Bella Italia - Hermann Ehmann - E-Book

Bella Italia E-Book

Hermann Ehmann

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Beschreibung

Hochsommer an der Adria. Während die Urlauber in die Hotspots Bibione und Lignano einfallen, wird im lauschigen Pinienwäldchen von Pineda die Leiche eines schillernden Agenten für luxuriöse Ferienhäuser gefunden. Kurz darauf gibt es im nächtlichen Luna Park einen zweiten Toten. Beide Male ist die junge Polizistin Isabelle Martin in ihrem frisch geerbten Strandbungalow ganz in der Nähe der Tatorte. Hängen die Morde etwa miteinander zusammen? Und was hat der rätselhafte Tod einer Münchner Studentin beim Freiluftmusikfestival mit den Verbrechen zu tun?

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Hermann Ehmann

Bella Italia

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © Anton Ivanov / Unsplash und Allasimacheva / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7806-2

Zitat

»Ich kann nicht einfach aufhören, an dich zu denken.

Nein, ich kann nicht einfach so tun,

als ob all die Zeit, die wir verbracht haben,

plötzlich verschwinden könnte.«

Eros Ramazzotti, italienische Sängerlegende

Nördliche italienische Adria

Prolog

Bibione Spiaggia, Freiluftmusikfestival zum Saisonauftakt

Eine laue Frühlingsnacht an der Oberen Adria. Saisonauftakt in San Michele al Tagliamento, Bibione. Der Hotspot erwacht zum Leben. Seit den frühen Nachmittagsstunden drängen sich Zehntausende Musikfans an dem sieben Kilometer langen Küstenstreifen mit den drei Ortsteilen Pineda, Lido del Sole und Lido dei Pini. 25 Open-Air-Bühnen mit renommierten Künstlern aus Italien, Slowenien, Kroatien, Österreich und Deutschland stehen für musikalische Vielfalt vom Feinsten: traditioneller Italo-Poprock, Azzurro Rap, Electronic-House, Carribean Reggae. Nach der Corona-Delle der vergangenen Jahre haben die Veranstalter diesmal keine Kosten und Mühen gescheut. Auf der Hauptlocation am Piazzale Zenith jubeln die Massen ihren Superstars Dua Lipa, Rita Ora und dem zweifachen San Remo-Festival-Sieger Marco Mengoni zu, der als Halbgott gefeiert wird. Meterhohe Lautsprechertürme wummern dem ausgelassen tanzenden Publikum rhythmische Harmonien in über 100 Dezibel entgegen, das Gelände bis hinunter zur Hotelmeile auf dem Corso Europa füllt sich immer mehr. Um Mitternacht ist die Stimmung auf dem Höhepunkt. O bella notte!

Seit Monaten laufen die Vorbereitungen für dieses Freiluftmusikfestival der Superlative, das sich dank zahlungskräftiger internationaler Sponsoren zu einem der meistbesuchten Freiluftevents zwischen Grado und Rimini gemausert hat. Wet-T-Shirt-Contests, Tattoo-Wettbewerbe und ein hochkarätig besetztes Volleyballturnier bilden den Rahmen für das dreitägige Nonstop-Happening. Hotels, Pensionen, Villaggios und sämtliche Campingplätze sind fast bis auf das letzte Bett belegt. Ausnahmezustand pur. Springbreak auf Italienisch.

Die Schattenseite: Alkohol und Drogen. Security und Croce Rossa wissen kaum noch, wo ihnen der Kopf steht. TragischerHöhepunkt:In den Morgenstunden stolpert ein Nachtschwärmerpärchen beim Nachhauseweg zum Hotel übereine im Sand liegende Person, als die beiden hinter einem abgelegenen Umkleidehäuschen intim werden wollen. Bewegungslos liegt eine hübsche blonde Frau halb entkleidet in ihrem eigenen Erbrochenen, sie atmet nicht mehr.

Die sofort herbeigerufenen Rettungskräfte kommen zu spät. Die Medico di Emergenza, die in dieser Nacht 23 Einsätze zu verzeichnen hatte – fast alle gingen glimpflich ab –, kann nur noch den Tod der jungen Studentin aus München feststellen. »Herzstillstand, Ursache unklar. ÜberdosisGenussmittel?«, kritzelt die Ärztin auf ihren Totenschein.

Die Polizia überstellt den Leichnam zur Obduktion in das Istituto Patologico der Universität Venedig. Die postmortale Analyseförderteinen verhängnisvollen Mix aus Alkohol und Gammabutyrolacton, kurz GBL, in Szenekreisen auch als Liquid-Ecstasy bekannt, zutage – relativ geringe Mengen, an denen ein gesunder junger Mensch normalerweise nicht stirbt. Die 20-Jährige hatte jedoch seit ihrer Geburt einen Herzklappenfehler, von dem sie offenbar nichts wusste. Auffällig: Kurz vor ihrem Ableben hatte sie noch Geschlechtsverkehr – ob einvernehmlich oder unfreiwillig, lässt sich nicht abschließend klären. Die K.-o.-Tropfen im Blut lassen jedoch Letzteres vermuten. Familie und Freunde in ihrer Heimat sind untröstlich, für sie bricht eine Welt zusammen. Den regionalen Medien am Adria-Hotspot ist die Tragödie gerade mal eine Mini-Meldung wert.

