Darrel & Lou - Mit der Gitarre nach Kensington - Louise M. Moran - E-Book

Darrel & Lou - Mit der Gitarre nach Kensington E-Book

Louise M. Moran

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Beschreibung

Lou lebt seit einem halben Jahr in London und hat gelernt, sich am Arbeitsplatz in einer Männerwelt zu behaupten. Eines Abends trifft sie auf der Straße Darrel, der sich Hals über Kopf in sie verliebt. Nach kurzem Zögern erwidert sie seine Gefühle. Socks, der Sänger der Band Hamlet's Mates, beobachtet die Romanze seines Bandkollegen, die im weiteren Verlauf alle Geschwindigkeitsrekorde zu brechen scheint, und macht sich Gedanken. Kann das auf Dauer gut gehen? Denn hinter den witzig-frechen Wortgefechten verbergen sich die Schatten der Vergangenheit. Eine humorvolle und bittersüße Geschichte über Liebe, Freundschaft und die Leidenschaft für die Musik.

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Inhalt

Begegnungen in Soho

Mit der Gitarre nach Kensington

Nachlese

Verstand und Gefühl

Chancen und Pannen

Feuer und Wasser

Goodbye, London

Einsamkeit

Finden und suchen

1. Begegnungen in Soho

Für dich!« Julia hielt mir mit einem strahlenden Lächeln einen Becher Tee unter die Nase. Fast hätte ich danach gegriffen. Gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, dass er sicher viel zu heiß zum Anfassen war.

Ich bat sie, ihn auf den Küchentisch zu stellen, bedankte mich artig und setzte mich notgedrungen zu ihr. Wenn Julia anderen einen Gefallen tat, wollte sie etwas. Mit gemischten Gefühlen schielte ich verstohlen zu ihr hinüber.

Bitte, bitte, sag nicht, dass ich mir eine Wohnung suchen soll, flehte ich in Gedanken. In London war das ein schier aussichtsloses Unterfangen. Meine deutsche Staatsangehörigkeit machte die Suche alles andere als einfacher.

Ich wollte ja ausziehen, weil die winzige Zweizimmerwohnung tatsächlich auf Dauer zu eng für zwei so völlig verschiedene Wesen wie Julia und mich war.

Doch selbst bei meinem Gehalt als Softwareentwicklerin stellte ich mich darauf ein, noch eine ganze Weile ein Dasein als Untermieterin führen zu müssen. Ich hatte in London bei null angefangen und wollte mich nicht leichtfertig in Schulden stürzen.

Ein größeres Zimmer wäre jedoch schön. Und ein Wohnzimmer, das man mitbenutzen konnte. Auf den jetzigen geschätzt zwölf Quadratmetern hatte ich mich inzwischen ordentlich festgewühlt. Aber nach einer harten Arbeitswoche fehlte mir meist die Lust, mich zu Wohnungsbesichtigungen anzustellen, nur um am Ende doch wieder leer auszugehen. Einen Makler konnte ich mir nicht leisten. Eine von Maklern vermittelte Wohnung wohl erst recht nicht.

Julia blätterte in einer Zeitschrift und schwieg. Nervös blickte ich abwechselnd auf die Uhr und auf die ausgefranste Spitze ihres glänzenden Morgenmantels.

Eigentlich war ich schon fix und fertig und wollte zur Bushaltestelle. Aber wenn einem die seltene Ehre einer von einer Schwarzteetrinkerin eigens mit viel zu heißem Wasser aufgebrühten, viel zu starken und viel zu lange ziehen gelassenen Tasse Grüntee zuteilwurde, gebot es sicherlich die Höflichkeit, ihn auch zu trinken. Ich pustete auf das säuerlich riechende Gebräu, wohl wissend, dass das nichts brachte.

»Hast du heute Abend schon was vor?«, fragte sie unvermittelt.

Darauf war ich nicht vorbereitet. Was sollte das? Wollte sie mir mal wieder unter die Nase reiben, dass sie einen wahnsinnig tollen Freund hatte und ich keinen? Oder wollte er womöglich hier einziehen? Hilfe!

»Wir bekommen den Schlüssel für die Waschküche. Ich werde mich also nach der Arbeit um meine Wäsche kümmern«, antwortete ich das Nächstbeste, das mir einfiel.

Ein irritierter Blick von ihr ließ Panik in mir aufsteigen.

