Bei Dämmerung zu lesen - Charles Dickens - E-Book

Bei Dämmerung zu lesen E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Mit Vehemenz und Sprachwitz – Unbekannte Glanzstücke von Charles Dickens // „Zwischen uns beiden sei’s gesagt: bewunderungswürdig!“, frohlockt Charles Dickens in einem Brief an einen Freund und kann sich in dieser Äußerung der Begeisterung über einen eigenen Text, den er gerade für seine Zeitschrift „House­hold Words“ geschrieben hat, nicht enthalten. Dickens war zeitlebens ein journalistischer Schriftsteller, verdankte seinen frühen Erfolg den Skizzen und Erzählungen, die er in Zeitungen veröffentlichte. Mit „Household Words“ und „All the Year Round“ gründete er später zwei eigene Zeitschriften, in denen er nicht nur seine Romane in Fortsetzungen erscheinen ließ, sondern regelmäßig auch Erzählungen, Reportagen und Kommentare zum Zeitgeschehen. Anspruch, Unterhaltung und Drängen auf Sozialreformen waren Dickens’ Ziele als Zeitschriftenmacher, und der Erfolg spiegelte sich in den Hunderttausenden von Leserinnen und Lesern, die jede Ausgabe erreichte. Dieser Band versammelt die besten bei uns unbekannt gebliebenen Dickens-Beiträge, zahlreiche davon erstmals auf Deutsch. Dickens’ Feder braust vor Energie, Angriffs- und Erzähllust, und gar manches erweist sich als zeitlos und heute wieder aktuell.

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© 2022 Morio Verlag Heidelberg

Morio Verlag, ein Imprint der mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH

www.morioverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlagabbildung: John Atkinson Grimshaw (1836–1893): Reflections on the Thames, Westminster, Öl auf Leinwand (188o)

ISBN 978-3-949749-15-5

Inhaltsverzeichnis

Der scheugeplagte junge Gentleman

Mein Freund aus Mahagoni (zusammen mit Mary Boyle)

Gesunder Menschenverstand auf Rädern

Sonntag

Tausendundein Humbug

Mitten im Herzen Londons (zusammen mit William Henry Wills)

Weih nachten im ewigen Eis (zusammen mit Robert McCormick)

Der Verrat an den Märchen

Privater Bericht einer Lesung in Edinburgh

Bei Dämmerung zu lesen

Der junge Liebling junger Damen

Nachwort: Vehemenz und Sprachwitz

Der scheugeplagte junge Gentleman

Kürzlich fanden wir uns bei einer kleinen Dinner-Gesellschaft einem Fremden gegenübergesetzt, dessen Erscheinung und Verhalten derart einzigartig waren, dass er unweigerlich unsere Aufmerksamkeit erweckte.

Es handelte sich um einen jungen Gentleman von frischer, gesunder Gesichtsfarbe, dessen Aussichten auf einen blonden Backenbart so gut waren, wie man es nur wünschen kann, und der einen entschieden samtenen, weich aussehenden Teint besaß. Wir verwenden diese letztgenannte Beschreibung keineswegs boshaft, sondern lediglich, um auf seine sanften, pausbäckig aufgeblähten und hochroten Wangen sowie einen Mund hinzuweisen, der eher wegen des Farbtons seiner Lippen auffiel als wegen eines bestimmten oder ausgeprägten Ausdrucks, den er gezeigt hätte. Sein ganzes Gesicht überzog eine purpurne Röte und wies jenen niedergeschlagenen, zögernden, scheuen Blick auf, der sich bei Menschen zeigt, die es nicht leicht mit sich haben.

In diesen Zügen lag nichts, das mehr als eine flüchtige Bemerkung hervorgerufen haben würde, wäre unsere Aufmerksamkeit nicht gleich bei seinem ersten Erscheinen im obigen Wohnzimmer bei den Herrschaften auf diesen scheuen jungen Gentleman gelenkt worden, als er, kaum eingelassen, auf uns, der wir am Fenster standen, zustrebte und unter Ignorierung diverser Personen, die ihn freundlich ansprachen, sichtlich bewegt unsere Hand ergriff, sie für die Dauer einiger Minuten mit verkrampftem Druck festhielt, um sich anschließend auf nervöse Weise durch den Raum zu bugsieren, wobei er auf seinem Weg ein hübsches kleines Mädchen von sechseinviertel Jahren umstieß – und anschließend verbarg er sich hinter irgendwelchen Vorhängen, wonach er nicht mehr gesehen ward, bis das Adlerauge der Gastgeberin ihn in seinem versteckten Winkel erspähte, infolgedessen er, nach der Ankündigung, es sei serviert, gebeten wurde, sich mit einer lebhaften, alleinstehenden Dame von zwei- oder dreiunddreißig Jahren zusammenzusetzen.

