Belgische Schatten - Stephan Haas - E-Book

Belgische Schatten E-Book

Stephan Haas

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Abgründig, klug und voller überraschender Wendungen. Die Leiche einer Lokalpolitikerin wird in einem Wald bei Eupen gefunden. Für Ermittler Piet Donker deutet zunächst alles darauf hin, dass ein Konkurrent Vergeltung für den radikalen Kurs der Politikerin übte. Doch als ein zweites Mordopfer auftaucht, führt die Spur zu einer Jugendclique, der die beiden Toten vor vielen Jahren angehört haben. Eine junge Frau, die ebenfalls Mitglied war, ist damals spurlos verschwunden. Donker muss ergründen, was mit ihr geschehen ist, ehe sich der Täter das nächste Opfer sucht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Stephan Haas, 1984 im belgischen Eupen geboren, hat in Aachen Neuere Deutsche Literatur, Deutsche Philologie und Geschichte studiert. Danach begann er eine Lehrtätigkeit und schloss parallel ein weiteres Studium in Betriebswissenschaften in Lüttich ab. Heute ist er in einem großen Industrieunternehmen im Personalmanagement tätig. Stephan Haas lebt mit Frau und Kindern im deutschsprachigen Teil Belgiens.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: arcangel.com/Silas Manhood

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-021-1

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann GbR, München.

Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden.

Johann Wolfgang von Goethe, Faust I

Samstag, 24.

Prolog

Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn, während sein Magen sich vor Hunger zusammenzog. David hätte eine Pause machen sollen, so wie Sara es ihm angeraten hatte, ehe sie zum Laufen aufgebrochen war. Doch er wollte die Arbeit unbedingt vor Beginn des Bundesligaspiels abgeschlossen haben. Er hasste unerledigte Aufgaben. Wenn er die im Hinterkopf hatte, konnte er kein Spiel genießen. Deswegen zog er es durch, von Anfang bis Ende. Tunnelblick. Vierzig Meter Buchenhecke in fünf Stunden.

Sein T-Shirt war mit Schweiß durchtränkt. Seine Arme juckten, und die Handgelenke schmerzten. Er wollte nur mehr rein. Duschen, sich ein Bier öffnen, in den Sessel werfen und Fußball gucken. Die Arbeit war erledigt, aber er auch. Wie in Trance löste er die angespannten Finger von dem Klemm-Mechanismus. Die Gartenschere fiel unkontrolliert ins Gras, seine Finger pulsierten eine Weile nach.

Auf dem Weg ins Haus erinnerte er sich daran, dass er letztes Jahr die Hecke zusammen mit seinem Bruder auf zwei Tage verteilt geschnitten hatte.

Kein Wunder, dass ich k.o. bin.

Als er die Schiebetür aufdrückte, überkam ihn das schlechte Gewissen.

Jonny.

Der Beagle war erst vor zwei Tagen am Bein operiert worden und sollte sich ausruhen. »Guckst du gleich mal nach ihm, ja?«, hatte Sara ihn gebeten, ehe sie joggen gegangen war. »Na klar«, hatte David gesagt. Aber er hatte ihn komplett vergessen.

»Mami kommt ja bald«, beruhigte David den Hund. Mit beiden Händen streichelte er über seinen Rücken und entschuldigte sich so bei ihm. Dann schaltete David den Fernseher ein und schnappte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Vielleicht würde er es noch unter die Dusche schaffen, ehe der Anpfiff ertönte. Da Sara noch nicht zurück war, konnte nicht so viel Zeit vergangen sein, er rechnete sich gute Chancen aus. Doch seine Hoffnung wurde jäh zerschlagen, sobald das Bild auf dem Flachbildschirm aufflackerte. Es lief die vierundvierzigste Minute. Das bedeutete, Sara war bereits seit mehr als zwei Stunden weg.

So lange läuft sie nie.

Sie lief immer dieselbe Route. Über Langesthal durch den Hertogenwald in Richtung des Weserbeckens und über einen anderen Pfad im Wald wieder zurück. Sara war fit. Eine Stunde brauchte sie dafür. Dabei hörte sie Musik von ihrem Handy.

Ihr Handy.

Sie steckte es beim Laufen immer in ihre Laufjacke.

David wählte ihre Nummer. Jonny hob aufmerksam seinen Kopf, während im TV die Experten bereits die erste Halbzeit analysierten.

Mailbox.

Vielleicht ist sie umgeknickt.

David starrte den Fernseher an. Sah den Spieler jubeln, dessen Tor in der Wiederholung gezeigt wurde.

Nein, dann hätte sie angerufen.

David fackelte nicht lange. Er wusste, dass etwas nicht stimmte. Er nahm den Autoschlüssel aus der Kommode im Flur, hob Jonny in den Kofferraum und fuhr los. Der Wald war nicht weit entfernt, aber jeder Meter, den David nicht zu Fuß gehen musste, war in seinem ausgelaugten Zustand ein Segen. Zumal er Jonny auf dem Arm tragen musste, denn im Auto zurücklassen wollte er ihn auf keinen Fall. Zu sehr hatte David das Unglück traumatisiert, das ihm als Kind widerfahren war. Als er mit Oma einkaufen gewesen war und Franz, Davids erster Hund, währenddessen qualvoll im Auto erstickt war. Das würde ihm nie wieder passieren, das hatte er sich geschworen.