»Soll ich deine Sachen mit reinstecken?«, bot ich an, um sie milde zu stimmen. Dabei war mir klar, dass sie das nicht vom Rauswurf abhalten würde. Verdammt!

»Du bist langweilig.«

»Stimmt!« Ich nahm geistesabwesend einen Schluck aus der Tasse, verbrühte mir die Zunge und versuchte tapfer, mir nichts anmerken zu lassen.

»Wir könnten was trinken gehen.«

Ich hatte mich wohl verhört. Sie und ich etwas trinken? Ich wohnte seit einem halben Jahr bei ihr, und wir waren noch nie zusammen ausgegangen.

Kurz nach meinem Einzug hatte ich sie auf einen Drink einladen wollen, um einander besser kennenzulernen, aber sie hatte es so lange verschoben, bis ich es nicht mehr zu erwähnen gewagt hatte.

War ihr Vorschlag ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Wollte sie mich nun endlich kennenlernen, oder wollte sie kurz vor Schluss den letzten ausstehenden Punkt abhaken?

»Ich trinke nicht«, antwortete ich mechanisch.

»Das sehe ich!« Sie blickte auf meinen Becher und lachte. »Ich will mit dir kein Besäufnis veranstalten, sondern nur mal an einem ganz normalen Freitagabend etwas trinken gehen. Okay? Bestell meinetwegen eine Cola.«

»Ja, gern!«

»Ruf mich an, wenn du Feierabend hast!« Sie schenkte mir wieder ihr strahlendes Lächeln, an dem die Augen wie immer nicht beteiligt waren, schnappte sich meinen Becher, ging zum Schrank, goss den Inhalt in meinen Thermobecher für unterwegs und überreichte ihn mir mit einer lässigen Handbewegung. Die Audienz war beendet.

***

Socks schnippte mit einer eleganten Handbewegung die Asche auf den Bürgersteig. Es störte ihn nicht im geringsten, dass Darrel und James Nichtraucher waren und trotzdem draußen an den winzigen Stehtischen unter dem Vordach herumlungern mussten, damit Dylan und er ihrer Sucht frönen konnten.

Die beiden schien es auch nicht zu stören. Es war für Anfang August abends sehr kühl, und man wärmte sich von innen. Darrel hatte schon ordentlich einen im Tee und zappelte wild herum.

»Wenn er jetzt noch anfängt, Luftgitarre zu spielen, müssen wir aufpassen, dass er nicht unter ein Auto kommt«, raunte James seinen Freunden zu.

»Das macht nur sanft plopp-plopp. Der Fahrer hält ihn im Rückspiegel für einen umgefallenen Müllsack und fährt weiter.« Socks nahm grinsend einen großen Schluck.

»Zum Glück ist er oben beleuchtet«, spielte Dylan auf Darrels rotblonde Locken an. »Bei seinen dunklen Klamotten müssten wir ihm sonst Reflektoren auf die Stirn tackern.«

»Ich kann euch hören!« Darrel lächelte gutmütig.

»Sehr gut! Ein gutes Gehör ist eine Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Banjospieler.«

»Ich will das verdammte Teil gar nicht spielen. Aber mich hat ja keiner gefragt.« Darrel hielt verdutzt inne und starrte ins Leere.

James griff schon nach ihm, um ihn zu packen und von der Straße wegzuziehen, aber Darrel wich aus und steuerte ein nur ihm bekanntes Ziel an.

»Was ist jetzt los?« Socks hatte sich gerade eine frische Zigarette angezündet und gab Dylan Feuer.

»Keine Ahnung!« James linste an den sich vor dem Pub zusammengedrängten Rauchern vorbei und sah weiter hinten die Locken in der Abendsonne leuchten. »Er quatscht zwei Frauen an.«

»Echt jetzt? Darrel?«

»Ja.«

»Glaub ich nicht.«

»Wenn ich’s dir sage.«

»Und?«

»Na, du hörst es doch: Sie lachen lauthals.«

»Armer Kerl!« So gern er Darrel aufzog, empfand Socks echtes Mitgefühl. Als Mann eins siebzig groß zu sein, war sicherlich kein Spaß. Freunde zwischen eins achtzig und eins fünfundneunzig zu haben, machte die Sache nicht besser.