Diese überaus schmeichelhafte Begrüßung von einem völlig Fremden hätte uns als Zeichen des Respekts, den er uns entgegenbrächte, und seines dadurch begründeten Bestrebens, unsere Bekanntschaft zu machen, nicht wenig erfreut, hätten wir nicht von Beginn an den Verdacht gehegt, dass der junge Gentleman in einem verzweifelten Versuch, die Zeremonie der Begrüßungen hinter sich zu bringen, in verwirrter Konfusion unsere Hand schlicht aufs Geratewohl schüttelte. Wir behielten den besagten scheuen jungen Gentleman im Auge, um herauszufinden, ob unsere Vermutung zutreffe oder nicht, und unser Eindruck bestätigte sich durch sein anschließendes Verhalten ganz und gar.

Der junge Gentleman setzte sich mit sichtlichen Besorgnissen an die Tafel und wandte sich, um einer Bemerkung derselben volle Aufmerksamkeit zu widmen, mit solch abrupter Drehung seiner mitteilungsfreudigen Nachbarin zu, dass er dabei sein Brötchen aufstürzte. Daran war nichts besonders Schlechtes, und hätte er die Geistesgegenwart besessen, es ohne irgendwelches Aufhebens einfach stürzen zu lassen, hätte außer demjenigen, der das Tischtusch aufgelegt hatte, niemand irgendetwas bemerkt; aber in seinen aufein anderfolgenden, semierfolgreichen Versuchen, diesen Sturz zu verhindern, fuchtelte der junge Gentleman ungelenk damit herum, wie man es Herren an einem windigen Tag auf der Straße mit ihren Hüten tun sieht, und schließlich gab er in seinem Bestreben, den Ausreißer einzufangen, dem Brötchen einen tüchtigen Stoß und katapultierte es mit Schwung in eine Terrine weißer Suppe in einiger Entfernung, zu unaussprechlichem Entsetzen und zur Verdatterung eines äußerst liebenswerten, glatzköpfigen Gentlemans, der den Inhalt der Terrine austeilte. Wir vermuteten – ablesbar am gar heftigen purpurnen Erröten seines Gesichts, als die Katastrophe eintrat –, der scheue junge Gentleman werde wie vom Schlag getroffen in Ohnmacht fallen.

Von diesem Moment an stellten wir fest, dass es, um es bildhaft zu sagen, nun „ganz aus“ sei mit dem scheuen jungen Gentleman, und so war es in der Tat. Diverse wohlmeinende Menschen unternahmen den Versuch, seine Verstörung zu lindern, indem sie mit ihm Wein tranken; aber als sie begriffen, dass dies seine Leiden lediglich verschlimmerte und, nachdem sie Sherry, Champagner, Rhein- und Moselwein in ihn hineingemischt hatten, diese Behandlung zunehmend nach außen statt nach innen Wirkung zeigte, wichen sie nach und nach von ihm ab und überließen ihn der ausschließlichen Obhut der redseligen Dame, der das Irrlichtern seines Blicks entging und die fest davon überzeugt blieb, sich endlich einen Zuhörer gesichert zu haben. Während der Mahlzeit zertrümmerte er das ein oder andere Glas und verschwand unmittelbar hinterher; aus der Tatsache, dass er das Haus im Mantel eines anderen Herrn und mit dem Hut des Bediensteten verließ, zog man den Schluss, dass er in sichtlicher Verwirrung aufgebrochen sei.

Dieser kleine Vorfall bewegte uns, über die entscheidenden Charakteristika der scheugeplagten jungen Gentlemen im Allgemeinen nachzudenken; und da diese handliche Schrift der große Leitfaden junger Ladies aller kommenden Generationen werden wird, wollen wir sie hier zu deren Vorteil und Nutzen aufführen.