Die Urlaubssaison nimmt ihren Lauf. Sole, spiaggia, Spaghetti satt. Radio Bibione sorgt mit Gute-Laune-Songs für durchgängig relaxte Stimmung bei der bunten Urlaubergemeinde aus halb Europa. Tutto come sempre. Alles wie immer. Fast alles …

2

Dreieinhalb Monate später, letzte Juliwoche, Bibione Pineda

Isabelle Martin wälzte sich auf ihrer dünn gepolsterten Schaumstoffmatratze hin und her. Sie spürte jeden einzelnen Muskel ihres 31 Jahre alten Körpers. Schon seit Stunden hatte die Kommissarin von der KPI Fünfseenland aus dem Münchener Süden nicht mehr richtig geschlafen, unruhig hatte sie sich im Halbschlaf hin und her gewälzt. Seit sie sich vor acht Jahren entschlossen hatte, ihren stressigen Job als Krankenschwester aufzugeben und in den nicht minder stressigen Polizeidienst zu wechseln, litt sie häufiger unter Schlafstörungen. Kurioserweise war es meist dann am quälendsten, wenn sie eigentlich ausspannen konnte, weil sie ein paar Tage frei hatte. So wie jetzt.

Es war wohl eine ziemliche Schnapsidee gewesen, auf dem Flachbetondach ihres Bungalows zu nächtigen, den sie von ihrer kürzlich verstorbenen Großtante Sophia geerbt hatte und auf Vordermann bringen wollte. Weil es zuletzt tagsüber immer über 35 Grad heiß gewesen war und es auch nachts kaum nennenswert abkühlte, hatte sie gehofft, in luftiger Höhe etwas Erfrischung zu finden – was sich als Trugschluss erwies. Nicht zuletzt wegen der fiesen Stechmücken, die sie wie Minihubschrauber in gefühlter Armeestärke umschwirrten und sich auch von der dicken Teebaumöl-Spezialschutzschicht, die sie eigens aufgetragen hatte, nicht abschrecken ließen. Ja, sie schienen den würzigen Geschmack sogar besonders anziehend zu finden. Zwar lag sie unter freiem Himmel, aber abgekühlt fühlte sie sich keineswegs. Eher verspannt. Vor allem aber zerstochen. Der superhippe bite-away-Spezialstift, den ihr die Notfallapothekerin vom Corso del Sole gestern für satte 39 Euro wärmstens ans Herz gelegt hatte und den sie nachts mehrfach einsetzte, war sein Geld nicht ansatzweise wert, er konnte nicht verhindern, dass ein paar Stiche dick anschwollen und nervig juckten.

Gegen 6 Uhr morgens döste sie nochmals ein. Im Traum kämpfte sie gegen eine osteuropäische Autoschiebergang, die Luxuskarossen in den Balkan beförderte und dabei buchstäblich über Leichen ging. Kurz entschlossen stellte sie sich den Ganoven in den Weg, da sie schon immer eine Abneigung gegen schmierige Autosyndikate hatte, doch diese überrannten sie rücksichtslos … und sie vermochte sich keinen Schritt zu bewegen. Der Angsttraum-Klassiker. Ihr Shirt klebte schweißnass am Rücken.

Plötzlich schrie einer der Autodiebe wie am Spieß. Jedenfalls vernahm Isabelle einen markerschütternden Schrei, anschließend noch einen etwas gedämpfteren – zumindest glaubte sie das. Aber wer konnte im Dämmerschlaf schon genau sagen, was real war und was eingebildet? Immerhin blieb jetzt alles ruhig. Abgrundtiefe Stille erfüllte die Luft in der Morgendämmerung. So weit, so unbefriedigend.

Abscheulicher Albtraum! An Schlafen war nicht mehr zu denken. Als kurze Zeit später ein Auto hochtourig mit quietschenden Reifen und kaputtem Auspuff an ihrer Villa vorbeibretterte, war sie endgültig wach. Das war nun wirklich nicht eingebildet, zumal völlig untypisch für die verkehrsberuhigte Via Sanbuco im lauschigen Ortsteil Pineda. Isabelle schlug die Augen auf, blinzelte von ihrem exponierten Standpunkt der Lärmquelle hinterher. Schwarzer Kleinwagen. Die Autodiebe aus dem Traum? Wohl kaum. Eher ein Möchtegern-Formel 1-Pilot, der mit seinem aufgemotzten Boliden seiner Freundin imponieren wollte.

Da sie jetzt wach war und ihr der Magen knurrte, beschloss sie aufzustehen. Sie rollte die Matte zusammen und kletterte die Eisenleiter vom Dach hinab, um drinnen zu duschen. Aus dem Brausekopf kamen nur ein paar Tropfen, da der Regenwasserbehälter hinter dem Haus, der mit der Dusche verknüpft war, fast leer war – seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet.

In ihren neuen Havaiana-Flip-Flops mit Katzenmotiven machte sie sich auf den Weg zu dem mit Kuchenmotiven dekorierten PanificioAntonella an der Kreuzung Viale dei Ginepri/Passegiata dei Pini, um sich mit Panini und Biscotti Cioccolato einzudecken. Angeblich gab es dort das beste Süßgebäck weit und breit – das hatte zumindest ihr Nachbar, Herr Hellinger, behauptet, mit dem sie gestern Abend ein paar kurze Kennenlernworte gewechselt hatte. Wie ein Kostverächter sah der sympathische Mittfünfziger aus Unterhaching, der mit seiner Frau hier lebte, jedenfalls nicht aus.