Die beiden jungen Frauen kamen an ihnen vorbei und betraten den Pub. Die eine hatte nicht nur die Größe, sondern auch das Aussehen eines Fotomodells. Die andere war die typische Durchschnittsfrau, die das Klischee erfüllte, dass jede schöne Frau eine kleine, graue Maus im Schlepptau hat, die durch den Kontrast die Schönheit unterstreicht.

Darrel schlenderte mit hängenden Schultern und mehreren Metern Abstand hinterher.

»Was war das?« James‘ Miene zeigte echtes Mitgefühl.

»Sie meint, ich sei entweder betrunken wie ein Seemann oder kurzsichtig oder beides«, antwortete Darrel leise.

»Warum?«

»Ich habe ihr nur gesagt, dass sie wunderschön ist.«

Socks, Dylan und James sahen einander ratlos an. Wie erklärte man dem armen Kerl, dass die Lady eine Nummer zu groß für ihn war? Wortwörtlich.

»Fishing for compliments!« Socks klopfte Darrel auf die Schulter. »Das doofe Stück hätte sich ja auch einfach bedanken können, statt so pseudobescheiden zu tun. Ich kenne keine gutaussehende Frau, die nicht weiß, dass sie gut aussieht. Also was soll der dumme Spruch?«

»Vielleicht war ihr das zu direkt und ihr fiel nichts Besseres ein auf die Schnelle«, gab Dylan zu bedenken. »Klar hören Frauen gern Komplimente, aber ein bisschen holterdiepolter war das doch.«

Darrel schwieg und blickte zu Boden.

»Das nächste Mal stellst du dich vor und fragst sie, ob du ihr einen Drink ausgeben darfst.« James hätte bei seinem großväterlichen Rat fast serös gewirkt, wenn er dabei nicht ganz leicht gelallt hätte. »Meine Runde. Was wollt ihr trinken? Bier?«

»Es gibt kein nächstes Mal«, sagte Darrel leise. »Und für mich bitte einen Orangensaft.«

»Weise Entscheidung!«, meinte Socks. »Wartet kurz! Wenn ich die zu Ende geraucht habe, könnten wir eigentlich mal schauen, ob wir drinnen noch einen Tisch bekommen. Ich friere mir hier langsam den Hintern ab.«

»Du willst jetzt aber nicht die große Doofe anquatschen?«, raunte ihm James zu. »Dann klemme ich mir nämlich Darrel unter den Arm und bringe ihn nach Hause. Der hat von allem mehr als genug.«

»Ich will sie nur an unseren Tisch lotsen. Wenn er ihr Kunstlächeln und Gezicke aus nächster Nähe erlebt, ist er nach fünf Minuten kuriert«, flüsterte Socks zurück.

»Wenn er vorher nicht aus Versehen unter den Tisch rutscht und sie sich belästigt fühlt.«

»Pack ihn eben rechtzeitig am Kragen und zieh ihn hoch.« Socks drückte seine Zigarette aus. »Alles klar, Guys, wir gehen da jetzt rein!« Mit der Geste eines Feldherrn wies er seinen Freunden den Weg und passte als Letzter in der Reihe auf, dass Darrel nicht auf die Straße stolperte.

Während James die Getränke bestellte, suchten Dylan und Darrel einen Tisch.

Socks sah sich nach den zwei Frauen um und fand sie – bei den Nerds. Das ging ja mal gar nicht! Er, der Oberclown der Clowns und gleichzeitig die Coolness in Person, konnte nicht zulassen, dass diese Blondine einen seiner besten Freunde abblitzen ließ, um sich in aller Ruhe mit den Streifenhemdträgern zu unterhalten, die hier gelegentlich den Arbeitstag in Bier ertränkten.

Bei genauerer Betrachtung schien sie sich aber zu langweilen. Das Gespräch fand in erster Linie zwischen ihrer Begleiterin und den Typen statt. Das war seine Chance!

Mit wenigen Schritten war er an dem Tisch, den seine Freunde gerade okkupiert hatten, und beugte sich zu Darrel hinunter. »Was bekomme ich, wenn ich die Lady herhole und neben dir platziere?«

Nach kurzen Verhandlungen schlenderte er lässig zu ihr hin und lächelte sie leicht schräg an, was sein Gesicht noch attraktiver wirken ließ, wie er in jungen Jahren vor dem Spiegel herausgefunden hatte. »Hi, ich bin Sam. Aber alle nennen mich Socks. An unserem Tisch fehlt definitiv die weibliche Note. Habt ihr zwei Lust, euch zu uns zu setzen?«

»Ich bin Julia«, hauchte sie und lächelte huldvoll.