Drei Minuten dauerte es, bis David den Zugang zum Wald erreicht hatte. Er versuchte, die Schranke zu lösen, doch sie war mit einem Schloss versehen. Ab hier musste er also zu Fuß weiter. David hob Jonny aus dem Kofferraum, schloss seine Arme um den felligen Körper und machte sich auf den Weg. Es brauchte ein wenig Zeit, bis Jonny die richtige Position gefunden hatte, doch nachdem er sich damit zufriedengegeben hatte, wie ein Baby festgehalten zu werden, begann David zu laufen. Schon bald verließ er den breiten, von Tannen umgebenen Weg und schlug einen Pfad ein, der voller Unebenheiten und Wurzeln war. David bewegte sich mühsam vorwärts. Hüften und Leisten schmerzten, die Nase juckte. Doch was spielte das für eine Rolle? Er musste Sara finden. Wahrscheinlich saß sie irgendwo mit umgeknicktem Knöchel und konnte nicht mehr gehen. Oder sie war über eine Wurzel gestolpert und hatte sich an dem Knie verletzt, an dem sie erst vor einem halben Jahr operiert worden war.

Ich sollte mich beruhigen.

Vielleicht war sie nach ihrer Runde noch zu Ina gegangen, einen Kaffee trinken.

Meine Reaktion gerade ist total übertrieben.

Wie hatte es so weit kommen können? Da war seine Frau mal eine Stunde zu spät dran, und schon schrillten bei ihm die Alarmglocken. Es war sicher die Erschöpfung nach dem Heckenschneiden – David konnte nicht klar denken. Er hätte besser erst mal geduscht und etwas Zuckerhaltiges getrunken. Nein, nein – das war es nicht. Vielmehr war alles auf den Stress zurückzuführen, unter dem Sara seit Wochen stand und der inzwischen auf David übergegangen war.

Der Pfad führte hinaus aus dem Wald und durch eine Landschaft, die von Pfeifengräsern und kleinen Bächlein geprägt war. David verlagerte Jonnys Körper komplett auf den linken Arm, presste den Beagle an sich und zog mit der rechten Hand das Handy aus der Tasche. Er wählte Inas Nummer. Der Rufaufbau dauerte. Jonny lag ungünstig in Davids Arm, er rutschte mit jedem Schritt, den David machte, einen Zentimeter weiter nach unten. Der Hund strampelte mit den Beinen in der Luft. Es schien fast so, als versuchte er, sich zu befreien, aber David wollte unbedingt vermeiden, dass er mit dem frisch operierten Fuß aus einem Meter Höhe auf den Boden fiel. Er drückte Jonny mit der rechten Hand ein Stück weit hoch, doch der Beagle strampelte nur noch intensiver. Und dann passierte es doch. Jonny fiel zu Boden. Doch zu Davids Verwunderung jaulte er nicht vor Schmerzen, sondern humpelte eilig davon. Er verließ den Pfad und lief schnurstracks auf das rechts liegende Waldstück zu. David folgte ihm und warf währenddessen einen Blick auf sein Handy. Der Rufaufbau war abgebrochen. Kein Netz.

Der Wald, in den Jonny hineinlief, war dunkel. Die Tannen standen eng beieinander, sie konnten nur im Slalom passiert werden. Bei jeder kleinen Gewichtsverlagerung gab Jonny ein Winseln von sich. Er wurde dennoch schneller und verschwand bald aus Davids Blickfeld. Davids Augen rasten von links nach rechts und wieder zurück.

Wie soll ich ihn hier wiederfinden?

Ein Jaulen. Es war so eindringlich, dass Gänsehaut über Davids Arme lief. Er schüttelte sich kurz, ehe er die Richtung einschlug, aus der der Laut erklungen war.

Da! Jonny jaulte wieder. Und wieder. Und wieder. Er hörte nicht mehr auf. David lief, nein, er rannte. Er rannte, so schnell er konnte. So schnell, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Und als David Jonny endlich in dem dunklen Wald gefunden hatte, erkannte er, was den Hund so sehr aufwühlte.

Sara. Sie lag nackt auf dem Bauch. Das Gesicht in den Waldboden gedrückt. Hände und Füße auf dem Rücken zusammengebunden. Während Jonny an ihr schnüffelte, rührte sie sich keinen Millimeter.

1

Wie ich es hasste, wenn der erste Blick nach dem Aufwachen dem Handy galt. Nicht vorrangig aus dem Grund, dass meine trockenen Augen nach der Dauerbeanspruchung vom Vorabend nun mit einer gefühlten Extraschicht in den Tag starteten. Was mir viel mehr zu schaffen machte, war die Abhängigkeit, die damit den Kampf gegen meinen Willen gewonnen hatte, bevor dieser überhaupt realisiert hatte, dass ihm jemand was Böses wollte. Streng genommen war es die erste Niederlage des Tages.

Und die zweite folgte auf dem Fuß. Hatten meine Bundesligawetten mir gestern Nachmittag noch vierhundert Euro eingebracht, so reichte ein NBA-Spiel aus, um alles wieder zu verzocken. Die Quote von eins Komma neun für einen Sieg der LA Clippers gegen Miami Heat war einfach zu verlockend gewesen. Gerade dann, wenn man glaubt, sich auf der Siegerstraße zu befinden … Vor knapp fünf Stunden, um sechs Uhr vierunddreißig mitteleuropäischer Zeit, hatte LeBron James das Spiel mit dem letzten Korb zugunsten seiner Mannschaft aus Miami entschieden. Als mir kurz nach Spielbeginn die Augen zugefallen waren, hatte es noch gut für LA ausgesehen. Jetzt aber war mir klar, dass es mal wieder das berühmte Spiel zu viel gewesen war.

Shit!