Wenn der junge scheue Gentleman um eine Ecke kommt und plötzlich zufällig auf zwei, drei junge Damen aus seiner Bekanntschaft trifft, gibt es nichts, was seine Kopflosigkeit und Aufregung im Zaum halten könnte. Sein erster Impuls ist, Verbeugungen aller Art zu vollführen und eilig an ihnen vorbeizuschießen, was er so lange tut, bis ihm auffällt, dass sie stehen zu bleiben wünschen, freilich unschlüssig, ob sie es tun sollen oder nicht, woraufhin er mehrmals den Eindruck erweckt, als wolle er zurückkommen, was sie dazu bewegt, das Gleiche zu tun; und schließlich, nach großem, überflüssigem Aufwand an Hin und Her sowie Kollisionen mit zufälligen Passanten, kehrt er zurück und schüttelt ihnen allen mit großer Herzlichkeit die Hände, wobei er etliche kleine Päckchen, die sie bei sich tragen, aus ihren Händen stößt, die er sogleich hastig aufhebt und reichlich verdreckt und durcheinander geraten zurückgibt. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass der junge scheugeplagte Gentleman anschließend äußert, es sei ausgesprochen gutes Wetter, bis man ihn erinnert, dass es gerade zum ersten Mal seit drei Tagen zu regnen aufgehört habe, woraufhin er ziemlich heftig errötet und lächelt, als habe er irgendetwas Kluges gesagt. Die junge Dame, die es am meisten zum Gespräch drängt, erkundigt sich jetzt mit dem Ausdruck großen Mitgefühls, wie es seiner lieben Schwester Harriet heute gehe; woraufhin der junge Gentleman ohne den geringsten Moment der Besinnung mit vielem Dank antwortet, es gehe ihr prächtig.

„Aber Mr. Hopkins!“, ruft die junge Dame aus. „Wir haben gehört, sie sei erst gestern Abend zur Ader gelassen worden und es sei ihr gar nicht gut gegangen.“

„Oh, ah“, erwidert der junge Gentleman, „gewiss, das stimmt. Oh, es geht ihr gar nicht gut, wirklich gar nicht gut!“

Dann schüttelt der junge Gentleman den Kopf und schaut mächtig verzweifelt drein (die ganze Zeit zuvor hat er unentwegt gelächelt), und nach kurzer Pause gibt er seinem Handschuh einen scharfen Zug in Richtung Handgelenk und wünscht, mit starker Betonung des Adjektivs: „Guten Morgen, guten Morgen.“

Mit einer Vielzahl Verbeugungen quittiert er zahlreiche kleine Nachrichten an seine Schwester, tritt ein paar Schritte zurück, kollidiert mit großer Wucht mit einer Straßenlaterne, schlägt sich dabei den Hut vom Kopf, wonach er in verwirrter Verfassung und körperlichem Schmerz ohne denselben davongehen will, bis ein lautes Brüllen eines Fuhrmanns seine Aufmerksamkeit erregt, so dass er den Hut aufhebt und die jungen Damen fröhlich anzulächeln versucht, die ihn anschauen und, wie er mit Befriedigung feststellt, alle herzlich lachen.

Während einer Tanzgesellschaft bleibt der scheugeplagte junge Gentleman stets so nah wie möglich am Eingang des Raums, von wo aus er die eintretenden Personen, die er kennt, anlächelt und ab und an auf solche zutritt und mit ihnen Hände schüttelt, die zu seiner engeren Bekanntschaft gehören; ein Vorgang, der ihm bei jeder Wiederholung eine noch tiefere Röte ins Gesicht treibt. Aufforderungen zum Tanz lehnt er anfangs mit dem mit schwacher Stimme vor gebrachten Hinweis ab, er wolle noch abwarten; schließlich jedoch fühlt er sich so weit gedrängt und genötigt, dass er erlaubt, einer Tanzpartnerin vorgestellt zu werden, indem man ihn in großer Erregung und hocherrötend quer durch den Raum zu etwa einem halben Dutzend junger Damen geleitet, die dort versammelt sind.