In der Ladentür hing ein Werbeprospekt für das Ausflugs-Piratenschiff Captain Igloo mit Live-Dance-Band, das jeden Sonntag um 11 Uhr vom Hafen ablegte. Die Eineinhalb-Stunden-Party-Tour mit Menü und freien Getränken für 46 Euro wäre sicherlich ein Heidenspaß – ihr Lieblingskollege Sigi Schwaiger hatte sich ja erst für den frühen Nachmittag angesagt. Hm, da wäre noch genug Zeit dazwischen. Nicht gerade ein Schnäppchen, andererseits wäre das mal was anderes als die chronisch verregneten Isarfloßfahrten mit den Polizeikollegen, die ihr schon seit Jahren zum Hals raushingen. Vor allem, seitdem einige im alkoholisierten Zustand plump mit der aparten Halbfranzösin anzubandeln versucht hatten – wie peinlich war das gewesen, zumal die sogar verheiratet waren und sie deren Ehefrauen kannte! Schon oft war sie die letzten Jahre mit dem Gedanken schwanger gegangen, ihren Ermittlerjob an den Nagel zu hängen und stattdessen … ja, was eigentlich? Nur weil sie zu Schwaigers Dienststelle wechseln konnte und in ihm einen verständnisvollen Kollegen und platonischen Freund gefunden hatte, war sie überhaupt noch an Bord. Ihre ursprüngliche naive Motivation, das Böse zu bekämpfen und die Welt zu verbessern, hatte sie mittlerweile ad acta gelegt. Und nun war ihr hier im herrlichen Bibione eine Fluchtburg aus dem Alltag förmlich in die Hände gefallen, ganz ohne ihr Zutun. Ein anheimelnder Ferienbungalow. Ein Relax-Refugium zum Verweilen. Ein Stückchen Paradies inmitten eines pittoresken Pinienhaines. Ausgerechnet an der Adria, wo sie schon vor Jahrzehnten mit ihren Eltern entspannte Familienurlaube verbracht hatte – bis Mom, die ebenfalls Kriminalerin gewesen war, bei einem Einsatz in Südfrankreich starb. Damals war sie noch ein Kind gewesen. Aber die Erinnerungen an die Obere Adria mit ihren Sommer-Hotspots waren geblieben und durch süße Teenagererinnerungen ergänzt worden. Dad war mit ihr immer wieder hierhergekommen. »In Memoriam Mom«, wie er zu sagen pflegte. Auch später, als sie erwachsen war, hatte es sie immer wieder hierhergezogen. Ihre ersehnte große Liebe hatte sie freilich noch nicht gefunden, zu mehr als ein paar One-night-Romanzen am Strand hatte es nie gereicht. Doch selbst das war eine halbe Ewigkeit her. Und seit einigen Jahren lag ihr Liebesleben sowieso auf Eis.

Ob ich mir ein Ticket kaufen soll?, rang sie mit sich, während sie in der Schlange wartete und sich das Bass-Intro von Whitney Houstons »I wanna dance with somebody«in der Lautsprecherbox formierte. »I wanna feel the heat with somebody, yeah, with somebody who loves me …«

Ihr prüfender Blick schweifte über die Gruppe vor ihr wartender junger Männer in ärmellosen Shirts, die lautstark auf Italienisch parlierten. Ein Volleyballteam? Kavaliermäßig ließen sie der Deutschen beim Bestellen den Vortritt. Nicht zu verachten, diese Azzurri! Täuschte sie sich oder hatte der Muskulöse mit dem pechschwarzen Lockenkopf und dem ultraknappen Roberto Baggio-Shirt ihr soeben zugeblinzelt? Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln zurück und linste dann haarscharf an ihm vorbei – so früh am Morgen war sie noch nicht in Flirtstimmung. Eventuell später, mal sehen.

Als sie den Laden verließ, folgten ihr einige bewundernde Blicke. Fast gleichzeitig fegten ganz unromantisch zwei Streifenwagen mit Tatütata an ihr vorbei, gefolgt von einem Krankentransporter. Was war da los?

3

Selbstgefällig klopfte sich die Person selbst auf die Schulter und genehmigte sich eine Birra Moretti aus dem Eisschrank.Es hätte nicht perfekter laufen können! Sie hatte an alles gedacht, niemand würde je auch nur den geringsten Verdacht hegen. Falsche Spuren gab es zuhauf.

Die Zeit war reif gewesen. Überreif. Einer musste mal durchgreifen, wenn sich sonst schon keiner rantraute. Für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen. Auch wenn sie es nicht gerne tat, noch nie hatte sie sich in ihrem Leben die Hände schmutzig gemacht. Nun, irgendwann war immer das erste Mal.

Blasierte Zeitgenossen, die rechtschaffenen Leuten das Leben zur Hölle machen – eine notorische Plage. Eine Zumutung für die Menschheitsfamilie. Einer weniger von dieser Sorte – verkraftbar! Niemand würde »Money-Georg« eine Träne hinterherweinen. Im Gegenteil: Die Person wusste nur zu gut, dass bei einigen jetzt vermutlich die Sektkorken knallten. Stellvertretend für viele. Gut so.

Warum war Justitia nur so träge, dass man ihr so auf die Sprünge helfen musste? Folgten Justitia und Fortuna überhaupt irgendeiner Logik? Einem ausgeklügelten Plan? Gar einem Sinn?

Wohl kaum. Wie oft hatte die Person sich darüber den Kopf zerbrochen … und nie eine zufriedenstellende Antwort gefunden! Wie oft hatte sie sich gefragt, weshalb gerade die Braven, Redlichen, Tiefsinnigen oft so viel durchzustehen hatten, wohingegen den Oberflächlichen, den Substanz- und Gewissenlosen alles fein von der Hand zu gehen, ja in den Schoß zu fallen schien! Das uralte Menschheitsrätsel.

