Pizza, Pasta, Mord! - Hermann Ehmann - E-Book

Pizza, Pasta, Mord! E-Book

Hermann Ehmann

4,3

Beschreibung

Hochsaison an der oberen Adria. Die Hotspots Jesolo, Caorle und Bibione platzen aus allen Nähten - doch mitten ins perfekte Ferienglück schlägt die Schreckensnachricht wie eine Bombe ein: Der in die Jahre gekommene Münchener Poptitan und Privatier Ricci Bianco liegt leblos in seiner Nobelvilla am Strand von Duna Verde. Ein Arzt geht von Herzversagen aus, die Polizia sieht keinen Grund für Ermittlungen. Doch Biancos exzentrische italienische Personal Trainerin glaubt nicht an einen natürlichen Tod und begibt sich selbst in große Gefahr …

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Tessa003

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Ein Adria Krimi, der mich von der ersten Seite gefesselt hat. Der deutsche Poptitan Ricco Bianco ist tot. Der Arzt bescheinigt einen natürlichen Tod, die Polizei ermittelt daher nicht. Aber die Personal Trainerin von Bianco glaubt das nicht. Zufällig trifft sie auf zwei deutsche Polizisten die huer Urlaub machen. Sie überzeugt die beiden doch nochmal nachzuprüfen ob alles seine Richtigkeit hat. Bianco wurde tatsächlich ermordet. Nun ermitteln die Urlauber so richtug los. Ich fand das Buch für einen Nachmittag auf der Gartenliege wunderbar. Leichte Kost, die Seiten flogen dahin.
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Hermann Ehmann

Pizza, Pasta, Mord!

Italien-Krimi

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Ray Tango / istockphoto.com

ISBN 978-3-8392-7618-1

Zitate

»Hier, wo das Meer funkelt und der Wind stark weht,

auf einer alten Terrasse …«

Lucio Dalla (1943 – 2012), italienische Sänger-Ikone

*

»Wenn ein schönes Lied genügen würde,

um Liebe regnen zu lassen,

könnte man es eine Million Mal singen.«

Eros Ramazzotti, italienischer Poptitan

1

Duna Verde, ein Strandabschnitt zwischen Caorle und Lido di Jesolo … eine Traumvilla mit großflächigem Gartengrundstück um die Mittagszeit

Die letzten Tage waren unerträglich heiß gewesen. Kein Lüftchen wehte. Abkühlung war weit und breit nicht in Sicht. Die digitale Temperatursäule auf dem Rio Terrà delle Botthege in Caorle-Centro zeigte 38 Grad Celsius. Ungewöhnlich für Ende Juni.

Beherzt schritt Carina Moretti über den mit Zypressen, Lavendel und Oleander bestandenen, leicht verdorrten Frühsommerrasen der Nobelresidenz unweit des stark frequentierten Spiaggia di Ponente mit seinen Schwimmplattformen, auf denen sich zahllose Badegäste, vor allem Deutsche, Italiener und Österreicher unterschiedlichen Alters, amüsierten. Wie immer näherte sich die schwarzhaarige Schönheit von hinten der hortensienumstandenen Terrassentür des Anwesens. Die rassige Fitnesstrainerin des ambulanten Gesundheitsdienstes Servizio infermieristico ambulatoriale Vita Cura klopfte an die bodentiefe Fensterscheibe der mediterranen Villa.

»Ciao, Ricci! Ich bin’s, Carina … Physio!« Sie pochte erneut, spähte durch die im Sonnenlicht glitzernde Fensterscheibe. Gespenstische Nachmittagsruhe lag über dem Grundstück, das durch eine gepflegte, zweieinhalb Meter hohe Thujenhecke vor neugierigen Blicken geschützt war. Lediglich einzelne Weißkopfmöwen, die sich aufs Land verirrt hatten, durchstießen mit rhythmischem Keckern die mittägliche Stille.

Nanu, warum macht er denn nicht auf?, wunderte sie sich. Normalerweise öffnete er doch immer sofort. War er ausgegangen? Kaum. Hoffentlich war da alles in Ordnung!

Sie ging zu ihrem weißen Smart mit der Healthcare-Beschriftung zurück und suchte im Handschuhfach nach dem Haustürschlüssel. In einer Ledermappe lagerten, fein säuberlich alphabetisch sortiert, die Wohnungsschlüssel aller Klienten. Einige waren nach Schlaganfällen oder Operationen nicht der Lage, ihr Bett zu verlassen, geschweige denn selbst zu öffnen. Bei Ricci Bianco war das anders. Der Ex-Kultsänger – inzwischen Privatier – war nach seiner schweren Hüftoperation vor vier Wochen schon wieder halbwegs auf dem Damm. Allerdings musste er sich noch schonen und täglich zu beschwerlichen Muskelaufbauübungen zwingen. Wegen verschiedener Teppich-Stolperfallen bewegte er sich im Haus nur mit Gehhilfen. Er benötigte Spritzen zur Thromboseprophylaxe sowie ein Medikament gegen Multiple Sklerose; letztere hatte sich nach der mehrstündigen Narkose verschlechtert. Zudem wies er seit der OP kleinere Erinnerungslücken auf, worunter er am meisten litt. Laut Auskunft des Chefarztes sollten diese jedoch vorübergehender Natur sein. Für ihn, der noch vor wenigen Jahren auf den angesagtesten Mittelmeer-Freiluftbühnen vor Tausenden kreischender Fans aufgetreten war und die Stimmung zum Kochen gebracht hatte, ein No-Go. Äußerlich nahm er es mit Humor, er scherzte wie eh und je, flirtete sogar mit ihr. Aber in ihm brodelte es. Carina wusste Bescheid, die beiden waren inzwischen recht vertraut miteinander.