„Miss Lambert, darf ich Ihnen Mr. Hopkins für die nächste Quadrille vorstellen.“

Miss Lambert neigt anmutig ihren Kopf. Mr. Hopkins antwortet mit einer Verbeugung, seine schöne Begleiterin entfernt sich und lässt Mr. Hopkins zurück, damit er, wie er nur zu gut weiß, sich um die junge Dame bemühe. Diese erwartet nun durchaus, dass der junge scheugeplagte Gentleman etwas sage, und der junge scheugeplagte Gentleman, der dies spürt, denkt beflissen darüber nach, ob er irgendetwas zu sagen habe, wobei er, nach reiflicher Überlegung, zu dem Schluss tendiert, das habe er nicht, denn ihm fällt nichts ein. Nachdem die junge Dame mehrmals ihr Blumenbouquet inspizierte – in der Erwartung, der junge scheue Gentleman werde jeden Moment zum Sprechen anheben –, flüstert sie ihrer Mutter etwas zu, und der junge scheue Gentleman argwöhnt sogleich (und mit ziemlich gutem Grund), dass dieses Flüstern etwas mit ihm zu tun habe. In dieser angenehmen Lage verweilt er, bis es unausweichlich wird, zur Handlung zu schreiten; infolgedessen murmelt er: „Erlauben Sie mir?“, reicht der jungen Dame seinen Arm, erkundigt sich, an welchem Platz sie den Tanz beginnen wolle, erhält als Antwort, es sei nicht ihre Wahl, woraufhin er sie in die abgelegenste Ecke der Quadrille führt und einen ersten Versuch zur Konversation unternimmt, der sich als erbärmlicher Fehlschlag erweist, wonach er in tiefes Stillschweigen verfällt, bis alles vorüber ist, er sie zweimal im Raum herumführt, sie an ihren alten Sitzplatz bringt und sich verstört zurückzieht.

Ein verheirateter scheugeplagter Gentleman – denn diese scheugeplagten Gentlemen heiraten tatsächlich ab und zu (wie es jemals dazu kommt, ist uns ein Rätsel) –, ein verheirateter scheugeplagter Gentleman also lässt entweder seine Gattin im Kontrast besonders selbstbewusst erscheinen oder verschmilzt die ihr angemessene Bedeutung mit seiner eigenen Unwichtigkeit. Scheue junge Gentlemen sollte man heilen oder meiden. Es ist niemals hoffnungslos mit ihnen, und wird es auch niemals sein, solange weibliche Schönheit und Anziehungskraft ihren Einfluss geltend machen – wie jede junge Dame herausfinden wird, die es nach dieser ermutigenden Unterstützung für lohnenswert erachten mag, einem Patienten ihre Hand zu reichen.

Mein Freund aus Mahagoni

Dass ich die Gewohnheit angenommen habe, mit dem zu reden, was wir gemeinhin die unbelebten Objekte nennen, oder ihren langen Geschichten und Bekenntnissen zumindest zuzuhören (die sie mir bereitwillig anvertrauen), rührt meiner Meinung nach bis zu einem gewissen Grad von dem zurückgezogenen Leben her, das ich führe. Freilich kann ich nicht wirklich und wahrhaftig bestätigen, dass ich ein ganz und gar einsamer, alter Bursche sei, denn mir ist bewusst, welch naher Nachbar ich von „The Chase“* bin; ebenso wenig kann ich so tun, als wäre ich ein Vertrauter lediglich unbelebter Objekte. Nebenbei, Sie müssen wissen, dass „The Chase“ der Name des alten Hauses meiner Nachbarschaft ist, des Hauses, um genau zu sein.

Wie gut ich mich an jene Zeit erinnere – die nun etwa siebzehn Jahre zurückliegt –, als ich das erste Mal hier ankam, um „The Den“ in Besitz zu nehmen, wie ich, ein bisschen misanthropisch, meine neue Wohnstätte taufte. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass – obwohl sich Olivia (der Name klingt mir immer noch hübsch) lediglich als Flirt erwies und (vergeblich) versuchte, mein Herz zu brechen – „Balsam in Gilead“ zu finden sei. Die Aufregungen und Wirren des Lebens gehörten der Vergangenheit an, nie mehr langwährende Hoffnungen und sich dahinschleppende Enttäuschungen; all „dieses Zeug“ war zu einem Ende gekommen, und falls mich gelegentlich eine Narrheit überkäme, bliebe ich wenigstens still dabei.