»Der Himmel würfelt nicht!« – So hatte ein Priester ihr mal erklärt. Wie armselig! Pfaffengeschwafel für Arme, Schwache, Loser! Opium fürs Volk. Wer wollte schon an einen solchen Gott glauben? An einen sadistischen Marionettenspieler?

Die Person spähte in den Wohnzimmerspiegel. Ja, sie konnte sich ansehen. Scham? Nullkommanull. Schlechtes Gewissen? Keine Spur. Im Gegenteil: So erleichtert hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. So frei. Befreit. Wie man sich eben an einem herrlichen Julisonntag fühlen sollte, wo alle ihr Leben genießen und urlaubsglücklich sind.

Die Person spottete grimmig: »Der Tragödie erster Teil! Nummer zwei kann sich schon mal warm anziehen.« – Sie besah sich weiter im Spiegel. Zog sich um, warf die benutzte Kleidung in die Waschmaschine und stellte sie an. Nur keine Spuren hinterlassen!

Anschließend setzte sie sich ans Fenster, schaltete das Internetradio ein, sah dem immer emsiger werdenden Touristentreiben draußen zu. Radio Bibione dudelte Sommerhits im Livestream, hin und wieder lief auch ein Oldie, jetzt Supertramps »Don’t leave me now«aus den 1980-ern, dann »Caruso« von Lucio Dalla. Gedankenversunken summte die Person mit: »Ich habe dich lieb, so dermaßen lieb, weißt du. Unsere Liebe ist wie ein Kette, ohne Ende.«

Ein Liebeslied ans Meer, rhythmisch wippte sie mit dem Fuß, Emotionen stiegen auf. Starke Vibrations. Schlagartig verschlechterte sich ihre Stimmung. War das Lied damals nicht …? Oh doch, das war es. Verf…!

Die Person stand auf, knipste das Radio aus, kramte in der Nachttischschublade. Sie fand einen vergilbten Zettel.

»Liebe geben, Liebe sein, Liebe bleiben.

Sich glücklich und traurig fühlen,

Diese emotionalen Wechsel.

All die Erinnerungen, die wir hatten,

Ja, du weißt, dass es wahr ist,

Ich möchte es wieder fühlen.

Benachbarte Herzen, wie einsam jedes ist.

Ich denke an dich.

Doch es läuft nicht immer alles so,

wie du es dir wünschst.

So still, dass alle Uhren schwiegen –

Ja, die Zeit kam zum Erliegen,

So verloren gingst du fort.

Für immer. Unwiederbringlich.«

Die Person bewahrte diese Zeilen auf wie den Heiligen Gral. Sie führte den Zettel an die Lippen, küsste ihn sanft. Dann legte sie ihn behutsam wieder zurück.

Tränen. Ein Meer voll Tränen. Erinnerungen … mehr als nur eine Spur im Sand. So tief, dass kein Wind sie je zuwehen wird.

4

Überall Blaulicht. Drei Einsatzwagen. Hastende Polizisten. Argwöhnische Blicke. Hektische Anweisungen auf Italienisch.

Isabelle Martin bog mit ihrer Papiertüte in die Via Sambuco ein, freute sich auf ein behagliches Frühstück auf der mit Oleander und Steinrosen behaglich eingewachsenen Terrasse. Doch sie traute ihren Augen nicht – was war hier los? Keine Spur mehr von jener friedvoll-behaglichen Sonntagmorgenstimmung, die vor einer halben Stunde hier noch das Bild geprägt hatte.

Ein dunkelblaues Polizia-Auto mit einigen Dellen parkte unmittelbar vor ihrem Haus, ein anderes stellte den Garteneingang zu. Wozu dieses Aufgebot? Um diese unchristliche Uhrzeit? Sie fummelte die In-ear-Hörer in die Seitentasche ihrer Shorts, setzte die Sonnenbrille ab.

»Was ist hier los?«, fragte sie verunsichert in die Runde, während sie sich zwischen den Fahrzeugen hindurchquetschte, um ihr verbeultes, quietschendes Gartentürchen zu öffnen, dem die Klinke fehlte.

»Ciao, abiti qui?«, erkundigte sich ein Polizeibeamter gespielt lässig auf Italienisch, ohne auf die Frage einzugehen. Als er Isabelles fragenden Blick sah, übersetzte er: »Wohnen Sie hier?«

Jetzt war sie richtig beunruhigt. »Bitte, was? Ja, ich bin hier zu Hause.«

»Da dove vieni? Woher kommen Sie gerade?«

Ihr wurde unheimlich: »Von … vom Panificio Antonella. Was soll das alles?«

»Hinter Ihrem Grundstück liegt eine Leiche«, antwortete der Polizist ungerührt in fast lupenreinem Deutsch. »Ich darf Sie nicht durchlassen. Chiuso.«

»Wie bitte?« Um ein Haar wäre Isabelle die Paninitüte aus der Hand gefallen. Sie lachte auf. »Das kann nicht sein. Wie soll denn da jemand reingekommen sein?«

»Leider doch. Das Lachen wird Ihnen noch vergehen. Im angrenzenden Pinienwäldchen neben Villaggio Paradiso, direkt hinter Ihrem Grenzzaun«, präzisierte der Uniformierte und deutete unerschütterlich salopp hinter das Haus. »Spaziergänger haben uns alarmiert. Da war er aber schon nicht mehr am Leben.«

Allmählich begriff Isabelle. Während ihrer kurzen Abwesenheit hatte sich hier einiges ereignet. »Darf man fragen, wie er zu Tode kam? Ein Unfall?«

»Wie es aussieht, nein. Seit immer mehr Migranten kommen, ist die Kriminalität in Italien sprunghaft angestiegen. Die vielen Ausländer tun uns nicht gut. Aber eigentlich darf ich gar nicht mit Ihnen sprechen.« Der Beamte wurde noch nicht mal rot dabei, kaute genüsslich einen Kaugummi.

