und ließ mich den Koffer die letzten Stufen hinauf und in den Flur wuchten. Ich schloss die Tür unserer Parterrewohnung auf. Drinnen pfiff James den Song Great Marlborough Street, an dem sie bei den Proben momentan arbeiteten. Sarah zuckte zusammen und machte einen Schritt rückwärts. Beinahe wäre sie über eine der Taschen gefallen und konnte sich gerade noch abfangen.

»Alles klar?«

»Kein Problem. Ich warte hier.«

»Jetzt komm einfach herein!« Langsam verlor ich dann doch ein wenig die Geduld. Was hatte sie nur? War sie traumatisiert vom Unfall? Lange zurückliegen konnte er nicht, da das Farbenspiel der Prellungen in ihrem Gesicht erst bei Rot war. Blau, Grün, Gelb und Braun hatte sie noch vor sich, die Ärmste! Mein Mitleid überwog, und ich ging in die nächste Runde, indem ich ihren Koffer in unsere Wohnung zog und auch die beiden Reisetaschen hereinholte. Zögerlich kam sie hinter mir her, blieb aber mit erschrockenem Gesichtsausdruck auf der Schwelle stehen.

Ich folgte ihrem Blick und sah James, der den Kopf aus der Küche streckte und über mich lachte. »Wie siehst du denn aus?«

»Bescheuert wie immer, wenn ich vom Friseur komme. Eigentlich soll sie nur unten drei Zentimeter abschneiden, aber sie föhnt sich danach immer etwas zurecht, mit dem ich echt nicht unter normale Leute kann. Nur um den Einheitspreis zu rechtfertigen.« Ich drehte mich zu Sarah. »Das ist übrigens James. Und das ist Sarah. Sie wartet hier, bis Sean nach Hause kommt.«

»Hi, Sarah!« James hob lässig die Hand und verschwand wieder in der Küche, die er pfeifend weiterputzte. Auf mich lauerten auch noch Staubsauger und Bodenwischer. Darrel hingegen hatte seinen Anteil am gemeinsamen samstäglichen Putzen, das Bad, bereits am Freitagabend erledigt, weil er heute arbeiten musste.

»Hi!«, antwortete Sarah, als sie sich von ihrem Schreck erholt hatte, und kam zögerlich herein. Endlich konnte ich die Wohnungstür, die bei uns direkt ins Wohnzimmer führte, wieder schließen.

»Setz dich!« Ich lächelte sie freundlich an und half ihr vorsichtig aus dem Mantel, um ihr nicht wehzutun.

Sie lächelte nervös zurück. »Danke! Ich kann stehen! Kein Problem.«

Ich deutete auf die Couch vor dem Erker. »Wenn du dich dort hinsetzt, kannst du den Eingang im Blick behalten und sehen, wenn Sean kommt.« Ha! War ich nicht genial?

Sie nahm brav Platz, was nun offensichtlich kein Problem mehr für sie war, und ich hängte ihren Mantel über eine Stuhllehne.

»Ich mache uns Tee!«, verkündete ich, ohne lange zu fragen, ob sie einen wollte, denn ich kannte ja bereits ihre Antwort auf alles.

In der Küche flüsterte James: »Wer ist das?«

»Keine Ahnung!«, antwortete ich ebenso leise. »Ich weiß nur, dass sie zu Sean will. Wenn sie eine Trickbetrügerin ist, muss sie besonders gerissen sein, denn so echt muss man das verschreckte Häschen erst einmal spielen können.«

»Da habe ich auch keine Bedenken. Setz dich zu ihr. Ich mache den Tee.«

»Danke! Nett von dir!«

»Die Rechnung lege ich dazu. Zahlbar ohne Abzug innerhalb von vierzehn Tagen.«

Ich setzte mich zu Sarah, die angestrengt aus dem linken Erkerfenster blickte. »Hattest du einen Unfall?«, fragte ich mehr aus Einfallslosigkeit als aus Neugier.