***

Julia hatte sich nach einem kurzen Abstecher zu einem China-Schnellimbiss und langem Hin und Her für einen Pub in Soho entschieden. Warum auch immer.

Eigentlich war ich nach dem anstrengenden Arbeitstag ehrlich erschöpft und wollte nur nach Hause, die Waschmaschine starten und mich mit einem Buch ins Bett verziehen, aber andererseits war ich auf ihr Wohlwollen angewiesen. Mit gemischten Gefühlen trottete ich neben ihr her und fragte mich noch immer bange, was sie von mir wollte.

Außerdem kam ich mir blöd vor mit dem kleinen Lederrucksack, den ich als Handtasche benutzte. Fürs Büro war er praktisch, weil er geräumig genug für den in London obligatorischen Taschenschirm, die Wasserflasche und ein Sandwich war. Aber abends beim Ausgehen wirkte er mehr wie ein BUKo. Ein Beischlaf-Utensilien-Koffer für Professionelle oder völlig Verzweifelte, die auf alle Eventualitäten vorbereitet sein wollten.

Wir bogen in eine Seitenstraße ein, deren Bürgersteig gerammelt voll war mit Leuten, die auf gewisse Weise alle gleich aussahen: fahle Gesichter im Schein der untergehenden Sonne, dunkle Klamotten, in der einen Hand ein Glas und in der anderen eine Zigarette.

Wie aus dem Nichts tauchte ein gutaussehender Typ vor mir auf, schenkte mir ein strahlendes Lächeln, bei dem ich normalerweise in die Knie gegangen wäre, und erklärte mir, ich sei wunderschön. Vermutlich eine Wette.

Ich drückte ihm automatisch einen Spruch von wegen Suff und/oder Knick in der Optik rein und schlängelte mich elegant an ihm vorbei, während Julia in ihr berühmtes Gelächter ausbrach, das mich immer an eine Herde Ziegen erinnerte.

Im Pub wartete die nächste Überraschung: Ein paar meiner Kollegen standen um einen Stehtisch herum und sahen mich leider, bevor ich mich unsichtbar machen konnte. Ach, was hielt man sich für witzig! Irgendetwas gab es bei dem Projekt, an dem sie arbeiteten, zu feiern. Vielleicht dachten sie sich aber auch jeden Abend einen Vorwand zum Saufen aus.

Allein hätte ich mich sicher schnell dünnmachen können, aber Julias Anwesenheit sorgte für allgemeines Entzücken, und man versuchte, sie mit beruflichen Erfolgen und Insiderwitzen zu beeindrucken. Dass sie von dem verwendeten Vokabular vermutlich nicht einmal die Hälfte verstand, schien den Herrschaften nicht bewusst zu sein. Wo war denn nur ein freier Stehtisch, gegen dessen Platte ich meinen Kopf schlagen konnte?

Mein rettender Engel hatte sich eine merkwürdige sterbliche Hülle ausgesucht. Plötzlich stand ein ellenlanger Typ mit dunklem Wuschelkopf neben mir, der eifrig auf Julia einredete.

Sie schenkte ihm ihr extratoll strahlendes Lächeln, und endlich kapierte ich es! Sie war nicht mehr mit ihrem sensationellen Freund zusammen, dessen Name ich mir, Schande über mich, nie merken konnte. Ich hatte mit Julias schnodderiger Aussprache noch immer Probleme. Gavin oder Kevin? Jedenfalls war er nun allein zu Hause. Oder er hatte eine Neue. Das peinliche Problem schien sich erledigt zu haben. Hurra!

Blieben bezüglich Aussprache nur noch Julias regelmäßige und vergebliche Versuche übrig, mir den Unterschied zwischen der Haltestelle Euston und der amerikanischen Stadt Houston zu erklären. Für mich klangen beide identisch.

Eine Welle der Erleichterung schwappte über mich. Wenn Julia mich nur mitgenommen hatte, um nicht allein ausgehen zu müssen, musste ich mir wegen meiner Unterkunft keine Sorgen machen. Ansonsten war mir an dem Abend alles egal.