Isabelle schluckte, sie war ja ebenfalls Ausländerin. Dieser Kollege machte es sich wirklich sehr einfach. »Wie gruselig! Was ich mich frage: Wie kam das Opfer denn ausgerechnet hinter mein Bungalowgrundstück?«

»Gute Frage. Das Wäldchen ist ja durch Ihren Zaun abgetrennt. SpuSi-Kollegen checken gerade die Lage. Ihr Bungalow wird auch inspiziert werden müssen.«

Inspiziert? – Noch gestelzter konnte er sich wohl nicht ausdrücken! Mit einem Schlag war jede Lässigkeit weg. Isabelle spürte, wie sich ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend breitmachte. Prost Mahlzeit.

»Dann inspizieren Sie die Messie-Bude mal, viel Vergnügen!«, murmelte sie kaum hörbar.

Was zum Kuckuck hatte sich da im Morgengrauen in nächster Nähe zugetragen, als sie im Halbschlaf vor sich hin gedöst hatte? Isabelle musste an ihre Großtante Sophia denken – sie hatte die letzten Jahres ihres Lebens in dieser Villa verbracht. Da Isabelle die einzige Verwandte gewesen war, die sie vor Jahren hier besucht hatte, war sie Alleinerbin. Soweit sie wusste, hatte Sophia sehr zurückgezogen gelebt, dabei war das Anwesen in die Jahre gekommen. Renoviert worden war hier seit mindestens einem Jahrzehnt nicht mehr. Barg dieses Haus womöglich ein Geheimnis?

Isabelle sah sich nach allen Seiten um. »Wo ist Ihr Einsatzleiter? Ich will ihn sprechen.«

Mokantes Grinsen. »Commandante Materazzi spricht gerade mit den Spaziergängern. Österreichisches Ehepaar. Danach kommt er zu Ihnen. Halten Sie sich zur Verfügung!«

Was denn sonst! Die Kommissarin atmete tief durch, dabei verspürte sie einen heftigen Herzstich, gefolgt von einem Reißen im Kopf.

»Stressbedingt, rein psychosomatisch«, hatte ihr Hausarzt sie vor vier Wochen beruhigt, nachdem er sie mal wieder von oben bis unten durchgecheckt und nichts gefunden hatte. »Ignorieren, Stress reduzieren, progressive Muskelentspannung! Sie sind hochsensibel, seien Sie doch froh!« – Na super, der hatte leicht reden. Die Lavendel-Johanniskraut-Mischung, die er ihr verschrieben hatte, war ein schlechter Witz.

Kopfschüttelnd ließ sie sich mit ihrer Brötchentüte in der verbrannten Vorgartenwiese nieder, die eigentlich ein ausgedörrter Kraut-und-Rüben-Acker war. Lachhaft, dass sie sich noch nicht mal ein Getränk aus dem Kühlschrank holen durfte – Mister Pokerface bewachte Kaugummi kauend den Eingang wie einst Zerberus, jener legendäre Höllenhund aus der griechischen Mythologie, die Pforte zur Unterwelt. Nicht eine Sekunde ließ er sie aus den Augen, musterte sie schamlos von oben bis unten, irgendwie fühlte sie sich von ihm ausgezogen bis auf den Slip. Welch Unterschied zu seinen unverkrampften Landsleuten vorhin in der Bäckerei! Hatte der Typ hier denn sonst nichts zu tun? Sie setzte die Ohrhörer wieder auf, doch sie konnte sich nicht auf ihre sorgsam zusammengestellte Urlaubs-Playlist konzentrieren.

Nach etwa 20 Minuten bequemte sich ein ältlicher, klein gewachsener, übergewichtiger Mann – Typ Elefantenbaby – in viel zu eng sitzender Anzugskombination mit einer deutlich jüngeren Kollegin in ihre Richtung. Vielmehr, er wälzte sich. Isabelle fühlte sich an den etwas tollpatschig wirkenden Inspector Columbo aus dem Fernsehen erinnert, nur dass Letzterer über erheblich mehr Esprit und vor allem Charme verfügte. Allerdings hütete sie sich, den italienischen Inspektor zu unterschätzen.

»Sig-norina Mar-tini?«, grunzte er mit rauer Stimme. Er wirkte ungepflegt, seine Schuhe waren staubig. »Io sono Claudio Materazzi. Commandante superiore capo.«

Seinem verkrampften Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte er keinen Bock auf eine Zeugenbefragung in deutscher Sprache. Seine uniformierte Mitstreiterin, die einen Kopf kleiner und bedeutend schlanker war, machte einen geneigteren Eindruck, wirkte aber ebenfalls stocksteif. Vermutlich hatten sie hier nicht häufig einen toten Urlauber zwischen Meerpromenade und Villensiedlung. Schon gar nicht am heiligen Sonntag.

»Buongiorno. Isabelle Martin. Nicht Martini!«, stellte Isabelle sich zwanglos vor und versuchte ein Lächeln, welches aber misslang. »Lassen Sie uns das Formale abkürzen. Zufällig bin ich Kommissarin bei der Kripo nahe München, wir sind also Kollegen. Meinen Ausweis habe ich im Haus.« Ihr schien es, als ob zumindest die Assistentin ihre Geste zaghaft erwiderte. Auf den zweiten Blick fiel ihr auf, dass sie sehr attraktiv war. Loyal streckte sie beiden die rechte Hand hin, lediglich die Dame nahm sie zögerlich, ihre Handfläche war sehr weich und wirkte äußerst gepflegt. Materazzi zog die Stirn kritisch in Falten.

