Behemoth - T.S. Orgel - E-Book
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T. S. Orgel

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Beschreibung

Die Erde ist in ferner Zukunft unbewohnbar geworden. Die einzige Hoffnung der Menschheit sind drei riesige Generationenschiffe, die sich ein kosmisches Rennen zum nächsten habitablen Planeten liefern. Im Laufe der langen Reise haben sich die Besatzungen immer weiter auseinander entwickelt. Als sie plötzlich auf ein Raumschiffwrack treffen, entbrennt ein Konflikt zwischen den drei Schiffen, denn wer die Ressourcen des Wracks kontrolliert, kann das Rennen zur neuen Erde gewinnen. Aber niemand ahnt, was es mit dem toten Schiff wirklich auf sich hat …

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Das Buch

Die Erde ist in ferner Zukunft unbewohnbar geworden. Die einzige Hoffnung der Menschheit sind drei riesige Weltschiffe – Generationenraumschiffe, die sich ein kosmisches Rennen zum nächsten bewohnbaren Planeten liefern. Im Laufe der langen Reise haben sich die Besatzungen immer weiter auseinanderentwickelt. Als sie plötzlich auf ein Raumschiffwrack treffen, entbrennt ein Konflikt zwischen den drei Schiffen, denn wer die Ressourcen des Wracks kontrolliert, kann das Rennen zur neuen Erde gewinnen. Aber niemand ahnt, was es mit dem toten Schiff wirklich auf sich hat …

Die Autoren

Hinter dem Pseudonym T. S. Orgel stehen die beiden Brüder Tom und Stephan Orgel. In einem anderen Leben sind sie als Grafikdesigner und Werbetexter beziehungsweise Verlagskaufmann beschäftigt, doch wenn beide zur Feder greifen, geht es in fantastische Welten. Ihr erster gemeinsamer Roman »Orks vs. Zwerge« wurde mit dem Deutschen Phantastik Preis für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet. Seitdem haben sie mit den »Blausteinkriegen« und »Terra« noch viele weitere Welten erkundet.

T. S. Orgel im Heyne Verlag:

Orks vs. Zwerge

Orks vs. Zwerge – Der Schatz der Ahnen

Orks vs. Zwerge – Fluch der Dunkelheit

Die Blausteinkriege – Das Erbe von Berun

Die Blausteinkriege – Sturm aus dem Süden

Die Blausteinkriege – Der verborgene Turm

Das Haus der tausend Welten

Terra

Behemoth

Mehr über die Autoren und ihr Werk auf

T. S. ORGEL

BEHEMOTH

ROMAN

Originalausgabe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 5/2021

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2021 by Thomas & Stephan Orgel

Copyright © 2021 dieser Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com(GrandeDuc, freestyle images, Triff)

Gesetzt aus der Fairfield® LT und der Sqwared

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-26501-4V001

diezukunft.de

»Eine der Grundregeln des Universums ist, dass nichts perfekt ist. Perfektion existiert einfach nicht … Ohne Fehler würden weder du noch ich existieren.«

STEPHENHAWKING

INHALT

BEHEMOTH

Namensverzeichnis

Glossar

Danksagung

BEHEMOTH

LEBEN UND TOD

Weltschiff Zheng He2302

Eine Gesellschaft kann immer nur dann überleben, wenn Harmonie ihr vorherrschendes Element ist. Unsere Vorfahren haben sie mit einem Uhrwerk verglichen, einem Gebilde höchster Präzision, von Meistern gefertigt, um die Zeit in harmonische Segmente zu unterteilen. Jedes kleine Rädchen an seinem vorherbestimmten Platz. Nur wenn alle ihren Dienst erfüllen, ist der Erfolg garantiert. Eine winzige Störung, ein einziges Staubkorn ist in der Lage, die Harmonie nachhaltig zu zerstören.

Wir sind die Werkzeuge des Uhrmachers. Die stählernen Pinzetten, die Zangen, und wenn es sein muss, manchmal auch die Hämmer. Unsere Aufgabe ist es, den Schmutz zu entfernen, der sich im Laufe der Jahre unweigerlich ansammelt. Die Harmonie wiederherzustellen, damit das Uhrwerk weiterticken kann, so wie es das seit Tausenden von Jahren tut.

Wir nennen uns Tiger, und der Tiger entscheidet über Leben und Tod.

Mit ausgreifenden Schritten marschierte Laohu den breiten Gang hinunter, der den Huo-Sektor, den größten Wohnbereich auf der Zheng He, mit seinen Außenbezirken verband. Das grelle Licht der Deckenbeleuchtung ließ die kantigen Züge des Sicherheitsbeamten hervortreten und verstärkte den Eindruck grimmiger Entschlossenheit in seinem Gesicht. Die Passagiere machten eilig Platz, als sie seine hoch aufgeschossene Gestalt kommen sahen, denn sie wussten, dass man sich einem Tiger besser nicht entgegenstellte, wenn er sich auf der Jagd befand.

Kurze Zeit später stieß Chen aus einem Seitengang dazu. Der athletische junge Tiger war bereits in voller Kampfmontur. Nur sein rasierter Schädel ragte noch ungeschützt aus dem wulstigen Halsschutz hervor. Er reichte Laohu eine Schutzweste, die der sich, ohne langsamer zu werden, über den Kopf streifte. Eilig huschten die Naniten an ihre vorbestimmten Plätze, um sie festzuzurren. Prüfend zog Laohu an den Rändern und streckte die Hand nach der Waffe aus, die Chen ihm als Nächstes entgegenhielt. Mit sicheren Bewegungen überprüfte er ihre Funktion und lud durch. Der diensthabende Kommunikator machte sie über ihre Headsets mit der Lage vertraut und übergab ihnen die volle Einsatzkontrolle. Eilig tauchten die beiden Männer in das weitverzweigte Netz aus Verbindungstunneln ein, die den Grenzbereich zum Jin-Sektor markierten. Der grelle Schein der Leuchtdioden an den Decken wich einem diffusen Dämmerlicht, in dem die Unterschiede zwischen Tag und Nacht zunehmend verschwammen.

Wo der Huo-Sektor von sterilen, nach den Prinzipien des Feng Shui gestalteten Wohnbereichen dominiert wurde, herrschte im Jin-Sektor eine Enge und Hektik, die in Laohus Vorstellung nur mit den Zuständen auf dem Schiff der Gweilo vergleichbar waren. Die Bewohner gehörten zum Großteil den niederen Tierkreiszeichen an. Grobschlächtige Menschen mit breiten Schultern und harten Gesichtern, die von den Strapazen der Arbeiten in den Recyclingfabriken und an den Tag und Nacht brennenden Stahlöfen gezeichnet waren. Die meisten waren im Sternzeichen des Büffels geboren, aber auch zahlreiche Ratten und Schweine tummelten sich in den engen Gängen.

Für diese Menschen gab es nicht jeden Tag eine so spannende Abwechslung. Selbst die Aussicht auf einen negativen Kredit hielt sie nicht davon ab, ihre Arbeit zu unterbrechen, um einen Blick auf das Spektakel an der Sektorengrenze zu werfen. Sie standen so dicht gedrängt vor den Absperrungen, dass die Sicherheitsbeamten alle Hände voll zu tun hatten, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Ein untersetzter Sicherheitsbeamter mit den typischen, rot unterlaufenen Augen der Büffel winkte Laohu und Chen eilig durch die Absperrungen und führte sie über einen Seitengang zu einer großen Schleusentür, vor der bereits ein gutes Dutzend schwer bewaffneter Gou in Stellung gegangen war.

Die Sicherheitsbeamten, im Volksmund auch »Hunde des Kriegs« genannt, waren in voller Antiaufstandsmontur erschienen und hatten sich mit schweren Tasern bewaffnet. Sie hatten einen Detonator am Öffnungsmechanismus der Schleusentür angebracht, die laut Angaben des diensthabenden Kommunikators von der anderen Seite blockiert worden war. Als die beiden Tiger eintrafen, sprang der grellrote Zähler auf null. Im nächsten Augenblick ertönte ein dumpfer Schlag.

Als die Schleusentür nach innen aufflog, sprangen die Gou auf und stürmten brüllend und mit hoch erhobenen Schilden los. Laohu wurde kaum langsamer, als er den Durchgang erreichte und den Sicherheitsbeamten in die Außenbezirke des Jin-Sektors folgte.

Baihu, das dienstälteste Mitglied ihrer Einheit, hatte irgendwann mal vermutet, dass die Bewohner der Außenbezirke in einem früheren Leben die Götter erzürnt haben mussten. Wenn man diese Menschen gesehen hatte, konnte man dem alten Tiger kaum widersprechen. In den Außenbezirken lebten diejenigen Passagiere, die aus dem strengen Ausleseprozess der Administration als Verlierer hervorgegangen waren. Sie wurden als Affenmenschen bezeichnet, da sich ihre Nützlichkeit auf dem Schiff aufgrund ihrer minderwertigen Gene meist nur in einfachen Handlangertätigkeiten erschöpfte: Lastenträger, Müllverwerter, Hilfsarbeiter.