»Ja, ich bin gestern versehentlich ihn einen wütenden Ehemann gelaufen«, antwortete sie und sah weiter nach draußen, als hätte sie gerade lediglich über das Wetter geplaudert.

Ich war geschockt und schämte mich zutiefst für meinen ersten Eindruck von ihr. »Es tut mir sehr leid!« Mehr fiel mir in dem Moment nicht ein.

»Kein Problem.« Sie blickte weiterhin aus dem Fenster. »Die Ärztin meinte, ich solle ihn verlassen, bevor er mir nicht nur einen Arm verstaucht, sondern beide Arme bricht. Da hat sie natürlich recht. Denn wer würde mir dann im Bad helfen? Er bestimmt nicht.« Sie lächelte bitter. »Ist das Sean?«

»Ja. Bleib hier. Ich sage ihm Bescheid und helfe dir mit dem Gepäck.« Ich stand erleichtert auf und ging ihm entgegen. Die Kaltblütigkeit, mit der sie mir das erzählt hatte, erschreckte mich. War sie traumatisiert und betrachtete sich und ihre Umstände aus einer schützenden Distanz? Oder hatte sie nur mit allem endgültig abgeschlossen?

Als ich die Haustür öffnete, hatte Sean gerade den Schlüssel ins Schloss stecken wollen und hielt ihn auf Schlüssellochhöhe in der Hand. Sein verdutztes Gesicht war fünf Pfund wert.

»Sarah ist hier«, begrüßte ich ihn.

»Sarah?«

»Sie sitzt bei uns mitsamt ihrem Gepäck. Du hast sie eingeladen?«

»Oh, Sarah!« Er schien sich zu freuen. »Ja, ich habe sie vor etwa zwei Jahren eingeladen. Schön, dass sie endlich gekommen ist.« Er ging an mir vorbei in unsere Wohnung.

»Tut mir leid. Ich war joggen«, sagte er zu ihr.

»Kein Problem«, antwortet Sarah und streckte ihm den bandagierten Arm entgegen. »Ich war boxen.«

Sean schnappte sich den riesigen Koffer und ich mir die Reisetaschen. Wir brachten das Gepäck zusammen mit seiner Besitzerin nach oben.

»Danke!«, sagte sie lächelnd. »Tut mir leid. Ich stehe heute ziemlich neben mir.«

»Kein Problem«, antwortete ich freundlich und ging zurück in unsere Wohnung. War die Formulierung ansteckend?

Dort brachte James gerade den Tee. »Zu spät!«, stellte er lapidar fest.

»Ja, das gibt kein Trinkgeld. Ihr Engländer lasst euer Gebräu auch definitiv zu lange ziehen für diese schnelllebige Zeit heutzutage.«

***

Socks zuckte bei Sarahs Anblick zusammen. Er wusste noch aus seiner Kindheit, wie ein Faustabdruck in einem zarten Frauengesicht aussah: Auf jeden Fall anders als der berühmte Türabdruck, der so oft verschämt als Ausrede präsentiert wurde.

Schämen sollte sich allein das Arschloch, das so etwas tut, dachte er, und bot Sarah den Stuhl zwischen Maggie und Lou an, auf dem Darrel normalerweise saß. Der brachte gerade den großen Topf aus der Küche und setzte sich wie selbstverständlich rechts neben Lou.

Als alle Platz genommen hatten und Maggie anfing, den Eintopf auf die Teller zu schöpfen, die weitergegeben wurden, erklärte Sean lediglich: »Das ist Sarah. Unsere Mütter waren Cousinen, und meine Großmutter war ihre Patin. Sie wird eine Weile in unserem Gästezimmer leben, bis sie hier Arbeit als Pflegerin und ein Zimmer im Schwesternwohnheim gefunden hat. Ich fange mal links an: Das sind Dylan und Socks, die im zweiten Stock wohnen, James und da drüben Darrel und Lou. Die drei wohnen hier.«

Alle sagten freundlich: »Hi!«

Sarah lächelte schüchtern.