Ricci Bianco lebte allein in der Strandvilla. Die Einsamkeit machte ihm schwer zu schaffen, das wusste sie. Familie hatte der 59-Jährige keine. Besuch bekam er so gut wie nie. Schon gar nicht aus München, seiner eigentlichen Heimat. Die Adria-Nobelresidenz, die er vor 20 Jahren auf dem Höhepunkt seiner Sängerkarriere gekauft und extravagant nach seinen Vorstellungen umgebaut hatte, entpuppte sich zunehmend als goldener Käfig. Künstlerschicksal?

Carina steckte den Schlüssel in den Zylinder, drehte ihn leicht nach links. Die mit stabilen Holzverstrebungen gesicherte Haustüre sprang auf. Gewohnheitsgemäß streifte sie ihre hellbraunen Sneakers ab und schritt leichtfüßig über die kühlen Marmorfliesen im Eingangsbereich. Süßlicher Blumenduft und abgestandene, stickige Luft drangen ihr aus der Diele entgegen. Alles wirkte vertraut. Seit etwa einem halben Jahr betreute sie Ricci als Personal Trainerin, sie bildeten ein eingespieltes Team.

Die 25-Jährige stellte ihre Tasche auf den Schuhschrank, prüfte im Spiegel den Sitz ihrer hochgesteckten Frisur. Alles bestens. Sie blies sich ein paar vorwitzige Locken aus dem Gesicht und schaltete die Klimaanlage ein. Was für eine Affenhitze! Ihr Blick fiel auf den Kalenderspruch neben dem Schlüsselbrett, über den sie immer wieder schmunzeln musste: »Ein Mann ohne Frau ist ledig. Ein Mann mit Frau erledigt.« Ricci hatte Humor. Eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen.

»Huhu!? Carina hier. Wo bist du, Ricci? … Ist alles okay? Training! Avanti!«

Nichts. Sie trat ins Wohnzimmer, aus dem TV-Stimmen drangen. Ah, da war er ja: Ricci lümmelte leicht schräg im Sessel der sündteuren Markenpolstergarnitur, im Fernsehen lief die Zeichentrickserie Käpt’n Balu auf Italienisch – seine aktuelle Lieblingssendung. Im Innersten seines Herzens war er ein Kind geblieben, wie so viele Schöngeister. Ein sympathischer Zug, fand sie.

»Da bist du ja. Alles klar?« Das klang erleichtert, aber auch ein wenig vorwurfsvoll.

Sie stand in seinem Rücken. Wieso antwortete er nicht? Wie konnte ein Erwachsener nur derart in ein Kinderprogramm vertieft sein?

Seitlich trat sie von der Fensterfront an ihren Klienten heran, um ihn nicht zu erschrecken, vermutlich war er kurz eingenickt. »Warum machst du denn nicht auf? Ich habe dir doch vormittags gesagt, dass ich noch mal … Ricci? Passt alles?«

Schwungvoll streckte sie zur Begrüßung die rechte Hand aus, bereit, ihren Schützling hochzuziehen. In diesem Moment bekam sie den Schreck ihres Lebens. Sie erstarrte mitten in der Bewegung, eiskalt lief es ihr den Rücken runter. Nichts passte. Gar nichts. Seitlich neben Riccis Mund hatte sich eine mehrere Zentimeter lange Speichelspur gebildet. Der Blick des Mannes wirkte seltsam starr, seine Arme hingen schlaff herab wie der Perpendikel einer lange stillstehenden Uhr. Er konnte ihre Hand nicht nehmen, denn er atmete nicht mehr. Ricci Bianco war tot.

 

Kurz nach 17 Uhr – ein paar 100 Meter weiter in den Sanddünen

Autsch! – Isabelle Martin schreckte hoch. Was war das gewesen? Ein leichter stechender Schmerz am Hinterkopf. Sie tastete nach der Stelle, mit einem Mal hatte sie eine weiß-blaue Frisbeescheibe mit dem FC Bayern-Logo und dem schwarzen 60er-Löwen in der Hand. Den ganzen Nachmittag hatte sie unter ihrem Sonnenschirm gelegen und in einem Zug den Miss Marple-Klassiker 16:50 ab Paddington ihrer Lieblingsautorin Agatha Christie verschlungen. Satte acht Euro Tagesgebühr wollte der unverschämt gut aussehende Strandwächter für den Liegestuhl im bewachten Bereich haben, dagegen war die Taschenbuch-Extraausgabe mit fünf Euro ein Schnäppchen gewesen. Ein stolzer Preis für eine wackelige Liege, wie sie fand. Aber alternativlos, wenn man nicht von aufdringlichen Papagalli von der Seite angequatscht werden wollte. Irgendwann war sie eingedöst, trotz der Vielzahl plärrender Kinder um sie herum. Jetzt hatte sie das Hartplastikteil am Kopf getroffen und unsanft geweckt.