Der überfallartige Einsatz der hochtrainierten Gou hatte den Abschaum völlig überrumpelt. Inmitten der Lichtblitze und des Lärms fanden sie keine Gelegenheit für eine geordnete Gegenwehr. Verdächtige Passagiere wurden blitzschnell separiert und verhaftet. Die übrigen Affenmenschen kauerten mit hoch erhobenen Händen an den Wänden der Gänge. Manche von ihnen zeterten und schrien zwar, doch nur die Dümmsten leisteten ernsthaften Widerstand. So wie der stiernackige Kerl, von dessen baumdicken Armen ein halbes Dutzend Sicherheitsbeamte herunterhingen wie Trauben, verzweifelt bemüht, ihn unter Kontrolle zu bringen. Erst die gebündelte Wirkung mehrerer Taser zwang ihn schließlich zu Boden, wo er zitternd und schnaubend fixiert werden konnte. »Verhalten Sie sich kooperativ«, überplärrte eine schwer verständliche Lautsprecherstimme das Geschrei und verstärkte die Panik und das heillose Durcheinander nur noch mehr. »Widerstand ist eine Straftat und wird mit – klick – Verhalten Sie sich kooperativ. Widerstand ist eine Straftat.«

»Verdammte Technik«, knurrte Laohu, während er den Scanner an den massigen Hals des gefällten Riesen legte, um dessen Personaldaten einzulesen. »Das wird von Tag zu Tag schlimmer.«

»Sie gehorchen ohnehin nur einem ordentlichen Taser«, sagte Chen. »Wir könnten eine Menge Kosten sparen, wenn wir die Lautsprecher abbauen und das Material recyceln – und noch mehr, wenn wir einfach die Außenschleusen öffnen und den gesamten Sektor desinfizieren.«

Laohu warf ihm einen Seitenblick zu und rollte mit den Augen. Nach einer kurzen Wartezeit knackte es in seinem Ohr, und die bedächtige Stimme des diensthabenden Kommunikators informierte ihn über Namen, Funktion, Sozialstatus und die wichtigsten Verfehlungen ihres Gefangenen.

Passagier Xutay war das traurige Ergebnis einer verunreinigten Brütungscharge gewesen. Entsprechend der Plansollvorgaben sollte der im Sternzeichen des Büffels geborene Mann ursprünglich in der Metallurgie eingesetzt werden. Da man die Fehlerhaftigkeit der Charge zu spät erkannt hatte, war eine Entsorgung aus rechtlichen Gründen nicht mehr möglich gewesen. Entsprechend der Richtlinien war Xutay deshalb nur neu evaluiert und einer weiteren Verwendung im Hilfssektor zugeführt worden. Seine bisherigen Arbeiten hatten sich auf unregelmäßige Einsätze als Lastenträger beschränkt. In den vergangenen Jahren war er aufgrund geringerer Sozialvergehen mehrfach zu Kreditentzug verurteilt worden. Laohu übermittelte einen kurzen Einsatzbericht an den Archivar und ließ den Mann abführen. Über sein weiteres Schicksal musste jetzt die Administration entscheiden. Angesichts seines massiven Widerstands gegen die Verhaftung würde er diesmal wohl kaum mit einem einfachen Kreditentzug davonkommen.

Mit erhobenen Schilden rückten die Sicherheitsbeamten weiter durch die schmalen Gänge vor. Nachdem der erste Widerstand gebrochen war, stießen sie nur noch selten auf Gegenwehr. Die klügeren Bewohner des Bezirks hatten es vorgezogen, sich still und leise in ihre Kabinen zurückzuziehen und so unauffällig wie möglich zu verhalten. Den Verbrechern unter ihnen half das allerdings nicht viel, denn die Implantate in ihren Nacken speicherten nicht nur jede Verfehlung, die sie sich irgendwann einmal in ihrem Leben hatten zuschulden kommen lassen, sondern waren auch darauf ausgelegt, sie an jedem beliebigen Punkt des Raumschiffs mühelos zu orten.

Reihe um Reihe rasselten die Zahlen über Laohus Display: Dieb, Betrüger, Lügner, unkooperatives Verhalten und zersetzendes Verhalten. Die meisten dieser Verfehlungen waren für ihn allerdings nicht von Interesse. Um solche Lappalien kümmerten sich die Gou. Für die Tiger zählten nur die ganz dicken Fische. Die Schwerverbrecher und Terroristen, die sich im Schutz der labyrinthartig aufgebauten Gänge vor dem Zugriff der Administration zu verbergen versuchten.

Die Hunde hatten gute Vorarbeit geleistet und ihren Weg weitgehend abgesichert. Ihr eigentliches Ziel war ein Kabinenkomplex nahe der Außenschotts. Ein wucherndes Barackengeschwür, das aus Sperrmüll und gestohlenen Recyclingmaterialien zusammengezimmert worden war und trotz regelmäßiger Säuberungsaktionen immer wieder nachwuchs. Für Laohu blieb unverständlich, wieso die Administration dieses Konglomerat am Leben ließ. Er hielt so ein Verhalten für äußerst nachlässig, und Nachlässigkeit war eine Eigenschaft, die er mit der Leitung des Schiffs bislang kaum einmal in Verbindung gebracht hatte.

»Gesichert.« Der vorderste Gou hatte sich mit erhobenem Schild direkt vor Laohu um die Biegung des Gangs geschoben. Als er einen Blick zurück über die Schulter warf, zischte etwas durch die Luft, und sein Kopf explodierte in einer Wolke aus Blut und Knochensplittern. Einen Augenblick später stürmte ein Mann mit gezückter Schusswaffe um die Ecke.

Instinktiv schoss Laohus linke Hand nach vorn, krallte sich um den Lauf der Waffe und stieß die Mündung seitlich fort. Ein Schuss löste sich, schrammte haarscharf an seiner Schulter vorbei und schlug Funken sprühend in das Metall der Gangwand ein. Laohu ignorierte das Dröhnen in seinen Ohren, schlug die Rechte in das Gesicht des Angreifers und registrierte mit Genugtuung das Geräusch berstender Knochen. Blitzschnell zog er die Hand zurück, legte sie über den Griff der fixierten Waffe und entriss sie seinem Gegner mit einer einzigen, ruckartigen Bewegung. Gleichzeitig verschaffte er sich mit einem gezielten Tritt genügend Raum, um die eroberte Waffe fallen zu lassen, seinen Taser zu ziehen und den Angreifer mit einer doppelten Ladung außer Gefecht zu setzen. Während der Mann röchelnd in sich zusammensackte, stürzten sich bereits zwei weitere Männer auf ihn.

Laohu schoss auf den ersten Angreifer und wehrte mit dem Unterarm instinktiv den Messerangriff des zweiten ab. Blitzschnell fixierte er den Arm des Mannes, zertrümmerte mit dem Griff seiner Waffe dessen Kehlkopf und entwand ihm das Messer, das er im Brustkorb eines vierten Angreifers versenkte. Dem ungelenken Hieb eines fünften Gegners mit einem Vorschlaghammer wich er geschickt aus und ließ ihn ins Leere laufen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Chen ihn mühelos überwältigte und ihm mit einem Ruck das Genick brach. Schnell scannte er seine Umgebung, stellte fest, dass keine unmittelbare Gefahr mehr bestand, und atmete langsam aus.

Als er den Kopf drehte, sah er ein gutes Dutzend Sicherheitsbeamte, die mit den Waffen im Anschlag im Gang standen und staunend auf das Gemetzel hinunterblickten. Ihr Anführer berührte mit zwei Fingern den Hals und öffnete zischend das Visier seines Schutzhelms. Laohu sah ihn ausdruckslos an. »Gesichert.«

Der Anführer nickte langsam. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn, gab sich dann einen Ruck und brüllte ein paar Befehle in sein Headset. Während die Gou hektisch weiterstürmten, gesellte sich Chen zu Laohu und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

»Gute Arbeit, großer Tiger.«

Laohu nickte abwesend und beugte sich über den Mann, dem er das Messer in die Brust gerammt hatte. Die Gesichtszüge erinnerten ihn schwach an einen Hasen. Das erstaunte ihn, denn Hasen waren eigentlich nicht für Gewalttätigkeiten bekannt. Er ging in die Hocke, scannte den Chip im Nacken des Toten und ließ ihn durch die Archive laufen. Sein Name war Luan. Er war Lagerarbeiter und hatte bei einem schweren Arbeitsunfall die linke Hand verloren. Laohu hob den Arm des Toten und untersuchte ihn. Es waren keine Narben zu erkennen.

»Die haben sich richtig Mühe gegeben«, sagte Chen anerkennend. »Seinen Arzt sollte man sich merken.«

Laohu schüttelte den Kopf. »Er hatte keinen. In der Datenbank existieren keine Einträge über nachgezüchtete Extremitäten. Außerdem wäre sein Kredit viel zu gering für so eine aufwendige Behandlung gewesen.« Er ließ den Arm des Toten fallen und winkte zwei Sanitäter mit einer Bahre heran. Sie stellten die Bahre ab, hievten den Toten hinein und hoben sie wieder an. Laohu hielt sie zurück. Er drehte den Kopf des Toten zur Seite, sodass er die Stelle sehen konnte, wo der Chip implantiert war. Eine blasse Narbe zog sich darüber hinweg. »So ein Zufall«, sagte er.

»Identitätsdiebstahl«, sagte Chen. »Lass mich raten: Der echte Luan hatte seinen Unfall damals wohl nicht überlebt.«

Laohu nickte. »Das ist schon der dritte Fall dieses Jahr. Es nimmt zu.«

»Was bringt sie dazu, so etwas zu tun? Sie haben doch alles, was sie zum Leben brauchen.« Chen sah Laohu fragend an. »Das ist der Einfluss der verdammten Gweilo, nicht wahr? Diese Dummköpfe hören ihre Propagandakanäle und werden davon verrückt.«

Laohu zuckte mit den Schultern. Es war nicht das erste Mal, dass sie so etwas mitbekamen, und in Wahrheit war es auch nicht nur das dritte Mal. Inzwischen war es so oft vorgekommen, dass er aufgehört hatte zu zählen. Je rigoroser der Drachenrat gegen diese Umtriebe vorging, desto mehr solcher Verrückter krochen aus ihren Löchern hervor. Es war, als würde sich etwas in ihren Köpfen gegen ein geordnetes Leben sträuben. Als konnten sie in der Harmonie keinen Frieden finden. Seufzend hob Laohu die selbst gebaute Schusswaffe des ersten Angreifers vom Boden auf und musterte sie. Sie war aus Stahl gegossen worden, vermutlich in einer der Recyclinganlagen. Sie wirkte grobschlächtig und plump und hätte es niemals durch eine Sicherheitsschleuse geschafft. Allein ihr Besitz war schon ein Kapitalverbrechen. Es war der reinste Wahnsinn, so ein gefährliches Ding anzufertigen. Trotzdem hatte es jemand getan. Es schien ihm wichtig genug gewesen zu sein, um das Risiko auf sich zu nehmen.