Wenn hier die Rede von den Freuden des Alleinlebens ist und davon, „keine Blagen“ zu haben, wie sich unsere Landleute ausdrücken, ergibt sich daraus allerdings nicht, dass mich mein Dasein eines alten Junggesellen vor den Besorgnissen bewahrt, denen Väter mit einem ganzen Haus voller Kinder ausgesetzt sind! Ich bin sicher, ich hätte fünf Söhne haben und jeden mit einem Beruf versorgen können, und sie hätten mir nicht halb so viel Aufregungen oder Kopfschmerzen verursachen müssen wie diese eine kleine schwarzäugige Zigeunerin* aus „The Chase“ mir bereitet hat – von Harry gar nicht zu reden! Ah, eine reizende Zeit hab’ ich in „The Den“ damit verbracht, alles in allem! Wie eine Art Barometer bin ich gewesen, vollkommen der Gnade der wechselnden Atmosphären von „The Chase“ ausgesetzt! Ich vermute, eine leichte Neigung zu Unpässlichkeiten der Lunge hat mir früher schon mein Leben, oder meinen Verstand, gerettet. Ich denke oft, ich hätte mich zu Tode gesorgt, wenn ich ohne Unterbrechung daheimgeblieben wäre. Der Arzt, der mir bei Gelegenheit ein südliches Klima empfahl, konnte nicht zur Hälfte ermessen, wie sehr er mir damit Gutes tat.

Aber ich schweife ständig ab. Ich vergesse, wo ich war. – Nein, tue ich nicht! Ich erinnere mich. Ich begann damit, dass ich unbelebte Objekte erwähnte. Nun! Ich entsinne mich noch genau genug an jenen Tag, als ich, nachdem ich „The Den“ bezog, zum ersten Mal (mein trauriges Schicksal als Opfer gesellschaftlicher Höflichkeitsverpflichtungen beklagend) die gewundenen Pfade auf und nieder ging, die die Abkürzung zwischen „The Den“ und „The Chase“ bilden – Zwergavenuen aus verkümmertem Unterholz mit hier und da einem großen, efeuumrankten Baum dazwischen; das Farnkraut steht allerdings an manchen Stellen hoch wie kleine Bäume und sogar dichtgewachsen genug, um sich darin zu verstecken, wie die Kinder aus „The Chase“ rasch entdeckten, als es ihnen beliebte, mir auf meinem Weg aufzulauern. Einer Sache bin ich mir völlig sicher: Die Vögel singen nirgends so schön und so früh und so spät am Tag oder in der Jahreszeit wie entlang dieses Pfades; und die wilden Blumen leuchten derart farbenfroh, dass der Garten von „The Chase“ mir hinterher öde vorkommt – Wildblumen liebe ich freilich seit je am meisten.

Ich schweife schon wieder ab. Das ist so meine Art, meinen Weg zu verlieren. Ich näherte mich „The Chase“, um den Besuch zu erwidern, den mir der Hausherr von „The Chase“ zuvor abgestattet hatte; und man ließ mich in der Eingangshalle zurück, während der Bedienstete – mit diesen verdrießlichen Skrupeln, die sich um die präzise Wahrheit der Formulierung „nicht zu Hause“ ranken (von denen ich annehme, dass sie so eigentümlich für die Bediensteten auf dem Lande sind) – in jedem Winkel des Hauses, auf dem Spielplatz und im Garten nach seinem unglücklichen Herrn und seiner Herrin fahndete.

Die Wartezeit verbrachte ich geduldig und durchaus angenehm berührt in der Eingangshalle. Eine malerische, alte Eingangshalle. Nicht im großen Stil, nicht im prachtvollen, aber ansprechend eingerichtet, mit einem Billardtisch in ihrer Mitte – der eher als Treffpunkt denn als Wettbewerbsort fungierte –, mit etlichen Cricket-Schlägern und Angelruten, mit Peitschen und Gartenutensilien sowie Kinderspielzeug für draußen, das hübsch verstreut herumlag.

„Ein bisschen ehrlich und geradeaus in einer Eingangshalle dieser Art“, dachte ich. „Es gewährt einem einen Einblick in den Charakter der Leute, die man hier kennenlernen wird.“

Währenddessen fiel mein Blick auf einen alten Hutständer, den ich spontan als meinen „Freund aus Mahagoni“ empfand, und ich tue es nach wie vor bis heute und nenne ihn auch so.

Seinerzeit war er noch kein gar so alter Hutständer, schätze ich, aber ob alt oder jung, wir befreundeten uns in jenem Moment.