»Sorry«, sagte eine Männerstimme links neben ihr, sonderlich bedauernd klang es nicht, eher beiläufig. »Alles im grünen Bereich, Lady?«

Lady – ging’s noch? Die Kommissarin der KPI Chiemgau-Traun blinzelte verschlafen und wandte sich um. Die Stimme gehörte einem hoch aufgeschossenen blonden Typen. Schlanke, durchtrainierte Figur, kaum älter als sie. Sie schätzte ihn auf Mitte 30. Strohblond mit leichtem Sonnenbrand an Schultern und im Gesicht. Vermutlich Deutscher.

»Naja«, hörte sie sich noch immer leicht benommen sagen, »zumindest bin ich jetzt wach. Immerhin.«

»Sorry.« Er verzog das Gesicht zu einem breiten, leicht vorwitzigen Grinsen, sodass sie seine blitzblanke vordere Zahnreihe sehen konnte. Lausbubenhaft, das traf es. Nicht unnett. Zwei Sekunden später war er schon wieder weg, schleuderte die Scheibe wenige Meter entfernt mit einer knackig-kurvigen, braun gebrannten Italo-Beauty im schneeweißen Bikini hin und her. Die beiden kicherten albern wie frisch Verliebte, jedoch stand die Sprachbarriere unüberhörbar zwischen ihnen.

Isabelle setzte sich auf, schüttelte ihr hellbrünettes Haar, das durch die Salzluft total verfilzt war, und massierte die touchierte Kopfpartie. Strecken. Seit drei Tagen machte sie hier Anti-Burn-out-Ferien. Sie allein. Entspannung pur. Ein leichtes Hungergefühl meldete sich, zum Abendessen war es jedoch noch zu früh. Das Selbstbedienungsbüfett in ihrem Dreisternehotel Rafaele öffnete erst um 18.30 Uhr, man konnte die Uhr danach stellen. Eigentlich war es mehr eine Pension. Isabelle kannte die Eigentümer seit vielen Jahren – ein gemütliches Ehepaar um die 60 mit ihren Zwillingstöchtern Chiara und Lara, die etwa so alt wie sie waren und eines Tages das Lebenswerk ihrer Eltern fortführen würden. Als Kinder hatte sie oft miteinander gespielt, später hatten sie Caorle und die Nachbarorte unsicher gemacht.

Bis zum Abendessen könnte ich einen kleinen Shoppingbummel durch Caorle-Downtown oder Lido di Jesolo machen oder mir in einem hübschen Straßencafé einen gepflegten Nachmittagsespresso genehmigen und einen flotten Sonnenhut kaufen, wie sie hier gerade Mode sind, überlegte sie. Zum ersten Mal war sie in den 1990er-Jahren mit Dad hier gewesen, danach immer wieder. In den letzten Jahren hatte sie ihre Sommerfreizeit stets an anderen Touri-Hotspots verbracht. Wieso eigentlich? Sie wusste es selber nicht so genau. Nirgendwo war ihr das Ambiente so vertraut wie hier. Alles fühlte sich nach Homecoming an. Die ungezwungene Atmosphäre im Rafaele behagte ihr. Schon immer. Die Entscheidung, ganz allein hierher zu kommen, hatte sie lange abgewogen. Doch sie war goldrichtig gewesen – von der vorwitzigen Frisbeescheibe mal abgesehen. Ja, es tat gut, mal wieder jenes unverwechselbare Adria-Flair in sich aufzusaugen. Das meiste schien völlig unverändert, jedoch hatte die Stadt einwohner- und lautstärkemäßig enorm zugelegt. Vom ausufernden Verkehr gar nicht zu reden. Im Zeitlupentempo stand sie auf, zog sich an.

Das letzte Jahr hatte es in sich gehabt. Zuerst war bei Dad kurz vor seinem 70. Geburtstag ein walnussgroßer Gehirntumor festgestellt worden, der sich gottlob als gutartig herausgestellt hatte und in einer siebenstündigen Operation weitgehend folgenlos entfernt werden konnte – allerdings hatte er anschließend Hilfe im Haushalt gebraucht. Immer war er für sie da gewesen, seitdem ihre Mutter, die wie sie Polizistin gewesen war, vor 23 Jahren bei einem Einsatz ums Leben gekommen war. Damals war sie noch ein Kind und sie lebten an der französischen Atlantikküste. Danach war Dad mit ihr an den Chiemsee gezogen, wo sie bis vor Kurzem zusammen in einem Dreigenerationenhaushalt mit den Großeltern väterlicherseits wohnten. Seit zwei Jahren hatte sie ein eigenes kleines Mietapartment im grenznahen Freilassing vor den Toren Salzburgs.