»Collega, colleghi?«, wiederholte er gemächlich mit tiefer Bassstimme. »Ma non qui. Sie kommen uns hier nicht in die Quere … damit wir uns da gleich richtig verstehen!«

Nanu, wie war der denn drauf? »Schon klar«, ruderte Isabelle zurück. »Ich mache hier nur Urlaub in meinem Ferienhaus. Früher gehörte es meiner Großtante, ich bin die Erbin.«

»Aha, capisco. Villa di zia.«

Er machte seiner Assistentin ein Zeichen. Beflissen zückte sie ein lila Tablet und tippte wie besessen, die Rollen waren klar verteilt. Isabelle fiel auf, dass sie schicke dunkelblaue Pumps trug, die perfekt mit ihrer Uniform harmonierten.

»Wo waren Sie die letzten Stunden?«

Isabelle fühlte sich unwohl, Ton und Art der Zeugenbefragung gefielen ihr nicht. Hier lief gerade irgendwas verkehrt. Normalerweise war sie diejenige, die Fragen stellte. Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als mitzuspielen.

»Vor ungefähr einer Stunde bin ich aufgestanden, anschließend war ich ganz gemütlich im Panificio Antonella.« Sie knisterte mit ihrer leeren Papiertüte, gleichzeitig fragte sie sich, ob Materazzi das wohl als Provokation empfand, denn seine Stirnfalten wurden tiefer.

»Haben Sie etwas beobachtet? Denken Sie genau nach.«

Isabelle schüttelte den Kopf. Sie zermarterte sich den Kopf. Hm, war da nicht dieser mysteriöse Schrei gewesen? Und anschließend das Auto, welches reifenquietschend davongerauscht war?

Materazzi riss sie aus ihren Überlegungen. »Wo haben Sie die Nacht verbracht, Signorina?«

Die Frage war zu gut, um sie mit einer Antwort zu verderben. Sie musste sich zwingen, nicht loszulachen. »Na hier. Ich habe oben auf dem Dach geschlafen.«

»Auf dem Dach?«, wiederholte der Commandante völlig verständnislos, er wackelte mit dem Kopf. »Perché? Ausgerechnet auf dem Dach?«

Isabelle rieb sich die Augen. Dieser Materazzi wäre nie auf eine solch außergewöhnliche Idee gekommen, schon klar. »Nun, ich wollte an der frischen Luft schlafen. Im Haus war die Hitze nicht auszuhalten. So einfach.«

»Ah. So einfach«, äffte er. »Waren Sie allein? Da solo? Oder hatten Sie Begleitung? Männlich?«

Himmelherrgott! Was bildete sich diese platte Sherlock-Holmes-Kopie ein? Langsam, aber sicher platzte Isabelle Martin der Kragen. Wohin, bitte schön, entwickelte sich dieser Dialog?

»Hören Sie!« Da klang Angefressensein durch. »Rufen Sie Kriminalrat Johannes Baptist in Deutschland an, er ist mein Vorgesetzter, ich gebe Ihnen seine Privatnummer. Lassen Sie uns offiziell kooperieren. Na?« Sie scrollte auf ihrem Handy nach dem Kontakt.

»Bap-tist«, wiederholte Materazzi betont langsam, die Nummer interessierte ihn erst mal nicht, wie er mit einer wegwerfenden Handbewegung deutlich machte. Seine Assistentin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Gegen 6.30 Uhr habe ich einen Schrei gehört … wenige Minuten später ist ein Auto hier in Richtung Via Mammole durchgerauscht. Schwarzer Kleinwagen. Kennzeichen habe ich mir nicht gemerkt. Ich meine, falls Sie das interessiert.«

»Was für ein Schrei?«

»Zuerst glaubte ich, es geträumt zu haben. Inzwischen bin ich mir aber sicher, dass es ein Hilfeschrei gewesen sein muss. Von einem Mann. Vielleicht vom Opfer?«

»Genauer: Was schrie der Mann? Einen Namen?«

Isabelle dachte kurz nach. »Nein, es war eher ein Kreischen. Danach blieb alles gespenstisch ruhig.« Sie biss sich auf die Zunge. »Jedenfalls sah ich keine Veranlassung, mich zu kümmern«, fügte sie entschuldigend hinzu. »Wenn ich allerdings geahnt hätte …«

»Gesehen haben Sie nichts von Ihrem Aussichtspunkt?«

Aussichtspunkt – wie albern war das denn! »Nein. Sonst hätte ich es gesagt.«

»Cazzo!«, fluchte der Commandante und tauschte einen Blick mit seiner Assistentin, die keine Miene verzog. Isabelle registrierte ihre markanten Lippen. Wie sie wohl in Zivil aussah? Gewiss konnte sie als Model durchgehen.

»Darf ich auch mal was fragen?«, versuchte Isabelle, den Gesprächsfaden an sich zu reißen. »Ihr Kollege sagte vorhin, es war kein Unfall. Was war denn die Todesursache?«

Materazzi schniefte geräuschvoll in ein Papiertaschentuch, kaute spielerisch an einem Strohhalm, antwortete aber nichts.