Sean wechselte abrupt das Thema. »Versucht bitte, euch den ersten Samstag im Dezember freizunehmen. Oder zumindest ab Nachmittag. Gerry hat angerufen und uns die Bühne angeboten.«

»Er ruft dich an? Braucht er schnell Ersatz?«, fragte Dylan.

»Inzwischen hat sich eben herumgesprochen, dass uns keiner will und wir immer Zeit haben, um irgendwo einzuspringen«, erklärte Socks.

»Oder ihm ist langweilig, und er hat Sehnsucht nach einem Polizeieinsatz.« Darrel lächelte unschuldig.

»Jetzt im Winter kann er die Fenster geschlossen halten. Ich glaube, im Sommer treten wir da so schnell nicht mehr auf.« Sean wandte sich schmunzelnd an Sarah. »Die Rabauken und ich spielen in einer Band, und es gab in Gerrys Pub mal Beschwerden aus der Nachbarschaft, wir seien zu laut. Das waren aber gar nicht wir gewesen, sondern eine Gruppe Chaoten im Publikum, die ganz hinten im Takt Stühle auf den Boden gedonnert hatten.«

»Mehr oder weniger im Takt! Ich bin zwar kein guter Schlagzeuger, aber so mies hört sich mein Getrommel auch wieder nicht an. Will ich nur mal anmerken.« James zwinkerte Sarah zu, die schüchtern lächelte.

»Welche Instrumente spielt ihr anderen?«, fragte sie.

»Sean spielt Bassgitarre, Dylan Geige, Darrel Banjo«, erklärte Socks. »Dylan und Darrel singen zwar auch ab und zu ein bisschen mit, aber ansonsten führe ich sozusagen das große Wort, weil ich zu dusselig bin, Gitarre und Mikrofonständer zu koordinieren. Zum Nachteil der Leute in den vorderen Reihen. Aber es gab weder Personen- noch Sachschäden. Nur viel Gelächter auf meine Kosten. Und es dauerte ein wenig, bis die Fieslinge das Mikrofon wieder herausrückten.«

»Man nutzte die Gelegenheit, eine gegnerische Fußballmannschaft zu beleidigen«, ergänzte Darrel. »Zum Glück waren deren Anhänger nicht anwesend, sonst hätten wir denen fairerweise auch eines geben müssen. Von wegen Chancengleichheit beim Pöbeln und so weiter.«

»Sean drehte ihnen ganz cool den Saft ab, und die Sache war vom Tisch.« Dylan lächelte Sarah freundlich an.

»Gehen wir nachher noch etwas trinken?«, fragte Socks.

»Wir drei Parterrelinge gehen heute ins Theater. Sorry!« James zuckte entschuldigend mit den Schultern, strahlte aber vor lauter Vorfreude. »Deshalb essen wir heute auch früher als sonst.«

»Igitt! Kultur!« Socks schüttelte sich angeekelt.

»Wenn wir so viele Bakterienkulturen in unserer Küche hätten wie ihr, bräuchten wir das auch nicht«, erklärte Lou mit Unschuldsmiene.

»Hast du Lust, etwas trinken zu gehen?«, wandte sich Sean an Sarah.

»Ja. Kein Problem.«

»Wir können uns auch hier ein bisschen zusammensetzen und Socks und Dylan allein losziehen lassen. Die finden bestimmt bald Gesellschaft.«

»Nein, kein Problem.« Sarah lächelte schüchtern.

»Ich will kein Spielverderber sein, aber wenn ihr ins Theater wollt, müsst ihr euch bald mal umziehen«, ermahnte Maggie die drei.

»Wieso? Wir stehen dort doch nicht auf der Bühne.« Darrel sammelte die Teller ein und brachte sie in die Küche.