Laohu warf einen Blick auf den toten Sicherheitsbeamten, dessen Gehirn überall im Gang von den Wänden tropfte. Er fragte sich, wie sie so viele Angreifer hatten übersehen können. Er ging zurück zur Biegung und knipste seinen Strahler an. Aufmerksam leuchtete er in die Dunkelheit unter den Rohren. Er entdeckte das Loch, das eines der Projektile in die Wand geschlagen hatte. Interessiert beugte er sich nach vorn und fuhr mit den Fingern darüber hinweg. Das Metall war dünner, als er erwartet hatte. Er leuchtete noch einmal die Rohre ab und stellte fest, dass sie an dieser Stelle eine andere Farbe hatten als im Rest des Gangs. Schnell winkte er einen Sicherheitsbeamten heran und ließ ihn das Loch mit einem Stahlschneider vergrößern. Als es groß genug war, leuchtete er hinein. Hinter der Wand befand sich ein weiterer Gang.

»Heilige Scheiße«, sagte Chen, als er über Laohus Schulter hinweg in die Öffnung starrte. »Die Affenmenschen haben den Gang abgetrennt. So viel Verschlagenheit hätte ich ihnen gar nicht zugetraut.«

Der Sicherheitsbeamte schnitt weiter, bis die Öffnung groß genug war, um hindurchschlüpfen zu können. Dahinter stießen sie auf ein halbes Dutzend Räume, die mit Tonnen gestohlener Materialien und etlichen selbst gebauten Waffen vollgestopft waren. Außerdem fanden sie eine Art Labor, in dem unzählige Gerätschaften standen. Mikroskope, Zentrifugen, Inkubatoren und Hunderte Reagenzgläser, in deren trüben Flüssigkeiten schattenhafte Dinge schwammen. Als Laohu eines davon anleuchtete, drehte es sich behäbig zu ihm herum und starrte ihn aus einem grauenhaft entstellten Gesicht an. Ein Gesicht, das halb Mensch und halb Tier war. Einer der Sicherheitsbeamten stieß ein unterdrücktes Würgen aus und stürzte davon. Laohu streckte die Hand aus und klopfte mit dem Knöchel seines Zeigefingers gegen das Glas. Das Ding zuckte zusammen und blinzelte einmal, ehe es wieder zurück in seine Totenstarre verfiel.

»Diese Drecksäcke spielen Gott«, sagte Chen mit Ekel in der Stimme. »Sie haben Menschen gezüchtet.«

»Ja«, sagte Laohu. Sie haben Gott gespielt. Er wandte sich zum befehlshabenden Offizier der Gou um. »Wie viele habt ihr gefunden?«

»Gut zwei Dutzend bislang, aber keiner sieht wirklich überlebensfähig aus. Da sind allerdings noch mehr Räume den Gang hinunter. Wir haben noch nicht alle untersucht.«

Laohu nickte. »Zeichnet alles auf und vernichtet es anschließend. Nichts davon darf übrig bleiben.«

Der Offizier salutierte und blieb unschlüssig stehen.

Laohu blickte ihn unwirsch an. »Was?«

Der Offizier verzog das Gesicht. »Da ist noch etwas. Wir … wir haben da noch etwas gefunden.«

Es handelte sich um ein Kinderzimmer. Liebevoll eingerichtet, mit Puppen und selbst gebasteltem Spielzeug. Die Wände waren mit bunten Kreidezeichnungen überzogen, und sogar ein winziges Schaukelpferd hatten sie aufgestellt. In der Mitte des Raums stand ein kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Erdenjahre alt. Es trug ein schlichtes, aus Flicken zusammengenähtes Kleid und hielt einen Teddybär in den Armen, dessen Augen aus altchinesischen Kleingeldmünzen gefertigt waren. Für einen Affenmenschen sah es erstaunlich normal aus. Dennoch war da irgendetwas an ihm, das Laohu irritierte. Er konnte es nur noch nicht so recht in Worte fassen.

Die Hunde des Kriegs hatten sich in einem großen Halbkreis aufgestellt, die Waffen im Anschlag, die Gesichter grimmig verzogen. Laohu musste beinahe lachen. Ein Haufen schwer bewaffneter Männer, die tatsächlich ein bisschen so aussahen, als hätten sie Angst vor einem Kind. Vielleicht haben sie aber auch allen Grund dazu, dachte er im nächsten Augenblick. Langsam ging er auf das Mädchen zu, das ihn mit großen dunklen Augen anstarrte. Über das Display in seinem Visier plätscherten Zahlenreihen hinunter wie ein lauer Sommerregen. Eine Einblendung informierte ihn schließlich darüber, dass das Mädchen nicht registriert war. Im Jargon der Sicherheitsbeamten wurde so jemand gern als »unbeschriebenes Blatt« bezeichnet, manchmal auch als »Geist«. Ein Scan seiner Physiognomie konnte keine verdächtigen Unregelmäßigkeiten feststellen.

Und trotzdem …

Nachdenklich strich er sich über das Kinn. »Meinst du, sie ist der Grund für unseren Einsatz?«, hörte er Chen in seinem Rücken sagen. Er zuckte mit den Schultern. Vielleicht war sie das. Vielleicht war sie aber auch nur ein weiterer überflüssiger Affenmensch, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielt. Der diensthabende Kommunikator meldete sich über sein Headset: »Gut gemacht, Tiger.«

Die Administration war mit ihrem Einsatz zufrieden. Er war weitgehend nach Plan verlaufen. Unter den Tigern hatte es keine Verluste zu beklagen gegeben. Lediglich eine Handvoll kleinerer Verletzungen und eine Gehirnerschütterung wurden protokolliert. Der Verlust des Sicherheitsbeamten war bedauerlich, aber im Rahmen der Risikoanalyse einkalkuliert. Die toten Terroristen sollten zunächst eingefroren, untersucht und später der Wiederverwertung zugeführt werden. Die Überlebenden würden den Justiziaren vorgeführt, ihre Besitztümer kollektiviert und ihre Familien in die Umerziehung gesteckt. Dienst nach Vorschrift, wie Chen gern zu sagen pflegte.

»Was ist mit dem Kind?«, fragte Laohu den Kommunikator.

»Wiederverwertung«, antwortete dieser nach einer kurzen Pause, in der er sich mit seinen Vorgesetzten zu beraten schien.

»Wiederverwertung?« Laohu glaubte sich verhört zu haben, doch als der Kommunikator den Befehl bestätigte, runzelte er irritiert die Stirn.

Das biologische Alter des Mädchens betrug etwa fünf bis sechs Jahre, und es besaß ganz offensichtlich ein voll ausgeprägtes Bewusstsein. Normalerweise wäre es höchstens sterilisiert und nach einer umfangreichen Evaluierung in die Gesellschaft eingegliedert worden. Es war schließlich nicht das erste und würde mit Sicherheit auch nicht das letzte Kind gewesen sein, das ohne Genehmigung gezeugt worden war. Das Chaos fand zwar immer irgendeinen Weg, die Harmonie zu stören, doch die Drachennation hatte geeignete Maßnahmen entwickelt, um es zu bändigen. Oder etwa nicht? Die überraschende Entscheidung behagte ihm jedenfalls nicht. Es wäre anders gewesen, wenn das Kind nicht selbstständig lebensfähig gewesen wäre, so wie diese abartigen Dinge in den Reagenzgläsern. Doch ein vollwertiger Mensch in diesem Alter? Das war …

Chen bemerkte sein Zögern und zeigte perlweiße Zähne. In seine Augen trat ein gefährliches Glitzern. »Ich kann mich gern darum kümmern, wenn du nicht willst.«

Laohu warf ihm einen Seitenblick zu. Natürlich kannst du das. Du weißt schließlich, was sich gehört. Chen war jung und eifrig. Wenn der Rat einen Befehl gab, fackelte er nicht lange. Er wollte schließlich noch vorankommen und irgendwann den Platz seines großen Bruders einnehmen. Die negativen Seiten dieser Position waren ihm noch völlig fremd. Er kannte die langen Nächte noch nicht, in denen man sich schlaflos wälzte, weil das schlechte Gewissen einen nicht zur Ruhe kommen ließ. Es gab zwar geeignete Mittel gegen Schlaflosigkeit, aber ihre Einnahme wurde genauestens protokolliert. Wenn man zu viel konsumierte, fiel man irgendwann auf. Dann war es nicht mehr weit bis zur Evaluierung. Und selbst wenn man die irgendwie überstand, blieb immer ein kleiner Makel kleben. Ein Vermerk in der Akte, der selbst einem hochdekorierten Veteranen irgendwann das Genick brechen konnte. Laohu atmete tief durch und straffte die Schultern. Noch war es allerdings nicht so weit. Noch besaß der alte Tiger seine Krallen, und er war durchaus in der Lage, sie zu gebrauchen. »Wegtreten«, sagte er, ohne den Blick von dem Kind zu nehmen. »Ich kümmere mich um das hier.«

Chen sah ihn einen Augenblick lang kritisch an. Doch dann nickte er und verließ den Raum. Die Hunde des Kriegs folgten ihm gehorsam.