Das Sofa quietschte, als ich mich erhob. Die auf dem Couchtischchen angesammelten Starkbierflaschen und Chipstüten versprühten ein Aroma, das Ekel in mir hervorrief. Als ich mehr oder weniger aufrecht stand, spürte ich meinen brummenden Schädel und mein verkrampftes Bein und hörte dazu meinen Rücken knacken. Ich schleppte mich in die Küche, warf ein Aspirin ein und jagte einen Schluck Wasser vom Hahn hinterher. Dann machte ich zwei Schritte zum Fenster und zog den Rollladen hoch. Die einfallenden Sonnenstrahlen erwischten mich unvorbereitet. Ich hob den Ellenbogen vors Gesicht und stellte mit abgewandtem Blick das Fenster auf Kipp.

Wieder zurück in der Küche, öffnete ich nacheinander die drei Brottüten, die auf dem Kühlschrank lagen. Eine war leer, in einer lag ein steinhartes Stück Baguette, und in der dritten wies das Brot bereits weiße Flecken auf. Den Blick in den Kühlschrank ersparte ich mir. Für mein Frühstück standen demnach Chips oder zwei halb verfaulte Bananen zur Auswahl. Ich entschied mich dafür, das Frühstück ausfallen zu lassen und mir nachher etwas Warmes im Imbiss zu holen. Bevor ich mich aber aufmachte, wollte ich, in der Hoffnung auf einen Wachkick, unter die Dusche springen.

Ich hatte mich bereits bis auf die Unterhose ausgezogen, als die Klingel losschrillte. Es handelte sich um ein sehr altes Exemplar, wahrscheinlich noch ein Original aus dem Siebziger-Baujahr des Gebäudes. Ich fuhr jedes Mal zusammen, wenn das Ding losging. Und jedes Mal schwor ich mir, dass ich das Teil bei nächster Gelegenheit austauschen würde. Aber dazu war es bis heute nicht gekommen.

Ich zog mir ein T-Shirt über und schlüpfte in die Jogginghose.

»Piet, komm schon. Ich weiß, dass du da bist!«, hörte ich die Stimme eines Mannes vor der Tür.

Ich warf noch einen Blick in den Spiegel. Wusch mir über dem Becken kurz das Gesicht mit kaltem Wasser und richtete meine zerzausten Haare ein wenig.

»Mein Gott, Piet. Nun mach schon auf!«, ertönte wieder die Stimme des Mannes. Diesmal klopfte er zweimal kräftig an die Tür.

Schmunzelnd sprühte ich mir etwas Deo aufs T-Shirt. Und während der Mann noch einmal die Klingel betätigte, öffnete ich die Tür.

»Geduld war noch nie deine Stärke, was?«, sagte ich.

Francis Alberts Blick war wie immer: todnüchtern. Francis war ein international anerkannter Profiler. Auch wenn er eigentlich für die Tatortspuren zuständig war und nicht für die Psyche von Verdächtigen, brauchte er nicht viel, um eine Person zu durchleuchten. Ein paar Minuten reichten, danach wusste er so ziemlich alles über jemanden. Keine Ahnung, wie er das anstellte, aber es gelang ihm immer wieder. Und jetzt stand er vor mir und musterte mich, ohne ein Wort zu sagen. Das bereitete mir gewisse Bauchschmerzen.

Auch typisch für Francis war die elegante Kleidung. Der kräftige, hundertsiebzig Zentimeter große Kerl trug ein nahezu faltenfreies weißes Hemd zu einer grauen Stoffhose, in deren Taschen er seine Hände gesteckt hatte. Francis war seit gut zwei Monaten mein Chef. Er hatte infolge meiner Auszeit meinen Posten als Leiter der Lütticher Kripo übernommen.

»Hast du fünf Minuten?«, fragte er.

Ich bat ihn in die Wohnung. Er trat ein und sah sich wie ein Interessent für die Neunzig-Quadratmeter-Fläche um. Im Wohnzimmer angekommen, blieb ich stehen, in der Hoffnung, wir würden das Gespräch so fortführen. Doch Francis visierte das Sofa an und setzte sich ungefragt darauf. Wortlos schielte er zu den leeren Bierflaschen.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte ich, während ich mich ihm gegenüber in dem Sessel niederließ.

Francis kam direkt zum Punkt. »Als du vor vier Monaten nach einer Auszeit gefragt hast, hast du als Grund dafür angeführt, dass du deinem Familienleben mehr Zeit widmen wolltest.«

»Ja, das ist richtig. Nach der Trennung von Sina brauchte ich etwas Zeit für mich. Musste mich noch mal erden, wie man so schön sagt.«

Bilder von Sina schossen mir durch den Kopf. Nach der Trennung vor einem halben Jahr hatten wir uns noch einmal in einem Café in der Stadt getroffen. Wie zwei schüchterne Sechzehnjährige hatten wir dagesessen, kaum miteinander geredet. Es war ein ernüchterndes Wiedersehen gewesen, aber es wurde noch schlimmer, als Sina plötzlich begann zu weinen. Sie wurde selbst überrascht von diesem Gefühlsausbruch. Sie gestand, dass sie nach wie vor starke Gefühle für mich hege, aber dass es sie innerlich zerreiße, wenn sie mich länger mit meiner Arbeit teilen müsse. Ich sei dann wie besessen, mehrere Tage ohne ein Wort fort und in ständiger Lebensgefahr. Ich konnte ihren Standpunkt gut verstehen und hatte bereits selbst gemerkt, wie selbstzerfleischend mein Job war. Ich sagte ihr, dass ich gewillt sei, etwas zu ändern. Bevor ich jedoch weiter ausholen konnte, war Sina dazwischengegrätscht: »Ich habe jemanden kennengelernt.«

»Erden«, wiederholte Francis und holte mich zurück ins Hier und Jetzt. Er ließ den Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Sein Gesicht verzog sich. »Ich weiß nicht so recht, Piet. Meinst du, das ist dir gelungen?«

»Was?«, hakte ich nach.

