Behindertenpädagogik international - Alois Bürli - E-Book

Behindertenpädagogik international E-Book

Alois Bürli

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Beschreibung

Die Entwicklung der Behindertenpädagogik oder - wie auch immer benannt - der Heilpädagogik oder der Sonderpädagogik wurden stets stark von einer internationalen Betrachtungsweise geprägt. Dies gilt insbesondere für die zentrale Leitidee Integration/Inklusion, wie sie u. a. von internationalen Organisationen (UN, UNESCO, WHO, OECD, EU) propagiert wird. Das vitale Interesse an ausländischen Erfahrungen auf diesem Gebiet führte zu grenzübergreifendem Austausch und Vergleichen. Überdies verstärkte die zunehmende Globalisierung die internationale Kooperation und grossräumige Regulierung. Daraus werden Konturen allgemeiner übergreifender Tendenzen deutlich. Der Autor greift in seinem Buch auf wissenschaftliche Grundlagen und Überlegungen sowie auf jahrzehntelange Erfahrungen, eigene Fallstudien, Beteiligung an Projekten, Erhebungen, Gespräche und Besichtigungen vor Ort in verschiedensten Ländern und Kulturkreisen zurück.

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Der Autor

Dr. h.c. Alois Bürli, Psychologe und Heilpädagoge, war Direktor der Schweizerischen Zentralstelle für Heilpädagogik (SZH).

Alois Bürli

Behindertenpädagogik international

Grundlagen – Perspektiven – Beispiele

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032743-6

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-032744-3

epub:   ISBN 978-3-17-032745-0

mobi:   ISBN 978-3-17-032746-7

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Vorwort

Internationale Behindertenpädagogik als Passion

1     Einführung zur internationalen Behindertenpädagogik

1.1     Umschreibung der internationalen Behindertenpädagogik

1.2     Behindertenpädagogik als Gegenstand (Materialobjekt)

1.3     Internationalität als räumliche Perspektive (Formalobjekt)

1.4     Vorgehensweisen als methodische Perspektiven (Formalobjekte)

1.5     Historische Perspektive (Formalobjekt)

1.6     Ziele und Aufgaben

1.7     Wissenschaftlichkeit

2     Perspektiven der Deskription

2.1     Merkmale wahrnehmen

2.2     Merkmale erfassen

2.3     Merkmale ordnen

2.4     Merkmale beschreiben

2.5     Behindertenpädagogische Phasen und Grundstrukturen

2.6     Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit von Integration

2.7     Verhältnis von Integration und Inklusion

2.8     Methodologische Hinweise zu Integration und Inklusion

2.9     Internationale Einbeziehungskonzepte

2.10     Behinderung und Bildung weltweit

2.11     Akzeptanz der Leitidee Integration/Inklusion weltweit

2.12     Europäische Behindertenpädagogik

2.13     Behindertenpädagogische Safari in Uganda

3     Perspektiven der Komparation

3.1     Vergleiche verschiedenartiger Merkmale

3.2     Vergleiche und Internationalität

3.3     Quellen

3.4     Beobachter und ihre Komparations-/Deskriptionsprozesse

3.5     Methodologische Hinweise zu Komparation und Deskription

3.6     Inklusive bzw. sonderpädagogische Förderung in Europa

3.7     Bildungserschwernisse im OECD-Raum

4     Perspektiven der Kooperation

4.1     Formen internationaler Kooperation

4.2     Kooperation – Fremdheit – Behinderung

4.3     Umgang mit Fremdheit

4.4     Kooperation und Kommunikation im internationalen Kontext

4.5     Veränderungsprozesse im internationalen Kontext

4.6     Methodologische Hinweise zur internationalen Kooperation

4.7     Kooperation innerhalb der EU

5     Perspektiven der Normierung

5.1     Normierung und Normen

5.2     Behindertenpolitik

5.3     Schwierigkeiten der Umsetzung von Normen

5.4     UNO: Normative Verlautbarungen

5.5     UNO: Behindertenrechtskonvention (BRK)

5.6     UNESCO: Weltkonferenz Salamanca

5.7     Europarat

5.8     Europäische Union: Normative Verlautbarungen

Zur Zukunft der internationalen Behindertenpädagogik. Ein Essay in sechs Utopien

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Vorwort

 

 

 

Die Entstehung und Entwicklung der Behindertenpädagogik oder – wie auch immer genannt – der Heilpädagogik oder Sonderpädagogik wurden stets stark von einer internationalen Betrachtungsweise begleitet und geprägt. Das vitale Interesse an ausländischen Erfahrungen auf diesem Gebiet führte vorab zu internationalem Austausch, zu grenzübergreifenden Beschreibungen und Vergleichen. Die zunehmende Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Behinderten- bzw. Heilpädagogik. Neben der nationalen und lokalen Betrachtung stellt sich die Frage nach weltweit übergreifenden oder nach europäischen Tendenzen.

Solche Fragen zogen mich seit Jahren in Bann. Als erster Direktor der Schweizerischen Zentralstelle für Heilpädagogik (SZH) in Luzern konnte ich glücklicherweise diese Interessen ab 1972 während drei Jahrzehnten innerhalb meiner Tätigkeit pflegen. Die SZH wäre ihrer Aufgabe nicht hinreichend gerecht geworden, wenn sie ihr Augenmerk ausschließlich auf die Schweizer Heilpädagogik gerichtet und sich den Entwicklungen im Ausland verschlossen hätte. Ich bin deshalb sehr dankbar, dass ich immer wieder von offizieller Seite in internationale Gremien (so des Europarates, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung/OECD sowie der UNESCO) delegiert wurde, wo es um Fragen der Behindertenpädagogik ging. Dadurch erhielt ich Zugang zu unentbehrlichen Dokumenten, wichtigen Persönlichkeiten und aktuellen Fragestellungen.

Mehrmals durfte ich mich von meinen Alltagsaufgaben zurückziehen, um mich auf internationale Fachfragen zu konzentrieren. In einer intensiven Phase beschäftigte ich mich Mitte der 1980er-Jahre mit der innovativen Behindertenpädagogik in Italien, England und Dänemark, einige Jahre später auszugsweise mit derjenigen Afrikas und der USA. Schließlich war 1989/90 der systematische Vergleich der Behindertenpädagogik in europäischen Ländern Thema meines ersten einschlägigen Lehrauftrags an der Universität Zürich. Sicherlich hat auch das zusammenwachsende Europa das Interesse an internationaler und vergleichender Sonderpädagogik verstärkt.

Dies alles führte dazu, dass ich in Referaten sowie Büchern und Zeitschriften bereits einiges zur internationalen Behindertenpädagogik berichten konnte, aber meist unter einer eingeschränkten Fragestellung und üblicherweise unter stark limitierten Platz- und Zeitverhältnissen. In meiner Publikation 1997 unter dem Titel »Sonderpädagogik international – Vergleiche, Tendenzen, Perspektiven« habe ich dann den damaligen Kenntnisstand systematisiert und in einen Gesamtzusammenhang gebracht.

In den folgenden Jahren haben sich die internationalen Bemühungen um die Behindertenpädagogik weiterentwickelt. Dabei ging es längst nicht mehr nur um Beschreibungen und Vergleiche, sondern zunehmend um die Entwicklung internationaler Normen und Zusammenarbeitsformen. An den verschiedenen Symposien zur wissenschaftlichen Vertiefung der »Internationalen Heilpädagogik«, so in Brno (Tschechien) 2002, in Görlitz 2004, in Wien 2006, in Zürich 2007, in Oldenburg 2008, in München 2013 sowie in Zürich 2015, leistete ich aktiv meinen Beitrag. Ferner arbeitete ich als Vertreter der Schweiz von 2000 bis 2004 mit im europäischen Netzwerk »European Agency for Development in Special Needs Education«.

Das Thema Integration/Inklusion stand dabei ohne Zweifel zunehmend im Mittelpunkt des internationalen Gedanken- und Erfahrungsaustausches.

Analog zur fachwissenschaftlichen Weiterentwicklung wurden auch meine persönlichen Aktivitäten auf diesem Gebiet fortgesetzt. Diese bestanden insbesondere in der Vorbereitung und Durchführung von Fachtagungen (Görlitz 2004; Zürich 2007), entsprechenden Referaten und Publikationen sowie Lehraufträgen an sieben Universitäten und Hochschulen im In- und Ausland. Insbesondere bin ich seit 2006 bis heute an der Evangelischen Hochschule Darmstadt im Rahmen des internationalen Ausbildungsgangs in Integrativer Heilpädagogik/Inclusive Education tätig, begründet durch Prof. Dr. Anne-Dore Stein. Im Rahmen meines Lehrauftrags in »International-vergleichender Heilpädagogik« ist die vorliegende Publikation sukzessive entfaltet worden. Prof. Dr. Anne-Dore Stein und den Studierenden, aber auch meinem langjährigen SZH-Mitarbeiter Prof. Dr. Gabriel Sturny-Bossart von der Pädagogischen Hochschule Luzern verdanke ich zahlreiche Anregungen.