Laohu wartete geduldig ab, bis er mit dem Kind allein war. Nachdenklich studierte er seine Züge. Sie waren ebenmäßig. Vielleicht eine winzige Spur zu perfekt. Echsenartig? Konnte schon sein. Gut möglich, dass es im Zeichen der Schlange geboren war. Man konnte das in diesem Alter noch nicht so genau sagen. Doch was immer es auch war, er hatte seine Befehle. Langsam ging er in die Hocke und streckte die Hand aus. Er drehte die Fläche nach oben, und nach kurzem Zögern legte das Kind seine Hand hinein. Sie war unglaublich winzig und zerbrechlich.

Der Tiger entscheidet über Leben und Tod.

154 JAHRE ZUVOR

Mars2148

Die Pilotin des Orbitalshuttles lehnte sich vor und sah durch die Panzerglasscheibe ihres Cockpits hinab auf die narbige Oberfläche des Mars, die sich gleichförmig unter ihr drehte. Der rote Planet war nicht rot. Aus einer Entfernung von wenigen Tausend Kilometern war er eher schmutzig-braun, ocker und kaum bemerkenswert, wenn man nicht genau hinsah. Doch der Mars veränderte sich. Das gewaltige Tiefland der Nordhalbkugel war jetzt von flachen Seen schlammigen Wassers überzogen, die es noch vor wenigen Jahrzehnten nicht gegeben hatte. Hier und dort spiegelte sich die Sonne darin. Auf den Ebenen erstreckten sich über Hunderte Kilometer regelmäßig aufgereihte, braungrüne Kreise, wo automatische Algenfarmen Sauerstoff und Nahrungsmittel zugleich produzierten, während in anderen Regionen unregelmäßige Krater von früheren Terraformingversuchen zeugten. Darüber hinweg zogen Schleier von weißen und sandig-braunen Wolken, die sich immer wieder in heftigen Staubstürmen oder Platzregen über die unfertig wirkende Landschaft ergossen. Passierte das Shuttle dagegen die Nachtseite, glitzerten dort Dutzende Lichtfunken in der Dunkelheit, Spuren von Städten und verstreuten Siedlungen, von Landungspads und vereinzelten Straßen, die sich wie Spinnfäden über die nächtliche Landschaft zogen. Und dann, kurz bevor das Shuttle erneut auf die Tagseite des Planeten zurückkehrte, war für einen kurzen Moment das wohl Wundervollste und zugleich Wertvollste an dieser neuen Aussicht auf den ehemals toten Planeten zu sehen: ein hauchzarter, bläulicher Schimmer, der der Krümmung der nachtschwarzen Kugel folgte. Wesentlich feiner noch als die ohnehin zerbrechlich wirkende Hülle der Erde, doch unverkennbar eine Atmosphäre, die der Mars seit Jahrmillionen nicht mehr besessen hatte. Dann verblasste der Schimmer wieder, und das Shuttle glitt erneut über die Dämmerungsgrenze hinaus. Inzwischen hatte es sich auf wenige Hundert Kilometer genähert, und jetzt waren einzelne Merkmale seiner Oberfläche deutlicher zu erkennen. Die Minen in der Äquatorialzone waren als weitläufige, narbige Schuttfelder und Industriekomplexe zu sehen. Es gab keine Vegetation auf dem Mars, die die Bodenschätze verborgen hielt – die riesigen Förderfahrzeuge der Konzerne fraßen die Oberfläche wie gewaltige Herden langsam ziehender Urtiere und hinterließen wenig mehr als zermahlenes Gestein und tiefe Fahrrinnen, die die Staubstürme schnell wieder verbargen.

Die stählernen Herden ließen nur die tiefsten der Krater aus, und hier, wo im Schatten der Wände Eis gefunden werden konnte, entstanden Oasen aus sich zögerlich ausbreitendem Grün, das sich immer und immer wieder durch die Staubschichten kämpfte, wuchs und mehr und mehr Gestein für sich eroberte. Viele der Flecken waren Überbleibsel aus Terraformingversuchen der frühen Besiedlungsphase, die der lebensfeindlichen Umwelt trotzten und langsam, aber hartnäckig eigene Ökosysteme bildeten.

Olympus Mons kam am Horizont in Sicht, der höchste Vulkan des Sonnensystems, eine gewaltige höckrige Narbe, die sich bis über die junge Atmosphäre erhob. Selbst aus dieser Höhe waren die Tagebau- und Minenkomplexe der Tarsis-Bergbaugesellschaften gut zu erkennen, die sich in das wertvolle Vulkangestein fraßen. Das nördliche Tiefland mochte sich darauf vorbereiten, zu einem Meer zu werden, das den erwachenden Planeten mit Nahrung versorgen würde. Hier jedoch wurde das gefördert, weshalb die Menschen den Mars wirklich in Besitz genommen hatte: Mineralien und Edelmetalle, die auf der Erde nach mehr als zweitausend Jahren Raubbau nur noch schwierig zu finden waren. Auf dem Mars lag der Reichtum noch buchstäblich auf der Straße. Es brauchte nur Leute, die ihn aufhoben. Und die dafür in Kauf nahmen, ihr Leben in Druckanzügen und unter Helmen zu verbringen. Menschen, die bereit waren, dafür zu sterben.

Das Shuttle trat jetzt in die Atmosphäre ein. Es war deutlich langsamer geworden, und jetzt registrierten die Stabilisatoren erste ernsthafte Reibung der Atmosphäre. Das Shuttle ließ die Tharsisregion hinter sich und schoss weiter nach Osten, in Richtung der Valles Marineris, der gigantischen Grabenbrüche des Mars. Dort unten befanden sich die größten Städte des Mars, tief in die Felswände gegraben, um ihre Bewohner vor der Strahlung zu schützen. Sie waren einer der ersten Orte des Planeten, an denen Vegetation gewachsen war, tief genug, um es heute schon Menschen zu ermöglichen, sich ohne Druckanzüge unter freiem Himmel aufzuhalten. Zivilisation – und neben der Erde vermutlich der einzige Ort des Sonnensystems, an dem Menschen je würden leben können. Falls sie nicht auch diese zweite Chance versauten.

Die Pilotin überprüfte die Instrumente, bevor sie sich erneut der Landschaft zuwandte, die unter ihnen vorüberzog. Hunderte und Aberhunderte Kilometer kahler, rötlich brauner Wüste rasten unter ihnen vorbei, jetzt zerklüftet von gewaltigen Rissen und bodenlos erscheinenden Schluchten. Tatsächlich waren die schroffen Canyons bis zu 5000 Meter tief: Das Labyrinth der Nacht wurde diese Region seit ihrer Entdeckung durch Erd-Teleskope poetisch genannt.

Niemand war hier oben unterwegs. Die Luft war zu dünn zum Atmen, und keine Pflanze gedieh in diesen eisigen Höhen, schutzlos der kosmischen Strahlung ausgesetzt. Und das Gelände selbst war zu zerrissen für die Minenfahrzeuge und zu unwegsam für Siedlungen in den Canyons. Niemand … in diesem Augenblick entdeckte sie eine Staubfahne, die aus einem der breiteren Canyons aufstieg, und das Licht der späten Sonne blitzte kurz auf einer Glasfläche.

So gut wie niemand, korrigierte sie sich im Stillen. Es gab immer Verzweifelte, Abenteurer, Glücksritter und vermutlich auch Gesetzlose, die sich ins Labyrinth der Nacht vorwagten, einige auf der Suche nach Bodenschätzen, an die die großen Minenkonzerne nicht herankamen, andere wegen der Hoffnung auf große Entdeckungen oder auf der Jagd nach Hirngespinsten, und manche der unwegsamen Einsamkeit wegen, in der sie selbst den elektronischen Augen der Satelliten verborgen blieben. Menschen waren schon seltsam. Mit ein wenig Disziplin und Einsatz konnte sich jeder seinen Platz in der Welt verdienen, und doch zog es einige immer weiter hinaus in die unbequeme, unwirtliche und vor allem einsame Wildnis jenseits der Zivilisation.

Die Pilotin warf einen letzten Blick hinab auf die Staubwolke, bevor jene hinter den Steilwänden verschwand. Dann leitete sie den letzten Teil des Sinkflugs ein, der sie Tausende Meter tiefer hinab auf den Grund der größten Täler brachte, ins Herz der erblühenden Mars-Zivilisation.

PROSPEKTOREN

Valles Marineris, Westliches Canyonsystem, Mars2148

Oren sah durch die staubige, zerkratzte Scheibe des Rovers hinauf zum graublauen Marshimmel, bis das winzige Shuttle hinter dem Kamm der nächsten Canyonwand verschwunden war. Es war das einzige Zeichen von Zivilisation gewesen, das sie seit Stunden gesehen hatten, und bereits jetzt ging ihm die stumme Einsamkeit hier draußen auf die Nerven. Und dabei war er nicht einmal allein, und es war alles andere als still.

Migual, sein Fahrer, nickte im Takt der Musik, die seit Stunden aus dem Soundsystem des Rovers dröhnte. Oren hatte zwar die Geräusche filternden Kopfhörer eingeschaltet, aber das Wummern der Bässe drang als Vibration immer noch zu ihm durch. »Bitte, Migual. Kannst du das endlich mal leiser machen? Ich krieg langsam Magenschmerzen davon.« Er klopfte sich auf den Atmosphärenanzug, dessen Front sich leicht, aber doch sichtbar über seinem Bauch spannte. Das sollte in einem inaktiven Anzug eigentlich nicht so sein.

Der Fahrer sah über die Schulter und grinste. »Ach komm, Oren. Das ist bester Mariner-Synthry. Klassiker! Was willst du denn stattdessen hören? Eine Rede der Präsidentin?« Er lachte, und Oren verzog das Gesicht. Miguals Vorliebe für Mariner-Oldies hing ihm nach vierzehn Stunden Fahrt zwar gehörig zum Hals raus, doch das war kein Vergleich zu den berüchtigten Reden, die die Präsidentin der Tharsis-Föderation gern und überaus häufig hielt.