Ich begann unsere Freundschaft, indem ich mir das Astwerk oder, in anderen Worten, die Verzweigungen meines Mahagoni-Freundes genau ansah. Auf dem allerhöchsten Seitenarm hing der Hut des Hausherrn – in der Krone ein bisschen tiefer hängend, als es solche Hüte im Allgemeinen tun, aber immerhin konventionell genug, um noch durchzugehen. Ich meinte zu erkennen, er hätte ein eher ernstes Aussehen, wie er sich so nach unten neigte; aber er war sauber und gut gebürstet und zeigte alles in allem ein sehr respektables Aussehen. Auf der linken Seite, weitaus tiefer, hing ein Cottage-Damenhut aus Stroh, mit einem schlichten, blassblauen Band zusammengehalten, um den sich unzählige kleine Kappen, Hüte und Mützen verschiedenster Größen rankten. Während ich dort stand, stellte ich mir zu dem Cottage-Hut ein Gesicht vor, und das Ergebnis gereichte meinen Fähigkeiten der Voraussage zur Ehre. Ich modellierte ein schönes, sanftes Madonnengesicht, mit liebevollen Augen und einem Mund, der stets Freundlichkeit ausdrückt. Ein Zuviel an Liebe und ein Zuwenig an Durchsetzungskraft in dieser Erscheinung, um sie für diese Alltagswelt geeignet sein zu lassen.

Als Hausherr und Hausherrin hereintraten, um mich zu empfangen, stellte ich fest, dass die Eindrücke, die mir mein Mahagoni-Freund vermittelt hatte, zutrafen. Es wurde ein angenehmer Besuch, und beim Hinausgehen bedankte ich mich bei ihm mit einem grüßenden Blick. Wir verstanden uns. In jenen Tagen besuchte ich „The Chase“ vergleichsweise nicht oft; aber noch bevor das Jahr zu Ende ging, blieb die höchste Seitenstrebe leer, was dem Ständer selbst in meinen Augen ein trauriges Aussehen verlieh.

„Schlechte Nachrichten“, bestätigte mein Mahagoni-Freund, „wie Sie sehen.“

Schlecht waren sie in der Tat. Der nahe, kleine Trauerhut der Witwe, der eine Zeit lang den Cottage ersetzte, war eine Stufe höher gestiegen; doch schien es nun, als luge er lediglich aus einem kleinen Nest voller Kopfbedeckungen der Trauer hervor.

Das war jener Winter, in dem ich krank und in ein südliches Klima beordert wurde. Ich verbrachte dort einige Jahre – lange genug, wie sich herausstellte, um mir einen ausgiebigen Vorrat an Gesundheit zuzulegen, so dass ich nach meiner Rückkehr besser gewappnet war, der feuchten Witterung und lehmigen Erde rund um mein altes „The Den“ zu trotzen.

Nichts hätte den Redefluss meines Mahagoni-Freundes übertreffen können, als ich nach meiner Rückkehr zu „The Chase“ hinaufging. Anstatt mir zu erlauben, meine eigenen Schlüsse aus dem zu ziehen, was sich an ihm zeigte, begann er sogleich, auf ganz und gar freimütige Weise zu berichten.

„Schauen Sie hier“, erklärte er, „finden Sie nicht, dass der Cottage freudiger als je zuvor erscheint, mit dem Hut des lieben, alten William ganz in seiner Nähe? Ja, das ist der von William – der alte William, der liebe William, wie wir ihn nennen; sehen Sie, wie hochherzig er aussieht. Es gibt Leute, die behaupten, dass er im Lauf der Zeit immer mehr demjenigen ähnele, den ich vor einigen Jahren regelmäßig an meinem Kopf hängen hatte; aber ich weiß es besser. Die Beschaffenheit ist von ganz unterschiedlicher Art, Sir. Diese Mütze, die ganz nah beim Cottage hängt, das ist die des jungen George. George zieht diese Mützenart an, weil’s all die anderen Kameraden von Eton ebenfalls tun; ein Argument, das die schwarzäugige Katie nicht gelten lässt. Betrachten Sie den Matrosenhut direkt unter dem Cottage, der gehört Tom. Tom ist komplett besessen von der Seefahrt, Sir. Manchmal sehe ich den armen Cottage überaus besorgt auf den kleinen Hut hinabblicken! Aber es nützt nichts, Mr. Mum, den Jungen kann nichts umstimmen. Ich schätze, ich brauche Ihnen gar nicht zu sagen, wem dieser schwarze Federhut gehört, nicht wahr? Sieht er nicht gleichermaßen hübsch, munter, eigenwillig, hochgesinnt und warmherzig aus wie Katie selbst? Diesen Hut trage ich am allerliebsten an mir! Obwohl ich auch nichts gegen den breiten Strohhut mit den flatternden Bändern einzuwenden habe, der wie ein Strohdach auf den Goldlocken der kleinen Minnie sitzt. Gütiger Himmel, Mr. Mum, ich habe Leute sich niederbeugen sehen (und es lohnt sich ja auch wirklich), um sich die kleine Fee darunter anzuschauen! Gleich neben Katies ist Harrys Hut. Oh, da können Sie gewiss sein, dass Bruder und Schwester, wann immer sie können, Seite an Seite sein werden! Dieser braune, breitkrempige Schlapphut gehört ebenfalls Harry – Narrenkappe nennen wir ihn –, und dieser grüne Tirolerhut mit den Pfauenfedern obendrein; und dieses Glengarry-Schiffchen, auch das ist seines, Mr. Mum. Harry hat jede Menge Freunde, und sie alle schicken ihm Geschenke; und weil er fast die ganze Zeit draußen verbringt, was wäre da ein passenderes Geschenk als eine Bedeckung für seinen wilden Kopf, meinen Sie nicht auch, Sir? Diese beiden sauberen, schmucken Mädchenmützen mit der etwas schlichteren in der Mitte“, setzte mein Freund hinzu, dem beinahe der Mahagoni-Atem ausging, „diese, Mr. Mum, gehören den beiden Zwillingen und ihrer Gouvernante. Katie hat sich, wie Sie sehen, aus diesem Joch befreit, und Minnie steht’s erst noch bevor; aber, ach du meine Güte, wie ich schwatze!“