Auch im Job lief es zuletzt alles andere als glatt. Mehr als einmal hatte sie im vergangenen halben Jahr ihren einstigen Traumberuf verflucht, seit bei einem nächtlichen Einsatz im Rotlichtmilieu ein Gangster auf sie gefeuert hatte und sie wochenlang dienstunfähig geschrieben war. Gottlob hatte die Kugel ihren linken Oberschenkel nur gestreift, und das Bein war rasch wieder voll belastbar – dennoch war eine deutlich sichtbare Narbe geblieben. Viel schlimmer aber war die unsichtbare seelische Narbe. Immer wieder litt sie seither unter Panikattacken, nachts lag sie oft stundenlag wach und grübelte. In den letzten Wochen war sie mehrfach drauf und dran gewesen, den Dienst zu quittieren. Wie gut tat es da, jetzt für ein paar Tage frei zu sein! Laufen, flanieren, schwimmen, gut essen, ausspannen. Doch Pustekuchen! Das Kopfkarussell war mitgereist, Loslassen fiel immer noch schwer. Immerhin waren die Angstanfälle etwas seltener geworden. Ein flaues Gefühl in der Magengegend begleitete sie dennoch auf Schritt und Tritt. Wie oft hatte sie sich in letzter Zeit gefragt, ob sie als Ermittlerin richtig war … und keine endgültige Antwort gefunden. Einer Miss Marple oder einem Hercule Poirot wäre dieser völlig überflüssige Streifschuss nie passiert. Natürlich nicht. In solche Grenzsituationen begaben die sich erst gar nicht. Von der windigen Frisbeescheibe mal ganz abgesehen.

Bedächtig klappte sie Liegestuhl und Schirm zusammen, warf sich die Badetasche über. Was für Mördertemperaturen! Die Sonne knallte herunter, die digitale Beach-Anzeige bei Bagni Bellavista zeigte noch immer erbarmungslose 36 Grad. Der puderzuckerfeine goldgelbe Sand brannte ihr brühheiß auf den Fußsohlen. Für heute reichte es mit Strand. Um sie herum wuselte lautstark eine Kindergruppe, die mit ihren Riesenschaufeln ein beeindruckendes Sandtunnelsystem gebaut hatte. Jetzt hatten sie Sorge, sie könnte es zertreten. In einem Kauderwelsch aus Bayerisch, Österreichisch, Slowenisch und Italienisch plärrten sie durcheinander, Motto: der Lauteste hat recht. Isabelle Martin blinzelte partnerschaftlich und machte einen Bogen um die internationale Sandburg, die Bautruppe wirkte erleichtert.

»Alles nur psycho«, hatte ihr Hausarzt abgewiegelt, als er sie krankgeschrieben hatte. »Fahren Sie Ihr System runter, machen Sie Urlaub an einem netten Ort … andernfalls brennen Sie aus. Gegen die Unruhe und die Verstimmung schreibe ich Ihnen was Pflanzliches auf. Wenn es nichts bringt, hilft nur ein hartes Antidepressivum. Am besten wäre freilich eine Reha in einer Spezialklinik.« Der hatte leicht reden. Die Baldrian-Hopfen-Johanniskrautmischung half null, doch Sanatorium-Atmosphäre war das Letzte, worauf sie Lust hatte. Eine Psychoklinik für sie? Sie war doch nicht bekloppt! Oder? Seit den ekligen Panikanfällen war sie sich da nicht mehr so sicher. Früh-Burn-out mit Anfang 30, na toll! Wenigstens ließ es sich hier am Meer gut aushalten, wenngleich sich die Stresssymptome einfach nicht abschütteln ließen. Vermutlich eine Zeitfrage.

Die temperamentvolle Italienerin hatte sich inzwischen mit einer impulsiven Umarmung von ihrem Frisbeepartner verabschiedet und packte wenige Meter neben ihr fieberhaft zusammen. Der Blonde stand unschlüssig da, wie bestellt und nicht abgeholt. Isabelle stutzte. Hoffentlich kommt der nicht auf die Idee, mich … oh nein, bitte nicht! Zielsicher schielte er zu ihr herüber. Sie starrte angestrengt auf den Sandboden, als suche sie dort einen Ring oder etwas Ähnliches.

»Eine Runde Scheibenwurf, bella Signorina? … Oder Speedminton?«

Hat sich was mit »bella Signorina«! – Isabelle kämpfte kurz mit sich. Unter normalen Umständen wäre der drahtig-schlaksige Kerl durchaus ihr Typ gewesen, andererseits hatte der gerade noch mit der Italienerin geturtelt. Weil die jetzt ging, wollte er mit ihr … nein, so billig wollte sie sich dann doch nicht hergeben, die schnelle Strandnummer war mit ihr nicht zu machen. Was glaubte der eigentlich?

Sie zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln. »Vielleicht ein anderes Mal«, gab sie leicht spitz, aber dennoch eine Spur kokett zurück, »für heute habe ich genug Bräune aufgelegt. Finito spiaggia.«

»Schade.« Die Klappe fiel ihm runter, offenbar bekam er selten eine Abfuhr. »Nochmals Entschuldigung für vorhin übrigens«, schob er deutlich leiser nach. Zögerlich drehte er sich um, stapfte durch den Sand wie ein begossener Pudel.

»Wird schon kein bleibender Schaden zurückbleiben«, flachste Isabelle. Sie erschrak fast ein wenig über ihre Schlagfertigkeit. Einen kurzen Moment fühlte sie sich versucht, ihn zurückzurufen, entschied sich aber dagegen. Aktuell war einfach nicht der richtige Zeitpunkt für eine Romanze, sie hatte genug mit sich selber zu tun. In diesem Urlaub wollte sie sich über einiges klar werden, das ging besser solo.