»Gibt’s nicht irgendwas dazwischen?«

»Jede Menge! Aber fürs Erste ist das dran. Ich hab das neue Album von denen noch nie ganz gehört. Das genieße ich jetzt!« Migual grinste breit und konzentrierte sich wieder auf die steinige, markierungslose Strecke vor ihnen, die nur auf dem HUD so etwas wie eine Wegführung aufwies.

Hyunki, der dürre Mariner, der auf dem Beifahrersitz neben Migual lag, gestikulierte in Richtung Wegfinder und erklärte etwas im eigentümlichen Kauderwelsch der Mariner, das Oren so gut verstand wie Kanto. Er konnte kein Kanto. Es war schon erstaunlich, in welcher Geschwindigkeit sich hier draußen alles änderte. Die Mariner, wie sich die auf der Oberfläche geborenen Einwohner der Valles Marineri selbst nannten, waren langgliedrig und hager und wirkten mit ihren großen Köpfen mehr wie Aliens als Menschen. Ihre Sprache hatte sich in weniger als hundert Jahren zu einem komplett eigenständigen Gemisch aus Dutzenden Erdensprachen entwickelt, das außerhalb des Mars bereits eigene Übersetzer brauchte. Und sie zelebrierten ihre Eigenständigkeit mit einem grimmigen Stolz.

Er verdrehte die Augen, atmete tief durch und sah seine Frau an, die ihm gegenüber im geräumigen Heck des Rovers saß. Venta Chitru lag mit geschlossenen Augen in ihrem Gyrositz und schien zu schlafen, doch das kaum merkliche Lächeln um ihre Mundwinkel verriet Oren, dass sie sehr wohl zugehört hatte. Und vermutlich wusste sie auch, dass er sie in diesem Augenblick ansah. Diese Frau war schon immer schlauer gewesen als er, und sie schien immer zu wissen, was er gerade tat und dachte. »Mig macht das nur, um dich zu ärgern. Das weißt du doch«, sagte Venta, ohne die Augen zu öffnen.

Oren schnaubte. »Und ich rege mich nur auf, weil er das erwartet. Das hält ihn bei Laune.«

»Na sicher.« Ventas Lächeln wurde breiter, und sie schlug die Augen auf. Wie alle Marsianer war sie blass, doch sie war für eine Mariner zu klein, und ihre dunklen Augen und die gestutzten Locken verrieten ihre Wurzeln irgendwo im weiteren Äquatorbereich der Erde. Sie hatte einmal geäußert, dass sie auf die Arabische Halbinsel tippte, aber sicher war sie sich nicht, und einem Gentest hatte sie sich immer verweigert. Ihre Eltern stammten vom Mond. Also vom Erdmond, und sie selbst war wie er auf der Orbitalstation über dem Mars geboren. Eine von inzwischen Tausenden Spacern, und Venta beließ es mit Stolz dabei. Oren war es egal, woher sie kam, solange diese Augen ihn ansahen, wenn sie sich öffneten.

Venta ließ einen Monitor von der Decke herabfahren und musterte die Bilder der Außenkameras, die darauf erschienen. »Da draußen sieht es aus wie vor 150 Jahren. Nichts als Dreck, Staub und Felsen.«

Oren nickte. Schotter und Geröll türmten sich in endlosen Halden vor ihnen, aufgefüllt mit festgebackenem Sand und feinem, ockerfarbenem Staub, der in der dünnen Luft immer wieder aufstob und in langen Schleiern davongetrieben wurde oder in Staubteufeln vor ihnen über die Piste tanzte. Eine dichtere Fahne hing hinter ihrem Rover und versperrte den Außenkameras die Sicht. Hier oben, weitab der Siedlungen, war der Mars tot wie eh und je. »Ich glaube nicht, dass wir jemals eine Atmosphäre aufbauen, die hier oben etwas ändert.« Er deutete auf die Statistiken am Rand des Monitors. »7218 Meter über null. Da wächst auch auf der Erde nichts.«

»Oi«, schaltete sich der Mariner ein. »Daangra. Sicher wächst was hier oben. Nur nicht hier auf dem Fels, sondern«, er schob in einer seltsamen Geste die Hände untereinander und grinste, wobei er bemerkenswert künstliche Zähne zeigte, »unten. Im Boden. Wir sind hier nicht auf der Erde. Mars hat eigene Gesetze, shi de? Ich werde zeigen.«

Oren warf seiner Frau einen fragenden Blick zu. »Das sollte nicht möglich sein, oder?«

Sie wandte den Blick nicht vom Monitor. »Das Einzige, was wir über den Mars wissen, ist, dass wir immer noch überhaupt nichts wissen.«

»Das sagst du immer.«

»Weil es wahr ist. Wir haben eine vage Ahnung, was unten in den Valles liegt, und an den Seen, wo sich die Luft und die Siedler sammeln, aber abseits davon …?« Sie hob die Schultern. »Die Wissenschaftler haben komplexe Bakterien gefunden, die wir sicher nicht eingeschleppt haben. Wir wissen einfach zu wenig.« Sie stutzte, runzelte die Stirn und positionierte eine Kamera neu. »Ist es das da, Hyunki? Dieser Einschnitt?«

Der dürre Mariner sah nach oben auf seinen eigenen Monitor und nickte. »Shi de. Dort oben ist unser Camp. Es ist nicht mehr weit.«

Oren ließ den Monitor nicht aus den Augen. Der steinige Hang endete rechts von ihnen wie schon seit Stunden am Fuß einer Felswand, die sich schroff über ihnen erhob. Der Wind von Jahrmillionen und der Regen einiger Jahrzehnte hatten ein scharfes Linienmuster in sie gegraben, doch der Ursprung dieser Wand, dieses Labyrinths aus Hunderten großer und kleinerer Canyons, lag nicht im Wetter. Das Labyrinth der Nacht verdankte seine tiefen Schluchten denselben Urgewalten, die auch die Grabenbrüche der Valles Marineris erschaffen hatten. Satelliten im Marsorbit hatten in den letzten fünfzig Jahren fast jedes dieser Täler kartiert und auf der Suche nach Rohstoffen bis tief in den Untergrund durchleuchtet, doch noch immer hatte die meisten der trostlosen Einschnitte nie ein Mensch betreten.

»Einladend.«

Hyunki ging nicht darauf ein. Er deutete auf eine Unterbrechung in der Schluchtenwand, die auf einen weiteren Nebencanyon hinwies. »Vielversprechende Stelle, dort oben. Wir haben im letzten Jahr neue Karten von SentinatCorp gekauft. Dort oben liegt Platin und einiges andere. Nicht genug für die Großen, aber mehr als genug für uns. Außerdem Lavaröhren. Ideal zum Abbau, seht ihr?« Er tippte auf den Monitor, und jetzt konnte auch Oren erkennen, dass das, was er vorher für einen Schatten gehalten hatte, eine dunkle Öffnung in der Canyonwand war. »Es ist eine ziemlich dichte Röhre. Einfach zu versiegeln, gut für Basis. Arbeiten ohne Druckanzug ist leichter, shi de?«

Oren musste zugeben, dass das stimmte. Er kannte die harten Arbeitsbedingungen der Prospektoren in den Schürfercamps. Das Beste, was einem passieren konnte, war die Arbeit in einem unter Druck gesetzten Abschnitt der Hunderte Kilometer langen Lavaröhren. Glücklicherweise war genau dort auch eine Menge zu holen, wenn man wusste, wonach man suchte. Er konnte verstehen, warum die Mariner sich diesen Abschnitt ausgesucht hatten.

»Und dort drinnen habt ihr das Schiff gefunden?« Venta sah skeptisch aus.

»Wie ich gesagt habe, Taitai. Zumindest halb. Es hat die Wand durchschlagen und ragt in die Röhre.« Der Mariner zuckte mit den Schultern.

Oren verzog das Gesicht. Er konnte die Skepsis seiner Frau nachvollziehen. Das meiste Gestein hier war Vulkangestein. Ein Schiff, das mit Absturz-Geschwindigkeit auf der Marsoberfläche auftraf, wäre mit ziemlicher Sicherheit in einem hässlichen Feuerball in tausend Fetzen gerissen worden. Irgendwas an dieser Geschichte stimmte nicht. Doch sie hatten keine Wahl. Wracks waren Bergungsgut und gehörten dem Finder, solange niemand sonst Anspruch darauf erhob. Was im Regelfall einer der großen Konzerne war, deren Schiffe den Mars anflogen, doch dazu musste erst einmal zweifelsfrei festgestellt werden, welchem Konzern der Schrotthaufen gehörte. In den vergangenen hundert Jahren hatten Hunderte Schiffe den Mars angeflogen – und ein Haufen davon hatte den Anflug nicht überlebt. Dass eines der großen, kommerziellen Schiffe verschollen ging, war so gut wie nie der Fall. Soweit Oren wusste, gab es noch genau drei Frachter, deren Verbleib ungeklärt war, und keiner davon war in dieser Region heruntergekommen. Anders sah es mit den kleinen, privaten Schiffen aus. Um die vergangene Jahrhundertwende hatte ein regelrechter Run auf den Mars eingesetzt, als klar wurde, dass das Terraforming funktionierte. Und es war erstaunlich, wie viele Orbitalshuttle und Kurzstreckentransporter sich umrüsten ließen, um zumindest einen Flug bis ins gelobte Land zu überstehen. Noch erstaunlicher war, wie viele Menschen bereit gewesen waren, dieses Risiko auf sich zu nehmen, um in fliegenden Blechdosen selbst zum Mars zu schippern oder sich für Wucherpreise von Schleuserunternehmen hinbringen und über dem noch immer unwirtlichen Planeten abwerfen zu lassen. Diese Auswandererwelle hatte Tausende Menschen das Leben gekostet. Und sie hatte niemanden davon abgehalten. Niemand wusste genau, wie viele der Siedlerexpeditionen auf dem Anflug verloren gegangen waren und wie viele die Landung nicht überlebt hatten, oder die darauffolgenden Tage, wenn es nicht gelungen war, Kontakt zu den Marsbehörden aufzunehmen. Immer wieder stolperten Prospektoren über undichte Landungscontainer, in denen entkräftete Familien erstickt oder verhungert waren, und bis heute spürten Satelliten immer wieder die Reste von abgestürzten Schiffen oder verlassenen Camps auf. Ein unentdecktes Wrack eines Landungsschiffs war, egal, in welchem Zustand, eine Goldgrube für jeden Prospektor, der einen Finderanspruch geltend machen konnte. Und deshalb hatten die Prospektoren sie geholt. Als vereidigte Prüfer der Tharsis-Föderation war es ihre Aufgabe, Funde zu sichern, Claims zu prüfen und Ansprüche rechtskräftig zu bestätigen. Und wenn die Mariner tatsächlich gefunden hatten, was sie behaupteten, dann gönnte Oren ihnen den Fund. Außerdem war die Provision aus dem Anteil, der der Föderation zustand, auch nicht zu verachten.