»Ich muss gestehen, dass ich in London noch nie im Theater war«, gab Maggie kleinlaut zu. »Motzt man sich da nicht auf?«

»Doch! Ich habe extra meine besten Jeans angezogen. Das fällt bloß wieder keinem auf.« James markierte einen Weinkrampf.

»Sarah ist merkwürdig«, stellte Dylan am nächsten Morgen fest. Er stand in der Schlafanzughose und mit seinem Becher am Wohnzimmerfenster und pustete auf den Kaffee, bevor er vorsichtig einen kleinen Schluck nahm. Draußen regnete es in Strömen.

Socks probierte seinen Milchkaffee gar nicht erst, sondern ließ ihn in der Küche zum Abkühlen stehen. Stattdessen stürzte er kurzerhand ein volles Glas Leitungswasser die Kehle hinunter und setzte sich anschließend auf einen der Matratzenstapel. »Wieso?«

»Den ganzen Abend hörte sie lächelnd zu und sagte selbst keinen Ton.«

»Wie denn? Wir ließen sie ja nicht zu Wort kommen.«

»Wenn ich den Arm so dick bandagiert hätte, würde ich ständig Witze über den Unfall reißen.«

»Auch dann, wenn dich deine Partnerin krankenhausreif geschlagen hätte?«

»Was?«

»Nenn mir eine Unfallart, bei der man sich das linke Handgelenk verstaucht und das rechte Auge kreisrund stößt. Der Gegenstand muss noch erfunden werden, der sowas hinterlässt. Und warum sucht sie sich ausgerechnet am nächsten Tag Arbeit und Unterkunft?«

»Also flirten verboten?«

»Lass sie in Ruhe. Das Allerletzte, was sie momentan braucht, sind Typen wie wir.«

»Maggie würde uns ohnehin was husten.«

»Das kommt erschwerend hinzu.«

***

Darrel und Socks arbeiteten im Proberaum am Song Great Marlborough Street, der bei der Bandprobe anscheinend irgendwelche Zicken gemacht hatte, und dessen Intro laut Darrels Aussage nun so lange gewürgt werden musste, bis es freiwillig kapitulierte. Eigentlich hatte ich mir früher solche kreativen Prozesse als wesentlich sensiblere Momente vorgestellt, aber damals kannte ich auch Socks noch nicht.

Draußen trommelte der Regen gegen die Scheiben des Erkers. Drinnen hatten James und ich die Eckcouch für uns und lümmelten dort ganz bequem herum. Ich las zum gefühlt zehnten Mal Northanger Abbey und musste trotzdem ständig schmunzeln. Manche Bücher brauchte ich einfach einmal im Jahr für mein inneres Gleichgewicht. Er hatte sich ein Foto aus dem Internet ausgedruckt und arbeitete an einer Zeichnung des Albert Memorials, bei dem ein Blitz einschlug und die opulenten Verzierungen gleich brockenweise wegsprengte. Es hatte eben jeder so seine Hobbys.

Ich fühlte mich seit einer Weile beobachtet. »Sag mal, du zeichnest mich jetzt aber nicht, oder?«

»Eindeutig: oder.«

»Och, nö! Lass das!«

»Stell dich nicht so an und halt still! Sonst verpetze ich dich bei Darrel.«

»Der hat keine Zeit, deinen Klagen Gehör zu schenken. Er würgt gerade entweder einen Song oder Socks. So ganz habe ich das nicht verstanden.«

»Vermutlich in der Reihenfolge. Er wird die Zeichnung lieben! Du lächelst so amüsiert. Das muss ich unbedingt einfangen.«

»Fang lieber die Brocken des Albert Memorials ein, bevor sie hier noch durchs Zimmer fliegen und die Fenster zertrümmern.«

»Ja, es sieht nicht gut aus für die Scheiben der benachbarten Royal Albert Hall. Um diese Schadensdokumentation kümmere ich mich nachher.«