War sie wirklich zu sensibel für ihren Job? Gar allgemein zu dünnhäutig? Weshalb war sie überhaupt Fahnderin geworden? Aus Abenteuerlust? Gerechtigkeitsfanatismus? Oder hatte sie unbewusst das Werk ihrer geliebten Mom fortsetzen wollen, die sie so früh verloren hatte? Jedenfalls hätte sie es nie für möglich gehalten, dass gerade sie eines Tages Opfer von Kollegenmobbing werden würde – oft hatte sie davon gehört oder darüber gelesen. Aber dass es ihr selber passieren würde, das war ein ganz schlechter Witz. Gerade bei Nachteinsätzen und Razzien in Nachtklubs betrachteten einige ältere Kollegen die aparte Halbfranzösin als Freiwild. Mal hatte sie eine Hand an der Hüfte, mal eine am Po, die sie scheinbar zufällig berührten, einmal sogar von einem verheirateten Kollegen, dessen Frau sie kannte. Ihr Chef, der kurz vor seiner Pensionierung kein Fass mehr aufmachen wollte, hatte alles heruntergespielt. Irgendwann hatte ihr Organismus rebelliert, und sie hatte sich nicht mehr anders zu helfen gewusst, als sich dienstunfähig zu melden. Als sie danach wieder mal auf einem Nachteinsatz war, war die Schussverletzung passiert … sicher auch, weil sie nicht voll bei der Sache gewesen war. Einer hochkonzentrierten Isabelle wäre das nie und nimmer passiert. Damit hatte sie zwar einen Freifahrtschein für eine längere Krankschreibung, doch sie wusste nur zu gut, dass dies keine Dauerlösung sein konnte. Anhaltende Dienstunfähigkeit in ihrem Alter … Wo würde das enden?

Inzwischen hatte sie die begrünte Sanddüne Bagni Bellavista, die Pagode bei Bagni Onda Azzurra sowie den Caorle-typischen Dünen-Schutzwall hinter sich gelassen und die Via Veglia erreicht – ein niedliches Verbindungsgässchen mit malerischen Limonenbäumen und mediterranen Oleandersträuchern, die einen lieblichen Duft verströmten; von hier zweigten mehrere kleinere Nebenwege ab, die alle zur zentralen Rundstraße hinstrebten. Dort dominierte ein Gemisch aus Öl- und Benzingestank. Auf der Via Portorose kam sie an beeindruckenden Sommerresidenzen mit ansehnlich gepflegten Gärten vorbei, die fein säuberlich aneinandergereiht in Reih und Glied um die Wette glänzten. Zikaden zirpten, Blindschleichen verkrochen sich im Gestrüpp, als Isabelle sich näherte. Vor der Nummer 24 lehnte eine junge Frau mit schulterlangen pechschwarzen Haaren an der Mauer. Sie weinte.

»Kann ich helfen?« Isabelle blieb stehen, musterte das Mädchen. Sie schätzte sie auf Anfang bis Mitte 20, eine schlanke Gestalt im weißen Crop Top mit der Aufschrift »Vita cura«und eng sitzender kurzer Jeanshose. Dazu ein rundes Gesicht mit vollen Lippen. Flott-feminin, aber nicht billig. Wie viele junge Einheimische hier.

»È … è stato ucciso«, schluchzte sie aufgelöst. »Lo so esattamente. Ucciso, sì!«

»Wie bitte?« Isabelle stutzte, legte ihre Hand tröstend auf die Schulter des Mädchens. Diese wechselte sofort ins Deutsche. »Umgebracht wurde er. Jawohl. Ich … ich weiß es genau.«

»Von wem reden Sie, um Gottes willen? Wer wurde umgebracht? Von wem? Und wo?« Sie fixierte ihr Gegenüber scharf. War die junge Frau eine Psychopathin? Eher nicht. Die üppigen Jasminhecken im Hintergrund verbreiteten einen betörenden Duft. Oder war das das Parfüm der Schwarzhaarigen?

»Il mio paziente. Mein Patient. Ricci Bianco. Der Sänger.« Sie zeigte auf die Villa hinter sich. »In seinem eigenen Haus. Hier … hinter mir.«

Isabelle verstand nur Bahnhof. Doch nicht der Ricci Bianco? Sie hatte es nicht so mit der Schlagerpopszene, aber den Namen kannte sie: Bianco war ein deutscher Schlagertitan mit Kultstatus, um den es die letzten Jahre ruhiger geworden war, nachdem er eine gefühlte Ewigkeit durch die angesagtesten Urlaubsmetropolen getingelt war und überall für Partystimmung gesorgt hatte – nicht jedermanns Geschmack, jedenfalls nicht ihrer. Sie stand eher auf gediegeneren Pop vom Schlage eines Simply red, Lionel Richie oder Bruce Springsteen. War in der Regenbogenpresse nicht auch kolportiert worden, dass Bianco ein Alkoholproblem habe, seit sein Stern am Untergehen war? Dass der Promi-Privatier sich ausgerechnet hier zwischen Jesolo und Caorle niedergelassen haben sollte, war ihr neu. »Nochmals ganz langsam zum Mitschreiben: Wer sind Sie? Was genau ist passiert?«

»Ich heiße Carina, ich bin … war seine Fitnessbetreuerin«, erklärte die junge Frau, noch immer schluchzend. »Ich komme vom Healthcare-Service, wollteihm seine tägliche Nachmittagsspritze geben und Gymnastik mit ihm machen. Aber … er war mausetot, als ich …«

Isabelle schluckte. Das hörte sich verdammt nach Arbeit an. Ausgerechnet. »Sie sprechen sehr gut Deutsch.«

»Grazie.«

»Wollen wir uns nicht setzen?« Isabelle deutete auf eine ein paar Meter entfernte Steinbank und stellte sich vor. Als sie ihren Beruf nannte, fielen der anderen die Augen förmlich aus dem Gesicht.