»Na gut.« Oren zuckte mit den Schultern. »Sehen wir uns das Ding an, und dann ladet ihr uns zum Essen ein.«

Migual schnaubte. »Glaubst du wirklich, dass die Jungs etwas Besseres im Kühlschrank haben als wir, Oren?«

»Wir haben Bohneneintopf mit InVi-Kobe und eine Kiste Rockhammer. Zur Feier des Tages. Falls es etwas zu feiern gibt.« Der Mariner hob vielsagend die Brauen und grinste.

»Das ist tatsächlich besser!« Migual sah verblüfft in den Rückspiegel, und Hyunkis Grinsen wurde breiter.

»Also gut. Gehen wir’s an, bevor es dunkel wird.« Migual folgte den Anweisungen des Mariners und ließ den Rover einer kaum sichtbaren Spur über das steiler werdende Geröllfeld folgen. Oren spürte die Stabilisatoren des Fahrzeugs fauchen, und Migual pfiff leise durch die Zähne. »Und hier seid ihr ernsthaft hochgefahren?«

Hyunki winkte ab. »Nicht zuerst. Aber ist nur ein kurzes Stück bis zur Garage, dann wird es eben. Besser als laufen.«

»Hm«, machte Migual. »Das denken aber nicht alle, oder? Irgendein Grund, warum ihr so seltsam parkt?«

Orens Blick wanderte wieder auf den Monitor. Vor ihnen, kurz unterhalb der Öffnung, stand ein weiterer Rover, in einem schier unmöglich steilen Winkel unterhalb der Canyonwand abgestellt. Es war ein älteres, vierrädriges Modell, kleiner als ihr eigener und in deutlich schlechterem Zustand. Der Wind auf dem Mars mochte nicht viel Kraft haben, doch die häufigen Staubstürme hatten die Farbe beinahe vollständig von der Außenhaut dieses Fahrzeugs gescheuert, und Oren gelang es nicht, die kaum sichtbare Kennung zu entziffern.

Das schmale Gesicht des Mariners wurde finster, und er richtete sich in seinem Sitz auf, ein eigenwillig langgliedriger Mann, dem man plötzlich deutlich ansah, dass er zu den auf dem Mars Geborenen gehörte. Er starrte auf den Bildschirm. »Der gehört nicht zu uns.«

Oren sah Venta an. »Zu wem dann?«

»Konkurrenz?«

»Wie meinst du das – Konkurrenz?«, fragte Migual über das Heulen der Servomotoren hinweg. Dann drosselte er die Fahrt, und der Rover kam ruckend zum Stehen.

»Andere Prospektoren«, antwortete Hyunki düster. »Wir haben vor einer Woche Spuren gesehen. Dachten, sie wären weiter nach Westen gefahren.«

»Also kein freundlicher Nachbarschaftsbesuch?« Oren zoomte das Bild des fremden Rovers heran. Aus der Nähe waren die Kreise einer Schleifmaschine auf dem Metall zu erkennen. Kein Wunder, dass die Kennung unleserlich war.

Hyunki klickte mit der Zunge, ein Laut, den viele Mariner verwendeten, um Besorgnis auszudrücken. »Unten in den Valles habt ihr vielleicht freundliche Nachbarn, pinju. Hier oben? Hier bringt man sich Freunde mit. Und schläft mit Auge offen.«

Oren nickte. Wenn er ehrlich war, hatte er nichts anderes erwartet. Der Mars war auf dem Weg, eine zweite zivilisierte Welt der Menschheit zu werden. Aber so weit war es noch nicht. Im Moment war der größte Teil des Planeten noch unzivilisiertes Grenzland, nur ohne die Wildnis und die Ureinwohner. Die Gesetzlosen allerdings waren da. Deshalb gab es Leute wie sie.

Venta hatte augenscheinlich die gleichen Gedanken. Sie löste einen Magnetkoffer von der Wand und entnahm ihm drei Handfeuerwaffen. Sie überprüfte den Ladestand und schob eine davon über den Tisch.

Oren verzog das Gesicht. »Bist du sicher? Die Dinger machen mehr Ärger, als sie …«

»Worauf willst du warten?«, unterbrach ihn Venta, »Die Marschalls? Wir sind ValleyTec, wir sind das offizielle Gesetz hier draußen.«

»Mig ist Bergbautechniker und ich Cyberhistoriker, wenn ich dich daran erinnern darf, Liebste.«

»Ihr sollt auch nur dekorativ bedrohlich aussehen, wenn’s nötig ist«, entgegnete Venta. Sie lächelte breit und klippte die Waffe an den Oberschenkel ihres Druckanzugs. »Überlasst den Rest mir. Und lasst die Finger von der Sicherung. Verstanden, Mig?«

»Du bist die Chefin, Chefin.« Der Fahrer kletterte aus seinem Sitz, zuckte mit den Schultern und nahm eine der übrigen Waffen vom Tisch.

Seufzend griff Oren nach der letzten. Mit wenigen Handgriffen hatten sie ihre Helme übergestülpt und gesichert, bevor Venta die Schleuse aktivierte.

Der Druckanzug zog sich um Orens Gliedmaßen zusammen, noch während er den Rover verließ. Die Atmosphäre des Mars war in dieser Höhe so dünn, dass sie ohne die Nanofiber-Anzüge das Bewusstsein verloren hätten, noch bevor die eisige Kälte sie umbringen würde. Selbst einhundert Jahre beinahe rücksichtslosen Terraformings hatten in dieser Höhe kaum einen Schleier hinterlassen, und der Himmel hatte den seltsam blauvioletten Ton, der die Grenze zum All ankündigte. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Oren diesen Anblick bewundert, doch jetzt hatte er nicht mehr als einen flüchtigen Blick dafür übrig. Stattdessen umrundete er den fremden Rover. Es befand sich niemand im Inneren, so viel hatte ein schneller Scan ihrer eigenen Bordinstrumente gezeigt. Außerdem stand die äußere Schleusentür des Fahrzeugs offen. Das war geradezu fahrlässig schlampig. Also hatte es jemand ziemlich eilig gehabt. Oren strich mit dem Handschuh über den Lack. Er hatte recht gehabt. Man hatte die Kennung des Fahrzeugs tatsächlich absichtlich abgeschliffen. Die Kreise der Schleifmaschine waren von Nahem gut genug zu erkennen, und vermutlich war der nachlässig aufgetragene Farbüberzug eine Nanopaste, die die alte Kiste für Radar und Satelliten fast unsichtbar machte. Nicht allzu ungewöhnlich, doch das ungute Gefühl nahm zu. Er schielte durch die Windschutzscheibe. Das düstere Innere des Fahrzeugs war unaufgeräumt und im Vergleich zu ihrem Dienstfahrzeug äußerst spartanisch. Er glaubte, vier Sitze zu erkennen, doch sicher war er sich nicht. Er aktivierte die Bordfrequenz und teilte seine Beobachtung mit. Dann zögerte er. »Wie viele von euch sind dort drin, Hyunki?«

Die Stimme des Mariners klang etwas blechern in seinem Helm. »Zwei. Rajani und Sam. Die anderen sind bestimmt noch nicht zurück.«

Oren nickte. »Und wie weit drin ist das Lager?«

»Etwa einhundert Meter. Dort war die günstigste Stelle für das Siegel, und …«

Venta unterbrach Hyunki mit einer knappen Geste. »Ich glaube nicht, dass sie uns schon bemerkt haben. Die Luft hier trägt nicht genug Schall, und wenn sie nicht gerade eine Wache oder ’ne Kamera aufgestellt haben, haben sie uns vermutlich auch noch nicht gesehen. Und bis jetzt schießt niemand. Ich halte das für ein gutes Zeichen.« Sie zog ihre Waffe und stapfte die wenigen Meter hinauf bis an den Rand der Tunnelöffnung. »Nope. Keine Wache«, verkündete sie gleich darauf trocken.

