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Rasant, düster, bedrohlich. In einer ostbelgischen Kleinstadt wird eine Familie vermisst: Ihr ausgebranntes Auto wurde am Rande des Hohen Venn gefunden, von den Eltern und dem Sohn fehlt jede Spur. Sind sie Opfer einer Entführung geworden? Während Suchtrupps die weitläufige Moorlandschaft durchkämmen, forschen Ermittler Piet Donker und seine Kollegen nach den Hintergründen. Doch die Zeit läuft gegen sie, denn der Täter verfolgt einen grausamen Plan.
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Seitenzahl: 451
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Stephan Haas, 1984 im belgischen Eupen geboren, hat in Aachen Neuere Deutsche Literatur, Deutsche Philologie und Geschichte studiert. Danach begann er eine Lehrtätigkeit und schloss parallel ein weiteres Studium in Betriebswissenschaften in Lüttich ab. Heute ist er in einem großen Industrieunternehmen im Personalmanagement tätig und lebt mit Frau und Kindern im deutschsprachigen Teil Belgiens. Nach »Belgische Finsternis« ist »Tod im Hohen Venn« der zweite Kriminalroman in der Reihe um den Ermittler Piet Donker.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Benjamin Harte/Arcangel.com
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Lothar Strüh
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-804-7
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann GbR, München.
Für Hanna
Warum die Hölle im Jenseits suchen? Sie ist schon im Diesseits vorhanden. Im Herzen der Bösen.
Jean-Jacques Rousseau
Der Junge stützte sich auf seinen Ellbogen und versuchte sich aufzusetzen. Doch ehe er sich aufrichten konnte, stieß sein Kopf auf einen Widerstand. Vorsichtig legte er sich wieder auf den Rücken und hob die Hände, um den Widerstand abzutasten. Es waren raue Holzbretter, die dicht aneinanderlagen und eine Decke über ihm formten. Eine niedrige Decke. Die Nase des Jungen war etwa zehn Zentimeter davon entfernt. Er zog die Arme vor die Brust und stemmte sich gegen die Bretter. Aber der Platz reichte nicht aus, um genug Druck aufzubauen.
Er fuhr mit den Fingern über das Holz zur linken und rechten Seite seines Körpers. Dort fühlte sich die Oberfläche anders an: glatt und aufbereitet. Offenbar war bei diesem Holz Lack verwendet worden. Er schien in einer engen Holzkiste zu liegen.
Wo bin ich hier?
Er tastete noch mal das Holz direkt über sich ab. Mit den Fingern fuhr er die dünnen Spalte zwischen den Brettern entlang und versuchte, darin Halt zu finden. Zuerst mit dem Zeigefinger, dann mit dem kleinen Finger. Doch sosehr er auch drückte und zog, die Abstände waren nicht groß genug. Seine Finger passten nicht hinein.
Er versuchte, seinen Körper zu drehen. Womöglich könnte er mit dem Steiß einen größeren Druck auf die Bretter ausüben als mit seinen Händen. Das Wenden misslang jedoch, er blieb auf halbem Weg mit der Hüfte stecken.
Erst jetzt bemerkte er das blecherne Poltern, das von außen zu ihm hereindrang. Darauf folgte ein lautes Brummen, wie es nur von einem Motor kommen konnte.
Kleine Schweißtropfen bildeten sich auf der Stirn des Jungen. Sie waren kalt.
Was wollen die von mir?
Er versuchte, sich zu konzentrieren und einen klaren Gedanken zu fassen. Er musste die letzte Stunde rekapitulieren, um sich zu erinnern, was genau mit ihm geschehen war. Doch das war bei der Menge Alkohol, die er in sich hineingekippt hatte, nicht so einfach.
In seinem Magen befanden sich ziemlich viel Bier, ein Hamburger und ein paar Fritten. Sein Bauch krampfte. Der Junge schloss die Augen und versuchte, den Würgereiz zu unterdrücken. Eine violette Spirale erschien vor seinem inneren Auge. Sie nahm immer mehr von seinem Sichtfeld ein und begann sich zu drehen. Erst langsam, dann immer schneller. Ihm wurde noch übler. Schnell öffnete er die Augen wieder. Es war so dunkel wie vorhin, aber zumindest hörte das Drehen auf. Und langsam stiegen die Erinnerungen in ihm auf.
Zuerst war ich bei Lucas vorglühen, dann waren wir zu der Party am See. Dort haben wir mit den anderen Jungs weitergetrunken, bis ich gesehen hab, dass Ellie mit Jan redet. Ich bin zu ihr hin, hab sie zur Seite gezogen und mich fürchterlich mit ihr gestritten. Dann bin ich aus dem Zelt rausgelaufen und wollte nach Hause. Ellie hat mich noch gerufen, aber ich bin einfach weitergegangen. Nach ein paar Metern hab ich angefangen zu rennen, wie ich es oft mache, wenn es zu Fuß nach Hause geht. Aber was war danach?
Den Kreisverkehr habe ich auf jeden Fall noch überquert. Und in der Kurve hinter dem Kreisverkehr hat der Transporter gestanden. Ich wollte daran vorbeilaufen, dann hab ich Schritte gehört und auf dem Teerboden einen Schatten gesehen …
Hat mich jemand niedergeschlagen? Und in diese Kiste gesteckt?
Die Muskeln des Jungen spannten sich an, bevor er noch einmal versuchte, die Bretter aufzubrechen. Er presste die Lippen zusammen, sein Gesicht verkrampfte sich vor Anstrengung. Mit aller Macht stemmte er sich gegen die Bretter.
Sie bewegten sich keinen Millimeter.
Einzig das Gefährt, in dem er mitsamt der Kiste zu liegen schien, holperte unaufhörlich. Mehrere Male wurde der Junge mit dem Kopf gegen die Bretter geschleudert. Und am heftigsten, als der Motor zu stottern begann. Das Ruckeln im Fahrzeuginneren ließ langsam nach. Das Quietschen einer Bremse ertönte. Schließlich wurde der Motor abgewürgt.
Das Stottern, das Quietschen, das Abwürgen des Motors. Die Abfolge dieser Geräusche war ihm vertraut. Ein fürchterlicher Schauer durchlief ihn.
Er kannte das Auto. Und dessen Halter.
Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, was diese Person mit ihm vorhatte, hörte er, wie die Türen des Fahrzeugs geöffnet wurden. Dann Schritte. Eine Person hatte den Innenraum des Wagens betreten. Es klackte, als an beiden Seiten der Kiste etwas gelöst wurde. Holz kratzte über den Boden, und dann rutschte die Kiste über eine Art Rampe hinunter. Der Kopf des Jungen knallte gegen die Bretter über ihm. Schmerz zuckte über seine Stirn. Im nächsten Moment vernahm er ein eindringliches Schürfen. Darauf folgte das dumpfe Geräusch von Erde, die auf Holz fiel.
Der begräbt mich.
Der Junge schrie um Hilfe. Doch die Person, die ihn in seiner Gewalt hatte, blieb stumm. Reagierte nicht. Warf weiter Erde auf die Kiste, bis sie komplett bedeckt war. Der Junge schlug von innen gegen die Bretter, doch anstatt das Holz aufzubrechen, wurden seine Arme und Beine allmählich müde. Und das Einzige, was der Junge inmitten der Finsternis noch wahrnahm, war die Erde, die durch die Spalte hindurch in seine Augen rieselte.
Es war schon Mittag, als ich mich auf den Weg zu der kleinen Schreinerei in Weybach machte. Die Scheibenwischer jagten von einer Seite zur anderen, ohne dem mit Wucht aufs Glas einprasselnden Regen beikommen zu können. Vor mir auf der Straße verschwamm alles, und wenn ich mal für den Bruchteil einer Sekunde durch den Regenvorhang spähen konnte, sah ich nur rote Rücklichter und beschlagene Innenscheiben anderer Fahrzeuge, die vor und neben mir dem Unwetter trotzten. Die Infos über den Verlauf meiner Strecke bezog ich aus dem Navi: Einen Unfall hatte ich bereits hinter mir gelassen, den zweiten würde ich gleich im Stau passieren. Sollte danach die Bahn frei sein, hätte ich für die normalerweise knapp einstündige Strecke Aachen–Weybach zwei Stunden gebraucht.
Bald ist es geschafft!