»Er will, dass wir uns zu ihm setzen. Kommst du mit?«, zwitscherte sie fröhlich.

Der Fremde stellte sich mir, wenn ich ihn richtig verstand, als Socks vor und machte vage Handbewegungen, die ich nicht einordnen konnte. Ich folgte seinem Blick und sah – den Betrunkenen von vorhin, der uns so offensichtlich anstarrte, als wollte er uns hypnotisieren. Irgendetwas war faul an der Sache.

Auf dem Weg zum Tisch hielt ich diesen Socks am Ärmel fest. Er blieb ruckartig stehen und sah mich fragend an.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und rief wegen der lauten Hintergrundgeräusche an der Bar zu ihm hoch: »Was zahlt dir dein Kumpel, wenn wir an euren Tisch kommen?«

Er zuckte zusammen und zögerte eindeutig zu lange mit der Antwort. »Ich verstehe nicht …«

Erwischt! »Komm schon! Wenn du es mir sagst, kommen wir mit. Wenn nicht, dann nicht.«

»Eine Flasche Whisky aus dem Off Licence.«

»Mehr sind wir nicht wert?«

»Mehr habe ich nicht verlangt.«

»Nett von dir.«

»Deshalb liebt mich jeder.«

***

Socks sah ihr herausfordernd in die graugrünen Augen, und plötzlich schnallte sein benebeltes Hirn den Irrtum. Darrel war gar nicht an dem engelsgleichen Wesen interessiert, das offensichtlich nur lächeln und kichern konnte, sondern das Objekt der Begierde stand hier, mehr als vier Meter vom Zielort entfernt. Und es hatte die Aktion durchschaut. Verdammt!

Aus den Augenwinkeln sah er, dass die große Blonde sich neben Darrel gesetzt hatte, weil Dylan fast schon zu offensichtlich gaaanz viiiel Platz auf der Bank brauchte und wohl erst wegrutschen wollten, wenn Socks mit dem mutmaßlichen Trostpreis anrückte. Was für eine kollektive Fehleinschätzung!

Aber zumindest hielt die Nervensäge Wort und folgte ihm brav an den Tisch. Er war auf einen simplen Bluff hereingefallen. Zwar hatte er noch keinen blassen Schimmer, wie er sie auf die andere Seite neben Darrel bugsieren sollte, aber irgendetwas würde ihm schon einfallen.

Er stellte alle der Reihe nach vor: »Das sind Darrel, James, Dylan, und ich bin, wie gesagt, Socks. Eigentlich heiße ich Sam, aber so nennt mich keiner. Und Dylan heißt in Wirklichkeit James. Wir nennen ihn nur Dylan, weil sein Nachname Thomas ist und er nicht Tom genannt werden möchte. Alles klar? Das ist Julia, und deinen Namen habe ich nicht mitbekommen.«

»Lou.«

Julia blickte verwirrt vom einen zum anderen. »Warum nennen sie dich Dylan?«

»Weil James bereits James heißt. Da war für mich kein James mehr übrig.« Dylan grinste verschmitzt.

»Vermutlich ist er entweder ein großer Poet und Schriftsteller oder säuft so viel wie Dylan Thomas«, warf Lou mit todernstem Gesicht ein.

Dylan lachte. »Das Dichten überlasse ich Socks. Der kann nichts anderes und soll auch was haben.«

»Dann ist ja alles klar.« Lou lächelte und tat ganz harmlos.

»Was wollt ihr trinken?«, fragte Darrel die beiden Frauen.

Julia entschied sich für einen trockenen Weißwein, und Lou wollte allen Ernstes ein stilles Wasser.

Himmel, dachte Socks, der arme Darrel hat schon ordentlich Schlagseite und verguckt sich nach über zwei Jahren Solodasein ausgerechnet in eine Abstinenzlerin mit Haaren auf den Zähnen. Die Welt ist so grausam!

Julia stand von der Bank auf, damit Darrel an die Bar konnte.

Socks bat Lou, ihn ebenfalls herauszulassen, und nutze die Gelegenheit für einen kurzen Abstecher zu den Toiletten. Zum Glück herrschte an der Bar viel Betrieb, und er war nach seiner Rückkehr in der Lage, den eigentlichen Plan umzusetzen. Wie selbstverständlich tauschte er sein Glas gegen Darrels und forderte Julia mit einer lässigen Handbewegung auf weiterzurutschen, damit er sich neben sie setzen konnte.