Nach rund 20 verflossenen Jahren nach Erscheinen meiner Publikation »Sonderpädagogik international« (1997) scheint die Zeit reif für eine zweite Zwischenbilanz, in welcher der Wissensstand neu geordnet und angereichert werden soll. Dies geschieht unter dem Oberbegriff »Behindertenpädagogik«. Die Wahl dieser Bezeichnung erfolgte aus pragmatischen Gründen: die z. T. veralteten bzw. irreführenden Begriffe Heilpädagogik bzw. Sonderpädagogik sowie die umständliche Doppelbezeichnung Heil-/Sonderpädagogik sollten vermieden werden. Angesichts renommierter Lehrbücher, Nachschlagewerke und dem neu erscheinenden mehrbändigen »Enzyklopädischen Handbuch der Behindertenpädagogik« ist zu hoffen, dass mit diesem Begriff über unterschiedliche Berufsgruppen und Positionen hinweg möglichst viele Interessenten angesprochen werden.

Obwohl im Text einfachheitshalber die prägnante Formel »internationale Behindertenpädagogik« verwendet wird, geht es hier nicht darum, unter dieser Bezeichnung eine neue separate Subdisziplin zu etablieren, sondern Behindertenpädagogik primär unter internationalen Perspektiven zu betrachten, sekundär ergänzt durch die Sichtweise der Deskription (Beschreibung), Komparation (Vergleich), Kooperation (Zusammenarbeit) und Normierung (Regulierung). Dadurch soll dieses Fachgebiet besser wissenschaftlich fundiert sowie unbedacht-naiven Aussagen entgegengewirkt werden.

Behindertenpädagogik ist in ständiger Bewegung und Entwicklung. In diesem Sinne muss die vorliegende Schrift eine vorläufige Zwischenbilanz bleiben, die von Natur aus nie vollständig und abgeschlossen sein kann.

Internationale Behindertenpädagogik als Passion

 

 

 

Internationale Behindertenpädagogik löst offensichtlich zwiespältige Ambivalenzen aus. Das Zusammentreffen von Heimat und Ausland, die Einstellung zur eigenen Provinz im Gegensatz zur Internationalisierung und Globalisierung, die Konfrontation von Eigenem mit Fremdem, die Begegnung mit Kompatrioten im Kontrast mit Ausländern, der Umgang mit sich selbst im Gegensatz zu anderen, all dies kann zur Entstehung polarisierender Positionen, zum Schwanken zwischen skeptischer Ablehnung und euphorischem Beschreiben und Vergleichen führen (Bürli 2006b). Diese Thematik hat mich mein Leben lang in Bann gezogen, hat es wie ein roter Faden über mehr als 40 Jahre durchzogen sowie mit Passion und Neugier erfüllt.

Bevor wir uns hier wissenschaftlichen Fragestellungen zuwenden, möchte ich mit meinem stichwortartigen, historisch-biografischen Rückblick eingangs aufzeigen – nicht als Leitbild, sondern als Beispiel zur Einstimmung –, welche Entwicklungen sich aus meiner persönlichen Sicht und Erfahrung abzeichneten, welchen Organisationen und Institutionen, Ideen, Projekten und Personen ich auf dem Gebiet der internationalen Behindertenpädagogik begegnete und was sich dabei in Veröffentlichungen meinerseits, aber auch meiner jeweiligen Mitarbeitenden niederschlug ( Literaturverzeichnis).

In einer quasi chronologischen Reihenfolge werden also nachfolgend – ohne jeweils genaue Angaben von Daten und Dauer machen zu können – eine Reihe von unterschiedlich langen Phasen und nicht exakt abgrenzbaren Stationen beschrieben, die teilweise auch in einem logischen Zusammenhang gesehen werden können. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie weitgehend miterlebt und mitgestaltet wurden, da und dort auch einen Blick hinter die Kulissen ermöglichten. Insofern sind diese persönlichen Erlebnisse, Einblicke und Erfahrungen, die es im Rückblick zu kommentieren und zu reflektieren gilt, eine Ergänzung zu den übrigen Kapiteln.

Zu beachten ist schließlich, dass die Behindertenpädagogik – ( Kap. 1) – hier primär unter internationaler Perspektive betrachtet und bearbeitet wird. Im Gegensatz zur Interkulturalität bewegt sich Internationalität in klaren Grenzen, setzt Nationen voraus und berücksichtigt oft auch kleinere Einheiten (Bundesländer, Kantone, Provinzen usw.). Es scheint angezeigt, mit dem Beispiel des Schweizer Kompetenzzentrums zu beginnen, das sich in den letzten Jahrzehnten intensiv mit nationaler Behindertenpädagogik im internationalen Kontext beschäftigt hat.

a)             Nationales Kompetenzzentrum zur Behindertenpädagogik

In Zeiten des internationalen Ausbaus der Behindertenpädagogik wurde 1972 in Luzern die Schweizerische Zentralstelle für Heilpädagogik (SZH) gegründet (heute in Bern: Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik). Nach meiner Rückkehr aus den USA in die Schweiz wurde ich damals zum ersten Direktor der SZH gewählt. Während 30 Jahren leitete ich den Aufbau und die sukzessive Entwicklung dieses nationalen Kompetenzzentrums für behindertenpädagogische Infrastrukturfragen. Dazu gehörten u. a. Sachgebiete wie Personalausbildung, Professionalisierung, Angebotsstrukturen, konzeptionelle Grundlagen, Finanzierung, Gesetzgebung, Statistik, Forschung (s. u. a. Bürli 1983; 1992a; Bürli & Broch 1993; Bürli & Chappot 1993). Zur Bearbeitung dieser Bereiche im nationalen, intra- und internationalen Rahmen diente folgendes Instrumentarium: Dokumentation, Information, Vorträge, Lehraufträge, eigener Verlag, Publikationen, Zeitschriften, Stellungnahmen, Expertisen, Arbeitsgruppen, Kommissionen, Konferenzen, Kongresse, Förderung der Zusammenarbeit unter den beteiligten Partnern (Bund, Kantone, Private) und den vier Sprachgebieten der Schweiz.

b)             Umschreibung nationaler Behindertenpädagogik

Im Hinblick auf Übersicht, Austausch und Innovation begann die SZH, die schweizerische Behindertenpädagogik als Ganzes sowie wichtige Teilbereiche zu beschreiben. In verschiedenen Sprachen (insbesondere Landessprachen) wurden die Grundzüge der Heil-/Sonderpädagogik in der Schweiz charakterisiert (Bürli 1986a, b; 1993d; Chappot 1981; Bürli & Chassot 1990; Bürli & Besse 1994a; Bürli & Martinoni 1993). Verschiedene Beiträge fanden Eingang in Nachschlagewerke (Bürli 1987a, b). Nachhaltige Darstellungen sollten Jahrbücher zur Schweizer Heilpädagogik bringen (Bürli 1988a; Bürli & Sturny-Bossart 1990). Spezifische Studien galten dem Hilfsschulwesen (Bürli 1976b; 1980), der Sozialgesetzgebung (Bürli 1978a; 1980), der Angebotsterminologie (Bürli & Sturny-Bossart 1986), aber auch der Frage der Personalausbildung (Abschnitt f). Ein großes Projekt war die umfangreiche Sammlung der kantonalen Gesetzgebungen zur erzieherischen, schulischen und beruflichen Förderung Behinderter, herausgegeben von der SZH/SPC (1977; 1980), bearbeitet von Bürli & Gysi); erste Analysen dazu stammen von Gysi (1979) und Höhn (1981). Weitere Sammlungen galten den heilpädagogischen Studienabschlussarbeiten (bearbeitet von Müller, Hagmann & Chappot 1980), den Schweizerischen Organisationen der Behindertenarbeit (Baumeler, Bürli & Chappot 1980) sowie den Medien zum Thema Behinderung (bearbeitet von Baumeler (1981)).

c)             Internationaler Austausch

Die Beschreibung nationaler Strukturen und Entwicklungstendenzen regen offensichtlich zu wechselseitigem internationalem, aber auch intranationalem Austausch an. Dies kann einerseits schriftlich geschehen durch Berichte zur Schweizer Behindertenpädagogik (Bürli 1976a, b) oder jener in der BRD (Bürli 1977b; 1979b) oder zu behindertenpädagogischen Entwicklungen allgemein aus schweizerischer Sicht (Bürli 1978c; 1979c; 1988d).

Mindestens ebenso wichtig ist der internationale Austausch durch persönliche Kontakte. Deshalb pflegte die SZH neben den erwähnten nationalen Aufgaben von Anfang an internationale Beziehungen. Regelmäßig erhielt sie Besuch von Einzelpersonen oder Gruppen aus den Nachbarländern, aber auch aus den USA und Japan. Deren Interesse galt hauptsächlich dem Aufbau des Sonderschulwesens, dessen Finanzierung (Invalidenversicherung) sowie Ausbildungsfragen. Bei Bedarf wurden für sie dazu Studienreisen in der Schweiz organisiert. Umgekehrt wurden Studienreisen zur Behindertenpädagogik in Österreich, Frankreich, Italien, Dänemark und in die USA durchgeführt.

d)             Tagungen und Kongresse

Die Durchführung sowie der Besuch von Tagungen und Kongressen stellen wichtige Meilensteine in der persönlichen Entwicklung und des fachlichen Austauschs dar. Die Schweizer Heilpädagogik-Kongresse, welche die SZH seit mehr als 20 Jahren durchführt, eröffneten stets nationale, aber auch intra- und internationale Perspektiven. Zu aktuellen Themen und Projekten wurden jeweils in kleinerem Rahmen Tagungen organisiert. Bei mehreren »Arbeitstagungen der Dozentinnen und Dozenten in deutschsprachigen Ländern« (kurz: Dozententagungen) arbeitete die SZH bei der Durchführung und Herausgabe von Tagungsberichten mit (s. Kanter 1994; Herz 2017).