»Das Erden, Piet.«

»Ja«, sagte ich zögerlich. »Ich denke schon.«

Francis hob leicht den Kopf an und kratzte sich am Hals. »Sei mir nicht böse, aber ich denke, eher nicht.«

Na klasse. Das Gespräch habe ich heute auch noch gebraucht.

Ich kam gut mit Francis aus. Ich war sein Chef gewesen, und jetzt war er meiner – wir hatten seit dem Tag unseres Kennenlernens ein sehr freundschaftliches Verhältnis zueinander. Es war sogar so eng gewesen, dass ich mit ihm über meine Scheidung von Elise, mein Verhältnis zu meiner Tochter Liv und meine Beziehung zu Sina hatte reden können. Er hatte mir von der Erkrankung seiner Frau und den Sporterfolgen seiner Söhne erzählt. Er wusste alles über mich, und ich wusste alles über ihn. Doch seit vier Monaten war alles anders.

»Ich kann dir auch sagen, warum ich das denke«, fuhr er fort.

Ich spürte kalten Schweiß auf meiner Stirn und sagte nichts.

»Deine Wohnung gefällt mir nicht.«

Ich musste schmunzeln. »Zum Glück ist es nur die Wohnung.«

Er schüttelte den Kopf. »In der Küche gammelt die dreckige Wäsche vor sich hin, auf dem Boden wehen überall Staubwolken umher, und in der gesamten Wohnung liegt dieser furchtbar beißende Starkbiergeruch in der Luft.«

»Gut«, sagte ich angezählt. »Ich räume das nächste Mal auf, bevor du kommst. Versprochen.«

»Piet«, sagte Francis mit ernster Stimme und eindringlichem Blick. »Du musst wieder in die Spur finden.«

Wieder in die Spur finden. Was sollte das heißen? Bevor ich mich vor vier Monaten dazu durchgerungen hatte, eine Auszeit zu nehmen, hatte mich das Gefühl beherrscht, immer wieder dieselben Fehler zu begehen. Es stellte sich kein Lerneffekt ein. Mir war klar geworden, dass der gute Wille, ein glücklich machendes Privatleben zu führen, allein nicht ausreichte. Ich war zweimal bei Dr. Sander, meiner Therapeutin, gewesen. Sie stellte kaum Fragen, redete mir aber eine Stunde lang gut zu. Sie sprach von einem Gleichgewicht der Bedürfnisse, das irgendwann erreicht werden wollte. Dazu brauche es Geduld. Ehrlich gesagt, sie hatte mir nicht gutgetan. Und zwar aus dem Grund, dass ich zu hohe Erwartungen an sie als Therapeutin gestellt hatte. Dabei lag es in Wirklichkeit nur an mir. Ich war es, der die Entscheidungen treffen musste. Und ich war mir sicher, dass ich es irgendwann schaffen würde, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Was mir aber bis hierhin – das musste ich mir eingestehen – nicht gelungen war.

»Wie du weißt, habe ich mir die Auszeit auch genommen, um wieder mehr Zeit mit meiner Tochter zu verbringen.«

»Ja, das hast du mir gesagt. Und wie oft habt ihr euch in den letzten Wochen gesehen?«

Ich zögerte. »Ein Mal.«

Francis zog die Augenbrauen hoch. »Was habt ihr gemacht?«

»Wir waren im Kino und später noch Pizza essen. Danach wurde sie abgeholt.«

»Von ihrem Stiefdaddy?«

Ich nickte.

»Und sie wollte nicht länger bleiben als die paar Stündchen?«, fragte er wie ein Schuljunge, der Gefallen am Hänseln fand.

»Sie wollte zu Hause schlafen, weil sie am nächsten Morgen für einen Ausflug mit den Pfadfindern früh rausmusste«, sagte ich genervt.

»Sie entwickelt eigene Interessen«, erklärte Francis, als führte er einen Lehrgang für gestörte Vater-Tochter-Beziehungen. »Du wirst ihr Vater bleiben, aber du bist nicht mehr ihr Lebensmittelpunkt. Davon gibt es jetzt ganz viele. Und wenn du noch immer glaubst, es könnte so werden wie früher, dann wirst du jedes Mal aufs Neue enttäuscht werden. Das wird dich auf Dauer brutal runterziehen.«

Ich mochte nicht, wie er mit mir redete, versuchte jedoch, ruhig zu bleiben. Vor allem wollte ich verstehen, was dahintersteckte, dass Francis mich so heftig ins Gebet nahm.

»Na ja«, sagte ich. »Da pass ich schon auf. Ich habe ja zum Glück noch andere soziale Kontakte.«

Francis lachte kurz auf. »Meinst du Anna?«

»Du weißt es?«, fragte ich überrascht. Anna war die Frau von Leo Renard, einem befreundeten Ermittler aus Lüttich. Sie war eine Woche nach Beginn meiner Auszeit mit ein paar Freundinnen in Aachen unterwegs gewesen. Ich war mit einem Kumpel unterwegs und wollte eigentlich nur ein Bier trinken. Aber irgendwann stand sie vor mir, und wir kamen ins Gespräch. Und was soll ich sagen, irgendwie stimmte an dem Abend die Chemie zwischen uns.

»Du vögelst die Frau eines Kollegen«, schimpfte Francis. »Tut man so etwas, Piet? Geht es dir besser, wenn du sie auf deiner stinkenden Matratze rannimmst?«

Bis hierhin hatte ich die Ruhe bewahrt. Aber jetzt lehnte Francis sich etwas zu weit aus dem Fenster. »Spielst du jetzt Richter und Henker zugleich? Was soll das, verdammt?«

»Versteh mich nicht falsch, Piet«, sagte Francis, während er seine Hand beschwichtigend auf meine legte. »Ich will dir nichts Böses. Ich verstehe nur nicht, warum du entschieden hast, all deine Prinzipien innerhalb weniger Wochen komplett über Bord zu werfen. Du trinkst, du zockst, du brichst Ehen, und – tut mir leid, dass ich das sagen muss – du siehst verdammt noch mal aus wie ein Penner.«

Warum macht er mich so fertig? Und woher weiß er alles über mich?