Sich selbst gut zuzureden, schien zu helfen. Bereits nach wenigen hundert Metern rollte der Verkehr wieder. Und wie auf eine geheime Absprache hin klarte der Himmel auf, als ich das Hohe Venn durchquerte. Der Anblick des wilden Hochmoors zwischen den Städten Eupen, Monschau, Malmedy und Spa erzeugte allerdings ein seltsam unwohles Gefühl in mir. Die unendliche Weite dieser jahrhundertealten Urlandschaft wirkte wie aus grauer Vorzeit. Für die Gegend charakteristisch war ein nährstoffarmer Boden, über den sich nur langsam und mit viel Mühe Pfeifengras gelegt hatte. Alle paar Meter stach ein kleiner Baum hervor, doch ehe die junge Pflanze richtig wachsen konnte, war sie bereits in ihrer Existenz bedroht. Den Überlebenskampf annehmen – darin bestand die erste Herausforderung der Lebewesen des Moors. Nur wenn sie stark genug waren, würde es nicht ihre letzte sein.
Als ich das Ende der kargen Landschaft bereits von Weitem erkennen konnte, überquerte eine Handvoll Hühner die Straße. Angeführt von dem stolzen Hahn, wackelten die Hennen wild hinterher – und direkt auf mich zu. Da mir kein Auto entgegenkam, wich ich blitzartig auf die Gegenspur aus.
Glück gehabt!
Kurz danach erschien am Straßenrand das Ortseingangsschild von Weybach, und ich fuhr in den Fünftausend-Seelen-Ort hinein. Die Sonne strahlte. Lediglich ab und zu wurde sie noch von einer der kleinen weißen Wolken verdeckt. Auf den grünen Rasen- und Wiesenflächen, die links und rechts die Straße säumten, blühten Butterblumen und Löwenzahn. Und auf dem See, der in der Ferne zu sehen war, waren vereinzelte Segler unterwegs und nutzten den soliden Ostwind. Die Eindrücke des beschaulichen Städtchens in der belgischen Eifel beflügelten meine schon große Vorfreude auf das gemeinsame Wochenende mit meiner Tochter Liv, die meine Freundin Sina und mich in unserer gemeinsamen Wohnung in Aachen besuchen würde.
Zu der Schreinerei fuhr ich, um dort eine Malstaffelei für Liv abzuholen. Während der Genesung nach ihrem Beinbruch hatte sie Gefallen am Malen gefunden. Nun wollte ich ihr mit der Staffelei eine Überraschung bereiten. Kurz versuchte ich nachzurechnen, wie oft ich sie in den vergangenen Wochen versetzt hatte. Ich kam nicht mehr auf die genaue Zahl, aber ich war mir sicher, dass es mindestens einmal zu viel gewesen war.
Die letzten fünf Wochen hatte ich damit zugebracht, zusammen mit den Kollegen aus den Niederlanden und Deutschland die Einführung einer neuen länderübergreifenden IT-Anwendung zu organisieren. Als neuer Leiter der Lütticher Kripo fiel diese Aufgabe in meinen Zuständigkeitsbereich.
Zweifellos würden wir mit Hilfe der Software effizienter arbeiten können. Jedoch tauchten während der Einführungsphase mehrere Stolperfallen auf. So zeigten sich beim Zusammenwirken mit anderen Anwendungen unerwartete Fehler, und nun musste eingehend die Kompatibilität überprüft werden. Außerdem wurden Richtlinien hinsichtlich des Datenschutzes von den beteiligten Ländern unterschiedlich ausgelegt. Beides führte zu unzähligen nicht enden wollenden Diskussionen und schließlich zu der Entscheidung, den Einsatz der Software erst mal um sechs Monate zu verschieben. Alles in allem waren es also fünf frustrierende Wochen gewesen, in denen die wirkliche Kripoarbeit liegen geblieben war. Nach endlosen förmlichen Gesprächen, die aufgrund der Sprachbarrieren auf Englisch geführt werden mussten, freute ich mich umso mehr, nach Hause zu kommen. Dort, wo ich der sein durfte, der ich war. Umgeben von den Menschen, die ich liebte.
Seit knapp einem halben Jahr lebte ich in Aachen. Die Stadt Karls des Großen war ein Kompromiss zwischen meiner Freundin Sina und mir. Sina wollte wegen ihres seit den Geschehnissen in Raaffburg erfolgreich laufenden Blogs die Nähe zu Ostbelgien wahren, während mir ein Ort in der Nähe Lüttichs gefallen hätte. Eine Stadt, in der Französisch gesprochen wurde, kam für Sina aber nicht in Frage, wohingegen ich mich nicht für das kleinbürgerliche Leben in der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens begeistern konnte. So fiel die Entscheidung auf das im deutschen Westen gelegene Aachen, das nur wenige Autominuten von Belgien entfernt lag.
In den vergangenen Wochen war ich jedoch selten, oder wenn, dann sehr spät, nach Hause gekommen. Das IT-Projekt hatte leider oftmals den Vorrang erhalten. Ich hatte Sina gesagt, dass es in den kommenden Wochen wieder ruhiger werden würde und wir Zeit hätten, gemeinsam etwas Schönes zu unternehmen. Sie hatte nur geschmunzelt und gesagt: »Pass auf, was du sagst, Piet Donker. Mit Frauen Anfang dreißig spielt man nicht.«
Heute Nachmittag würde ich ihr zwar nicht meine ganze Aufmerksamkeit schenken können, da Liv zu Besuch war. Aber da Sina meine Tochter inzwischen fest ins Herz geschlossen hatte, freute sie sich auch schon seit Tagen auf das gemeinsame Wochenende. Außerdem würde Liv um spätestens halb acht ins Bett gehen. Dann hätten Sina und ich also noch ein paar Stunden für uns.
Um fünfzehn Uhr wollte Sina mit den Vorbereitungen für das Pizzabacken beginnen. Ich hatte angeboten, ihr zu helfen. Tomaten und Champignons zu schneiden, würde ich schon noch hinbekommen. Und wenn ich nicht zu viel Zeit mit der Staffelei vertrödelte, würde ich es sogar rechtzeitig schaffen.
Ich parkte direkt vor der Schreinerei. Sie war in einer alten Lagerhalle untergebracht, deren Außenwände mit grauen Metallblechen verkleidet waren. Auf der Vorderseite war ein grün-gelber, mit Schmutz überlagerter Schriftzug angebracht: »TK – Schreinerarbeiten«. Schaufenster gab es keine.
Die grüne Eingangstür befand sich seitlich am Gebäude. Ich drückte auf die schwarze Kunststoffklingel, hörte in der Folge aber kein Geräusch. So abgenutzt, wie die Klingel aussah, konnte es gut sein, dass sie nicht mehr funktionierte. Ich griff nach der Klinke, um zu prüfen, ob abgeschlossen war. Es tat sich aber nichts. Ich umklammerte den Griff und stemmte mich mit meinem ganzen Körpergewicht gegen die Tür. Dann versuchte ich es noch einmal. Türen in Werkstätten klemmten oftmals. Diese aber nicht. Sie war eindeutig verschlossen.
Was jetzt?
Der Besitzer der Werkstatt hatte die Staffelei auf einer Kleinanzeigenseite im Internet zum Verkauf angeboten. Ich durchforstete das Verkäuferprofil des Mannes auf der Suche nach einer Telefonnummer. Währenddessen lief ich das Gebäude ab und hoffte, noch einen zweiten Eingang zu finden.
Nach einer Weile fand ich tatsächlich eine Telefonnummer auf der Website. Ich wählte sie direkt an. Doch noch vor dem ersten Tuten erklang der lang gezogene Piepton, der die Mailbox ankündigte.
Mist!
Ich vergewisserte mich, dass ich die Angaben richtig abgespeichert hatte, und las mir noch einmal den letzten Chat mit dem Verkäufer durch.
»Samstag, 13 Uhr bei Ihnen. Wie ist Ihre Adresse? P. Donker«
»Okay. Adresse ist Lagerstraße 14. Gruß, Tom K.«
Lagerstraße 14. Das war hier. Alles war korrekt.
Wo steckt der Kerl bloß?
Inzwischen war ich an der Rückseite der Halle angekommen. Zwei kleine Fenster in der Mitte der etwa fünfzehn Meter langen Wand gaben den Blick in die Werkstatt frei – vermutete ich zumindest. Denn die Sicht war stark eingeschränkt. Holzstaub hatte sich auf das Glas gelegt. Mehr als ein paar auf Hochregalen liegende Bretter konnte ich nicht erkennen.
»Da ist keiner.«
Ich fuhr zusammen, als ich plötzlich die weibliche Stimme hinter mir hörte. Sie gehörte einem etwa fünfzehnjährigen Mädchen, das die wasserstoffblonden Haare zu einem Zopf gebunden hatte. Sie trug ein langes weißes T-Shirt, auf dem ein blauer, Banane essender Affe prangte.