Zahlreiche Tagungen standen ganz oder teilweise im Zeichen des sich vereinigenden Europa, so die Dozententagung 1993, die erstmals in einem osteuropäischen Land, nämlich in Ungarn (Budapest), stattfand (Bürli 1994a). Zu einer ähnlichen Thematik vermochte 1989 der Kongress der Schweizerischen Heilpädagogischen Gesellschaft in Davos viele Teilnehmende – auch aus Russland bzw. osteuropäischen Staaten sowie der EG/EU-Zentrale in Brüssel – anzuziehen (Raemy et al. 1990). Mitträger des Kongresses war die damalige European Association for Special Education (EASE), eine lose Vorgängervereinigung der heutigen European Agency for Special Needs and Inclusive Education (Abschnitt n). Relativ regelmäßig besuchte ich – vielfach mit eigenen Beiträgen – die Kongresse der Österreichischen Gesellschaft für Heilpädagogik und des Verbandes Deutscher Sonderschulen (VDS) sowie des deutschen Berufs- und Fachverbandes Heilpädagogik (BHP).

In besonderer Erinnerung bleibt beispielsweise der Kongress 1985 in Hamburg zur Umsetzung des Normalisierungsprinzips (nach Nirje, Bank-Nikkelsen & Wolfensberger). Ursprünglich als Abschluss eines deutschen Forschungsprojekts von Thimm und v. Ferber gedacht, wurde diese Veranstaltung mit weit über 1 000 Teilnehmenden aus allen Kontinenten zu einem Weltkongress mit nachhaltiger Reformwirkung (Bürli 1986c; 2003a).

Einen anregenden Überblick über die weltweiten fachlichen Entwicklungen und Einflüsse im englischsprachigen Raum boten alle fünf Jahre die International Special Education Convention /ISEC (später: Inclusive and Supportive Education Congress/ISEC), welche jeweils in Großbritannien stattfinden und die ich 1990 in Cardiff, 1995 in Birmingham und 2005 in Glasgow besucht habe. Einen Einblick in die Behindertenpädagogik der USA gewährten mir die Teilnahme an zwei Kongressen des Council for Exceptional Children (CEC) in Atlanta (Georgia, 1991) und Minneapolis (Minnesota, 1998).

e)             Beiträge zur internationalen Behindertenpädagogik

Wissenschaftliche Impulse zur Thematik löste die 13. internationale »Dozententagung« aus, die 1976 in Zürich unter dem Titel »Sonderpädagogische Theoriebildung – Vergleichende Sonderpädagogik« (Bürli 1977a) stattfand. Die komparatistischen Beiträge beschränkten sich jedoch auf zwei Hauptreferate und drei Beispiele. Unter dem Begriff Vergleichende Sonderpädagogik bzw. Vergleichende Behindertenpädagogik hat diese Sichtweise später Eingang in Nachschlagewerke gefunden (Bürli 2001b; 2016b).

Der »Vergleichenden Sonderpädagogik« gewidmet war des Weiteren Band 11 (Klauer & Mitter 1987) im Rahmen des zwölfbändigen Handbuchs der Sonderpädagogik, das in den Jahren 1976–1991 erschien. Abgesehen von Grundsatzartikeln (s. u. a. Bleidick & Rath 1987; Trommdorff 1987) handelte es sich weniger um Vergleiche als um deskriptive »Länderkunde«, so auch mein Beitrag zur Schweiz (Bürli 1987a). Auch für den Band 5 zur »Pädagogik der Geistigbehinderten« (Bach 1979) wurde ich eingeladen, dazu internationale Fragestellungen und Tendenzen zu beschreiben (Bürli 1979a). Noch schwieriger war die gleiche Fragestellung für Band 12 zur »Pädagogik bei schwersten Behinderungen« (Bürli 1991a; in: Fröhlich 1991). Hier zeigte sich noch deutlicher, dass die Situation behinderter Menschen nicht allein in Relation zu Bildungsfaktoren international beschrieben und verglichen werden kann, sondern nur unter zusätzlicher Zuhilfenahme demografischer, gesundheitlicher, wirtschaftlicher (usw.) Indikatoren (Bürli 1991b, 1992 f.).

f)             Personalausbildung und Professionalisierung

Die Professionalisierung des behindertenpädagogischen Fachpersonals war eine durchgängige und sukzessiv nationale Thematik mit internationalen Bezügen. Zuerst mussten in der Aufbauphase die Ausbildungsmöglichkeiten besser bekannt gemacht werden (SZH/SPC (1978 ff.)), ferner die Berufsfelder und Berufschancen aufgezeigt werden (Bernath 1992a; Jung 1984). Die Ausbildungsgänge wurden analysiert und optimiert (Bürli 1973a; Studer 1979). Die zunehmende Zahl von Ausbildungsstätten zog deren Koordination durch Rahmenordnungen nach sich (Bürli 1978b), die schließlich in die offizielle nationale Anerkennung der Ausbildungen durch die EDK mündeten. Wegen der EU-Personenfreizügigkeit diente die nationale Normierung auch zunehmend den Äquivalenzprüfungen ausländischer Diplome (s. z. B. Bernath 1992b).

Ein weiterer Professionalisierungsschritt war die Einordnung der heilpädagogischen Ausbildungen auf die tertiäre Bildungsstufe (Fachhochschule, Pädagogische Hochschule) (Bürli 1992g; 1993c; 1993e). In diesem Entwicklungsprozess, der durch die SZH begleitet wurde, wurden zahlreiche damalige offene Fragen der Professionalisierung (Ausrichtung und Einordnung der Ausbildung, Titelschutz, Befähigungen, Berechtigungen usw.) weitgehend geklärt (Bürli 1993a).

Im Zeichen der Integrations-/Inklusions-Bewegung beauftragte die EDK (1992) schließlich eine Studiengruppe mit der Frage nach dem Stellenwert der Sonderpädagogik in der Ausbildung von Vor- und Volksschule-Lehrkräften (Bürli 1995a).

g)             Auseinandersetzung mit Normalisierung – Integration – Inklusion

Im Gefolge der Normalisierungsbewegung stand der weltweite Paradigmenwechsel von der Separation hin zur Integration/Inklusion ab 1970 zunehmend im Mittelpunkt des internationalen Gedanken- und Erfahrungsaustauschs. Diese Entwicklung vollzog sich aber national/regional mit sehr unterschiedlicher Intensität, Zurückhaltung und Begründung. In der Schweiz z. B. standen offenbar anfänglich nicht in erster Linie didaktische oder gesellschaftliche, sondern schulstrukturelle Gesichtspunkte im Vordergrund (Bürli, in: Bächtold & Bonderer 1981). Ferner stellte der damalige Schülerrückgang den Fortbestand von (segregativen) Sonder- bzw. Kleinklassen infrage, was die EDK 1981/82 zur Schaffung einer Integrationskommission veranlasste (Sturny 1984): Angesichts der weitgehend diffusen Begrifflichkeit versuchte Bürli (1986d, e), aus Schweizer Sicht anhand von relevanten Indikatoren Integration operational zu definieren. Eher zusätzliche Verwirrung als Klarheit brachte der Inklusionsbegriff (Bürli 2011a).

Typisch für die damalige schwierige Explorationsphase ist beispielsweise das Projekt 1984–87 des Europarates (Conseil 1989; Council 1987), in welchem eine international zufällig zusammengesetzte Expertengruppe (Frankreich, Norwegen, Österreich, Schweiz, Spanien, Türkei, unter Leitung einer Engländerin) europaweit das neue Postulat der Integration am Beispiel vier- bis achtjähriger Kinder zu erforschen hatte (s. Bürli 1982; 1984b; Bürli, in: Eberwein 1988b ff.; Bürli & Besse 1992).

Normalisierung und Integration/Inklusion blieben auch nach 2000 höchst aktuelle Themen, sei dies im Rahmen von Tagungen, Vorträgen und Berichterstattungen (Bürli 2016a; Bürli, Strasser & Stein 2009), in Kommissionen und wissenschaftlichen Beiträgen (Bürli 2003a; 2009b; 2016c), bei Besichtigungen und Vergleichen.

h)             Systematischer Vergleich Italien – England – Dänemark

Im Zeitraum 1983–1984 erhielt ich von meinem Arbeitgeber (SZH) einen sechsmonatigen Bildungsurlaub. Dies ermöglichte mir, die Behindertenpädagogik – und insbesondere Integration/Inklusion – in drei Ländern, die damals als vorbildlich und innovativ galten, während mehrerer Monate zu besuchen, zu studieren und miteinander zu vergleichen. In Italien, Dänemark und England wollte ich mir diesbezüglich mit eigenen Augen in Theorie und Praxis eine eigene Meinung verschaffen.