»Dass ich ab und zu wette, habe ich dir nicht gesagt.«

Er hob die Hände hoch. »Okay, schuldig. Habe ich auf deinen Kontoabbuchungen gesehen«, sagte er, bevor er die Lippen zusammenpresste. »Das thematisieren wir aber jetzt nicht.«

»Warum nicht?«, entgegnete ich. »Du spionierst mich aus und erwartest von mir, dass ich das einfach abnicke?«

»Genau, das erwarte ich. Und zwar aus dem Grund, dass die Frage, die dich interessieren sollte, viel größer ist.«

»Ach ja, und wie soll die bitte lauten?«

»Warum zockst du?«

Ich sah ihn fassungslos an. »Soll das die große Frage sein?«

»Beantworte sie!«, sagte Francis eindringlich. »Warum wettest du auf Mannschaften, von denen du keinen einzigen Spieler kennst?«

Mein Gott, er hat ganze Arbeit geleistet.

»Weil es Spaß macht, verdammt!«

»Ab und zu mag es Spaß machen, ja. Gerade dann, wenn du mal durch Zufall gewinnst. Aber ich bin mir sicher, dein Hauptantrieb, eine Wette abzuschließen, ist Langeweile. Aus demselben Grund vögelst du Anna. Ich meine, sie ist nett, ja, aber sie wird niemals die Liebe deines Lebens sein – dafür seid ihr einfach zu verschieden. Du vögelst sie, klar, weil es Spaß macht, aber wenn du ehrlich zu dir selbst bist, auch weil es dir die Zeit vertreibt. Aber bringt es dich voran, dorthin, wo du hinwillst?«

Ich presste die Lippen zusammen und schloss die Augen. Ich war den Tränen nahe. Der Top-Profiler hatte mich durchröntgt wie ein Top-Psychogutachter. Ich stand quasi nackt vor ihm.

Er wusste alles von mir und analysierte minutiös mein Leben. Dass die Scheidung von Elise und der damit einhergehende Kontaktverlust zu Liv mir einen Knacks versetzt hatten, konnte ich nicht leugnen. Aber den noch heftigeren Nackenschlag hatte mir Sina mit ihrem Auszug verpasst. Seitdem taumelte ich identitätslos umher.

»Dafür muss man erst mal wissen, wohin man möchte, nicht wahr?«, fuhr Francis fort.

Meine Augen wurden feucht. Und in meinem Hals bildete sich ein dicker, saurer Kloß. Francis hatte recht, so schwer es mir auch fiel, das einzugestehen. Mit einem Mal wurde mir wieder klar, wie sehr ich Ehebrechen, Glücksspiel und Ziellosigkeit hasste. Ich wusste derzeit vielleicht nicht, wohin es mich zog, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich im Moment absolut nicht die Person war, die ich sein wollte.

Ich wischte mir über die Augen, ehe ich Francis mit unsicherem Blick ansah. »Was schlägst du vor? Was soll ich tun?«

»Hör auf, dich selbst zu bemitleiden. Deiner Tochter geht es gut. Sie lebt zwar nicht bei dir, aber ihr geht es gut. Und wenn sie zu Besuch kommt, dann tu alles dafür, dass sie sich wohlfühlt. Das ist das Einzige, was du für sie tun kannst.« Er legte seine Hand auf meine Schulter. »Und Piet, du musst höllisch aufpassen, dass das Warten auf bessere Zeiten nicht zu einem Dauerzustand wird.« Er sah mir direkt in meine feuchten Augen. »Beschäftige dich!«

Ich stöhnte spöttisch auf. »Womit denn?«

»Mach etwas, das du gut kannst. Etwas, worauf du dich zu hundert Prozent fokussieren kannst.«

Jetzt durchblickte ich seinen Plan. »Du willst, dass ich einen Fall übernehme.«

»Es ist das Beste für dich.«

Ich ahnte, wo ihn der Schuh drückte. Schon als ich den Laden geführt hatte, waren wir bereits knapp besetzt gewesen. Und nun hatten sich im August noch zwei erfahrene Ermittler in den Ruhestand verabschiedet. Francis gingen die Leute aus.

»Du meinst wohl: für dich.«

Er grinste schelmisch. »Nennen wir es eine Win-win-Situation.«

Dieser verdammte Scheißkerl hatte mich genau da, wo er mich haben wollte.

»Worum geht es?«

»Eine Politikerin wurde in Eupen getötet«, sagte Francis. »Es gleicht einer Hinrichtung.«

Ich zögerte.

»Nimm in Ruhe eine Dusche«, sagte Francis. »Danach gibst du mir Bescheid, ob die Kolleginnen dich in Eupen erwarten können.«

Was hatte ich mir vor vier Monaten nicht alles vorgenommen. Ich war fest entschlossen gewesen, mein Leben aufzuräumen. In dem Maße, dass ich wieder beziehungsfähig, ja überhaupt für ein Privatleben geeignet sein würde, auch wenn es nur meines wäre. Außerdem wollte ich mehr Zeit mit meiner Tochter Liv verbringen. Doch was hatte ich stattdessen getan? Jeden Tag Sportwetten abgeschlossen, Serien gestreamt, Bier und Schnaps getrunken. Nichts Produktives hatte ich auf die Kette bekommen, nach keiner Alternative zu meinem Job als Ermittler gesucht. Es war sicher nicht nur Selbstmitleid, das mich bremste. Es war auch eine Art Niedergeschlagenheit, die ich bis dahin nicht von mir gekannt hatte. Ein Nichtanderskönnen, eine brutale Antriebslosigkeit, Lethargie. Und jetzt sollte ich die Arbeit wieder aufnehmen, die für mich so viel zerstört hatte?