Oren stellte fest, dass er die Luft angehalten hatte. »Kannst du das bitte lassen? Was, wenn jemand auf dich geschossen hätte?«

Venta schüttelte den Kopf, auch wenn die Bewegung in ihrem Helm kaum zu sehen war. »Vier Leute, und sie haben noch nicht einmal eine Alarmanlage an ihrem Rover aktiviert. Wie Leute, die Geld genug für eine Sicherungsdrohne übrig haben, sieht die Karre auch nicht aus, und vier Leute sind für einen schnellen Raubzug, der sich lohnen soll, ohnehin schon zu wenig. Sie können es sich gar nicht leisten, jemanden als Wache zu verschwenden.«

»Ich schätze, sie hat recht«, warf Migual ein. »Ich denke, sie rechnen hier draußen am Arsch der Welt genauso wenig mit Besuch wie die Prospektoren.«

»Klopf, klopf«, sagte Venta. Sie löste die Kameradrohne von ihrem Helm und warf sie in den dunklen Tunnel.

Am oberen Rand von Orens Helmdisplay flammte das Bild der Drohnenkamera auf. Gleich darauf verwandelte es sich in ein thermografisches Bild, als Venta das kaum handflächengroße Flugobjekt in den Tunnel dirigierte. Die Ansicht war verwaschen, kontrast-, vor allem aber farblos. »Siehst du? Niemand da.« Venta klang unbekümmert, doch er kannte seine Frau gut genug, um die Anspannung in ihrer Stimme zu hören.

»Dann los.« Mit einer Geste wischte er das Bild der Drohne von seinem Display und aktivierte seine eigene Kamera. Schweigend betraten sie den Tunnel. Die alte Magmaröhre war groß genug, um selbst einen großen Rover problemlos hineinfahren zu lassen, und der Staub auf dem Boden zeigte neben zahlreichen Stiefelspuren auch die Abdrücke breiter Reifen. Die Röhre war Millionen von Jahren alt, doch die beinahe nicht vorhandene Atmosphäre des Planeten hatte schon wenige Schritte weit im Inneren kaum noch Erosionsspuren hinterlassen. Bizarre Tropfen einst flüssigen Gesteins hingen hier und da von Wänden und Decke. Nur gelegentlich hatte der Rover der Prospektoren einige davon zerstört, und ihre Trümmer lagen wie Teile geborstener Gefäße oder fremdartiger Statuen auf dem Felsboden. Vorsichtig tasteten sie sich voran. Die computerunterstützten Helmdisplays zeigten zwar so viel des Bodens wie möglich, doch es war trotzdem immer noch leicht, einen der messerscharfen Splitter zu übersehen und sich die Wade aufzuschneiden. Die Druckanzüge waren robust, aber Vulkanglas war härter als Stahl.

»Irgendetwas stimmt ganz sicher nicht.«

Oren zuckte zusammen. Hyunki hatte zwar leise gesprochen, trotzdem brauchte er einen Moment, bis ihm klar wurde, dass der Mariner auf einer gesicherten Frequenz sprach, die außerhalb seines Helms nicht zu hören war. »Wir haben hier Lichter installiert. Unser zweiter Rover müsste jeden Moment vor uns auftauchen. Spätestens dort. Wir haben da eine Werkstatt aufgebaut.«

»Das kann ich bestätigen«, klang Miguals Stimme in seinem Helm. Der Fahrer bückte sich und hob einen Gegenstand hoch, den Oren im Nicht-Licht der HUD-Ansicht als Multischrauber erkannte. »Niemand geht mit diesen Dingern so um. Die kosten geradezu unverschämt viel.«

Hyunki knurrte etwas Unverständliches und ging schneller. Nur wenige Meter später tauchte der Umriss eines klobigen alten Rovers vor ihnen auf. Dieses Modell war noch älter als das am Eingang der Röhre; eine ehemalige vollautomatische Lastenraupe, die jemand erst nachträglich mit einer Fahrerkabine ausgestattet hatte. Der Eigenbau war umso offensichtlicher, da die Versorgungseinheiten wie Sauerstoff- und Drucktanks mit groben Schweißnähten an die Kabine geheftet waren. Das Fahrzeug verfügte nicht einmal über eine Schleuse und war augenscheinlich alt genug, um noch aus den frühen Tagen der Marsbesiedlung zu stammen. Vermutlich würde sich dafür sogar ein Sammler finden lassen.

Mit einem unterdrückten Fluch stapfte Hyunki auf das Fahrzeug zu. Jemand hatte die Tür offen gelassen. Und jetzt, da Oren genauer hinsah, konnte er erkennen, dass jemand die Kabine durchwühlt hatte. Nahm er zumindest an. Der Mariner öffnete eine Klappe an der Seite des Rovers und holte ein abgegriffenes Nagelschussgerät heraus. Dann winkte er die anderen vorwärts.

Als sie den Rover passiert hatten, entdeckte Oren zum ersten Mal Licht. Es kam von einem trüben Flecken Kunststofffolie, das einige Dutzend Schritte vor ihnen im Gang zu schweben schien.

»Das Siegel«, erklärte der Mariner.

»Sieht ziemlich düster aus«, murmelte Migual. »Soll das so sein?«

»Wir haben es aus Solarfolie geschweißt«, erwiderte Hyunki mit einem säuerlichen Unterton. Oren bemerkte, wie sie alle instinktiv flüsterten. »Wenn wir uns ein richtiges Siegel leisten könnten, würden wir wohl kaum einen Schrotthaufen wie den hier fahren, oder?« Oren musste zugeben, dass da etwas dran war. »Blockiert das meiste Licht, ist aber robuster als der Billigmist, den sie dir unten im Valley andrehen. Und auf Transparenz ist hier oben gepfiffen, shi de?« Er schulterte die Nagelpistole, doch Venta hielt ihn zurück.

Erneut warf sie ihre Drohne in die Luft, und mit einem gedämpften Sirren schoss die kleine Maschine davon, auf das leuchtende Rechteck zu. Das Bild, das ihre Kamera auf die Helmdisplays warf, war nicht sonderlich aufschlussreich. Der Kunststoff des Siegelfensters war zerkratzt und beinahe blind, und mehr als einige Schemen und die Anwesenheit von mindestens vier Lichtquellen war nicht zu erahnen. Die Drohne folgte Ventas Befehlen und schwebte nach rechts, wo ihre LEDs eine improvisierte Schleusenkammer beleuchteten. Venta musterte sie skeptisch. »Das sieht nicht sehr sicher aus.«

»Es hält und erledigt seine Aufgabe. Und es ist der einzige Eingang«, erklärte der Mariner knapp.

»Und wir haben keine Möglichkeit zu sehen, was im Inneren passiert?«

»Wenn ihr kein Loch schneiden wollt – nein.«

»Ich würde das nicht tun, Venta. Der Abschnitt dahinter steht unter Druck, und …« Migual stockte und verstummte. »Weißt du natürlich«, murmelte er dann.

Venta warf ihm einen düsteren Blick zu und würdigte ihn keiner Antwort. Stattdessen drehte sie sich zu Oren um, und vermutlich konnte nur er die Besorgnis in ihrer Miene erkennen. »Das heißt, wenn wir dort reingehen, tun wir das blind?«

»Blind, aber zumindest nicht angekündigt.« Oren warf dem Mariner einen prüfenden Blick zu.

Hyunki zuckte nur mit den Schultern. »Wir haben keine Kamera an der Tür angebracht, falls du das meinst. Für die anderen kann ich aber nicht reden.«

»Falls die einen Schnüffler installiert haben, wird’s nicht besser, wenn wir warten«, warf Venta ein. Sie überprüfte nochmals ihre Waffe. »Wir gehen zusammen.«

Niemand widersprach. Sie drängten sich in die enge Kunststoffschleuse, und Oren war sich schmerzlich bewusst, dass sie ein hervorragendes Ziel abgaben, falls jemand die innere Schleusentür im Visier hatte. Dann war ein leises Bing zu hören, und Migual entriegelte so schnell es ging die innere Schleusenklappe und schob sie beiseite. Für einen Moment blendete das einfallende Licht, bevor sich Orens Visier verdunkelte. Er stolperte nach links weg aus der Kammer, was vermutlich wenig elegant aussah. Aber immerhin schoss ihn niemand sofort über den Haufen. Ein Stapel zusammengebauter Transportkisten tauchte vor ihm auf, und er duckte sich dahinter. Über Funk hörte er das angespannte Atmen der anderen, und erst nach einigen Atemzügen wurde ihm klar, dass niemand auf ihn schoss. Oder überhaupt schoss.

»Ich hatte mit einem etwas wärmeren Empfang gerechnet«, sagte Venta in seinem Ohr.

»Ich halte es für ein gutes Zeichen, nicht tot zu sein«, warf Migual ein. »Kann es sein, dass hier niemand ist?«

Oren sah vorsichtig hinter seinem Kistenstapel hervor. Keine drei Schritte von ihm entfernt entdeckte er einen Standstrahler. Er lag auf dem Boden und leuchtete vor allem die Decke an. »Wie groß ist eure Blase hier, Hyunki?«

»Ich weiß es nicht genau. Als ich gefahren bin, nur etwa dreißig Meter lang. Groß genug fürs Lager. Aber Rajani und Sam wollten sehen, ob sie hinter dem Wrack eine passende Stelle finden, um die Versiegelung zu erweitern. Dann wären es mindestens fünfzig Meter. Nicht viel mehr. Mehr schaffen unsere Kompressoren nicht.« Der Mariner sah, wie Venta aufstand, und schob sich hinter ihr her. Kurz darauf fluchte er in den Funk.