»Jetzt dokumentierst du erst einmal meine optischen Schäden?«

»Der einzige Schaden, den du hast, ist der in deinem Selbstwertgefühl, und den kann man nicht dokumentieren. Dafür reicht mein Skizzenbuch nicht. Ja, genau so musst du lächeln. Bleib so. Was machst du denn schon wieder? Nicht die Hand vor den Mund halten beim Lachen! Mann, du bist ja noch schwerer zu zeichnen als Socks!«

»Ich liege hier ganz still.«

»Ja, aber deine Mimik tanzt Polka. Lies weiter, grins dabei und stör mich nicht beim Arbeiten! Nein! Hör auf zu lachen! Lächeln sollst du, und nimm die Hand da weg! Dass man dir alles zweimal sagen muss!« Er mimte ein verzweifeltes Gesicht und wartete nur darauf, dass ich weiterlas. Ich drehte ihm den Rücken zu und nahm mir mein Buch wieder vor.

»Spielverderber!«

»Kümmere dich um die Royal Albert Hall. Die Versicherung erwartet morgen deinen ausführlichen Bericht.«

»Ich kann auch aus dem Gedächtnis zeichnen«, drohte er. »Ich warne dich! Das wird richtig übel!«

»Echt? Zeig mal!«

»Rutsch her.«

Ich setzte mich neben ihn und betrachtete staunend einen zerknitterten Drummer mit Hängebacken, der wild auf sein Schlagzeug eindrosch. Das war Lennard von Arthur’s Wharf, wie er leibte und lebte. Auf der folgenden Seite stand er mit traurigem Gesicht und offener Hose da und hielt einen völlig überdimensionierten Knopf hoch.

Als Nächster war ein sichtlich gealterter Nick an der Reihe, der ein großes Stück vom Mikrofon abgebissen hatte und auf beiden Backen kaute. James hatte auf der Tour ganz offensichtlich viel Freizeit gehabt oder wenig geschlafen.

»Du bist ein Genie, James.« Ich sagte ihm das ganz ruhig und sachlich, weil er das immer nur als Hobby abtat.

»Und du hast wunderschöne Augen und ein umwerfendes Lächeln. Also lassen wir das Thema lieber, bevor wir uns den ganzen Nachmittag streiten, wer Unrecht hat.« Er lachte.

Ich blätterte weiter, und sein Lachen erstarb. Eine Bleistiftzeichnung im Querformat: Ein sanft lächelnder Andy im Bett, der den Kopf mit der rechten Hand abstützte und den linken Arm locker auf der Decke liegen hatte, die seine nackte Brust umspielte. Es war keine Karikatur. Andy hatte Modell gelegen.

James nahm mir das Skizzenbuch aus der Hand, schlug es zu und ging auf sein Zimmer.

Nun begriff ich, wen Dylan auf der Tour eines Nachts an Andys Zimmertür gesehen hatte. Hatte mir James die Zeichnung zeigen wollen, oder war es ein Versehen gewesen? Er musste doch wissen, dass sie an dieser Stelle zu finden war. Und eigentlich war nichts dabei. Wozu die Heimlichtuerei? Ich versuchte, mich wieder auf mein Buch zu konzentrieren, aber meine Gedanken schweiften ständig ab.

Nach einer Weile kam James zurück. »Darf ich an deinen Computer? Ich brauche die Royal Albert Hall für einen Meteoriteneinschlag und will die zwei im Proberaum nicht stören.«

»Gern! Ich habe aber keinen Drucker.«

»Macht nichts. Dann setze ich mich an den Schreibtisch.«

Ich wartete, bis der Rechner hochgefahren war und gab mein Passwort ein. Während er nach einem Foto suchte, nahm ich mir mein Buch vor, aber die Stimmung war dahin. Lustlos schlug ich es zu und sah mich in meinem Regal neben dem Schreibtisch nach einer anderen Lektüre um.