Klar war: Wenn ich ermittelte, hatte ich keine Zeit für Wetten und Vögeln, dann gab es keinen Platz für Zaudern und Zögern. Wenn ich ermittelte, wusste ich immer, was zu tun war. Das Rätsel lösen und den Mörder finden. Mein Dasein würde wieder einen Sinn haben.

»Sag den Kolleginnen, dass ich in einer Stunde in Eupen bin.«

2

2004

Den Urlaub in dem Ferienhaus hatte sich Joleen anders vorgestellt. Sie schaffte es einfach nicht, sich zu entspannen. Zu viel Leid kreiste in ihrem Kopf herum. Dabei wollte sie doch Spaß haben. Das letzte Mal mit ihren Freunden feiern, bevor sie mit Benno ein neues Leben beginnen würde. Spaß haben und die negativen Gedanken ausblenden. Doch bisher wollte das einfach nicht klappen.

Aber heute Abend! Sie war fest entschlossen, dass es ihr nun endlich gelingen sollte. Dafür wollte sie alles tun.

Wie zwei sorgenfreie Schulmädchen tanzten Sara und sie zu dem Lied, das die Band »Wir sind Helden« live auf der Bühne am Werthplatz spielte. Sie befanden sich nicht in dem Pulk von Menschen, die sich direkt vor der Bühne gegenseitig einengten. Sie hielten sich dort auf, wo Platz zum Tanzen blieb und von wo aus der Weg zur Theke nicht zu weit war. »Hol den Vorschlaghammer!«, schrien die beiden in Richtung der Sängerin Judith Holofernes. »Sie haben uns ein Denkmal gebaut. Und jeder Vollidiot weiß, dass das die Liebe versaut …«

Die anderen der Clique standen wenige Meter weit entfernt. Sie bewegten sich nicht, nuckelten gelangweilt an ihren Bierflaschen. Xavier, Jan und Uma. Joleen spürte ihre Blicke, hörte ihr Gelächter. Und das Urteil, das darin mitklang. Es war zu früh, um so abzugehen, wie Sara und sie es taten. Lächerlich, im Kreis herumzutanzen, Getränke und Schmuck zu tauschen, zu kichern wie zwei Sechsjährige und einander haltlos in die Arme zu fallen. Es war der Wodka. Sechs volle Schnapsgläser hatten sie innerhalb von zwanzig Minuten geleert. Neuer Rekord.

»So jung komm’n wir nich mehr zusamm’n«, lallte Sara. Sie wollte ihren Großvater imitieren, doch ihre Stimme klang überhaupt nicht so wie seine. Aber das war egal, Joleen und sie brüllten auch so los vor Lachen. Damit zogen sie die Blicke der anderen wieder auf sich. Je länger und ausgiebiger sie lachten, desto weniger kam von den anderen. Als das Lied zu Ende gespielt war, rief die Sängerin lauthals ins Mikro: »Danke, Eupen!«

Bevor der nächste Song begann, nuschelte Sara Joleen etwas ins Ohr. Erst mit einiger Verspätung begriff Joleen, dass Sara sich auf den Weg zur Toilette gemacht hatte. Es schien dringend zu sein, denn sie rannte förmlich auf die Reihe von Dixi-Klos zu, die sich in etwa fünfzig Metern Entfernung befanden. Joleen wurde bewusst, dass auch ihre Blase schrecklich drückte. Sie eilte ihrer Freundin hinterher, schlängelte sich an den Zuschauern vorbei. Doch wenige Meter vor den Klos stolperte sie und fiel auf die Pflastersteine. Langsam setzte sie sich wieder auf. Arme und Beine bluteten.

Du betrunkenes Huhn, sagte sie zu sich. Bist wohl über eine Bierflasche oder sonst was gestolpert.

Doch als sie wieder aufrecht stand, bemerkte sie ihn. Xavier. Er musste ihr ein Bein gestellt haben.

»Spinnst du?«

»Du spinnst!«

»Ich möchte nur Spaß haben.«

»Ich frage mich, wie das geht.«

»Das Leben geht weiter, Xavier.«

»Mein Gott, du tust wirklich so, als wäre nichts gewesen. Du hattest eine Fehlgeburt, hast du das schon vergessen?«

»Danke, dass du mich wieder daran erinnerst. Ich hätte es fast vergessen, du Idiot!«

»Gehst du deswegen weg?«

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Na, zu diesem Benno. Willst uns alle vergessen, was?«

»Quatsch! Das hat doch nichts mit euch zu tun. Ich liebe Benno. Deswegen gehe ich zu ihm.«

»Du kennst ihn gerade mal seit drei Monaten. Er tut dir nicht gut.«

»Und das weißt du, weil du ihn ja schon, ähm, lass mich kurz überlegen, kein einziges Mal getroffen hast?«

»Er ist zehn Jahre älter als du.«

»Ja und? Er versteht mich. Bei ihm fühle ich mich sicher.«

»Das tut weh, Joleen. So etwas darfst du mir nicht sagen.«

»Aber es ist so. Dieses Hin und Her tut mir nicht gut. Die Fehlgeburt war ein Zeichen. Ich muss mein Leben wieder in geordnete Bahnen lenken.«

Sara trat aus einem der Toilettenhäuschen und kam schwankend auf die beiden zu, wäre aber beinahe an ihnen vorbeigelaufen. Erst im letzten Moment erkannte sie die bekannten Gesichter. »Mein Gott, bin ich besoffen«, lallte sie.