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und betrachtete das Manöver ganz offensichtlich als Kompliment.

Während sich James und Dylan nur teilweise erfolgreich das Grinsen verkniffen, spulte Socks das bewährte Programm an interessiert wirkenden Fragen, kleinen Scherzen und subtilen Schmeicheleien ab. Es ging schon fast automatisch.

Dylan unterhielt sich mit James und ignorierte die neben ihm sitzende Lou, die mit gedankenverlorenem Gesichtsausdruck auf die Tischplatte starrte.

Mädchen, mir machst du nichts vor, dachte Socks. In Wirklichkeit entgeht dir keine Silbe.

Darrel kam mit den zwei Gläsern zurück und schaute wegen der veränderten Sitzordnung verdutzt in die Runde. Hilflos blickte er zu Lou.

»Komm, setz dich zu mir«, lud sie ihn harmlos lächelnd ein. »Socks scheint sich sehr für Julia zu interessieren. Und deine Flasche Whisky kommt ihm sicherlich auch nicht ungelegen.«

»Danke, Socks. Du bist ein echter Freund!« In Darrels Blick loderte die pure Mordlust. »Warum hast du ihr das erzählt?«

»Sie hat mich erpresst«, erläuterte Socks im nüchternen Tonfall eines Nachrichtensprechers. Doch für ihn war klar: Jetzt war sie fällig! »Aber sag mal, Lou, warum hast du einen Rucksack dabei? Musst du nachher noch arbeiten? Schicken Rock hast du übrigens an. Ist der nicht ein bisschen lang für solche Zwecke?«

»Als Besitzer der goldenen Kundenkarte kennst du dich in der Branche natürlich bestens aus. In dem Rucksack sind übrigens meine Stiefel. Ich gehe nachher noch wandern.«

Zum ersten Mal an diesem Abend kamen Socks Zweifel: War Lou tatsächlich so schlagfertig oder schlichtweg verrückt und hatte wirklich Stiefel dabei? Die merkwürdige Art, wie sie ihn gerade ansah, war bei der Klärung dieser Frage überhaupt nicht hilfreich.

Dylan machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du kennst doch die Frauen! Die tragen stets alles mit sich herum, was für einen zweiwöchigen Skiurlaub in den Alpen erforderlich ist.«

Lou wandte sich an Darrel, der verzweifelt auf ihr Wasserglas starrte: »Tut mir leid, dass ich draußen so grob zu dir war. Ich hatte einen anstrengenden Tag und bin einfach nur fertig.«

Er sah ihr in die Augen und lächelte schüchtern. »Kein Problem. Wo arbeitest du?«

»Bei einer Softwarefirma. Und du?«

»Bei einem Herrenausstatter. Ich bin Herrenschneider.«

Julia, die mitgehört hatte, brach wieder in ihr spezielles Gelächter aus und konnte sich gar nicht mehr beruhigen.

Wenn er jetzt noch erzählt, dass er in seiner Freizeit Banjo spielt, müssen wir bei der Lady Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten. Socks hatte große Sehnsucht nach einer Zigarette.

***

Zuerst glaubte ich, mich verhört zu haben, aber Julias Meckerlachen bestätigte, dass das Häufchen Elend neben mir tatsächlich diesen kuriosen Beruf ausübte.

Ich dachte kurz nach und versuchte, mich in jemanden hineinzuversetzen, der bei fremden Menschen an den merkwürdigsten Stellen Maß nahm, um ihnen Anzüge, Mäntel und wer weiß, was noch alles, anfertigen zu können. Dass es so etwas überhaupt noch gab? Aber in London gab es manches, was meine Vorstellungskraft sprengte.

»Das klingt nach einem sehr abwechslungsreichen und kreativen Beruf.« Mir war klar, dass meine Antwort ein wenig zu lang hatte auf sich warten lassen, aber das war nun nicht mehr zu ändern. In meinem Hirn war längst Feierabend, und es lief nur noch im Notbetrieb. »Es ist bestimmt eine Herausforderung, einen Stoff und einen Schnitt zu wählen, die dem Kunden nicht nur gefallen, sondern auch stehen«, fügte ich noch lahm hinzu.