»Squadra Omicidi? Mordkommission? Hui!« Das Schluchzen endete abrupt. »Dann … dann bin ich bei Ihnen ja genau richtig. Das nenne ich einen Glückszufall.«

»Kommt darauf an.« Isabelles Begeisterung hielt sich in Grenzen, sich ausgerechnet in ihrem dringend benötigten, lange geplanten Wellnessurlaub in einen undurchsichtigen Kriminalfall verwickeln zu lassen. Falls überhaupt, so war dies Sache der italienischen Kollegen. Andererseits tat ihr die junge Frau leid, sie wirkte völlig aufgelöst.

»Haben Sie die Polizia di Stato alarmiert? Oder einen Arzt?«

»Certo, certo.« Sie blies Luft aus, wischte sich unsicher über die Stirn. »Ma … aber das ist alles nicht so einfach.« Erneutes Schluchzen. »Ich bin ja nicht wirklich sicher, ob …«, ruderte sie zurück, »aber als ich vorhin die Villa betrat, lag er leblos im Wohnzimmer. Alles sollte ganz normal aussehen, aber das war es nicht. Ich kenne mich aus, denn ich …«, sie schluckte, »… ich habe ihn doch jeden Tag besucht.«

»Hm«, machte Isabelle, »hatte er irgendwelche sichtbaren Verletzungen?«

»Nichts Äußerliches. Sospetto veleno. Ich vermute Gift. Oder etwas Ähnliches.«

Puh! Die Ermittlerin schluckte. Damit hatte sie bislang null Erfahrung. »Wie alt war denn Herr Bianco?« Eher eine Verlegenheitsfrage.

»Ancora sessant’anni. Knapp 60. Ricci war lebensfroh. Vormittags habe ich ihn noch versorgt, da gab es nicht die geringsten Anzeichen, alle Werte waren hervorragend. Aber am Nachmittag war er mausetot, das passt nicht zusammen.«

Das war in der Tat ungewöhnlich. »Wann genau haben Sie ihn gefunden?«

Sie drehte schwungvoll ihre modische Apple-Watch. »Vor knapp drei Stunden … ungefähr.« Immerhin schluchzte sie nicht mehr.

Die Kommissarin schwieg. Menschen verstarben schon mal ganz unerwartet, ohne dass es vorher Anzeichen gegeben haben musste. Andererseits …

»Drogen? Medikamentenmissbrauch?«

»Dove stai pensando? Wo denken Sie hin? Jedenfalls nichts Hartes … das ist lange her.«

»Irgendwelche Krankheiten?«

»Nichts Tödliches.« Zögern. »Naja, vor ein paar Jahren hatte er eine attacco di cuore, einen leichten Herzinfarkt. Aber davon ist fast nichts zurückgeblieben. Er war absolut auf dem aufsteigenden Ast.«

Isabelle überlegte fieberhaft. »Hat der Arzt denn keine Leichenschau vorgenommen?«

»Dottore Vanni? In realtà già. Schon. Für ihn war es ganz normales Herzversagen. Wie 100 andere. Doch was heißt das schon?«

»Hm. Haben Sie Ihre Zweifel geäußert?«

»Sì, naturalmente. Aber er hat mich ausgelacht.« Sie schob die Unterlippe nach vorne wie ein bockiges Kleinkind, schüttelte ihr dichtes Haar vor und zurück. ›Bambina, mischen Sie sich nicht in meine Arbeit ein!‹, hat er gesagt. Quello scioccio. Dieser … Schnösel. Sagt man ›Schnösel‹?«

Die Fahnderin ging nicht darauf ein. »Hat er denn Ihrer Meinung nach geschlampt?«

Sie lachte gequält. »Was heißt ›geschlampt‹? Era stressato. Er war im Stress, musste sofort wieder weiter. Zweimal klingelte während der Begutachtung sein Telefon. Und die Polizia will jetzt nicht ermitteln, die medica di Polizia hat sich ihrem Kollegen angeschlossen. Finito. Aus die Maus. Für die war die Sache klar. Causa naturale di infarto.«

Isabelle hielt den Kopf schief. Schon oft hatte sie es mit skurrilen Aufschneidern zu tun gehabt, die behaupteten, sie wüssten von Anschlagsplänen auf einen Chiemsee-Vergnügungsdampfer oder das Traunsteiner Sommerfest … und jedes Mal hatte es sich als Luftnummer herausgestellt. Nur: Wie eine Profilneurotikerin sah diese junge Frau nicht aus. Vielmehr vertrauenswürdig, vielleicht war sie für ihren Beruf eine Spur zu leger gekleidet, doch das konnte auch an den heißen Temperaturen oder ihrem jugendlichen Alter liegen …