In Italien besuchte ich (vor allem in Parma, aber auch in Bologna und Milano) zahlreiche Bildungseinrichtungen, führte viele Gespräche auf allen Ebenen und studierte wichtige Grundlagentexte, insbesondere (auf Italienisch) das Handbuch zu Behinderung und Schule einer der wichtigsten Protagonisten Andrea Canevaro (1983), Professor in Bologna. Ähnlich ging ich in Dänemark (insbesondere in Kopenhagen und Aarhus) vor. Auch hier begann man sich seit Kurzem stark auf Dezentralisierung, Integration und Normalisierung auszurichten (Bürli 1986 f; 1987c). Großbritannien weckte meine Neugier durch den sog. Warnock-Bericht (1978), der einige neue Konzepte (z. B. Special Educational Needs, Abklärungsverfahren, Dezentralisierung) vorsah, die relativ rasch in die Rechtsprechung übernommen wurden. Neben dem Studium der Grundlagen führte ich hier vor allem in Taunton (Summerset) und in Birmingham vielfältige Besuche und Gespräche durch.

Das Besondere der daraus hervorgehenden Studie besteht darin, dass eine einzelne Person innerhalb eines engen Zeitraums nach einem einigermaßen einheitlichen Raster und Vorgehen drei innovative Länder miteinander verglich (Bürli 1984a; 1985a; 1985b).

i)             Studien der OECD zur Integration

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Cooperation and Development/OECD) interessiert sich seit den 1980er-Jahren auch für die Integration Behinderter und liefert dazu mit ihren Indikatoren statistisches Zahlenmaterial (s. Education at a Glance/Bildung auf einen Blick (OECD 2000; 2007; 2008; 2013; 2014; Bürli 2001a).

In den Jahren 1990–1995 führte die OECD eine große Studie zur Integration von Schülern mit besonderem Förderbedarf durch, an der sich rund 30 OECD-Mitgliedsländer (darunter auch die Schweiz) beteiligten. Das Projekt zeichnete sich dadurch aus, dass alle beteiligten Länder ihre Berichte nach einem groben Raster einzureichen hatten (für die Schweiz s. Bürli & Bless 1992; 1994). Daraus ergab sich eine internationale Synopse (OECD 1995). Ferner wurden projektbezogen nationale Tagungen und Veröffentlichungen initiiert (s. u. a. Bürli & Bless 1994; Bürli 1995b; Sturny-Bossart 1995).

j)             UNESCO und UNO

Besonders beachtenswert sind behindertenpädagogisch relevante Aussagen und Aktivitäten weltumfassender Regierungs-Organisationen, mit denen wir uns befassten, so der UNO (Bürli 2015), der WHO (2001; 2005; 2011) und insbesondere der UNESCO (Bürli 1997a, S. 214 ff.; 1990a; 2008b).

Meine offizielle Delegation der Schweiz (zusammen mit S. Rosenberg, Vertreterin der Kantone) an die UNESCO-Weltkonferenz vom 7. bis zum 10. Juni 1994 in Salamanca (Spanien) darf zu den Höhepunkten meiner beruflichen Laufbahn gezählt werden. Mit der Salamanca-Konferenz knüpfte die UNESCO an ihr Aktionsprogramm Education for All an und fokussierte dabei auf Zugang und Qualität von Bildung bei besonderem Förderbedarf (Special Needs Education – Access and Quality). Abgesehen von den inhaltlichen Ergebnissen ( Kap. 5) ist es wichtig, die Hintergründe und Entstehung solcher Verlautbarungen zu kennen. Die Salamanca-Deklaration und der dazugehörige Aktionsplan wurde – notgedrungen – schriftlich von einer Arbeitsgruppe vorbereitet (Lena Saleh, UNESCO; Seamus Hegarty, England/Wales; Peter Mittler (Vorsitzender), England; Peter Evans, OECD; Alvaro Marchesi, Spanien). Der dominante Einfluss Großbritanniens ist anhand dieser Personen, des Inhalts und der Terminologie leicht zu erkennen.

Die verschiedenen Abschnitte der Vorlage wurden in großen Gruppen zur Diskussion gestellt – zusammen mit Andrea Canevaro (Italien) wurde ich ad hoc mit der Moderation einer französischsprachigen Gruppe (vorwiegend aus Schwarz-Afrika) zum Thema Bildung betraut. Die Diskussionsergebnisse wurden am Schluss teilweise dem Plenum mit seinen 400 Teilnehmenden aus allen Kontinenten bzw. aus 100 Ländern der Welt vorgestellt. Die Salamanca-Erklärung (Statement) und der Aktionsplan wurden nicht im Detail »parlamentarisch« behandelt, sondern in globo verabschiedet (UNESCO 1994a–d). Abgesehen von den offiziellen und nicht offiziellen Übersetzungen haben wir (Rosenberg & Bürli) gleich im Anschluss an die Weltkonferenz begonnen, die Texte im Bulletin SZH/SPC (1994, Nr. 4–7) sowie anschließend in der Schweizerischen Zeitschrift für Heilpädagogik (1995, Nr. 1– 4) zu übersetzen und zu kommentieren (s. a. Bürli 1997a, S. 214 ff.). Die Aussagen haben einen relativ geringen Verbindlichkeitsgrad, hatten aber offenbar doch einen maßgeblichen Einfluss auf die Weiterentwicklung der Behindertenpädagogik. Eine bedeutend höhere Verbindlichkeit brachte später die Menschenrechtskonvention der UN (2008;  Kap. 5).

k)             Vertiefung durch Lehraufträge

Verschiedene Lehraufträge an sieben Universitäten und Hochschulen des In- und Auslands trugen erheblich zur persönlichen Erweiterung und fachlichen Vertiefung auf dem Gebiet der internationalen Behindertenpädagogik bei. War die internationale Datenbeschaffung für den Lehrauftrag (1989/90) am Institut für Sonderpädagogik der Universität Zürich noch sehr erschwert, änderte sich dies merklich mit dem Fall der Berliner Mauer (1989) und des Eisernen Vorhangs, ganz zu schweigen durch den späteren Einzug der Digitalisierung und die erhöhte Mobilität. Durch mehrere Lehraufträge am Psychologischen Institut der Universität Bern (1988 f.) sollten Psychologie-Studierende, die vielfach später eine Schlüsselrolle bei der behindertenpädagogischen Versorgung einnehmen, einen Einblick in das entsprechende internationale behindertenpädagogische Gedankengut erhalten. Dank mehreren Lehraufträgen an der Universität Landau (1998 f.) sowie (ab 2001 f.) an der Masaryk Universität in Brno (Tschechische Republik) lernte ich zugleich die Situation in den betreffenden Ländern besser kennen (s. u. a. Bürli 1998). Schließlich unterrichte ich seit 2006 innerhalb des internationalen Studiengangs Inclusive Education an der Evangelischen Hochschule Darmstadt das Fach Internationale und Vergleichende Heilpädagogik.

l)             Besuch Kontrastländer USA – Uganda – Schweiz

In einem zweiten sechsmonatigen Bildungsurlaub (1991) wollte ich die Behindertenpädagogik sehr unterschiedlicher Länder näher kennen lernen und vergleichen, und zwar in der Schweiz, in den USA und in Afrika.

In der Schweiz galt mein Interesse der Behindertenpädagogik dreier Kantone im französischen Sprachgebiet (Bürli & Wolf 1992a; 1992b; 1992c), der anthroposophischen Heilpädagogik sowie ersten Integrationserfahrungen im Kanton Zürich. Der Aufenthalt in den USA begann mit dem nationalen Kongress des Council for Exceptional Children in Atlanta (Georgia). Anschließend lernte ich in Washington D.C. im Kontakt mit dem U. S. Department of Education und nationaler Vereinigungen die dortigen gesellschaftlichen Herausforderungen der Behindertenpädagogik kennen (Bürli 1993b). Schließlich ermöglichte der Aufenthalt an der Indiana University in Bloomington dank Prof. Dr. Barbara Wilcox einen guten Einblick in amerikanische Inklusionsbestrebungen.

Einen nachhaltigen und kontrastreichen Eindruck hinterließ der Besuch des ostafrikanischen Landes Uganda, wo ich, unterstützt durch das nationale Erziehungsministerium (Mrs Veronica Mpagi) sowie die Weltbank, zahlreiche Behinderteneinrichtungen besuchen konnte (Bürli 1992b, c, d).

m)             Behindertenpädagogik und Behindertenpolitik im vereinigten Europa

Die zunehmende Vereinigung und Erweiterung Europas (EWR/EG/EU) wurde (ab 1990) immer mehr mit der Behindertenpädagogik und -politik in Zusammenhang gebracht (Bürli 1982; 1988e; 1990b; 1994b; 2003b; 2007; Bürli & Besse 1994b; Bürli & Forrer 1993). Nationale Kongresse thematisierten zunehmend (auch) die europäische Dimension, so der Kongress des Verbandes Deutscher Sonderschulen (VDS) 1996 in Freiburg i. Br., die Kongresse der Österreichischen Gesellschaft für Heilpädagogik 1996 in Salzburg und 2003 in Gmunden (Bürli 2003b), die »Dozententagungen« 1994 in Budapest (Bürli 1994a) und 2002 in Brno (Bürli 2004). Einen eigentlichen Internationalen Kongress für Heilpädagogik veranstaltete der deutsche Berufs- und Fachverband für Heilpädagogik (BHP), in Zusammenarbeit mit der Internationalen Gesellschaft heilpädagogischer Berufsverbände (IGfH), 2005 in Ulm (Bürli 2006c). Umrisse einer europäischen Behindertenpolitik zeichneten sich zunehmend ab (Bürli 2008a; 2010; 2012a).