»Weißt du, wo der Inhaber ist? Ich bin mit ihm verabredet.«
»Nein«, sagte sie, bevor sich ihr Gesicht auf einmal gequält verzerrte und eine Träne aus dem rechten Auge lief.
Ich machte einen Schritt auf sie zu und wollte ihr meine Hand auf die Schulter legen, überlegte es mir aber im letzten Moment anders. Warum sollte sie wollen, dass ein fremder Mann sie anfasst? »Hey, warum weinst du denn? Ist etwas passiert?«
Mit dem Handrücken wischte sie sich die Träne samt zerlaufener Schminke weg.
»Es ist wegen Paul. Er meldet sich nicht mehr bei mir.«
»Paul?«, fragte ich.
Sie schluchzte, ihre Unterlippe zuckte. »Paul ist Toms Sohn.«
»Und seit wann meldet er sich nicht mehr bei dir?«
»Seit heute Nacht.«
Oje, das hört sich nach einem typischen Teeniestreit an.
Sie senkte den Blick und begann an den Fingernägeln zu knabbern.
»Wo habt ihr euch denn das letzte Mal gesehen?«
»Auf der Party am See. Wir hatten einiges getrunken, hatten unseren Spaß. Auf einmal ist er aber einfach abgehauen.«
»Einfach so? Oder ist etwas vorgefallen?«
Sie hörte auf, an ihren Nägeln zu knabbern, und blickte verstohlen zu mir auf.
»Er war sauer, weil ich mit meinem Ex geredet hab.«
Ich grinste unwillkürlich.
»Dann könnte es doch sein, dass er immer noch sauer ist. Oder seinen Rausch ausschläft. Oder beides.«
»Er geht nicht ans Handy. Und er ist sonst immer online, wirklich immer! Er war auch nicht beim Fußball heute Morgen, das hat mir Carlo gesteckt. Und bei Paul zu Hause war ich schon. Da war keiner. Weder seine Eltern noch er.«
Ich stutzte, war mir aber trotzdem sicher, dass sich die Sache gleich aufklären würde.
»Wie heißt dein Freund mit Nachnamen?«
»Keyzer«, antwortete sie.
»Und wie heißt du?«, fragte ich das Mädchen.
»Ellie«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln.
Der Fall sah mir stark nach einer jugendlichen Herzschmerzstory aus. Das war nicht unbedingt mein Spezialgebiet. Nicht etwa, dass mir in der Jugend Liebschaften gefehlt hätten. Ich war nur nicht unbedingt ein Frauenversteher. Trotzdem wollte ich Ellie helfen. Ich konnte ihr zumindest die Angst nehmen, dass etwas passiert war. Also wählte ich die Nummer eines Kollegen aus dem Ort. Der Anruf würde mich zwar der Malstaffelei nicht näher bringen, aber so könnte ich immerhin ruhigen Gewissens nach Hause fahren und mit Sina die Pizzas belegen. Wenn ich pünktlich um fünfzehn Uhr in der Küche stehen wollte, musste ich in fünf Minuten losfahren.
Der Kollege hieß Jacques Monnard, aber alle nannten ihn Jacky. Er war ungefähr fünfundvierzig Jahre alt und eine wahre Frohnatur. Ein paar Monate zuvor hatte ich auf einem Polizeiempfang in Lüttich Bekanntschaft mit ihm geschlossen. Ich erinnerte mich noch gut an den Abend. Jacky hatte den ganzen Stehtisch der Deutschsprachigen allein unterhalten.
»Hallo«, meldete er sich trocken.
»Hallo, Jacky, Piet Donker hier. Wie geht es dir?«
»Hallo, Piet«, antwortete er und hustete. Er klang nicht so stimmungsvoll, wie ich ihn in Lüttich kennengelernt hatte. »Was kann ich für dich tun?«
Erst jetzt fiel mir ein, dass es Samstagnachmittag war. Womöglich hatte er gar keinen Dienst, und ich störte ihn in seiner freien Zeit.
»Entschuldige die Störung am Wochenende. Es ist nichts Großes, ich halte dich nicht lange auf. Ich würde nur gern ein Mädchen aus deinem Heimatort beruhigen. Kannst du mir kurz bestätigen, dass gestern Abend und heute Morgen kein Unfall oder Ähnliches in Weybach registriert wurde?«
Jacky hustete etwas stärker. Seine Kurzatmigkeit deutete darauf hin, dass er zu Fuß unterwegs war.
Bestimmt kommt er gerade vom Joggen.
»Ich bin gerade nicht im Büro. Bisher habe … nichts von einem Unfall ge–«
Plötzlich brach seine Stimme ab. Das Einzige, das gelegentlich noch zu mir durchkam, waren Hustgeräusche.
»Hörst du mich? Alles gut bei dir?«, fragte ich, um sicherzugehen, dass er mich noch hörte.
Doch die Verbindung war immer noch schlecht. Immerhin kam mit drei Sekunden Verzögerung ein stumpfes »Ja« bei mir an.
»Gut, dann können wir also davon ausgehen, dass es der Familie Keyzer gut geht?«, vergewisserte ich mich.
Ich sah Ellie an. Eine Strähne ihres weißblonden Haares hatte sich aus ihrem Zopf gelöst und baumelte vor den glasigen Augen, die mich erwartungsvoll ansahen.
Von Jacky kam keine Antwort.
Lediglich der starke Husten ertönte nach ein paar Sekunden Stille wieder aus dem Handy. Dann brach die Verbindung aufs Neue weg.
Verdammt!
»Jacky, wo bist du? Ist wirklich alles gut bei dir?«
Keine Rückmeldung. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Bereits fünf Minuten über der Zeit, ich würde also zu spät nach Hause kommen. Mal wieder. Auch wenn es nur Minuten waren, für Sina symbolisierte das die Aufmerksamkeit, die ich unserer Beziehung widmete. Ich wollte bereits auflegen, um Jacky gleich noch mal anzurufen, als ich plötzlich wieder seine Stimme vernahm.
»Ich … dich wieder. Wir haben … Ungewöhnliches gefu… auf einer Wiese. Ein ausgebrann… Transporter.«
Was sagt er da? Hoffentlich hast du dich verhört.
»Ein ausgebrannter Transporter? Sind Personen drin?«
Rauschen.
»Keine Personen … Kollege hat was gefunden.«
Ich drückte mein Handy ganz fest ans Ohr, um nichts zu verpassen. Aber es war vergeblich. Ich verstand kein Wort. Die Stimme von Jackys Kollegen war viel zu leise, zudem war die Verbindung nach wie vor unterirdisch schlecht.
»Sag schon! Was habt ihr?«, fragte ich aufgeregt.
Inzwischen war es komplett still geworden. Keine Stimmen, kein Rauschen. Erst nach ein paar Sekunden, als ich die Hoffnung auf eine Verbindung bereits aufgegeben hatte, drang Jackys Stimme ein letztes Mal bis zu mir durch.
»Wir haben ein Stück Blech gefunden … Eine grüne Aufschrift … Sie beginnt mit den Buchstaben ›KEY‹.«
Nachdem die Verbindung zu Jacques Monnard endgültig abgerissen war, versuchte ich ihn erneut anzurufen. Ohne Erfolg. Ich hätte ihn gern noch einmal gesprochen, um seine Aussage hinsichtlich der Aufschrift, die mit »KEY« begann, bestätigt zu bekommen. So aber kontaktierte ich die Zentrale der Kripo in Brüssel, ohne vorher Rücksprache mit Jacky gehalten zu haben. Ich bat um ein Einsatzteam, das auf Vermisstensuche spezialisiert war.
»Sie selbst bleiben auch vor Ort, nehme ich an?«, fragte der Mann mit der tiefen Stimme am anderen Ende der Telefonleitung.
Liv wird bald zu Hause ankommen.
Ich zögerte.
»Wenn Sie Ihr Okay geben, werde ich Koen Zeekant darüber in Kenntnis setzen«, sagte mein Gesprächspartner rasch. »Das Einsatzteam wird Sie unterstützen.«
Zeekant war auf föderaler Ebene mein Chef. Über ihn liefen alle Personalentscheidungen und Einsatzpläne.
Bist du bereit für diesen Fall?
»Hallo?«, drängelte der Mann.
Ich war auf diese Entwicklung nicht vorbereitet. Wie selbstverständlich hatte ich nach dem Gespräch mit Jacky das Einsatzteam angefordert. Was danach kommen würde, darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht. Und doch wusste ich, dass es nur eine Möglichkeit gab.
»Ja«, antwortete ich. »Ich bleibe hier.«
Sina wird dich hassen!