Joleen musste lachen. Xaviers bösen Blick bemerkten die beiden nicht.

»Ey, du blutest ja!«, schrie Sara, während sie wankend auf Joleens Knie zeigte.

»Bin gestolpert.« Joleen zuckte mit den Schultern. »Ist halb so schlimm.«

»Dann können wir ja weitertanzen. Oder vielleicht verarzten wir dich besser erst mal«, sagte Sara. Sie griff nach Joleens Hand und zog sie in Richtung des Sanitätszelts, das sich neben den Toiletten befand.

»Ja.« Joleen traf kurz Xaviers Blick, drehte sich dann aber um, um ihrer Freundin zu folgen. Dabei hörte sie Xavier noch etwas sagen.

»Pass nur auf, dass auf der geordneten Bahn kein zu großer Stolperstein liegt.«

3

Die Sonne stand tief, als ich Eupen erreichte. Eine Umleitung führte mich mitten durch die Stadt. Erstes Herbstlaub fiel von den Bäumen, am Himmel erblickte ich ein paar Zugvögel, die bereits das Weite suchten. Die Terrassen in der Klosterstraße und am Marktplatz waren gut gefüllt, die Gäste verweilten in Shorts und T-Shirt. Einige von ihnen unterhielten sich angeregt, andere wiederum begnügten sich damit, zurückgelehnt die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu genießen und ab und zu an ihrem Bier zu nippen. Vor dem Dönerladen standen ein paar Jugendliche, die ihre Jupiler-Dosen öffneten und sich albern zuprosteten. Auf dem Pflastersteintrottoir schob ein Pärchen einen Kinderwagen vor sich her und machte kurz halt, um sich einen Kuss zu schenken.

Ich erinnerte mich an die Nachmittage bei meinem Großvater, als ich noch ein Kind gewesen war. Er liebte Modelleisenbahnen und das Aufbauen und Betrachten von Miniaturstädten. Jedes Bäumchen hatte seinen festen Platz, jede Figur führte eine ganz bestimmte Aktivität aus, die in den Kontext der Landschaft und Gebäude eingebettet war. Alles folgte einem klaren Plan, den mein Großvater in seinem Kopf erdacht hatte und dessen Umsetzung ihm eine gewisse innere Ruhe verlieh. Und wie ich nun durch die ostbelgische Hauptstadt fuhr, war mir, als hätte Eupen Modell gestanden für eines dieser Miniaturgebilde. Der Ort erzählte eine Geschichte, und ich erlebte diese vor dem Hintergrund des farbenfrohen Indian Summer und der Erinnerungen an meinen Großvater als eine regelrecht lebhafte Idylle.

Doch dann wurde sie von jetzt auf gleich zerstört.

Denn plötzlich rannte ein Mädchen quer über die Straße. Ich hatte sie aufgrund ihrer kurz rasierten Haare und der Jeansjacke zunächst für einen Jungen gehalten. Erst als der Blick ihrer hellblauen Augen den meinen traf, erkannte ich, dass es sich um eine Frau um die dreißig handelte. Ich hatte eine Vollbremsung hingelegt und den Motor abgewürgt. Nun sah ich der rennenden Frau hinterher. Ihre Jeansjacke flatterte. Dann verschwand sie hinter der nächsten Ecke.

Als ich den Motor wieder starten wollte, ließ mich mein BMW, Baujahr 78, im Stich. Mein Hintermann hupte genervt, unfreiwillig wurde mir die gesamte Aufmerksamkeit der zahlreichen Cafébesucher zuteil. Vier Startversuche, kein Lebenszeichen. Als dann schließlich nach dem fünften Mal der Motor endlich aufbrummte, klatschten einige Zuschauer hämisch Beifall.

Ich fuhr weiter und wurde nachdenklich. Die Vollbremsung hatte mich aus der Idylle gerissen, die ich mit Eupen verband. Ich kannte die Zwanzigtausend-Einwohner-Stadt zwischen Aachen, Lüttich und Maastricht relativ gut, war das eine oder andere Mal als stiller Besucher durch die fußgängerfreundlichen Straßen spaziert, hatte auf dem Freitagsmarkt oder in den niedlichen Lädchen meine Besorgungen gemacht, war in der Unterstadt am Ufer der Weser entlangspaziert und sogar einmal – als Sina und ich noch ein Paar waren – in einem der vielen guten Restaurants essen gewesen. Auf mich hatten die Stadt und ihre Bewohner immer sehr bodenständig und ausgeglichen, ja fast wie in sich ruhend gewirkt, was sich allzeit positiv auf mein Wohlbefinden ausgewirkt hatte. Ein Ausflug nach Eupen hatte sich immer wie ein kleiner Urlaub angefühlt.

Doch heute lag die Sache anders. Denn ich war hier, um in einem Mordfall zu ermitteln. Ich war zum Arbeiten hergekommen, nicht, um Urlaub zu machen.

Es erwartete mich Tod, nicht das Leben.

Inzwischen hatte ich das auf dem Kaperberg gelegene Fußballstadion der AS Eupen hinter mir gelassen und rollte Richtung Unterstadt, auf den Ortsteil Langesthal und den dahinterliegenden Hertogenwald zu. Die Schranke am Waldzugang stand offen. Ich kurbelte das Fenster herunter, ein Schnauzbart tragender Polizist in Uniform fragte mich, wer ich sei.