n)             European Agency for Development in Special Needs Education

Die European Agency for Development in Special Needs Education wurde 1996 auf Initiative der dänischen Regierung gegründet, unterstützt von Bildungsministerien in 17 europäischen Ländern. Das Ziel war und ist, eine Plattform der Zusammenarbeit zu schaffen, durch die europäische Länder auf dem Gebiet besonderer und inklusiver Bildung voneinander lernen können. Die von der EU unterstützte Institution umfasst heute ein extensives Netzwerk von rund 30 europäischen Ländern, wobei ich 1997–2002 darin die Schweiz vertrat (Bürli). Seit 2014 führt die Agentur als neuen Namen European Agency for Special Needs and Inclusive Education. Dies weist auf den Paradigmenwechsel hin, dass, statt Lernende mit besonderem Förderbedarf in allgemeine Schulen zu integrieren, das Bildungssystem zu verändern ist, damit es den Bedürfnissen aller Lernenden gerecht wird. Die Agency hat bereits eine Vielzahl von Studien zur Inklusionspädagogik in Europa durchgeführt und – vorwiegend im Internet und in englischer Sprache – veröffentlicht (www.european-agency.org).

o)             Optimierung nationaler behindertenpädagogischer Bereiche

Im Zeitraum 1980–90 galt es zu prüfen, ob gewisse behindertenpädagogische Bereiche in der Schweiz ergänzt und/oder optimiert werden müssten und beispielsweise durch ein (evtl. anderes) nationales Konzept unterstützt werden sollten (Bürli 1986).

Bezüglich Früherziehung behinderter Kinder wurde die nationale und internationale Situation analysiert (Balbi-Kayser 1986; Bürli 1988c; Marty-Bouvard 1988). Zu den Perspektiven der Früherziehung in der Schweiz äußerte sich eine von der EDK (1991) eingesetzte Kommission.

Im Hinblick auf eine nationale Harmonisierung der Sonderschulung war von Interesse, welche Angebote existieren, wie sie funktionieren und wie sie bezeichnet werden (Höhn 1981; Bürli & Sturny-Bossart 1986; Dittli & Sturny-Bossart 1991). Im Gefolge der Integration sind zwischen Sonder- und Regelschule verschiedene Spezialdienste und Spezialmaßnahmen entstanden, deren Funktion erläutert und die ins Bildungssystem eingeordnet werden mussten (Mettauer 1991).

Die Berufsbildung behinderter Menschen bedarf ohne Zweifel einer besseren Verbreitung, Bekanntmachung und Fundierung (Bernath 1985; Bernath & Ziegler 1990; Broch 1986; Chappot & Gschwind 1981). Zu dieser Zeit wurde zudem für Jugendliche, die eine reguläre Berufslehre voraussichtlich (z. B. infolge Behinderung) nicht erfolgreich abschließen würden, die Anlehre als spezielle, kürzere Berufsbildungsform gesamtschweizerisch etabliert (Broch & Bernath 1984). Als Erwachsenenbildungsangebot für (geistig) behinderte Menschen wurde der Bildungsclub konzipiert und erprobt (Baumgart 1985).

Mit der Einführung der Invalidenversicherung (1959) wurde die Finanzierung behindertenpädagogischer Leistungen eine Verbundaufgabe des Bundes und der Kantone. Im Rahmen der »Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen – NFA« wurde das schon länger bestehende Bestreben, diese Bereiche zu einer alleinigen Kantonsaufgabe zu machen, nach einer Volksabstimmung 2008 umzusetzen begonnen. Diesem fachlichen und finanziellen Systemwechsel ging ein rund zehnjähriger konzeptioneller Prozess voraus (Sturny-Bossart & Bürli 1989; Bernath, Luchsinger, Bürli & Sturny-Bossart 1993).

Nach der Bearbeitung von Teilbereichen gab die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) der SZH den Auftrag zu einer Gesamtstudie zur Lage und Zukunft der Heil-/Sonderpädagogik im Rahmen des schweizerischen Bildungswesens (Bürli 2005a, b; Sturny-Bossart & Wolf 1992). Zur Kooperation und Harmonisierung dieses Bildungsbereichs genehmigte die EDK später (2011) das sog. Sonderpädagogik-Konkordat.

p)             Systematisierung internationaler Behindertenpädagogik

Die Bearbeitung der vorliegenden Thematik ist über mehr als zwölf Jahre aus dem Manuskript zu meiner jährlichen Lehrveranstaltung an der Evangelischen Hochschule Darmstadt entwickelt worden. Für die Fernuniversität – Gesamthochschule Hagen durfte ich bereits früher einen Lehrbrief schreiben zum Thema »Internationale Tendenzen in der Sonderpädagogik – Vergleichende Betrachtung …« (Bürli 1997b). Parallel dazu begann ich, meine bisherigen Erkenntnisse auf diesem Gebiet zu systematisieren, um bei der Buchpublikation zur Sonderpädagogik die Perspektive »international« hervorzuheben (Bürli 1997a). Zwanzig Jahre später erhielt ich von der Universität Koblenz-Landau den Auftrag, einen Fernlehrbrief zu »Nationalen und internationalen Perspektiven der Inklusion« zu verfassen (Bürli 2017).

Betrachtungsweisen der Internationalität und des Vergleichs begannen sich (ab 2000) vermehrt in der Heil-, Sonder- und Behindertenpädagogik zu etablieren; entsprechende Schlüsselbegriffe fanden Eingang in Nachschlagewerke (Bürli 2001b, S. 95 ff.; 2007, S. 228 ff.; 2016b, S. 177 ff.).

Konzeption und Begrifflichkeit im Kontext von internationaler Behindertenpädagogik entbehren offensichtlich noch durchgängiger Konsistenz. Historisch ist die international-vergleichende Betrachtung und Bezeichnung von Sonderpädagogik bzw. Behindertenpädagogik geläufig. Aber Internationalität lässt sich nicht nur mit Vergleichen koppeln ( Kap. 1).

q)             Internationale Symposien und wissenschaftliche Vertiefungen

Nach 2000 setzte eine neue Phase der internationalen Kooperation und der Öffnung zwischen Ost und West ein. Als Mitinitiant des 1. Symposiums für Internationale und Vergleichende Heil- und Sonderpädagogik 2004 in Görlitz hielt ich dort das Hauptreferat (Bürli 2006a; in: Albrecht, Bürli & Erdélyi 2006). Am 2. Symposium 2006 in Wien stellte ich die Integration aus der Sicht der UNESCO dar (Bürli 2008b). Am 3. Symposium 2007 in Zürich referierte ich über Integration/Inklusion aus internationaler Sicht (Bürli 2009a) sowie über Integration/Inklusion in Großbritannien (Bürli 2009b; in: Bürli, Strasser & Stein 2009). Am 4. Symposium 2008 in Oldenburg setzte ich mich mit Behinderung und Fremdheit im internationalen Kontext auseinander (Bürli 2011b; 2012b; in: Erdélyi, Schmidtke & Sehrbrock 2012b). Das 5. Symposium fand ebenfalls in Oldenburg statt (Sehrbrock, Erdélyi & Gand 2013). Am 6. Symposium 2013 in München referierte ich der Tagungsthematik entsprechend zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (Bürli 2015; in: Leonhardt, Müller & Truckenbrodt). Am 7. Symposium 2015 in Zürich hielt ich Rückblick auf vier Jahrzehnte Integrations-/Inklusions-Leitidee weltweit (Bürli 2016a; in: Hedderich & Zahnd 2016).

Im Jahre 2001 verlieh mir die Universität Zürich »die Würde eines Doktors ehrenhalber in Würdigung und Anerkennung der großen Verdienste um die Weiterentwicklung und Professionalisierung der Schweizer Heilpädagogik, ihre Öffnung für neue Fragen, Aufgaben und Verständnisse«.

Fazit zu: Internationale Behindertenpädagogik als Passion

Ziel dieses Rückblicks ist es, am Beispiel der Schweiz (bzw. der Schweizerischen Zentralstelle für Heilpädagogik /SZH) zu zeigen, dass Behindertenpädagogik nicht (mehr) ein Anliegen und Konzept von Einzelnen und Privaten ist, sondern zunehmend als Aufgabe eines Landes bzw. einer Nation gestaltet und geprägt wird, sowie mehr oder weniger durch internationale Aktivitäten, Vorgaben und Vergleiche beeinflusst wird. Internationale Behindertenpädagogik ist deren Betrachtungsweise innerhalb eines bestimmten räumlich-politischen Rahmens unterschiedlicher Spannweite.

Die internationale Betrachtung der Behindertenpädagogik beschränkt sich nicht auf die vergleichende Perspektive, sondern die Beschreibung (Deskription) geht dem Vergleichen (Komparation) voraus. Auch die Zusammenarbeit (Kooperation) auf diesem Gebiet ist von zunehmender Bedeutung. Behindertenpädagogische Strukturen und Prozesse werden in gewissen Bereichen in unterschiedlichem Ausmaß international durch Normen geregelt.