Ich begann zu schwitzen. Kratzte mich nervös am Hals.
Ich sah das Gesicht von Liv vor mir. Sah, wie ihr Lächeln einer ernsten Miene wich.
Papa. Der ewige Enttäuscher.
»Gut, dann ist ja alles geklärt«, entgegnete der Mann aus Brüssel, bevor er auflegte.
Warum zum Teufel hast du zugesagt?
Immer wieder beging ich denselben Fehler. Ich vernachlässigte meine eigenen Bedürfnisse. Und die meiner Liebsten. Doch je länger ich über die Situation nachdachte, desto mehr fand ich inneren Zuspruch für meine Entscheidung. Seit meinem Telefonat schien es mir so gut wie sicher, dass es sich bei dem ausgebrannten Transporter um den der Keyzers handelte. Und dieser Umstand hob die Situation des vermissten Teenagers auf eine höhere, sehr viel dringlichere Alarmstufe. Es musste keinen Zusammenhang geben, ich hatte jedoch eine böse Vorahnung.
Ich fuhr Ellie nach Hause, und weil sie danach fragte, was ich denn vorhin am Telefon erfahren hatte, erzählte ich ihr auf dem Weg von einem »Zwischenfall«, ohne Einzelheiten zu nennen. Ich wollte sie nicht mit meiner Vermutung quälen, egal wie deutlich die Hinweise sein mochten. Ein von Störungen geplagtes Telefongespräch, in dem mir der Fund eines Blechstücks mitgeteilt worden war, das möglicherweise auf die Vermissten hinwies, erforderte natürlich eine weitere Bestätigung. Bevor ich ein fünfzehnjähriges Mädchen und womöglich eine ganze Stadt unnötig in Aufruhr versetzte, musste ich mir erst selbst ein Bild von der Situation vor Ort machen. Auch wenn das Bild eventuell ein grausames sein würde.
Nachdem Ellie ausgestiegen war, erreichte mich eine SMS von Jacky. Darin standen die Koordinaten des Fundorts. Ich tippte sie augenblicklich in mein Navi ein. Als die Route zu Ende berechnet war, fuhr ich los und wählte Sinas Nummer. Sie nahm sofort ab.
»Piet, gut, dass du anrufst. Ich sehe gerade, dass wir keine Salami mehr haben. Aber Liv liebt Salami, sie wollte letztes Mal nichts anderes auf ihrer Pizza haben. Kannst du noch welche besorgen, bevor du kommst?«
Ich mochte es, ihre leicht kratzige Stimme über die Freisprechanlage zu hören. Ihre Klangfarbe erinnerte mich an Werbefilme im Kino.
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, sagte ich zögernd.
»Du hast doch versprochen, mir bei den Vorbereitungen zu helfen.«
Ja, das habe ich versprochen. Und mal wieder werde ich es nicht schaffen.
»Hier in dem Ort, in dem ich die Staffelei für Liv abholen wollte, sind vermutlich Personen verschwunden. Ich muss mich erst mal schlaumachen …«
Ihr Seufzen war über die Freisprechanlage gut zu hören. Es war das Seufzen, das in den letzten Wochen langsam zur Gewohnheit geworden war. Das Schlimme dabei: Es war meine eigene Schuld.
Vor einem halben Jahr hatte ich das Angebot erhalten, das Amt des Kripoleiters der Provinz Lüttich zu übernehmen. Es war überraschend gekommen, zu einer Zeit, in der ich mich, abgesehen von einer Handvoll Fortbildungen, nicht gezielt mit meinem Job auseinandergesetzt hatte. Stattdessen hatte ich mir endlich einmal Zeit genommen, um mein Privatleben aufzuräumen. Ich hatte viel Zeit mit Liv verbracht und nach der Trennung von Elise meinen zweiten Frühling erlebt. Mit Sina. Doch das alles änderte sich, als ich wieder begann zu arbeiten.
Seitdem war ich für Liv lediglich ein Mann, dessen Name in ihrem Geburtsausweis stand. Sie lebte gemeinsam mit Elise in dem voluminösen Prunkbau des Herrn Zelfer, der seit ein paar Monaten meine Frau vögelte. Und für Sina war ich eher ein gelegentlicher Schlafgast in der neunzig Quadratmeter großen Wohnung in Aachen als ihr Partner. Denn den Großteil meiner Zeit verbrachte ich in Lüttich in meinem fünfzehn Quadratmeter großen Büro. Dort, wo die ganze elende Verwaltungsarbeit auf mich wartete und von wo aus ich die Einsätze an die Ermittler delegierte, obwohl ich jedes Mal selbst am liebsten loslaufen würde, um die Täter zu schnappen.
Nur zu gern hätte ich das Telefonat mit Jacky aus meinem Gedächtnis gelöscht und die Spur gewechselt. Aber ich konnte nicht ignorieren, was da eben an Eindrücken auf mich eingeprasselt war.
»Nun gut, das ist dein Job«, sagte Sina verständnisvoll, bevor sie eine längere Pause machte. »Melde dich, sobald du klarsiehst. Ich fange dann schon mal an.«
»Danke. Ich werde mich beeilen. Und die Salami besorge ich natürlich auch«, entgegnete ich kleinlaut.
»Dann leg aber mal schnell los, mein Spitzendetektiv. Die muss hier sein, bevor die Pizza in den Ofen kommt.«
»Ich gebe mein Bestes«, sagte ich. Meine Hand schwebte bereits Richtung Bordcomputer, um das Gespräch zu beenden. Da erklang Sinas Stimme noch einmal.
»Piet?«
»Ja?«
»Komm nicht zu spät, ja? Liv freut sich auf ihren Daddy.«
Im Schritttempo rollte ich in Richtung des Ziels, das mir das Navi vorgab. Aufgrund von Straßenarbeiten war nur eine Spur freigegeben, und sie war mit Badeseetouristen überfüllt, die bereits vor dem Regenschauer von heute Mittag bestens über den schönen Sonnenschein am Nachmittag informiert worden waren. Vor mir fuhr ein roter Golf, der die basslastige Elektromusik so laut gestellt hatte, dass halb Weybach mithören durfte. Im Rückspiegel erblickte ich den sonnenbrillentragenden Fahrer eines schwarzen Audi-Cabrios, der bereits seinen Oberkörper freigelegt hatte. Seine Freundin bewegte ihren Kopf im Takt des Basses und blickte dabei schwermütig durchs Fenster nach draußen.
Währenddessen wurde die Kupplung meines geliebten BMW, Baujahr 78, nicht geschont. Alle paar Sekunden musste ich neu anfahren, um wenige Augenblicke danach wieder auf die Bremse zu treten. Und jedes Mal, wenn ich das Gaspedal berührte, puffte eine bläuliche Wolke aus dem Auspuff des Pestla. So nannte Sina, die vor Kurzem ihre ökologische Ader entdeckt hatte, mein Gefährt – in ironischer Anlehnung an den großen Elektrofahrzeughersteller aus dem Silicon Valley.
Was sollte ich sagen, der alte Knabe hatte vierzig Jahre auf dem Buckel. Ich war froh, dass er überhaupt noch ein Lebenszeichen von sich gab.
Aber mal abgesehen davon, dass mein geliebter Wagen leiden musste, störte mich an der Situation, in der ich steckte, noch etwas ganz anderes. Bei dem vorherrschenden Verkehr schaffte ich gerade mal zehn Meter pro Minute, so dicht standen die Autos auf der engen Straße hintereinander. Ich war also gezwungen, meine Zeit hinter dem Steuer abzusitzen.
Die Konsequenz war, dass ich erst nach fünfundzwanzig Minuten den Ort erreichte, dessen Koordinaten Jacky mir gegeben hatte. Hinter einem kurvenreichen Schotterweg, der ebenfalls zum See führte, lag ein größeres, leicht abschüssiges Stück Weideland, das von dichten Baumformationen unterteilt wurde. Ich folgte einer kleinen Abzweigung, die sich als alter Bauernweg herausstellte, und näherte mich dem Zielort. Bis der Weg plötzlich endete.