»Raubmord mit Todesfolge?«

»Eher nicht.« Der Commandante verdrehte die Augen, warf den Strohhalm weg. »Spazieren Sie am Sonntagmorgen mit Wertsachen in den Stranddünen, Signorina?«

Isabelle biss sich auf die Zunge. Stimmt – ihre Frage war nicht sehr intelligent gewesen. »Wissen Sie schon, wer der Tote ist?«

Er machte der Deutschen ein Zeichen, dass sie mitkommen solle. »Sehen Sie selbst … vielleicht kennen Sie ihn!«

Dachte der Kollege allen Ernstes, dass sie, Isabelle Martin, die erst seit zwei Tagen hier war, jeden x-beliebigen Strandwanderer kannte?

Umständlich staksten sie um das ungepflegte Grundstück herum, penibel achteten sie darauf, nichts anzufassen. Materazzis Leute hatten Isabelles Villengrundstück komplett mit rot-weißem Absperrband abgesperrt und suchten den Boden Stück für Stück nach verräterischen Fußspuren oder verlorenen Gegenständen ab. Isabelle streifte sich einen weißen Schutzoverall über. Sie fragte sich, warum die Männer ausgerechnet hier vorne tätig waren. War der Tote nicht drüben auf der anderen Seite ihres Zaunes gefunden worden? Hinter dem Grundstück im Pinienhain? Vermutete der Commandante allen ­Ernstes, der Täter könnte hier hurtig über den Zaun gesprungen und durch den Garten entfleucht sein, wo er jederzeit beobachtet werden konnte? Das war doch lächerlich. Oder hatte er gar sie im Verdacht, dass sie auf ihrem eigenen Grundstück Spuren verwischen wollte?

Der hintere Maschendrahtzaun wies an einigen Stellen Löcher auf, jedoch passten hier allenfalls Kinderarme durch, Schneide-, Kletter- oder Sprungspuren waren keine zu erkennen. Der Täter hatte ihr Grundstück vermutlich gar nicht betreten. Himmelherrgott, konnten diese SpuSi-Experten denn keine Fußspuren analysieren? Gewiss hatte er sich irgendwo rückwärtig aus dem Staub gemacht. Dorthin, wo er wohl auch hergekommen war. Dort, wo jetzt ein halbes Dutzend Schaulustige standen und Maulaffen feilhielten … wäre die Absperrung dort drüben nicht viel sinnvoller gewesen?

Inzwischen waren sie bei der Leiche angekommen. Isabelle genügte ein kurzer Blick, um festzustellen, dass sie den Mann noch nie gesehen hatte. Dennoch besah sie sich das Opfer genau von allen Seiten mit dem geschulten Blick der Kriminalerin. Claudio Materazzi ließ sie dabei nicht aus den Augen, steckte sich einen neuen Strohhalm in den Mund. Führte der eine ganze Packung mit oder was?

Dem Äußeren nach zu urteilen – blonde Haare, blasser Hauttyp – war das Opfer vermutlich Deutscher oder Österreicher. Jedenfalls kein Einheimischer. Auch kein Slawe. Sportliche Figur, leichter Bauchansatz. Bekleidet war der Mann mit einer kurzen Stoffhose und einem Poloshirt, beides teure Markenware. Die Vene am rechten Unterarm wies einen Einstich auf, die Gesichtszüge waren seltsam verzerrt. Ansonsten auf den ersten Blick keine Gewalteinwirkung. Ein Suizid? Eher nicht.

Immer wieder ein Graus, der Anblick eines gestorbenen Menschen. Aufgewühlt wandte Isabelle sich ab. Ein flaues Gefühl durchdrang ihren Bauchraum, gefolgt von einem Stich im Rücken. Nie würde sie sich daran gewöhnen, und wenn es noch so sehr zu ihrem Beruf dazugehörte. Materazzi konnte sich ein hämisches Grinsen sich verkneifen.

»Ich kenne den Mann nicht. Nie gesehen.«

Indigniert verzog er den Mund. »Sind Sie da sicher?«

»Natürlich. Haben Sie schon seine Identität?«

Jetzt kam seine Antwort schnell. »Schretzmeier. Georg Schretzmeier aus Oberbayern. Ihre Heimat. Klingelt da etwas?«

Sie ging nicht darauf ein. »Sagen Sie, wo genau hat die Tat stattgefunden?«

»Kluge Frage, Sig-no-rina Martini! Sehr scharfsinnig.« Spöttisches Grinsen.

Veräppeln kann ich mich selber, dachte Isabelle verärgert. Was ritt diesen albernen Typen bloß? Gehörte er zu jenen hartgesottenen Patriarchen, die nur männliche Fahnder akzeptierten? Hatte er eine Abneigung gegen Fremde allgemein? Oder stimmte einfach nur die Chemie zwischen ihnen beiden nicht?

Materazzi gab seiner Protokollantin, die in ihrem lindgrünen Overall mit dem pechschwarzen Haarzopf ein bisschen wie ein bildhübsches Marsmädchen aussah, ein aufmunterndes Zeichen. »Den Spuren nach haben Opfer und Täter vorne am Strand in einer kleinen Kuhle gesessen, dort muss dann irgendwas passiert sein«, erklärte sie in einwandfreiem Deutsch.

Blitzschnell überschlug Isabelle die Situation: Das Opfer hatte sich also nach einem möglichen Überrumpelungsangriff noch weitergeschleppt. Das hieß, der Täter hatte von ihm abgelassen. Weil er sicher war, dass sein Opfer keine Chance haben würde? Dass das Opfer sich selbst eine Todesspritze gesetzt haben könnte, schloss Materazzi wie sie anscheinend aus.

»Gift?«

»Was sonst?« Pause. »Weibliche Handschrift, in acht von zehn Fällen.« Der Commandante fixierte sie durchdringend. Isabelle schüttelte es bei seinen Worten. Wie unterirdisch war das denn?