1          Einführung zur internationalen Behindertenpädagogik

 

 

 

Einleitend sollen folgende Grundfragen zur internationalen Behindertenpädagogik diskutiert und zu klären versucht werden: ( Kap. 1.1) Wie lässt sich die internationale Behindertenpädagogik umschreiben? Ist sie eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin oder lediglich eine besondere Betrachtungsweise? ( Kap. 1.2) Was ist der Gegenstand der internationalen Behindertenpädagogik und welche Bezeichnungen gibt es dafür? ( Kap. 1.3) Was bedeutet Internationalität als erstes, räumliches Formalobjekt? ( Kap. 1.4) Welche Vorgehensweisen können methodische Formalobjekte sein? ( Kap. 1.5) Wie hat sich dieser Fachbereich unter zeitlichem Formalobjekt historisch entwickelt? ( Kap. 1.6) Welche Ziele, Aufgaben und aktuelle Bedeutung werden der internationalen Behindertenpädagogik zugeschrieben? ( Kap. 1.7) Wie ist es um ihre Wissenschaftlichkeit bestellt? (s. a. Bürli 1997a, S. 11 ff.; 2006a, S. 25 ff.; 2009a, S. 15 ff.).

1.1       Umschreibung der internationalen Behindertenpädagogik

Jede Wissenschaft (bzw. jede Wissenschaftsdisziplin, jede Fachrichtung, jeder Fachbereich) hat seit jeher die Tendenz, im Zuge der Forschung und Entwicklung neue Spezialgebiete zu erschließen und auszugliedern. Ausgehend von der (allgemeinen/theoretischen) Behindertenpädagogik trifft dies auch für die internationale Behindertenpädagogik zu. Die Frage ist, wie dies geschieht und ob dadurch (z. B. im Rahmen der Behindertenpädagogik) weitere abgrenzbare Wissenschaftsdisziplinen entstehen oder ob sich diese lediglich durch einen bestimmten Blickwinkel (Perspektive) auszeichnen.

1.1.1     Disziplin oder Perspektive

Ob lediglich besondere Betrachtungsweise oder eigenständige Wissenschaftsdisziplin – das war z. B. für die international-vergleichende Erziehungswissenschaft über Jahrzehnte hinweg eine umstrittene Frage (Schneider 1961); erst in den 1960er-Jahren hat sich im deutschsprachigen Raum eine gewisse disziplinäre Eigenständigkeit etabliert. Die diesbezügliche Position ist aber auch heute noch nicht völlig geklärt (Schubert 2001; s. a. Adick 2008). Die Antwort ist wohl davon abhängig, welche Elemente für eine Wissenschaftsdisziplin generell als unverzichtbar gelten (z. B. Klarheit hinsichtlich der Erkenntnisinteressen, der erkenntnistheoretischen Grundpositionen, der Material- und Formalobjekte) und wie sie sich in Abhebung zu anderen Fachgebieten konstituiert.

Es existieren – auch in der Behindertenpädagogik – unterschiedliche Klassifikationen zur Einteilung von Wissenschaften. Die entsprechende Klassifizierung und Einordnung ist häufig umstritten. Die dazu geführte Diskussion führt meist zu einer wichtigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung und einer gewissen Klärung.

1.1.2     Hierarchischer Aufbau

Zu erwähnen ist vorerst das hierarchische Klassifikationsmodell, wie es besonders bekannt ist von den Naturwissenschaften (z. B. Botanik, Zoologie, Ornithologie als Sub-Kategorien der Biologie), aber auch der Philosophie (z. B. Logik, Ethik, Metaphysik als deren Teile). Die Disziplin Heilpädagogik bzw. Behindertenpädagogik wurde früher (z. T. auch heute noch) beispielsweise hierarchisch strukturiert nach Behinderungsart (Lern-, Geistig-, Hör-, Sehbehindertenpädagogik etc.), heute eher nach Förderschwerpunkt oder weiteren Gesichtspunkten (z. B. Didaktik bei Geistigbehinderten). Durch die damit verbundenen deutlichen Grenzziehungen wird der Eindruck erweckt, als ergebe sich dabei stets grundsätzlich eine völlig andere wissenschaftliche Fragestellung bzw. unterschiedliche pädagogische Herausforderung.

Diese traditionelle Wissenschaftssystematik mit ihren hierarchischen Grenzziehungen und Klassifikationen stößt bald an ihre Grenzen. So findet z. B. eine internationale Betrachtung in diesem rigiden Denkschema nicht leicht ihren Platz. Sie könnte bestenfalls als Gegenpol zur (allgemeinen/theoretischen) Behindertenpädagogik die vielen entstandenen Teilbereiche wieder etwas verbinden und zusammenzufügen ( Abb. 1.1.2) und damit einen Erkenntnisbeitrag leisten.

Abb. 1.1.2: Hierarchische Klassifikation

1.1.3     Interdisziplinäre Netzstruktur

Die Wissenschaftslandschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten markant verändert. Die disziplinären Forschungsaspekte sind – bei gleich bleibendem Forschungsgegenstand – zahlreicher und vielfältiger geworden, was teilweise zu einer Fülle und Zersplitterung von Einzelwissenschaften führte. Dies ruft deutlich nach vermehrter Interdisziplinarität und Kooperation anstelle von Abgrenzung.

Abb. 1.1.3: Interdisziplinäre Netzstruktur

Dabei geht es nicht nur um das Zusammenspiel von Einzeldisziplinen, sondern es sind auch neue Wissenschaften entstanden, indem heute vermehrt von einer Problemstellung ausgegangen wird, zu deren Lösung oder Erhellung verschiedene herkömmliche Disziplinen beigezogen werden. So sind vor allem im naturwissenschaftlich-technischen Bereich bei Problemfeldern wie Umwelt, Verkehr, Gesundheit, Ernährung, Material, Informatik (usw.) durch den Einbezug traditioneller Fächer neue, interdisziplinär angelegte Disziplinen entstanden (z. B. Umwelt- bzw. Ernährungswissenschaft). Auch die Behindertenpädagogik kann sich unter dem Fokus der Internationalität durch den Einbezug relevanter Einzeldisziplinen (wie Pädagogik, Psychologie, Ethnologie, Soziologie) als neuer Fachbereich profilieren und etablieren ( Abb. 1.1.3).

Diese generelle Entwicklung der Wissenschaften hin zur Netzstruktur kann nicht ohne Auswirkungen auf die Positionierung der Behindertenpädagogik sowie die eventuelle Konstituierung einer (Sub-)Disziplin wie derjenigen der internationalen Behindertenpädagogik sein. Analog zu Paul Moors Aussage, Heilpädagogik sei Pädagogik, und nichts anderes (1965, S. 273), könnte statuiert werden: Internationale Behindertenpädagogik ist nichts anderes als Behindertenpädagogik, zeichnet sich jedoch aus durch die besondere Beachtung internationaler Perspektiven.

Gefragt ist heute nicht mehr eine in sich geschlossene, klar abgegrenzte Wissenschaftsdisziplin, sondern ein offener Fachbereich, ein flexibles, reichhaltiges System, das verschiedene Aspekte und unterschiedliche Zugänge auf eine Fragestellung hin bündelt und vereinigt. Ob im Sinne einer eigenen Disziplin oder eines Brennpunkts der Betrachtung: Der Einbezug internationaler Perspektiven erweitert die Denk-, Interpretations- und Handlungsmuster und schärft das Problembewusstsein.

1.1.4     Material- und Formalobjekte

Ein weiteres Denkmodell, wonach im Folgenden die internationale Behindertenpädagogik analysiert und strukturiert werden soll, geht auf die aristotelisch-scholastische Philosophie zurück. Danach wird eine Wissenschaft durch die Klärung der Material- und der Formalobjekte definiert. Unter Materialobjekt wird die Gesamtheit der Objekte verstanden, auf welche die Erkenntnis gerichtet wird, also der vorgegebene Gegenstand der zu umschreibenden Disziplin. Dieser Inhalt (»Was«) existiert als solches, schon bevor sich jemand wissenschaftlich damit beschäftigt.

Abb. 1.1.4: Material- und Formalobjekte der internationalen Behindertenpädagogik

Formalobjekte hingegen entstehen erst durch spezifische Betrachtungs- und Zugangsweisen (»Wie«), durch die spezielle Sicht, unter welcher der betreffende Gegenstand untersucht wird. Während dasselbe Materialobjekt von mehreren Wissenschaften erforscht werden kann, ist das Formalobjekt maßgebend für die Abgrenzung einer Wissenschaft gegen eine andere, die sich eventuell auf dieselben Sachverhalte bezieht (Schlüter 1980).

In der Folge soll diese Unterscheidung von Material- und Formalobjekten auf die internationale Behindertenpädagogik angewandt werden ( Abb. 1.1.4). Dabei gilt als Materialobjekt die ( Kap. 1.2) Behindertenpädagogik, die zur Pädagogik gehört. Der Aspekt der ( 1.3) Internationalität wurde als vorrangiges, räumliches Formalobjekt ausgewählt. Unter methodischem Gesichtspunkt lassen sich vier ( Kap. 1.4) Vorgehensweisen unterscheiden (nämlich: Deskription, Komparation, Kooperation, Normierung;  Kap. 2 bis 5). Unter zeitlicher Perspektive wird die ( Kap. 1.5) historische Entwicklung in diesem Bereich ausgewiesen.