Ich zuckte zusammen, als James anfing zu erzählen: »In Sheffield haben Darrel, Andy und ich uns vor dem Hotel den Sternenhimmel angesehen.« Er starrte dabei auf die noch immer leere Seite seines Skizzenbuchs.

Ich setzte mich auf die Schreibtischkante und hörte ihm zu.

»Hier in London ist es dafür viel zu hell, aber dort am Stadtrand konnte man die Sterne erkennen. Darrel ging bald hinein, um dich anzurufen, aber wir blieben draußen auf dem Mäuerchen sitzen, bis ich mir fast den Hintern abfror. Wir rätselten, welche Sternbilder das waren, obwohl wir beide keinen blassen Schimmer hatten. Da erfanden wir einfach welche und gaben ihnen bescheuerte Namen. Das war alles. Die folgenden Nächte waren wir an verschiedenen Orten untergebracht und sahen uns nur im Vorbeigehen. Erst wieder in Newcastle waren wir im selben Hotel. Ich blieb nach unserer Rückkehr draußen stehen und schaute mir den Himmel an. Bescheuert! Er war komplett wolkenverhangen. Der Van mit Arthur’s Wharf kam, Andy stieg aus und ging mit ihnen rein. Ich dachte, das war’s, aber er kam kurz darauf zurück. Wir plauderten über dies und das. Er freute sich, dass es Darrel gut ging, und sagte ein paar nette Sachen über dich. Ich meinte, dass es sicher schön ist, wenn einen jemand nach so einem Gig einfach mal in den Arm nimmt, und er tat es. Er umarmte mich. So fing es an. Später gestand er mir, dass er bereits in Sheffield ein paar Umbuchungen veranlasst hatte, um so oft wie möglich bei uns im Bed & Breakfast statt bei Arthur’s Wharf im Hotel einquartiert zu sein. Das hatte für die zwei Nächte vor Newcastle nur nicht mehr geklappt.«

»Seid ihr zusammen?« Schon während ich die Frage stellte, wurde mir klar, wie tief ich damit im Fettnapf stehen musste. Er war seither die ganzen Wochen entweder zu Hause, bei der Arbeit oder mit uns unterwegs gewesen und hatte auch nie länger telefoniert.

»Am Tag nach unserer Rückkehr rief er mich an, um mir mitzuteilen, dass er zu alt für mich sei und dass das alles ein Fehler gewesen sei. Und das war’s.« James hatte Tränen in den Augen.

»Was hast du geantwortet?«

»Nicht viel. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.«

»So alt ist er doch noch gar nicht.«

»Auf seiner Website fand ich seinen Lebenslauf. Er ist neununddreißig.«

»Und du?«

»Siebenundzwanzig.«

»Ruf ihn an und sag ihm, dass das Blödsinn ist.«

»Wenn du das so sagst, klingt es einfach.« Er sah mich an und lächelte bitter.

»Es ist einfach. Entweder tischt er dir dann eine neue Ausrede auf, oder es ist das, was er eigentlich von dir hören wollte. Nur weil er älter ist als du, ist er nicht automatisch selbstsicherer als du.«

»Ich habe seine Nummer nicht mehr. Ich habe sie gelöscht, um ihm besoffene Anrufe zu ersparen.«

»Mit Alkohol kann ich dir nicht dienen, aber ich habe seine Nummer noch gespeichert.«

»Woher hast du die?«

»Socks gab sie mir, damit mir Andy die Adresse des Hotels nennen konnte. Es ist wahrscheinlich seine Geschäftsnummer und nicht die private, aber er schaltet das Telefon sicherlich auch sonntags nicht aus. Probier’s einfach.« Ich suchte auf meinem Mobiltelefon die Nummer heraus und hielt es James hin.