Laut Navi verblieben bis zum Ziel jedoch noch etwa vierhundert Meter. Ich stieg aus und blickte in die Richtung, in der die Koordinaten liegen mussten. Dort sah ich einen Mann, der neben ein paar mächtigen Laubbäumen stand. Er winkte mir zu und bedeutete mir per Handzeichen, zu ihm zu kommen. Zwischen uns war Stacheldraht gespannt, der den Weg von der Weide trennte. Ich ging den Zaun entlang und hielt Ausschau nach einer günstigen Einstiegsmöglichkeit. Und ein paar Meter weiter fand ich tatsächlich eine Stelle, an der der Draht über eine Strecke von etwa drei Metern links und rechts aufgerollt worden war. Bevor ich die Öffnung passierte, entdeckte ich auf der Weide Reifenspuren in der Erde. Weiter weg auf der Wiese war das Glas auffällig platt gedrückt worden und bildete mehrere parallel verlaufende Linien. Es war die Spur, die das ausgebrannte Auto vor seinem Ableben zurückgelegt haben musste. Und so wie es aussah, war es auch der Weg, den das Fahrzeug der Kollegen genommen hatte – die somit bereits wichtige Spuren überfahren hatten.
Das wird kein guter Tag werden, dachte ich, während ich in die Sonne schielte. Dann setzte ich mir meine Sonnenbrille auf die Nase und machte mich auf den Weg zu dem Transporter.
Der Geruch von erhitztem Gummi brannte mir in der Nase. Die Karosserie des Transporters war grau wie Asche. Unter der Haube, dort, wo einst der Motor seinen Dienst verrichtet hatte, klaffte ein großes Loch. Die Felgen wirkten wie schwarz angelaufene Knochen. Das Feuer war hungrig gewesen. Das Einzige, was sich an diesem Wagen noch bewegte, war die dünne Rauchschwade, die aus dem hinteren Teil des Wracks aufstieg.
»Piet!«, rief Jacky beinahe euphorisch und streckte mir seine Hand entgegen. Seine hellblauen, fast kalt wirkenden Augen musterten mich. Die gelbblonden Haare, die im Kontrast zu dem rötlichen Gesicht standen, waren vermutlich das letzte Mal vor zwei Monaten alle auf eine Länge rasiert worden und standen nun etwa vier Zentimeter in die Höhe.
Seine Hände fühlten sich klebrig an, aber sein Händedruck war fest. In seinem Schatten stehend, grüßte ein weiterer Mann, indem er schüchtern die Hand hob.
»Das ist Holger Blockmans, mein Kollege«, stellte Jacky ihn vor.
Blockmans war eins fünfundsechzig groß, die braunen Haare hatte er in der Mitte gescheitelt. Die braune Lederjacke mochte nicht so recht zu den weiß-blauen Laufschuhen passen.
Ich nickte ihm zu. Daraufhin senkte er verlegen den Blick.
»Ihr seid bis hierher gefahren?«, fragte ich und richtete meinen Blick auf den grauen Peugeot 306, der ein paar Meter entfernt auf der Wiese stand.
Beide nickten im Gleichtakt.
»So konnten wir schneller hier sein«, sagte Jacky.
»Und nützliche Spuren zerstören«, erwiderte ich.
Jacky nahm erst Blickkontakt zu seinem Kollegen auf, bevor er sich wieder mir zuwandte.
»Wir haben heute Mittag einen Anruf eines Anwohners erhalten. Also mit Anwohner meine ich den Besitzer des Bauernhofs um die nächste Ecke, der ist ungefähr zwei Kilometer entfernt. Er berichtete von einem merkwürdigen Geruch, der ihm draußen aufgefallen sei. Daraufhin haben wir uns aufgemacht und sind dem Geruch nachgefahren. Von der Straße aus war nichts zu erkennen. Erst als wir in diesem von Bäumen verdeckten Tal Rauch aufsteigen sahen, haben wir verstanden, dass etwas brannte. Wir sind dann oben über den Schotterweg hier rein, sind auch über die Wiese gefahren. Wir wussten ja nicht, was uns hier erwarten würde. Es hätte ja auch sein können, dass noch Personen in dem Fahrzeug sind.«
Ich blickte noch einmal zurück in Richtung der Stelle, an der ich mein Auto abgestellt hatte. Es war nicht mehr zu erkennen. Ich hatte Jacky vorhin nur sehen können, weil er sich auf die kleine, von den gewaltigen Laubbäumen umstandene Erhöhung gestellt hatte, die ein paar Meter von dem ausgebrannten Transporter entfernt war.
Er hatte also vollkommen recht damit gehabt, mit dem Auto auf die Wiese zu fahren. Und er hatte sogar klug gehandelt, indem er zuerst an die potenziell in Gefahr schwebenden Menschen gedacht hatte.
Ist dir diese Intuition etwa abhandengekommen? Bereits nach einem halben Jahr hinter einem Aktenberg?
Ich glaubte eher, dass es der Frust über die selbst in meiner Freizeit überhandnehmende Fremdbestimmung war, der mich ablenkte. Nicht einmal eine harmlose Familienaktivität am Samstagnachmittag mit Sina und Liv – den zwei wichtigsten Menschen in meinem Leben – konnte ich durchführen, ohne dass mir beruflich etwas dazwischenfunkte.
»Nachdem wir uns vergewissert hatten, dass keine Personen gefährdet waren, haben wir die Feuerwehr sofort wieder abbestellt. Um die verbleibenden Spuren zu retten.«
Ich nickte ihm anerkennend zu. »Das habt ihr richtig gemacht.«
Und trotzdem wurmte mich noch immer etwas. »Aber ist es nicht merkwürdig, dass der Brand vorher niemandem aufgefallen ist? Ich meine, der Transporter war ja bereits völlig abgefackelt, als ihr vor Ort ankamt. Wann hat der Bauer den Geruch denn bemerkt?«
Jacky schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Das muss so kurz nach Mittag gewesen sein. Der Bauer meinte, der Wind habe gerade gedreht.«
Tatsächlich spürte ich einen Wind. Ich drehte mich, um zu sehen, in welche Richtung er wehte. Ich blickte auf das andere Ende der Weide. Dort begann ein Wald, der erst am Horizont endete. Die Bäume hatten den üblen Gummigeruch wohl aus der Luft gefiltert, ehe Spaziergänger oder Jäger im Inneren des Waldes eine Chance gehabt hatten, ihn wahrzunehmen.
Als ich mich wieder umdrehte und in die Richtung schaute, in der mein Auto parkte, sah ich in etwa fünfzig Meter Entfernung drei Männer über die Wiese stapfen. Sie kamen auf uns zu.
Das muss das Einsatzteam aus Brüssel sein, das du angefordert hast.
Einen Moment lang glaubte ich, einen der Männer wiederzuerkennen. Die Personen waren aber noch zu weit weg, um sie sicher zu identifizieren. Ich wandte mich wieder Jacky zu.
»Du hast am Telefon etwas von einem Stück Blech gesagt, auf dem eine Aufschrift zu erkennen ist.«
Jacky nickte und bewegte sich hinüber zu der anderen Seite des Wracks. Dort angekommen, hob er mit beiden Händen mühsam die übrig gebliebene Hälfte der Beifahrertür in die Höhe.
»Wir haben das bereits in der Druckerei abchecken lassen«, sagte Jacky. »Das ist der Schriftzug, den Tom Keyzer auf seinem Briefbogen verwendet.«
Mir fiel auf, dass der Schriftzug nicht mit dem übereinstimmte, den ich bei der Schreinerei gesehen hatte. »Heißt die Schreinerei nicht ›TK – Schreinerarbeiten‹?«
»So hieß sie mal, ja. Das war, bevor Keyzer in Konkurs ging. Danach eröffnete er neu mit ›Keyzer Möbel‹.«
Er ist schon mal in Konkurs gegangen. Ob dahinter ein Motiv steckt?
Ich las den grünen Schriftzug »KEY« auf der derangierten Tür, wobei von dem Y ein Teil des rechten Arms fehlte. Ein ungutes Gefühl überkam mich, als ich daran dachte, wie ängstlich Ellie gewesen war – und dass es jetzt wahrhaftig einen Grund dafür gab.
»Aber ich zeige dir mal, was wirklich schräg ist«, sagte Jacky. Er ließ die Beifahrertür wieder ins Gras fallen und eilte zu dem Heck des Fahrzeugs hinüber. Dann zeigte er auf eine Stelle am Boden, ohne ihr zu nahe zu kommen. Dort, am Übergang zwischen der grauen Asche und dem grünen Gras, lagen zwei tote Vögel.
»Mein Gott, sind das Tauben?«
»Ich fürchte, ja«, entgegnete Jacky. Dann nahm er ein soeben eingehendes Telefongespräch an, entschuldigte sich für einen Moment und machte ein paar Schritte zur Seite, um in Ruhe sprechen zu können.
Ich sah ihm nicht hinterher. Meine Aufmerksamkeit galt allein den Tauben. Friedlich und unschuldig lagen sie im Gras. Die Augen geschlossen, die dunkelgrauen Federn leicht mit Asche bedeckt.