»Wo ist der Tote jetzt?«, hakte sie nach. »Gibt es keine Angehörigen?«

»Er wurde vorhin von einem Bestattungsunternehmen abgeholt. Sie bringen ihn nach Germania. Seine Managerin hat das direkt telefonisch veranlasst, ich konnte mich kaum richtig verabschieden. Die Beisetzung soll in München stattfinden, dort hat er lange gelebt. Das war immer sein Wunsch gewesen. Angehörige hat er meines Wissens keine.«

»Verstehe. Tja …«

Die Kommissarin zerbrach sich angestrengt den Kopf, wie sie weiter vorgehen sollte. Dass sie ihren geplanten Stadtbummel knicken konnte, war ihr klar. Der logischste Schritt war fraglos, nochmals mit den italienischen Polizeikollegen Kontakt aufzunehmen. Vielleicht …

»Bitte, wer soll in München beigesetzt werden?«, vernahm sie eine kräftige Stimme hinter ihnen. Beide Frauen fuhren herum … und staunten nicht schlecht. Breitbeinig baute sich der gut gelaunte Frisbee-Typ von vorhin neben der Steinbank auf, sein Grinsen war einem ernsten Blick gewichen. Sie hatten ihn gar nicht kommen hören. Isabelle rollte die Augen – na bravo, der hatte gerade noch gefehlt! War der ihr etwa nachgegangen?

»Worum geht es?«, erkundigte er sich eine Spur zu aufdringlich, »eventuell kann ich helfen!«

»Nee, alles gut«, log Isabelle und wandte sich demonstrativ ab. Carina warf ihr einen bittenden Blick zu.

Der smarte Blondschopf zögerte, blieb aber hartnäckig. »Ich will mich gewiss nicht aufdrängen, aber anscheinend ist etwas vorgefallen …« Er zögerte. Jetzt klang es eher besorgt. »Darf ich mich kurz vorstellen: Siegfried Schwaiger, Kommissar bei der KPI Fünfseenland in Bayern. Meinen Ausweis habe ich leider nicht greifbar.« Er zeigte scherzhaft auf sein Beach-Outfit. »Also – was ist los?«

Bei Isabelle fiel die Klappe. Ein Polizeikollege. Auch das noch! Das hätte sie vorhin am Strand am allerwenigsten vermutet. Konnte sie denn nicht mal hier …? Falls es denn überhaupt stimmte und dieser Typ kein Hochstapler war! Unaufgefordert quetschte Schwaiger sich neben sie, dabei war die Bank eigentlich nur für zwei Personen ausgelegt. Carina berichtete kurz, was vorgefallen war. Isabelle stellte sich ebenfalls vor.

»Klingt ja nach einem hoch interessanten Urlaubsfall … und das noch mit einer so reizenden Kollegin.« Er blinzelte Isabelle keck zu, die instinktiv weiterrutschte, sie saß jetzt fast auf Carinas Schoß. »Und ich befürchtete schon, ich würde mich hier langweilen.«

Die Kommissarin rollte die Augen. Sie stand auf. Hat sich was mit »reizender Kollegin« – war das ironisch gemeint? Hölzerne Anmache? Oder war sie schon wieder mimosenhaft drauf?

»Keine Sorge, wir kümmern uns.« Jetzt reichte es aber. Flirtete der hyperaktive Herr Kollege allen Ernstes mit der Betreuerin des toten Künstlers?

Isabelle Martin stupste Carina an und flüsterte: »Wir müssen nicht mit ihm zusammen …«

»Sì, sicuramente. Doch, unbedingt!« Die Italienerin schien heilfroh, dass Schwaiger – im Gegensatz zu Isabelle – auch körpersprachlich lebhaft Interesse signalisierte. Die Kommissarin zuckte resigniert die Schultern.

»Was sagen die italienischen Kollegen?«, bohrte er nach. »Soll ich mich nochmals mit denen kurzschließen?« Isabelle wackelte mit dem Kopf. Großspuriger ging es kaum.

»Das ist ja genau das Problem. Sie weigern sich zu ermitteln.« Carina stand jetzt ebenfalls auf und zwirbelte ihre Haarpracht.

»Das wollen wir doch mal sehen.« Williwichtigmäßig zückte er sein Handy – Isabelle glaubte ein fettes iPhone zu erkennen – aus der wasserblauen Turnhosentasche, tippte zügig eine Nummer ein. Was für ein Protz!, ärgerte sie sich. Mir bleibt auch nichts erspart. Wäre ich doch besser nach Schweden gefahren und hätte mich wochenlang auf irgendeiner gottverlassenen Schäreninsel gelangweilt!

Er parlierte fließend Italienisch, ließ sich zweimal weiterverbinden. Immer mehr verzogen sich seine Mundwinkel nach unten, schließlich verfinsterte sich seine Miene. Kurzzeitig wurde er prononcierter, um dann ganz kleinlaut zu nicken … schließlich drückte er resigniert die Stopp-Taste, zögernd steckte er den teuren Wichtigknochen in seine Turnhose. Offenbar war er abgeblitzt.