Genau wie andere komplexe Sachverhalte und Disziplinen kann also auch die Behindertenpädagogik als Gegenstand (Materialobjekt) aus verschiedenen Blickwinkeln (Formalobjekten) und mit unterschiedlichen erkenntnisleitenden Zielsetzungen und Interessen untersucht und betrachtet werden. Es ist somit nicht verwunderlich, dass gleiche Phänomene (Materialobjekte wie Behinderung, Integration/Inklusion) unterschiedlich umschrieben und angegangen werden. Je besser die spezifischen Betrachtungsweisen und methodischen Ansätze zueinander in Verbindung gebracht werden, umso umfassender wird das Verständnis eines Gegenstandes. Anschließend soll kurz auf die Behindertenpädagogik als Gegenstand und die in ihrem Kontext ausgewählten Formalobjekte einzeln und in ihrem Zusammenhang eingegangen werden.

Fazit zu ( Kap. 1.1): Umschreibung der internationalen Behindertenpädagogik

Die internationale Behindertenpädagogik beinhaltet die besondere Betrachtung der Behindertenpädagogik aus internationaler Sicht bzw. im internationalen Kontext. Dabei geht es nicht darum, eine neue, abgrenzende Wissenschaftsdisziplin zu kreieren, sondern unter dem pragmatisch gewählten Begriff Behindertenpädagogik einen Gegenstand (Materialobjekt) unter verschiedenen Perspektiven näher zu betrachten. Dazu gehören Formalobjekte des Raumes (Internationalität), der Methoden (Deskription, Komparation, Kooperation, Normierung) und der Zeit (Historie).

1.2       Behindertenpädagogik als Gegenstand (Materialobjekt)

Nach der Unterscheidung in Material- und Formalobjekte ( Kap. 1.1.4) gilt hier die Behindertenpädagogik (oder wie auch immer sie bezeichnet wird;  Kap. 1.2.1 bis 1.2.4) als Gegenstand (Materialobjekt). Hierarchisch gesehen ist sie ein untergeordnetes Teilgebiet der Pädagogik allgemein. Hier liegt aber spezifisch Pädagogik angesichts von Behinderung im Fokus. Als Gegenstand könnte aber auch ein kleinerer sonderpädagogischer Bereich ausgewählt und betrachtet werden, wie z. B. Bildungsstrukturen, Personenkreis ( Abb. 1.1.4).

Die hier zur Diskussion stehende wissenschaftliche Disziplin Behindertenpädagogik wird bekanntlich alles andere als einheitlich benannt und definiert. Dies zeigen die Liste der unterschiedlichen ( Kap. 1.2.1) deutschsprachigen Bezeichnungenund ihre knapp skizzierten Hintergründe; s. a. Bürli 2007, S. 230–232) ( Kap. 1.2.2), ferner die englischsprachige Fachterminologie in Großbritannien und den USA sowie bei der ( Kap. 1.2.3) UNESCO. Die Charakterisierungen sind als idealtypisch zu verstehen, gibt es doch auch hier Abweichungen.

1.2.1     Deutschsprachige Bezeichnungen zum Materialobjekt und deren Hintergründe

•  Heilpädagogik

–  Charakteristika: Heilpädagogik ist Pädagogik, und nichts anderes (P. Moor); nicht im Sinne der Inklusion umgesetzt

–  Begriff: vieldeutig: Heilung im medizinischen Sinn, Heil im religiösen Sinn; heil im Sinne von ganzheitlich; z. T. eingeschränkte Begriffsverwendung für Geistigbehindertenpädagogik

–  Wissenschaftsbezug: allmähliche Theoriebildung von der Praxis her; Abhängigkeit von Medizin/Psychiatrie und Religion/Theologie; Ablösung durch pädagogische Ausrichtung; einzelne, unverbundene Ansätze

–  Personen-/Problemkreis: Krankheit (Medizin); Wertsinnshemmung (Religion); Erziehungserschwernisse (Heilpädagogik)

–  Handlungsweise: (Sonder-)Schulung/Erziehung

–  Beurteilung: Begriff umstritten, hat viele Alternativvorschläge provoziert (s. unten); trotz Bedenken und modifiziertem Verständnis bis heute verwendet; positiver Begriff im Sinne von »ganz«

•  Sonderpädagogik

–  Charakteristika: Pädagogik angesichts unüblicher Andersartigkeit (H. Bach)

–  Begriff: eingeführt in den 1960er-Jahren infolge Ablehnung des Begriffs Heilpädagogik sowie unter dem Einfluss des aufblühenden Sonderschulwesens; lediglich formaler Begriff, der das Besondere gegenüber dem Allgemeinen (über-)betont und dadurch Absonderung impliziert bzw. suggeriert (auch: Spezialpädagogik)

–  Wissenschaftsbezug: Absonderung von der Allgemeinpädagogik; Aufsplitterung in verschiedene Sonderpädagogiken ohne viel pädagogisch Verbindendes

–  Person-/Problemkreis: Beeinträchtigung, Störung, Behinderung, Benachteiligung (Kategorien)

–  Handlungsweise: Institutionsdifferenzierung; Hochblüte und Legitimation der Separation, später kritisiert durch Integrationsbewegung

–  Beurteilung: stark auf Sonderschulen und Sonderschullehrpersonen ausgerichtet

•  Behindertenpädagogik

–  Charakteristika: Betonung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der Interaktionsprozesse

–  Begriff: in den 1970er-Jahren vertreten durch W. Jantzen infolge Ablehnung von Sonder-pädagogik

–  Wissenschaftsbezug: verstärkte Verbindung zur Allgemeinpädagogik

–  Person-/Problemkreis: Behinderung als soziale Kategorie

•  Handlungsweise: Wiederherstellung der Ganzheit (Integration)

–  Beurteilung: Begriff teilweise durchgesetzt

•  Pädagogik der Behinderten

–  Charakteristika: Betonung der Andersartigkeit von Regel- und Heilpädagogik sowie des Personenkreises; Darlegung verschiedener paradigmatischer Ansätze

–  Begriff: eingeführt Anfang der 1970er-Jahre als Abhebung von der Heilpädagogik; Hauptvertreter U. Bleidick

–  Wissenschaftsbezug: wenig Verbindung zur Allgemeinpädagogik

–  Person-/Problemkreis: Behinderte; Behinderung als intervenierende Variable

–  Handlungsweise: behinderungsbedingte Modifizierung der Erziehung; Separation

–  Beurteilung: Begriff wenig durchgesetzt; Überbetonung von Behinderung; Grenzziehung zwischen behindert/nicht behindert ohne Übergangsfelder; negative Personifizierung und Generalisierung von Behinderung, dadurch Stigmatisierung

•  Pädagogik bei besonderem Förderbedarf

–  Charakteristika: Pädagogische Wende weg von den Behinderungskategorien hin zum besonderen Förderbedarf; von der Defizit- zur Bedürfnisorientierung

–  Begriff: unter »Special Educational Needs« (1978) eingeführt durch den sog. M. Warnock-Bericht, verbreitet u. a. durch die UNESCO (Salamanca-Konferenz 1994) und die OECD

–  Wissenschaftsbezug: Koexistenz bzw. Annäherung von Allgemein- und Heilpädagogik

–  Personen-/Problemkreis: Kontinuum des besonderen Bildungsbedarfs; relativer Behinderungszustand

–  Handlungsweise: Kontinuum der Angebote; Integrative Bildung, durch innere, aber auch äußere Differenzierung; geteilte Verantwortung von Allgemein- und Heilpädagogik

–  Beurteilung: dimensionale, vernetzte Betrachtung, wobei sog. separative Angebote als Teil des Integrationskonzepts verstanden werden

•  Rehabilitationspädagogik

–  Charakteristika: Pädagogischer Beitrag (Bildung und Erziehung) innerhalb eines Gesamtsystems von Hilfen der Eingliederung für behinderte Menschen in die Gesellschaft

–  Begriff: infolge Ablehnung der Begriffe Heilpädagogik und Sonderpädagogik von K.-P. Becker in der ehemaligen DDR eingeführt und auch nach der Wende im Westen z. T. wiederverwendet

–  Wissenschaftsbezug: ursprünglich vorwiegend am medizinischen Modell orientiert; Einbettung in ein System unterschiedlicher Disziplinen

–  Personen-/Problemkreis: körperliche, geistige oder psychische Behinderte (Geschädigte)

–  Handlungsweise: Kooperation mit anderen Disziplinen über die Schulpädagogik hinaus

–  Beurteilung: Betonung der gesellschaftlichen Eingliederung und Partizipation; Gefahr des Missverständnisses technokratischer Anpassung

•  Integrationspädagogik

–  Charakteristika: Grundsätzliche Abkehr von der traditionellen Heilpädagogik u. Ä.; Wiederherstellung der pädagogischen Einheit; Bevorzugung möglichst regulärer Förderangebote; Ausmaß gemeinsamer Bildung individuell-konkret zu entscheiden

–  Begriff: u. a. von H. Eberwein verbreitet (später Übergang zur Inklusion)

–  Wissenschaftsbezug: enge Kooperation von Allgemein- und Heilpädagogik

–  Personen-/Problemkreis: besondere individuelle Bedürfnisse

–  Handlungsweise: flexible Berücksichtigung eines Kontinuums von Maßnahmen; Hauptverantwortung tendenziell beim Allgemeinen Bildungssystem