Er lächelte und zwinkerte. Es machte mir gar nichts aus, dass er mich durchschaut hatte. Er nahm einen Schluck von seinem Orangensaft und grinste mich an. »Und?«

»Was und?« Ich war verwirrt.

»Keine Witze übers Maßnehmen im Schritt? Jetzt bin ich aber enttäuscht! Das gehört doch dazu, wenn ich vom Job erzähle.«

»Naheliegende Witze sind mir zu langweilig. Ich frage ja auch nicht, ob ihr auf Twitter während der Arbeit Tweets über Tweed postet.«

Er lachte. »Schade. Der wäre eine Abwechslung gewesen. Im Gegensatz zu gewissen amerikanischen Präsidenten nehmen wir unseren Job aber ernst und legen großen Wert auf eine seriöse Außendarstellung.«

»Das heißt, dass ihr nur intern die Sau rauslasst?«

»Das überlassen wir chronisch unzufriedenen Kunden. Die sind dabei kreativer als wir. Es tut jeder das, was er am besten kann.«

Zwischen Julia und Dylan hatte sich währenddessen eine etwas einseitige Diskussion über Handtascheninhalte entwickelt, die immer lauter wurde. Dylan zählte blödsinnige Gegenstände auf, die angeblich jede Frau tagtäglich mit sich führte, und verglich Handtaschen mit der TARDIS, der Zeitmaschine von Doctor Who, die auf der Innenseite größer war. Julia hingegen lachte nur in einer Tour. Socks hatte lässig den Arm um ihre Schultern gelegt und steuerte ab und an eine Tierart zur Diskussion bei.

»Und was hast du eigentlich in deinem Jackett?«, fragte Julia lachend, als er ihr noch näher auf die Pelle rückte.

»Meinst du das?« Er zog eine Flöte aus Metall hervor und ließ sie zwischen seinen Fingern herumwirbeln.

»Was ist das?« Julia war eindeutig denkfaul. Statt einfach mal genau hinzuschauen und zu überlegen, wollte sie ständig alles auf dem Silbertablett serviert bekommen.

Mich reizte das immer, und auch diesmal konnte ich mich nicht zurückhalten. »Das ist eine defekte Bierleitung, die lauter Löcher hat. Socks ist von Beruf Kneipenklempner und hat sie vorhin an der Bar noch schnell ausgetauscht, als der Zapfhahn streikte.«

Wie auf Kommando prosteten Dylan und James ihm zu und tranken auf sein Wohl.

Julia blickte verwirrt vom einen zum anderen, während Socks mit enttäuschter Miene die Flöte wegsteckte. »Jetzt hast du es verraten!«

»Woher hast du die neue Leitung genommen?«, stellte Julia eine unter diesen Umständen durchaus berechtigte Frage.

»Die hatte ich in der anderen Tasche. Schau, die ist jetzt leer.« Er zog rechts das Jackett vom Körper weg und deutete auf die Innentasche.

Neben mir nahm Darrel einen großen Schluck Orangensaft, vermutlich um sein Grinsen zu verbergen.

»Hast du auch stets Arbeitsmaterial bei dir? Oder wahlweise ein Instrument?«, wandte ich mich an ihn.

»Ja, klar. Ohne zwei bis drei Ballen Tweed würde ich mir gerade jetzt im Sommer nackt vorkommen.«

»Und wie bringst du die unter ohne Jackett mit Innentaschen der Marke TARDIS?«, fragte ich in Anspielung auf sein Outfit aus dunkelgrauem Hemd und schwarzer Jeans.

»Ich trage mein Banjo lieber in der linken Socke mit mir herum. Das ist mir sicherer bei den vielen Taschendiebstählen heutzutage.«

»Du spielst Banjo?« Julia lachte wieder schallend.

Socks zog seine Flöte hervor und deutete an, sie ihr quer in den Mund zu stopfen.

Ich betrachtete das Instrument genauer. Es sah aus wie eine Blockflöte, war aber schlanker und aus Metall. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. »Wie klingt diese Flöte eigentlich?«, fragte ich ihn.

»Tin Whistle. Bei mir reichlich schräg«, antwortete er. »Ich habe sie mir gestern gekauft, aber irgendwie ist das nicht mein Ding. Jetzt trage ich sie herum, um Frauen zu beeindrucken. Für irgendetwas muss das verdammte Stück doch gut sein.«

»Ach, das ist eine Flöte!«, rief Julia. »Darf ich mal sehen?«

»Du siehst sie doch schon die ganze Zeit!« Socks ließ sie wieder zwischen seinen Fingern herumwirbeln.