Ich konnte den Blick nicht von den Vögeln abwenden. Ich denke, es war ein Déjà-vu aus Kindheitstagen, das mich derart fesselte. Die Erinnerung an die Vögel, die im Sommer gegen die Fensterscheiben der Veranda meiner Großeltern geknallt waren. Nach dem harten Aufprall fielen sie unmittelbar zu Boden. Mit meinen Vettern und Cousinen beobachteten wir sie. Dann beteten wir gemeinsam mit unserer Großmutter für sie und warteten, bis sie wieder aufwachten. Und als sie tatsächlich wieder aufsprangen und postwendend weiterflogen, war es, als hätte es den Aufprall nie gegeben.
Hier lag der Fall anders. Diese Tauben würden nicht wegfliegen. Auch nach zehn Stoßgebeten nicht. Sie waren tot, da gab es keinen Zweifel.
»Es sind Ringeltauben, um genau zu sein«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um und sah einen schlanken jungen Mann Mitte zwanzig. Die schwarzen Haare waren frech zur Seite gekämmt. Zu der dunkelgrauen Chino trug er schwarze Schuhe, über dem hellblauen Hemd lag ein dunkelblaues Jackett. Ich erkannte am Ausdruck in seinen Augen, die durch runde Brillengläser in einem blauen Gestell eingefasst waren, dass er sich ebenso wie ich über unser Wiedersehen freute.
»Théo Bender«, sprach ich seinen Namen zur Begrüßung aus.
Daraufhin schüttelten wir uns fest die Hände.
»So sieht man sich wieder«, sagte er lächelnd.
»Hoffen wir, dass es diesmal etwas weniger aufregend wird als das letzte Mal«, sagte ich und grinste.
Uns beide verband eine dunkle Erinnerung. Bender war einer der Polizeikollegen aus Raaffburg gewesen. In dem kleinen ostbelgischen Städtchen hatten wir vor knapp einem Jahr einen alten Vermisstenfall aufgeklärt. Ich hatte Bender seitdem nicht mehr gesehen, allerdings war mir zu Ohren gekommen, dass er bei den Vermisstenteams gelandet war.
»Wer leitet das Team?«, fragte ich, während die beiden Männer, die mit Bender hergekommen waren, ihre Alukoffer in das Gras stellten und sich weiße Überzüge über die Körper streiften.
»Das übernehme ich«, sagte Bender selbstbewusst und klatschte in die Hände. »Wir können sofort loslegen, wenn Sie möchten.«
Ich nickte ihm verhalten zu. Denn in mir kamen Zweifel auf, ob er der Richtige für diesen Fall war. Zwar hatte ich in Raaffburg gern mit ihm zusammengearbeitet – entgegen seiner schüchternen Art ging er Probleme proaktiv an. Aber aufgrund seiner Jugend hatte er kaum Berufserfahrung vorzuweisen. Und bei Vermisstenfällen zählte jeder Schritt. Es ging um Menschenleben, ein Kampf im Wettlauf gegen die Zeit.
»Zwei Leute habe ich hier, zwei weitere verschaffen sich gerade Zutritt zu der Werkstatt von Tom Keyzer, und einer schaut zu Hause bei den Keyzers nach dem Rechten. Letzterer bringt dann Fotos von den dreien mit«, ergänzte er, während er auch Jacky Monnard, der soeben sein Telefongespräch beendet hatte, und Holger Blockmans per Handschlag begrüßte.
Fünf Leute hat er dabei? Ist das ein Zeichen dafür, dass er den Fall ernst nimmt?
»Hat sich die Rufumleitung aus dem Büro doch schon gelohnt«, sagte Jacky, bevor er schwer schluckte, als fühle er Schmerzen in der Halsgegend. »Das war gerade die beste Freundin von Toms Ehefrau Grit Keyzer. Lina Bleier, also die Freundin, sagt, dass Grit sie gestern versetzt habe. Die beiden wollten in Aachen was trinken gehen, aber Grit Keyzer sei sie nicht wie vereinbart abholen gekommen. Sie habe auch nicht auf Anrufe reagiert. Das sei sehr ungewöhnlich für sie.«
Gänsehaut legte sich über meinen Körper.
»Das deckt sich mit der Aussage von Ellie, der Freundin von Paul Keyzer«, sagte ich. »Sie hat ihn vergangene Nacht das letzte Mal gesehen – auf einer Party am See. Heute ist er dann nicht zum Fußballspiel erschienen, und sein Handy war ausgestellt. Und bei Tom Keyzer hätte ich vor einer Stunde etwas abholen sollen, aber zum vereinbarten Termin war er nicht in der Werkstatt. Die Tür dort war fest verschlossen.«
»Hm«, bekundete Jacky. »Das hört sich nicht gut an.«
Bender schüttelte den Kopf und blickte nachdenklich in den Himmel. Holger Blockmans musterte mich währenddessen misstrauisch. Als ich den Blickkontakt erwiderte, sah er rasch hinüber zu Jacky. Wie einen Schutzschild verschränkte er seine Arme vor der Brust. Erst jetzt fiel mir auf, dass an seinem Jackett, gleich unter den angehobenen Armen, ein Klecks weißer Farbe haftete.
Er erschrak, als Benders und mein Handy im selben Moment laut losvibrierten und -piepten.
»Stehen wir hier in einer Art Funkloch oder so?«, fragte Bender, während er seine Mailbox abhörte.
»Ganz Weybach ist ein Funkloch«, sagte Jacky genervt. »Das Netz hier ist eine Katastrophe. Die Gemeinde verspricht zwar schon seit fünf Jahren Besserung, getan hat sich aber nichts.«
»Na, da freuen wir uns ja richtig auf die kommenden Stunden«, sagte ich spöttisch und erinnerte mich mit Bauchschmerzen an das löchrige Telefongespräch mit Jacky von heute Mittag. Währenddessen warf ich einen kurzen Blick auf das Bild, das Sina mir geschickt hatte. Zwei belegte Pizzas waren darauf zu sehen, darunter stand: »We are ready «. Ich musste schmunzeln, steckte mein Handy aber wieder weg, als Bender seine Nachricht zu Ende abgehört hatte.
Betreten schaute er mich an. »Das waren meine Männer aus der Schreinerei. Sie haben in Tom Keyzers Auftragsbuch für heute Morgen vier geplante Kundenbesuche gefunden. Keyzer hat aber keinen einzigen Termin wahrgenommen.«
»Mist«, sagte Jacky. »Ohne den verbrannten Transporter hätte man vermuten können, dass die Keyzers in Urlaub gefahren sind oder einen Unfall hatten. Aber so …«
»Aber so«, fuhr ich fort, »liegt eine Vermutung nahe: Die drei wurden entführt.«
Holger Blockmans trat einen Schritt vor, die Arme hielt er nach wie vor verschränkt vor der Brust. »Oder sie haben sich selbst aus dem Staub gemacht«, sagte er lauter als nötig.
»Gäbe es dafür einen Grund?«, fragte ich.
Blockmans verzog nur sein Gesicht, und Jacky antwortete für ihn.
»Es wäre nicht die erste Familie, die einen Ausweg suchen würde.«
Im selben Moment vibrierte und piepte Benders Handy ein weiteres Mal. »Eine SMS«, kündigte er an. Er las sie laut vor. »Im Haus der Keyzers ist niemand. Weder Einbruchsspuren noch leere Kleiderschränke. Alles sauber.«
»Also doch keine Entführung«, schlussfolgerte Jacky.
»Doch, aber wahrscheinlich auf offener Straße«, hielt ich dagegen.
Jacky zuckte die Schultern. »Da geht der Täter zwar ein größeres Risiko ein, aber es kann sein, ja.«
»Nicht unbedingt ein größeres Risiko«, sagte Bender. »Wenn der Täter den Ort geheim halten kann, hinterlässt er mit einer Entführung auf offener Straße keine Spuren.«
Blockmans löste seine Arme und steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Jacky«, sagte ich. »Was meintest du eben damit, dass die Keyzers einen Ausweg suchten? Haben sie Feinde?«
Er sah mich mit nachdenklicher Miene an. »Feinde jetzt nicht unbedingt«, sagte er. »Aber die Schreinerei lief nicht so rund. Tom ist ein ziemlich gleichgültiger Typ. Er lebt ein bisschen nach dem Motto: ›Kommste heut nicht, kommste morgen.‹«
»Und seine Frau?«, fragte Bender.
»Grit ist da anders. Immer schick gekleidet, zielgerichtet. Aber ob sie ihr eigenes Auto abfackeln würde? Puh, ich weiß nicht«, antwortete Jacky.