„Aber überhaupt nicht, mein Mahagoni-Freund“, versetzte ich höflich. Seine Bemerkung war natürlich vollkommen wahr, doch wünschte ich, ihn zu ermuntern; denn wie so viele schwatzhafte Leute schien er instinktiv gerade jenen Punkt zu meiden, auf den ich eine gewisse Neugier verspürte.

Auf der einen Seite des Ständers, seiner Spitze freilich näher als alle anderen, residierte eine große, bestimmende, grimmig ausschauende Haube. Es war klar zu sehen, dass Katies Spanier und Harrys Tiroler ihre Federn daran stießen; dass Minnies Bänder darunter zitterten; dass sich die Mützen der Zwillinge, obwohl viel zu gut erzogen und damenhaft, um sich zu offenbaren, näher aneinanderrückten, als schreckten sie vor ihr zurück; dass Williams Hut wegzuschauen schien; dass Georges vor ihr weglief und Toms vor ihr davonsegelte.

Der Cottage zeigte einen eigentümlichen Ausdruck, ich müsste mich schon sehr irren, wenn es anders wäre; es war eine Art Hinaufblicken in Richtung jener einzelnen Haube, und er hielt sich näher als je zuvor neben Williams Hut.

„Diese grimmig ausschauende Haube scheint mir neu, mein Mahagoni-Freund“, stellte ich mit einem gewissen Zögern fest, denn es erschien mir ein bisschen geschmacklos, gerade auf jenes eine Objekt hinzuweisen, zu dem mein Freund schwieg.

„Für Sie, die Sie es sich all die Jahre in Italien haben gut gehen lassen, mag sie neu sein, Mr. Mum“, lautete die Antwort in einem entschieden verdrießlichen Tonfall. „Aber für mich ist sie nicht neu genug, um noch irgendeinen Reiz zu entfalten. Eine Biberhaube, wie Sie sehen; vielleicht ist sie deshalb derart schwer. Unter ihrem Gewicht ächzt diese Seite von mir immer wieder auf.“

„Aber wie denn das?“, erkundigte ich mich, entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, nun, da ich einmal begonnen hatte. „Fast das ganze Gewicht hängt doch auf Ihrer anderen Seite.“

„Das denken Sie“, grummelte mein Freund. „Wenn Sie die Erleichterung ermessen könnten, die es mir bedeutet, wenn die Biberhaube für den täglichen Verdauungsspaziergang abgenommen wird. Dann würden Sie anders denken. Tja, wenn ich nicht am Gewicht spürte, dass die Haube ausgegangen ist, könnte ich es allein schon an der Art ablesen, wie die Kinder in die Eingangshalle hereinstürmen und herumtollen und auf mich zulaufen, oder am alten Nelson, wie er mit seinen schmutzstarrenden Pfoten ins Wohnzimmer sprintet.“

„Aber wem gehört sie denn?“, beharrte ich.