»Niemand zu sehen«, stellte Venta fest. »Aber die haben ganz schön gehaust hier.« Oren stand auf und sah, wie seine Frau im flackernden Licht eines Flutlichts irgendein zerstörtes elektronisches Gerät betrachtete, bevor sie es vorsichtig wieder ablegte. »Was haben die getrieben?«

Oren schloss auf, die Faust immer noch um den Griff seiner Waffe verkrampft. Dass sich hier das Lager der Prospektoren befunden hatte, war nicht zu übersehen. Eine Art Feldküche war an einer Seite aufgestellt, mehrere Feldbetten standen an der gegenüberliegenden Wand, und eine transportable Duscheinheit war etwas entfernt im Schatten der Strahler aufgebaut. Zahlreiche Vorratskisten hatten wohl ursprünglich ordentlich aufgeschichtet an einer Wand gestanden. Jetzt allerdings waren sie umgeworfen und ihr Inhalt über den unebenen, schwarzen Felsboden verstreut. Alles war von schwarzgrauem Staub bedeckt, der im Schein der wenigen noch funktionierenden Lampen glitzerte wie gemahlenes Glas. Vorsichtig hob Oren einen Klappstuhl auf, der aussah, als hätte ihn jemand benutzt, um damit das Vulkanglas zu zertrümmern. »Zumindest haben sich deine Leute gewehrt«, murmelte er.

Hyunki betrachtete verwirrt den umgestoßenen Esstisch. Die Platte wies fingerdicke Löcher auf. Vielleicht hatte jemand dahinter Deckung gesucht? »Aber wo sind sie?«

Migual und Oren wechselten einen Blick. »Bei eurem Wrack«, sagte der Fahrer. »Hier ist nichts, was Deckung bietet, nicht so wie ein Haufen Metallschrott, der einen kompletten Absturz überlebt hat.«

Venta war bereits zum selben Schluss gekommen. Die winzige Drohne war schon wieder in der Luft und schickte jetzt ihre Aufnahme erneut auf ihre Helmdisplays, als sie in die Dunkelheit am anderen Ende des Lagers sirrte. Oren hockte sich hin und konzentrierte sich auf das Bild. Kisten. Stapel von Lagerkisten, in die teilweise Dinge eingefüllt waren, die Oren im Vorbeiflug nicht identifizieren konnte. Die Drohne passierte auf ihrem Weg in die Dunkelheit mehrere zerstörte Strahler, doch nach wie vor nahm sie weder Bewegungen, geschweige denn Lebenszeichen auf. Venta ließ die Drohne inzwischen ein Suchmuster fliegen, um mehr Bodenfläche abzusuchen, aber außer Staub, Stein und gelegentlichen Arbeitsspuren blieb das Bild leer. Umso überraschender tauchte das Gesicht im Bildausschnitt auf, und Oren zuckte mit einem leisen Fluch zusammen. Venta stoppte die Drohne und setzte sie ein kleines Stück zurück. Erneut erschien das Gesicht, grau in der Nachtsicht der Kamera. Oren blinzelte und versuchte sich zusammenzureißen. Es war tatsächlich keinerlei Farbe in den Zügen zu erkennen, was nur bedeuten konnte, dass der Mann, dem dieses Gesicht gehörte, tot war. Lange genug, um dieselbe Temperatur wie der Stein zu haben. Mindestens einen Tag also.

»Ich kenn’ den Baskuda nicht«, sagte Hyunki düster, noch bevor jemand fragte.

Die Drohne verließ abermals das Gesicht, stieg auf und schwebte langsam im Kreis, und jetzt konnte Oren erkennen, was sich hinter dem Mann befand. Das, was er für eine der Tunnelwände gehalten hatte, war in Wirklichkeit die Seite eines Objekts, das nahezu den kompletten Gang blockierte. Und es ähnelte nichts, was Oren je gesehen hatte.

»Das ist es?« fragte er leise. Erst dann bemerkte er, dass seine Stimme plötzlich belegt war.

»Das ist … was genau ist das?«, warf Migual ein.

»Konzentriert euch.« Venta räusperte sich. »Die wichtigere Frage ist immer noch: Wo sind die Leute?«

»Und warum liegt dort ein Toter?«, fügte der Mariner hinzu.

»Das auch.« Mit einer Handbewegung rief Venta die Drohne zurück. »Wir gehen nachsehen.«

»Ich …« Migual schluckte hörbar. »Sollten wir nicht vielleicht besser erst einmal Meldung machen?«

Oren zögerte, doch Venta klang bestimmt: »Vergiss es. Kein Empfang hier drin, und wir kehren nicht um. Wir müssen wissen, was hier passiert ist. Was mit den Leuten passiert ist.« Sie klinkte die Drohne wieder in ihren Helm und schaltete das Licht ihres Anzugs ein. »Seid einfach auf alles gefasst.« Entschlossen hob sie die Waffe und ging in die Dunkelheit.

DAS OBJEKT

Mars2148

»Seid auf alles gefasst«, hatte Venta gesagt. Oren war darauf gefasst gewesen, von einem oder auch drei Prospektor-Wegelagerern angefallen und beschossen zu werden, sich eine Kugel zu fangen, vielleicht auch darauf, über einen weiteren Toten zu stolpern. Worauf er nicht vorbereitet gewesen war, war der Anblick des Objekts. Des Schiffs, versuchte ein Teil von ihm zu korrigieren, doch es schien, als sei er nicht fähig, vollkommen zu verstehen, was er sah. Das Objekt, beharrte ein anderer Teil seines Verstands. Die einzigen Lichtquellen in diesem Teil des Tunnels waren die Lichter ihrer Anzüge und das der Drohne, die jetzt über das Objekt wanderten, während die vier Menschen stumm zu begreifen versuchten, was sich vor ihnen befand.

Das … Objekt hatte aus ihrem Blickwinkel die grobe Form eines Keils. Die Spitze war tief in die rechte Seitenwand des Tunnels gegraben, während das breitere Ende – Oren nannte es instinktiv Heck – beinahe dreißig Meter weiter links in einem Felssturz verschwand. Die Tunnelwände waren geborsten, von Rissen überzogen und sahen generell aus wie etwas, in das ein Raumschiff eingeschlagen war. Beinahe am Rande registrierte Oren, dass die Hitze enorm gewesen sein musste. Hier und dort war das Vulkanglas erneut geschmolzen und in dunkel glitzernden Spritzern über den Boden und die Wände des Objekts selbst versprüht, wo es wieder erstarrt war. Oren stellte fest, dass er sich selbst ablenkte und verzögerte, sich das Objekt selbst anzusehen. Es war kein Schiff irgendeiner Art, die er je außerhalb von HoloSims gesehen hatte. Kein Frachter, kein selbst zusammengeschweißtes Kolonieschiff aus Containern und einem nachinstallierten Henley-Fusionsantrieb, aber auch kein militärischer Kampfraumer oder eine Sonde. Nach allem, was er wusste, sahen nicht einmal interplanetare Trägerraketen auch nur entfernt so aus. Entweder dieses Ding hier war ein Schiff mit einer Tarntechnologie, von der er noch nie gehört hatte, oder … etwas ganz anderes. Ein Schweißtropfen rann ihm über die Wange, und er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu kratzen. »Hyunki, wie lange liegt das hier schon, sagtest du?«, fragte er. Seine Stimme klang zu laut in seinen Ohren.

»Nach unseren ersten Tests mehr als zwanzig Jahre«, sagte der Mariner. Er klang abgelenkt, und wer wollte es ihm verdenken? »Einundzwanzig Jahre sind die ältesten Satellitenaufnahmen, die wir von hier finden konnten. Da ist der Einsturz schon zu sehen.«

»Man sieht das Ding von außen?«, hakte Oren ungläubig nach. Sein Blick wanderte über die Oberfläche. Man hätte es selbst für einen Felsen halten können oder einen fremdartigen Kristallauswuchs, wäre da nicht die stumpf-graue Oberfläche gewesen, jener Ton, den jede Stahloberfläche annahm, wenn sie lange genug kosmischer Strahlung ausgesetzt war. Das heißt, überall dort, wo nicht die enorme Hitze eines Atmosphäreneintritts die Außenhaut des Objekts verfärbt und geschwärzt hatte. Zögerlich trat Oren näher heran. Er streckte die Hand aus, zögerte jedoch. Er hatte bereits mehr als ein abgestürztes Raumschiff gesehen. Und wann immer sie nicht vollständig verbrannt waren, gab es irgendeine Art Hitzeschild. Aber hier? Statt das Metall zu berühren, hockte er sich hin und betrachtete den Boden genauer. Graues Pulver bedeckte den nachtschwarzen Fels rund um das Objekt, an manchen Stellen mehr als eine Handbreit tief. Er nahm etwas davon zwischen die Fingerspitzen seines Handschuhs und zerrieb es. Der Stoff war weit pudriger als Grafit und hing fedrig in der Luft, bevor er in einer feinen Staubfahne glitzernd davonschwebte.

»Mejo«, entgegnete der Mariner. »Nein. Nicht sehen. Man sieht aber den Felssturz, der ihn verbirgt. Ist ein gewaltiger Riss, Meister. Der hat uns erst auf diese Stelle hier aufmerksam gemacht. Ich hab ’nen Riecher für so was.«

Hiyunki stand hinter Venta und sah unsicher auf den Toten hinab, den sie gerade sorgfältig inspizierte.

»Und du bist sicher, dass es ein Schiff ist? Nicht eine von den Wasserstoffraketen, mit denen sie im letzten Jahrhundert den Mars beschossen haben?«

»Ist ein Schiff«, sagte Hyunki bestimmt. »Auf der anderen Seite ist ein Eingang. Das ist keine Rakete. Vielleicht ein Tarnschiff? Militär?«

»Wenn das hier Tarntechnologie ist, habe ich davon noch nie etwas gehört«, sagte Oren und richtete sich wieder auf. »Vor allem habe ich keine Ahnung, wer vor 20 Jahren schon so eine Technik hatte. Jemand auf dem Mars sicher nicht. Und ich glaube, ich kenne jeden Schiffstyp, der jemals den Sprung von der Erde gemacht hat. Nichts davon würde einen Einschlag durch massiven Fels in diesem Zustand überstehen.«