»Auf jeden Fall wollte jemand seine Spuren verwischen«, sagte ich. »Womöglich ist die Person, die das Auto angezündet hat, mit einem anderen Auto weitergefahren.«
Die Distanz von dem Wrack bis zur Straße betrug ungefähr vierhundert Meter. Das zweite Auto hätte der Täter getrost in der Seitenstraße parken können. Es machte den Anschein, als verirrten sich nicht viele Menschen dorthin.
»Wir haben es noch nicht bis ins Detail untersucht, aber vorn an der Wiese sind uns nur Reifenabdrücke von zwei Fahrzeugen aufgefallen«, berichtete einer der Männer, die unter Benders Regie standen.
»Von dem Transporter und Jackys Peugeot«, vermutete ich.
»Genau«, erwiderte mein Gegenüber. »Das konnten wir bereits feststellen.«
»Wissen Sie, wann der Transporter ausgebrannt ist?«, fragte ich.
Benders Mann verzog nachdenklich das Gesicht. »Der Rauchentwicklung nach zu urteilen, so zwischen drei und vier Uhr diese Nacht.«
»Haben Sie auf der Wiese Fußspuren finden können?« Ich erntete verdutzte Blicke. Angesichts des mittlerweile recht zertrampelten Umfelds musste meine Frage wie die naive Anmerkung eines Auszubildenden klingen. »Wenn das Ersatzauto des Täters an der Straße gestanden hat, muss er ja irgendwie dorthin gelangt sein«, fügte ich hinzu.
»Kommen Sie mit«, wies der Mann von der Spurensicherung mich an, ehe er bis vor die Fahrertür des Wracks trat. Dort zeigte er mit dem Finger auf eine Stelle im Gras. »Sehen Sie die eingedrückten Quadrate?«
Ich nickte. »Sie meinen, der Täter hat sich Holzplatten unter die Füße gelegt?«
»Genau. Auch das haben wir noch nicht überprüfen können, aber ich gehe mal davon aus, dass die Spuren bis zur Straße führen.«
»Wo sie sich dann höchstwahrscheinlich in Luft auflösen«, ergänzte ich, in der Hoffnung, dass er mir widersprach.
Aber er nickte bloß und wandte sich wieder ab, um mit der Sicherung der Spuren fortzufahren. Indes streichelte Bender sein Kinn. Sein Blick verriet, dass er sich mit den bisherigen Ausführungen nicht zufriedengab.
»Aber warum die Tauben, wenn die Keyzers freiwillig von dannen ziehen wollten? Braucht es da eine solche Inszenierung?«
Die Tauben. Ich hatte sie fast vergessen.
Ich stellte mich noch einmal vor die kleinen leblosen Körper. Betrachtete die Flügel, die nie mehr schlagen würden. Die Augen, die für alle Zeit ins Jenseits blickten. Die orangen Schnäbel, die für immer geschlossen bleiben würden. Unschuldig lagen sie im Gras. Unschuldig und unbeteiligt.
Warum musstet ihr sterben?
Je länger ich die Tauben anstarrte, desto näher schien ich der Lösung zu kommen. Aber ich irrte mich: Es war nicht die Lösung, an deren Tür ich kratzte, sondern eine neue Frage. Eine, die uns alle in einen Fall katapultieren sollte, in dem wir nach und nach dunkle Geheimnisse aufdecken würden, die seit Jahren tief im Verborgenen gelegen hatten.
»Vorausgesetzt, die drei Keyzers wurden entführt. Warum hat der Täter dann nur zwei Tauben getötet?«
Ein ausgebrannter Transporter, zwei tote Tauben und drei Menschen, die seit ein paar Stunden vermisst wurden – das waren unsere Anhaltspunkte. Wie diese Hinweise zusammengehörten, wussten wir allerdings nicht. Und ich hatte nicht das Gefühl, als würde uns die Lösung auf dem Silbertablett präsentiert werden. Dafür waren die Fakten zu komplex.
Es war inzwischen kurz nach fünfzehn Uhr, die Temperatur war bis auf sechsundzwanzig Grad Celsius angestiegen. Wir standen noch auf der Wiese, vor dem ausgebrannten Transporter. Im Radio war zwar angekündigt worden, dass man die Jacke heute zu Hause lassen konnte, aber das, was wir gerade erlebten, fühlte sich bereits wie Hochsommer an. Ich spürte, wie das Hemd an meinem Rücken klebte und mir der Schweiß entlang der Schläfen hinunterlief.
Benders Männer suchten Tom Keyzers Schreinerei und das Haus der Familie auf Spuren und Anhaltspunkte ab. Das gab uns Gelegenheit, das engere Umfeld der Familie auszukundschaften und dort nach Hinweisen und vor allem Motiven für das plötzliche Verschwinden der dreiköpfigen Familie zu suchen.
»Das Unangenehme bei einem Vermisstenfall wie diesem ist, dass alles den Eindruck macht, dass uns für die Suche kaum Zeit zur Verfügung steht«, sagte Bender. Sein Blick verriet mir, dass er keinen Amateur hinter der Tat vermutete.
»Wir müssen zuerst in Erfahrung bringen, wann und wo die drei das letzte Mal gesehen wurden. Vielleicht gab es an den jeweiligen Orten Zeugen, die den oder die Täter gesehen haben«, sagte ich.
Bender nickte und kniff, von der Sonne geblendet, die Augen zusammen.
»Auf den Handys der drei meldet sich nur die Mailbox. Die Kollegen der IT versuchen bereits, an die Daten zu kommen«, sagte er in einem zuversichtlichen Tonfall.
»Die Täter werden sich sicher bald melden«, sagte Jacky beschwichtigend, während er die Thermosflasche aufdrehte, die er soeben dem grauen Peugeot entnommen hatte.
»Ein Lösegelderpresser wäre schön, aber hätte er dann die ganze Familie entführt? Wen sollte er jetzt noch erpressen wollen?«, fragte ich. »Nach dem, was wir hier zu sehen bekommen haben, glaube ich nicht an einen Erpresser. Die Tauben, der verbrannte Transporter – das sieht eher aus wie ein Ritual.«
»Ein Ritual? In Weybach?«, fragte Jacky und lachte laut auf. »Das hört sich irgendwie alles psycho an.« Er neigte die Thermosflasche und goss sich Tee in eine Tasse. Dabei wackelte seine Hand beträchtlich. Ein Teil der heißen Flüssigkeit lief von der Tasse über seinen Handrücken hinunter ins Gras. Jacky schien es nichts auszumachen.
Bevor ich antworten konnte, zog Blockmans meine Aufmerksamkeit auf sich. Jackys Kollege, der bis dahin verkrampft neben uns verharrt war, fing plötzlich stark zu husten an. Hastig zog er seine Hände aus den Taschen und wandte Körper und Gesicht von uns ab. Dabei stolperte er und wankte unfreiwillig auf die toten Tauben zu. Erst im letzten Moment schaffte Bender es, Blockmans aufzufangen, bevor er stürzte.
Um ein Haar wäre Blockmans auf die wichtigen Beweistücke gefallen. Das Gesicht des kleinen Mannes lief augenblicklich rot an vor Scham. Den Blick zu Boden gerichtet, steckte er sich das Hemd wieder in die Hose, das ihm hochgerutscht war. Dann strich er mit den Handinnenflächen die Ärmel seiner braunen Lederjacke sauber. Ich wandte mich erneut Jacky zu. »Weißt du eigentlich, ob die Keyzers Familie haben?«
Jacky setzte einen Gesichtsausdruck auf, der nicht viel Hoffnung ausstrahlte. »Keyzer hat einen Bruder, er lebt auch hier im Ort. Die beiden haben aber nicht groß was miteinander zu tun.«
»Das muss nichts bedeuten. Den schauen wir uns später an«, sagte ich. »Gibt es darüber hinaus noch andere Verwandte?«
»Da hab ich keine Ahnung.«
Ehe ich Blickkontakt mit Bender aufgenommen hatte, vernahm ich bereits seine Stimme. »Ich lass das prüfen«, sagte er, zückte im selben Moment sein Handy und ging ein paar Schritte zur Seite, bis er außer Hörweite war.
»Und hier in dem Städtchen? Haben die Keyzers Freunde?«, fragte ich. Mit geschlossenen Augen schlürfte Jacky Tee aus der Tasse, die er inzwischen mit beiden Händen festhielt. Die hohen Temperaturen schienen ihm nicht die Lust auf ein Heißgetränk zu nehmen.
»Karl Maton ist Tom Keyzers bester Freund. Er ist ein eitler Typ Anfang vierzig. Ihm gehört das Hotel Weybacher Hof, das direkt am See liegt.«
»Gut, kann er in einer Stunde im Präsidium sein?«, fragte ich.