»Und was soll ich ihm sagen?«

»Dass du ihn vermisst und dass das Jahr auf deiner Geburtsurkunde nur ein Druckfehler ist.«

»Und dann?«

»Dann weißt du, woran du bist.«

»Vielleicht will ich das gar nicht wissen.«

»Nein, natürlich nicht. Du willst lieber mit Aquarellstiften halb London in Schutt und Asche legen.«

Er nahm zögerlich das Mobiltelefon, das ich ihm hinhielt. »Ich überlege es mir.«

»Gut.«

Er ging auf sein Zimmer, und ich nahm mir doch wieder Northanger Abbey vor. Für mein inneres Gleichgewicht.

Wenig später kam er zurück und drückte mir lächelnd mein Telefon in die Hand. Er hatte sich umgezogen und trug eine Jacke und Straßenschuhe. »Bleib nicht auf, Mum!«, rief er mir zu und schloss die Wohnungstür schwungvoll hinter sich.

Die Royal Albert Hall war noch einmal glimpflich davongekommen.

Etwas später kam Darrel strahlend zur Tür herein, zog mich von der Couch hoch und tanzte mit mir einen extrem schnellen Walzer durchs Wohnzimmer. Natürlich ging das schief, weil ich nie einen Tanzkurs besucht hatte, und wir landeten postwendend knutschend auf der Couch.

»Du kannst eindeutig besser küssen als tanzen«, stellte er kurz darauf sachlich fest.

»Wie geht es eurem Song?«

»Dem geht es gut. Erinnere mich bitte nachher daran, dass ich noch Socks’ zerstückelte Leiche im Hinterhof verscharren muss. Momentan ist es dafür zu hell. Was würden die Nachbarn denken?«

»Hast du deine blutige Kleidung in die Brenntonne gesteckt?«

»Habe ich! Und sogar angezündet! Schließlich lernt man während fünfzehn Jahren Knast aus seinen Fehlern. Wo ist James?«

»Warum? Kann der besser tanzen als ich?«

»Sie antwortet ausweichend! Hat sie doch tatsächlich Geheimnisse vor mir! Und das mit anderen Männern!«

»Er ist heute den ganzen Abend unterwegs. Ich werde nachher mal anhand der Zutaten erraten, was er kochen wollte, oder einfach alles in den Topf werfen. Kommt auf dasselbe heraus.«

»Oh, sie macht mir die Hose auf! Da muss ich wohl ran an die Arbeit! Hat man in dem Haus denn nie seine Ruhe?«

»Das mache ich nur aus Langweile. Was anderes fällt mir nicht ein bei dem blöden Wetter.«

»Langweilen nennt man das jetzt? Ich kenne mich nicht aus mit der Jugendsprache. Dann komm ins Bett und langweile mich um den Verstand!«

***

»Ist eigentlich bekannt, wo sich James herumtreibt?« Sean blickte im Proberaum fragend in die Runde.

»Nope! Aber Lou scheint es bekannt zu sein«, antwortete Darrel und nahm das Banjo aus dem Koffer. »Versuchen wir es heute zur Abwechslung mal ohne Schlagzeug.«

»Wie? Der kommt gar nicht?« Dylan stimmte gerade seine Geige und machte ein verdutztes Gesicht.

»Kein Problem! Ich kann klatschen!« Socks patschte wie ein Kleinkind die Hände gegeneinander und grinste dümmlich.

»Mag ja sein, dass du klatschen kannst, aber du musst auch den Takt halten.« Sean lachte.

»Wenn ich klatsche, kann ich nicht auch noch etwas halten. Ich habe nur zwei Hände.«

»Moment! Ich habe da doch noch ein Stück aus meiner Kindheit!« Sean verschwand in dem kleinen Raum, in dem der Computer stand, zog nacheinander verschiedene Kartons aus dem Regal und öffnete sie.

»Hilfe! Opa holt die alten Andenken heraus und erzählt vom Krieg!« Socks patschte sich beide Hände zur Abwechslung an die Stirn.

»Wir können doch einfach alle mit den Füßen wippen«, schlug Darrel vor.