»Folgen Sie dem Weg, bis Sie die Autos am Wegesrand sehen«, sagte er, nachdem ich ihm meinen Namen verraten hatte. »Eine Kollegin wird Sie dort abholen und Sie zu der Stelle führen.«

Ich folgte dem Forstweg und ließ die kühle Waldluft, die würzig nach Kiefern duftete, ins Wageninnere strömen. Nach hundert Metern umgab mich das Rascheln der Blätter von Buchen und Birken, die im Abendlicht glänzten. Ich holte tief Luft, hielt sie an und ließ sie erst allmählich wieder aus meinem Körper entweichen. Ich spürte die wohltuende Wärme und Ruhe des Waldes, und mir wurde bewusst, wie sehr ich das vermisst hatte. Wie viele Stunden hatte ich in den letzten Wochen in den eigenen vier Wänden verbracht, ja verschwendet? Auf mein Smartphone geglotzt, die immer gleichen Seiten aufgerufen, immer in der Hoffnung, dass sich etwas Neues ergeben würde. Mit der Farbenpracht der Natur vor Augen wirkten die letzten vier Monate wie ein selbst auferlegter Arrest, ja wie ein Gefängnis, das ich wahnhaft Tag für Tag scheinbar freiwillig aufgesucht hatte. Es war mir so, als läge diese Zeit weit zurück, sie war einmal ein Teil von mir gewesen, ich hatte aber kaum mehr einen Bezug zu ihr. Und ich verlor ihn komplett, als ich auf Höhe der Autos am Wegesrand die Polizistin entdeckte, die mich offenbar empfangen sollte. Sie lehnte mit einem Arm an einer Tanne und erbrach sich. Ich parkte in der Reihe der anderen Fahrzeuge, stieg aus und ging auf sie zu.

»Hallo«, grüßte ich. Die Polizistin beugte sich weiterhin nach vorn. Ich reichte ihr eine Flasche Mineralwasser. »Hier, nehmen Sie einen Schluck«, sagte ich.

Sie schaute zu mir auf und brachte trotz ihres offensichtlichen Unwohlseins ein kurzes Lächeln zustande. Sie war noch relativ jung, ich schätzte sie auf Mitte dreißig. Sie hatte kurze, zur Seite gescheitelte schwarze Haare. In ihren Wangen steckten Piercings. Kleine Kügelchen, die ihre Grübchen unterstrichen. Sie richtete sich auf und öffnete den Flaschenverschluss. Während sie trank, schielte sie zu mir herüber. »Haben Sie keine anderen?«, fragte sie. Ihr Blick lag auf meinen Sneakern. »Im Wald ist es an gewissen Stellen matschig.«

»Nein«, antwortete ich, während ich ihre Schuhe betrachtete. Sie trug Sicherheitsstiefel. Mir leuchtete ein, dass meine Sportschuhe nicht die ideale Ausrüstung für den Waldboden waren, aber ich würde es überleben, dachte ich. »Das wird schon gehen.«

»Gut, sind ja Ihre Schuhe«, sagte sie schulterzuckend. »Ich bin übrigens Uma, Uma Ortmann, um korrekt zu bleiben«, schob sie grinsend hinterher.

Ich stolperte über den Namen, da er in unseren Breitengraden nicht gewöhnlich war. »Ich bin Piet –«, begann ich und wollte meine Rolle in diesem Fall weiter ausführen, wurde jedoch von Uma unterbrochen.

»Ich weiß. Komm, ich führe dich zu der Stelle.«

Mit kurzen Schritten eilte sie voraus. Ich kam gehend nicht hinterher, legte ein paar Meter laufend zurück, um ihr beizukommen. Es wurde schnell dunkel, in dem dichten Wald stand Tanne an Tanne. Als wir eine sumpfige Stelle durchquerten, drohte ich wegzurutschen, konnte mich aber noch rechtzeitig ausbalancieren. Allerdings wurde der linke Schuh dabei in Matsch getränkt.

Verdammt!

»Da vorn ist es«, sagte Uma. Sie zeigte mit dem Finger voraus. Dort sah ich in der Ferne ein Licht und Umrisse von Menschen – mehr war in dem dunklen Dickicht nicht zu erkennen. Nach einigen Metern wurden die weiß schimmernden Anzüge einer Handvoll Mitarbeiter der Spurensicherung sichtbar, etwas abseits davon standen zwei andere, normal gekleidete Menschen. Und erst als wir noch näher traten und mir einer der am Boden stehenden Scheinwerfer halb ins Gesicht strahlte, entdeckte ich das Opfer. Es war eine Frau mit langen schwarzen Haaren, die mit dem Bauch auf dem Boden lag. Sie war nackt, ihr Gesicht in dem weichen Waldboden eingesunken, ihre Füße und Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Ich war wie erstarrt von dem Anblick. Zwar hatte Francis bereits von einer Hinrichtung gesprochen, aber auf die Art und Weise war ich nicht vorbereitet gewesen.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

Plötzlich stand eine Frau mit blonden Haaren vor mir. Sie hatte einen Pony und einen roten Haarreif. Mit ernster Miene streckte sie mir ihre Hand zur Begrüßung entgegen und kam mir dabei viel zu nah. »Andrea Melchior, ich bin die Leiterin der Polizeizone.« Sie hatte eine unangenehm krächzende Stimme.

»Piet Donker, ich werde die Ermittlungen leiten.«

Es entstand eine kurze Pause. Uma reichte uns beiden weiße Overalls, ehe sie sich selbst in Sekundenschnelle einen überstreifte.

»Wer ist das Opfer?«, fragte ich, während ich in den Anzug schlüpfte.

»Sara Hennen, sechsunddreißig Jahre alt«, sagte Melchior schnaufend. Sie hatte sichtlich Schwierigkeiten, den richtigen Eingang in den Anzug zu finden.