»Haben Sie Erfahrung mit Giftmorden, Signorina?«

Sie musste keine Sekunde überlegen. »Ja. Erst letztes Jahr haben mein deutscher Kollege und ich drüben in Caorle einen Giftmord aufgeklärt. Blauer Eisenhut. So gesehen …« Für einen kurzen Augenblick hatte sie den Anblick der Musikikone Ricci Bianco im Kopf, der damals in seiner Nobelvilla getötet worden war. Die Ermittlungen hatten sich alles andere als einfach gestaltet, nicht zuletzt wegen der sprachlichen Hürden.

»Soso. Signorina haben also Erfahrung mit Gift. Hm … hm.« Jäh begriff Isabelle. Was sie gesagt hatte, konnte sich für Materazzi ja fast so anhören, als ob sie … das wurde ja immer bizarrer.

Jetzt wich er haarscharf ihrem empörten Blick aus. »Signorina, für mich stellt sich die entscheidende Frage: Warum hat er sich hierhergeschleppt, bis er an Ihrem Zaun zusammenbrach? Fast so, als wollte er ausgerechnet zu Ihnen.« Argwohn in seiner Stimme. Was zum Geier sollte das? Unterstellte der Herr Kollege ihr gerade, sie hätte den Toten eben doch gekannt?

»Vermutlich eine Art Reflex.« Isabelle versuchte, so stoisch wie möglich zu bleiben. »Das Mittel war nicht sofort tödlich, und der arme Kerl wollte Hilfe holen, mein Grundstück grenzt nun mal unmittelbar an den Pinienwald an … Oder was ist Ihre Theorie?«

Isabelle machte sich Riesenvorwürfe. Wäre sie bloß etwas aufmerksamer gewesen! Mit etwas Glück hätte sie den Täter vielleicht sogar stellen können.

»Non ho una teoria. Ich halte mich an Fakten. Meine Kollegen werden alles auf den Kopf stellen.« Als Isabelle etwas erwidern wollte, schob er nach: »Sie können bei der Durchsuchung natürlich dabei sein … wenn Sie wollen.«

Na danke! »Ich genieße lieber draußen mein Frühstück … falls das erlaubt ist.«

»Allora. Wo haben Sie Ihre Schuhe?«

»Im Schuhschrank. Wieso?«

»Weil wir Fußspuren abzugleichen haben. Sie bekommen sie wieder, keine Sorge.«

»Okay.«

»Meine Leute haben drei relevante Spuren am Tatort beziehungsweise am Fundort extrahiert. Sportschuhprofile. Von drei verschiedenen Personen. Was halten Sie davon, Frau Kollegin?«

»Von dreien? Das ist in der Tat seltsam.«

»Si, si. Molto seltsam.« Materazzi zog eine Augenbraue hoch.

Isabelle führte den Italiener in die Diele, wo sie in einem Regal fünf Paar Schuhe verstaut hatte. Mit zwei Fingern steckte Materazzi alles in eine große Plastiktüte mit der Aufschrift ›Forza Torino‹ und schwarz-weißem Rautenmuster. Ein Juve-Fan, dieser schneidige Adria-Wallander.

Isabelle war ungehalten. Glaubte dieser Schwachkopf tatsächlich, sie wäre zu blöd gewesen, ihre Tatortschuhe rechtzeitig verschwinden zu lassen … falls sie denn wirklich die Täterin gewesen wäre, was Materazzi offenbar nicht ausschloss?

Geschlagene anderthalb Stunden später: Isabelle hatte sich inzwischen eine Hängematte zwischen zwei Bäume gespannt und hörte unter freiem Himmel ihre Playlist rauf und runter, ohne jedoch an einem einzigen Song wirklich Gefallen zu finden. Immerhin wehte jetzt ein leichtes Lüftchen, am Himmel zeigten sich einige Haufenwolken. Eine Gewittervorankündigung?

Nach und nach verließen die Beamten ihr Grundstück wieder. Claudio Materazzi, jetzt ohne Begleiterin, trat erneut an Isabelle heran, tippte sie an.

»Fertig?«, erkundigte sie sich gespielt teilnahmslos.

»Für heute ja«, kam es kühl zurück, »aber eine klitzekleine Frage hätte ich noch.« Umständlich zwirbelte der Italiener ein bunt bedrucktes Faltblatt auf. »Was sagt Ihnen dieses Leporello? Kennen Sie das Teil?«

Isabelle faltete den DIN-A5-Hochglanzprospekt auf: ein Reklameblättchen mit Luxusferienimmobilien. Gebrauchte Wohnungen, aber auch Neubauten in gehobener Ausstattung. Sie überflog es kurz … und wusste sofort, dass sie das Ding noch nie gesehen hatte.

»Nie gesehen.« Sie zuckte die Schultern. »Woher haben Sie es? Was ist damit?«

Materazzi schürzte die Lippen, als glaubte er kein Wort. »Aus Ihrem Wohnzimmerschrank. Sonderbar, nicht?«

Was sollte daran sonderbar sein? »Aus dem Schrank meiner Tante.«

Gelangweiltes Augenrollen. »Sind Sie wirklich sicher, dass Sie das gute Stück nicht kennen?«

»Absolut. Weshalb sollte ich ein Haus kaufen oder mieten?«

»Si si … ah, wes-halb?«

Claudio Materazzi wiederholte die Worte aufreizend langsam, dabei betonte er jede Silbe. »Drollig, dass ausgerechnet unser Toter darauf abgebildet ist. Finden Sie nicht? Sehen Sie hier: ›Impressum‹ … Ich würde schon kess behaupten wollen, dass er das ist.«