»Eigentlich sollte er als Raucher Dudelsack spielen. Damit kann man die Kurzatmigkeit besser ausgleichen. Aber er wollte lieber etwas lernen, das seinen intellektuellen Fähigkeiten entspricht. Habe ich erwähnt, dass das auch ein Instrument für Kinder ist?«, fragte James.

»Nachdem er mit dem Gitarrenhals den Mikrofonständer von der Bühne gefegt hatte, hat ihm Sean Gitarrenverbot erteilt. Seither zappelt er einfach unkontrolliert in der Gegend herum. Da wollten wir ihm was geben, an dem er sich festhalten kann, ohne großen Schaden anzurichten, aber er ist ein hoffnungsloser Fall«, erläuterte Dylan.

Julia bekam ganz runde Augen. »Wer ist Sean?«

»Unser Vermieter.«

»Und der verbietet ihm die Gitarre?«

»Er spielt Bassgitarre und kennt sich aus mit Zupfinstrumenten und ihren dramatischen Konsequenzen für die Allgemeinheit.«

»Das verstehe ich nicht.« Julia gab schon wieder auf.

Mich reizten die kryptischen Antworten hingegen. »Ich fasse mal zusammen: Banjo, Bassgitarre, eine neuerdings verbotene Gitarre und eine Dudelsack-Ersatz-Flöte zu Dekorationszwecken. Klingt irgendwie dürftig für eine Band. Wer singt?«

»Hauptsächlich ich und manchmal alle, die gerade nebenher Zeit haben«, meldete sich Socks zu Wort. »Ich kann leider nichts anderes, seit Sean mir die Gitarre verboten hat. Ich könnte natürlich auch einfach nur dämlich grinsend herumstehen und winken, aber das überlasse ich lieber der königlichen Familie.«

»Und was treibt ihr an langen Winterabenden?«, fragte ich Dylan und James.

»Schlagzeug«, antwortete James.

Und Dylan: »Geige.«

»Klingt nach einem interessanten Sounderlebnis.«

»Keine Ahnung.« Socks blickte gespielt betrübt vor sich hin. »Die Zuhörer unterhalten sich immer so lautstark, dass wir eigentlich gar nicht wissen, wie wir genau klingen.«

»Warum dreht ihr die Mikrofone nicht lauter?«, fragte Julia.

»Gedrehte Mikrofone? Was ist das? Kann man das essen? Ich habe es nicht so mit der japanischen Küche!«

»Lou klappert nur mit den Stricknadeln im Takt!« Julia versuchte nun auch mal, witzig zu sein.

»Aha! Noch jemand, der sich für Textilhandwerk interessiert. Da habt ihr ja was gemeinsam!« James strahlte.

Ein kurzer Seitenblick: Darrel war inzwischen neben mir im Sitzen friedlich eingeschlafen. Ob er wohl genug Gegenleistung für seine Flasche Whisky bekommen hatte oder den Deal mittlerweile bereute?

Socks fragte in die Runde, was wir trinken wollten, aber ich war ebenfalls hundemüde und lehnte dankend ab. Ich tippte sanft auf Darrels Schulter, die sich angenehm warm anfühlte. Er schreckte hoch, blickte mir in die Augen und schenkte mir ein seliges Lächeln, das mich trotz allem berührte.

»Lässt du mich bitte raus? Ich möchte gern gehen«, fragte ich ihn freundlich.

Er stand mühsam auf. »Gibst du mir bitte deine Telefonnummer?«

Damit hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet. Wollte er das wirklich? Wollte ich das wirklich? In Gedanken malte ich mir betrunkene Anrufe mitten in der Nacht aus oder irgendein halbherziges Date, bei dem er in nüchternem Zustand feststellte, dass ich ganz anders aussah als in seiner benebelten Erinnerung.

Manchmal zu später Stunde oder nach einem langen Tag überkam mich aus purer Müdigkeit spontan der Irrsinn. Anders ließ sich nicht erklären, was ich tat. Ich riss eine Seite aus meinem Notizbuch und schrieb: »Triff mich morgen um zwei Uhr nachmittags in den Kensington Gardens bei der Peter-Pan-Statue. Sei nüchtern.«