Jacky grinste schelmisch. »Nein, das geht nicht. Bei uns wird zurzeit renoviert.«
»Wir brauchen ja keinen Saal, ein kleines Büro würde reichen«, sagte ich.
Jacky schüttelte immer noch grinsend den Kopf. »In zwei Büros sind die Anstreicher zu Werke, und in zwei anderen werden die Böden rausgerissen. Da habt ihr euch wirklich eine schlechte Woche ausgesucht, um Weybach zu besuchen.« Seine Belustigung steckte selbst Blockmans an, dessen Mundwinkel zuckten.
»Und wo arbeitet ihr diese Woche?«, fragte ich, neugierig, wie sie das logistische Problem lösen wollten. »Ihr habt ja nicht die ganze Woche Außentermine, nehme ich an.«
»Nirgendwo. Die Woche war eigentlich dafür vorgesehen, Überstunden abzubauen«, entgegnete Jacky. »Aber wir können uns bestimmt an einen Tisch im Hotel setzen. Das stört den Karl nicht.«
Infolge des letzten großen Falls in Raaffburg hatte ich so etwas wie eine Allergie auf die Öffentlichkeit entwickelt. Zwar gehörte meine Freundin Sina auch dem Berufsstand der Journalisten an, jedoch vermieden wir es, Berufliches in unsere Beziehung hineinzutragen. Ich war kein Freund davon, Behauptungen oder Vermutungen zu verbreiten, bevor sie verifiziert worden waren. Erfahrungsgemäß hatten sensationsvernarrte Journalisten und tratschfreudige Stadtbewohner da weniger Skrupel. Daher wollte ich eine Zeugenbefragung an einem öffentlichen Ort lieber vermeiden. Sofern es denn möglich war.
»Da gibt es auch ruhige Plätze«, argumentierte Jacky, als erhielte er eine Provision für die Tischvermittlung.
Während ich zögerte, kam Bender von seinem Telefonat zurück. Kurzatmig berichtete er: »Tom Keyzer hat besagten Bruder, Luc Keyzer heißt er. Die Eltern der beiden sind tot. Auch Grit Keyzers Vater ist bereits vor Jahren verstorben, allein ihre Mutter lebt noch, und zwar in einem Altenpflegeheim in ihrer Heimatstadt Bremen. Allerdings hat sie Alzheimer.«
»Mist. Hat Grit Keyzer Geschwister?«, fragte ich.
»Sie hat eine Schwester, die in den USA lebt.«
»Also gibt’s den Bruder und sonst nichts«, resümierte ich.
Jacky nickte. »Soll ich ihn anrufen?«
»Den nehmen wir uns morgen vor«, sagte ich.
»Dann fahren wir zum Hotel?«, fragte Jacky mich erwartungsfroh und kippte den Inhalt seiner Tasse hinunter.
»Ja«, sagte ich. »Machen wir uns an die Arbeit.«
Nach wie vor war der Verkehr in dem Städtchen am See sehr dicht. Jacky und Bender fuhren mit mir, Ersterer saß auf dem Beifahrersitz, er kannte den Weg zu dem Hotel, das Karl Maton gehörte. Wenn das Auto rollte, strömte frische Luft durch die geöffneten Fenster. Es roch nach Pellkartoffeln und gegrilltem Hähnchen. Überwiegend standen wir jedoch. Das gab mir Gelegenheit, die Bilder auf dem Handy anzusehen, die Bender mir gerade geschickt hatte. Es waren drei, jeweils eins pro Familienmitglied.
Das erste war von Tom Keyzer. Er war dreiundvierzig Jahre alt und hatte sich gut gehalten. Der Hals war muskulös und drahtig, der graue Joggingpullover lag eng an. Sein Teint war bräunlich, als wäre er gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt. Von den dünnen kurzen Haaren, deren Farbe dem Schwedenblond nahekam, standen am Hinterkopf ein paar zur Seite ab. Vorn auf der Stirn hafteten vereinzelte verschwitzt aussehende Haare. Er grinste, man konnte die weißen Schneidezähne gut sehen. Seine blauen Augen wirkten lebensfroh.
Ich wandte meinen Blick kurz vom Handy ab, löste die Kupplung und schloss die zehn Meter bis zu meinem Vordermann auf. Als ich wieder stand, wischte ich auf dem Display nach rechts. Grit Keyzer kam zum Vorschein. Ihr Teint war etwas heller, ihre blonden Haare fielen glatt wie ein Wasserfall bis auf die Schultern hinunter. An den Ohren hingen silberne Kreolen. Sie passten zu der silberfarbenen Halskette, an der ein hellgrüner Stein baumelte. Die weiße Bluse war nur partiell sichtbar, darüber lag ein dunkelgrünes Jackett. Ihre Nase war schmal. Sie lachte nicht, sondern blickte etwas überheblich in die Kamera.
Ein lang gezogenes Hupen lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Verkehr. Ich sah, dass mein Vordermann etwa dreißig Meter von mir entfernt war. Ich drückte aufs Gas und schob den ungalanten Schaltknüppel meines vierzig Jahre alten Gefährts in den zweiten Gang. Das Gaspedal gab nach, der Motor brummte auf. Doch bereits fünf Sekunden später standen wir wieder. Und ich griff erneut zu meinem Handy.
Paul Keyzer war fünfzehn Jahre alt. Seine Haut wies den bräunlichen Teint seines Vaters auf, hingegen waren seine Haare eher braun als blond. Die Seiten waren auf eine einstellige Millimeterlänge rasiert, die längeren Haare obendrauf lagen gescheitelt zur Seite. Seine Nase kam nach der seiner Mutter, die gleiche schmale Form, allerdings fiel sie bei ihm aufgrund des größeren Kopfumfangs nicht so sehr auf. Die braunen Augen schauten stolz in die Kameralinse. Ein Lächeln bahnte sich in den Mundwinkeln an.
»Ich habe die Bilder gerade an die Kollegen geschickt«, sagte Bender, der auf der Rückbank unentwegt in sein Handy tippte. »Sie werden sich in Weybach und Umgebung umsehen und die Augen nach den Vermissten offen halten.«
»Von wie vielen Kollegen sprechen wir?«, fragte ich.
»Fünf«, antwortete Bender.
»Ich befürchte, wir müssen mehr tun als das«, sagte ich.
»Sie meinen, wir sollten mit den Fotos an die Presse?«, fragte Bender und schob seinen Kopf zwischen die beiden Vordersitze, um mich besser verstehen zu können.
»Ja, das müssen wir wahrscheinlich auch tun. Die erhöhte Polizeipräsenz wird früher oder später sowieso Fragen aufwerfen«, sagte ich, obschon es mir innerlich bereits davor graute.
»Also kontaktiere ich jetzt die Zeitungen?«, fragte Bender, während er mich angespannt im Rückspiegel ansah.
»Vielleicht warten wir noch das Gespräch mit dem Hotelier und das Ergebnis der Suche Ihrer Männer ab. Danach müssen wir eine Entscheidung treffen. Wir sollten aber jetzt schon ein Dutzend mehr Leute anfordern, die bei der Spurensicherung helfen. Außerdem geben wir am besten den Polizeistationen in einem Umfeld von fünfzig Kilometern Bescheid, dass die drei als vermisst gelten. Und fragen Sie bitte auch, wann eine Suchstaffel hier sein könnte. Vielleicht werden wir heute Abend eine brauchen.«
Bender nickte und führte umgehend sein Handy ans Ohr. Getrieben, aber in fachlich korrekter Manier gab er alle Anweisungen durch. Doch plötzlich verstummte er, hörte nur zu und gab hier und da ein knappes »Ja« zurück. Ich dachte, er erhielt vielleicht schon ein paar Informationen zum Background der Keyzers. Aber als er auf einmal geschockt »Oh mein Gott« sagte und sein Gesicht unvermittelt an Farbe verlor, horchte ich auf. Sein Mund stand offen und blieb es auch, als der junge Kollege kurz danach das Gespräch beendete.
»Was ist passiert?«, fragte ich, während ich ihn im Rückspiegel anblickte.
»Etwas Heftiges«, sagte er kopfschüttelnd. »In Teunen, dem Nachbarort, haben sie gestern Abend im Straßengraben einen grünen Land Rover gefunden. Es sieht so aus, als sei er abgedrängt worden. An der Seite befinden sich dunkelblaue Lackrückstände.«
»Der Transporter war doch dunkelblau«, bemerkte ich.
»Genau«, sagte Bender.
»Und wissen wir, wem der Land Rover gehört?«
»Ja, Grit Keyzer.«