–  Beurteilung: Gefahr der Vernachlässigung behinderter Kinder als Subkategorie der Heterogenität; weitgehende Integrationsauffassung, mit dem Nachteil, dass die besonderen Integrationsangebote separierende Sogwirkungen ausüben

•  Inklusionspädagogik

–  Charakteristika: zielt auf eine neue, umfassende Sichtweise von Erziehung und Bildung hin; Miteinander unterschiedlicher Mehr- und Minderheiten

–  Begriff: teils synonym, teils unterschiedlich zu Inklusion verwendet (Hinz; Stein); Begriff (nach H. Eberwein) eigentlich unnötig, da jegliche besondere Pädagogik zu überwinden ist

–  Wissenschaftsbezug: Überwindung jeglicher besonderen, spezialisierten Pädagogik; Aufgehen in einer zu entwickelnden Allgemeinen Pädagogik (Feuser)

–  Personen-/Problemkreis: Heterogenität; normale Verschiedenheit und Vielfalt; keine spezielle Personengruppe; Berücksichtigung individueller Bedürfnisse

–  Handlungsweise: flexible, differenzierende, individuumbezogene Maßnahmen; Hauptverantwortung eindeutig beim Allgemeinen Bildungssystem, das in Richtung Inklusion zu verändern ist

–  Beurteilung: Gefahr der Vernachlässigung behinderter Kinder als Subkategorie von Heterogenität; Notwendigkeit der Veränderung bisheriger Bildungs- und Ausbildungsstrukturen

–  Zu erwähnen ist ferner das interdisziplinäre Wissenschaftsgebiet Defektologie, das in den 1920er-Jahren in Russland entstand, das sich – unter Beteiligung von Wygotski – mit den psycho-physiologischen Entwicklungsbesonderheiten von Menschen mit Beeinträchtigungen hauptsächlich mit deren Bildung und Erziehung beschäftigt und Inklusion befürwortet.

1.2.2     Terminologie der USA und der UK zum Gegenstand (Materialobjekt)

In den großräumigen, vielgestaltigen USA mit ihrem dezentralen Bildungswesen fällt eine Übersicht über die behindertenpädagogische Situation nicht leicht. Immerhin hat die nationale Gesetzgebung einen gewissen regulierenden Einfluss auf die Grobstrukturen auf diesem Gebiet (Bürli 2009a, S. 21 ff.). Generell scheint in der amerikanischen Fachliteratur der Begriff Mainstreaming im behindertenpädagogischen Kontext auf dem Rückzug zu sein. Dieser Begriff, der im Zusammenhang mit Immigration entstand, bedeutet im Bildungsbereich, (irgendwie) behinderten Kindern für eine bestimmte Zeit gezielt im Rahmen der Regelschule spezialpädagogische Dienstleistungen zukommen zu lassen.

Bei der Bundesgesetzgebung geht es vorab um das Bildungsrecht aller Behinderten und die Annäherung des Regel- und des Sonderschulsystems (Regular vs. Special Education). Integration (im Sinne von: The Least Restrictive Environment) und Inklusion (Full Inclusion) werden gegenüber der Sonderpädagogik (Special Education) favorisiert. In den USA haben Begriff und Konzept des Besonderen Bildungsbedarfs (Special Educational Needs), besonders propagiert durch Großbritannien, die OECD und die UNESCO, offenbar nicht entscheidend Fuß gefasst. Anstelle des Rechtsbegriffs Disability/Disable taucht nicht selten bei Kindern anstelle von Behinderung/behindert auch der Ausdruck Exceptional Children (außergewöhnliche Kinder) auf (vgl. auch: Nationaler Fachverband Council for Exceptional Children).

In Großbritannien (und wohl auch in den rund 50 Staaten des ehemaligen britischen Weltreichs Commonwealth) wurde im Gefolge des Warnock-Berichts (1978) und der UNESCO-Salamanca-Erklärung (1994) der Begriff Special Education durch den der Special Needs Education ergänzt, aber nicht vollständig ersetzt, da es neben den Special Needs weiterhin den juristischen Sachverhalt der Behinderung (Disability; früher: Handicap) gibt. Besondere oder gesonderte Maßnahmen (special provisions) wurden zu zusätzlichen (additional) oder ergänzenden (supplementary) Angeboten; der Fachkongress für Special Education wurde in Kongress für Supportive Education (unterstützende Bildung) umbenannt. Je nach Ort bzw. Quelle sind Special Education, Special Needs Education, Inclusive Education (oder: Inclusion) nebeneinander geläufig (Bürli 2009b, S. 95 ff.).

1.2.3     Terminologie der UNESCO zum Gegenstand (Materialobjekt)

Im internationalen Kontext ist von besonderem Interesse, mit welcher Terminologie die einflussreiche Weltorganisation UNESCO den Gegenstand beschreibt, der hier als Behindertenpädagogik bezeichnet wird. Als Quellen dienen die von ihr vor, an und nach der Salamanca-Konferenz (1994) erlassenen Dokumente (UNESCO 1994; o. J./2001; s. a. Bürli 1997a, S. 154 ff.; 2008b, S. 61 ff.; 2009a, S. 20 ff.). Einerseits gewährleisten die durchwegs englischsprachigen Originale eine gewisse sprachliche Konsistenz, andererseits erlauben offizielle Übersetzungen einen Einblick in das inhaltliche Verständnis. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Vergleiche mit anderen englischsprachigen Verlautbarungen zur Behindertenpädagogik ( Kap. 1.2.2).

Die UNESCO betrachtet den Bereich der Heil-, Sonder- oder Behindertenpädagogik (Gegenstand) als speziellen Teil der Pädagogik (Education) (Bürli 2008b, S. 64): Dabei wechselt die UNESCO (1994a) in englischer Sprache von »Special Education« zu »Special Needs Education« und/oder zu »Inclusive Education«. Der Sprachgebrauch ist nicht einheitlich. Die Disziplin wird primär über das Objekt »Special Educational Needs«, sekundär über den methodischen Zugang der »Inclusive Education« definiert (UNESCO o. J./2001; http://www.unesco.org/education/inclusive).

Für die englische Wissenschaftsbezeichnung »Special Needs Education« in anderen Sprachen einen Ausdruck zu finden, scheint nicht leicht zu sein; die Übersetzung des englischen Begriffs »Education« wird in französischen oder spanischen Salamanca-Dokumenten vermieden oder in Französisch mit »Education et besoins …«, auf Spanisch mit »sobre …« oder »para las necesidades educativas especiales« überbrückt (UNESCO 1994a, b, c, d).

Eine offizielle deutschsprachige UNESCO-Nomenklatur gibt es nicht; in den entsprechenden Ergebnisdokumenten wird die Disziplin mit »Pädagogik bei besonderen Bedürfnissen« (UNESCO 1994b), anderswo auch mit »Pädagogik« bzw. »Bildung bei Besonderem Förderbedarf« oder sogar mit »Sonderpädagogik« übersetzt (Bürli 1997b, S. 154 ff.). Die alleinige Verwendung der englischen Substantive Integration und Inclusion ist bei der UNESCO im pädagogischen Kontext selten anzutreffen; wenn, dann beziehen sie sich auf den sozial-gesellschaftlichen Einbezug von Randständigen allgemein (UNESCO o. J/2001, S. 17).

Vorherrschend ist auf Englisch der Ausdruck »Inclusive Education« (nicht: »Integrative Education«), auf Deutsch übersetzt mit »Integrativer Bildung/Erziehung/Schulung«, z. T. »inklusiver Bildung«, auf Französisch mit »Education intégratrice« (UNESCO 1994a, b, c, d).

Zwar hat die UNESCO mit der Salamanca-Konferenz dem englischsprachigen Terminus Inclusion (ohne ihn zu definieren) und insbesondere dem Begriff Inclusive Education zu weltweiter Verbreitung verholfen, wobei sie auch inhaltlich den Inklusionsansatz im Sinne einer grundlegenden Schulreform und der Schule für alle favorisiert. Aber es ist nicht eindeutig ersichtlich, dass sie damit einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Begriffen Integration und Inklusion hervorheben und eine enge Verknüpfung von Terminologie und Position herstellen wollte (Bürli 2008b, S. 61 ff.). Dies wird zumindest daran deutlich, wenn bei Übersetzungen vom englischsprachigen Original (UNESCO 1994a) in die UNESCO-zugelassene französische oder spanische Sprache die Ausdrücke Intégration und Education intégratrice bzw. Integración und Educación integradora verwendet werden (UNESCO 1994c, d).

In gleicher Weise wurde Inclusion in die nicht offizielle UNESCO-Sprache Deutsch teilweise mit Integration übersetzt, teilweise mit Inklusion eingedeutscht. Dies geschah erneut – allerdings diesmal nach Absprache unter den deutschsprachigen Ländern – bei der Übersetzung des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN 2006; 2008); s. a. Bürli 2015, S. 55 ff.).

Der Gegenstand (Materialobjekt) wird von der UNESCO auch durch die Umschreibung des Personen- bzw. Problemkreises mitbestimmt. Dabei lautet »Special Educational Needs« auf Französisch »Besoins éducatifs spéciaux«, auf Spanisch »Necesidades educativas especiales« (UNESCO 1994a, b, c, d).