»Ignoranten, diese Azzurro-Columbos!«, entfuhr es ihm, jetzt deutlich weniger lautstark als vorhin. »Solche Pseudo-Ermittler! Jeder potenzielle Fall verkürzt ihren Büroschlaf. Das fuchst mich.« Er beäugte die beiden Frauen schräg von der Seite und stand auf. »Müssen wir uns eben selber der Sache annehmen.« Isabelle konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihm das sowieso am liebsten war.

»Könnten wir vielleicht den Ort des Geschehens inspizieren?«

Inspizieren! Isabelle schnaufte tief durch. Gestelzter konnte er das wohl nicht sagen? Dieser gekünstelte Beamtenslang und sie würden nie Freunde fürs Leben werden.

Carina schüttelte den Kopf. »Geht nicht mehr, meine Superiora hat die Hausschlüssel mitgenommen. Ich habe sie natürlich informiert, sie kam her und leitete alles Weitere in die Wege.« Nesteln in der Jeanstasche. »Hier sind ihre dettagli del contatto, vielleicht könnten Sie …«

Leise fluchend steckte Schwaiger die Visitenkarte des Gesundheitsstudios ein. »Wenn es auch nur den kleinsten Verdacht auf eine nicht natürliche Todesursache gibt, lasse ich die Leiche beschlagnahmen und in München obduzieren, das kostet mich nur einen Anruf bei der zuständigen Staatsanwältin.« Damit es nicht zu großkotzig klang, setzte er hinzu: »Es sei denn, Frau Kollegin, dass Sie lieber … immerhin waren Sie ja zuerst …« Anscheinend traute er sich noch nicht, sie beim Vornamen zu nennen.

»Alles gut. Für mich ist das fein«, gab Isabelle betont lässig zurück. Sie war vollends überrollt von so viel Tatendrang im Urlaub. Insbesondere hatte sie nicht die geringste Lust auf den unweigerlichen Paragrafendschungel mit Blick auf eine grenzüberschreitende Leichenbeschlagnahmung und allem Pipapo. Doch zweifellos hatte der Herr Kollege recht. Eine professionelle Leichenschau in Deutschland war die einzige Möglichkeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Und dass er das proaktiv übernehmen wollte, war ihr nur recht. Wenn diese Carina sich so sicher war …

»Fürs Erste brauchen wir ein Protokoll, ab dann ermitteln wir offiziell.« Schwaiger öffnete die entsprechende App-Maske auf seinem Handy, füllte flink Textfelder aus. »Sie müssten uns das Ganze noch per Mail bestätigen und sich ausweisen, dann sind wir aktiv.«

Wohl eher hyperaktiv!, dachte Isabelle leicht angespitzt. Schon witzig, wie selbstverständlich er die ganze Zeit von wir sprach. Für sie stand noch gar nicht fest, ob sie überhaupt mit im Boot war. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, ob man wohl vom Venedig-Airport kurzfristig einen Flug nach Lappland bekommen konnte?

Die junge Frau fummelte ihren Pass aus der fransigen Jeanshose, Schwaiger notierte: Carina Moretti, geboren am 12. Mai 1997 in Venezia. Italienische Staatsbürgerin.

»Ve-ne-dig … die Stadt der Liebe«, murmelte Schwaiger. Isabelle rollte mit den Augen.

»Ich bin nur hier geboren, aufgewachsen bin ich in Sizilien.«

Ade, Erholung, das war’s dann wohl!, stöhnte die Kommissarin innerlich. Und alles nur, weil ein junges Mädel Gespenster sah. Idealerweise klärte sich alles schnell auf, und sie hatte schnell wieder ihre Ruhe!

Die Italienerin hatte erfasst, dass ihre Begeisterung sich sehr in Grenzen hielt. »Entschuldigen Sie bitte die ganze Aufregung, Frau Kommissarin, es ist mir sehr unangenehm. Aber soll ich zuschauen, wenn so was passiert? Ich bin so erzogen, dass ich meinem Gewissen folge. Deswegen arbeite ich ja auch mit Menschen.«

Isabelle machte eine großzügige Handbewegung. Vor zehn Jahren hatte sie selbst mal mit sich gerungen, ob sie Fitnesstrainerin oder lieber Beamtin werden sollte. Sie tätschelte die andere am Arm. »Wird sich alles finden … gewiss nur Fehlalarm!« Doch eigentlich glaubte sie das selber nicht wirklich.

Nervös ließ Carina ihren Blick umherschweifen. »Wie geht es weiter?«

Schwaiger antwortete: »Wie gesagt, Herr Bianco wird in Bayern obduziert. Sollte sich dabei herausstellen, dass … hoffentlich ist das nach so vielen Stunden überhaupt noch gut möglich!« Er machte eine Pause. »Ihnen ist aber auch klar, dass Sie sich unter Umständen selber belasten? Sollten sich tatsächlich giftige Substanzen oder irgendeine Überdosis finden, wird von Amts wegen als Erstes ein EU-Ermittlungsverfahren eingeleitet, das ist der übliche Lauf. Sie haben schließlich auch Arzneien verabreicht, wenn ich das vorhin richtig verstanden habe. Frage: Durften Sie das überhaupt? Als Fitnessbetreuerin? Ich meine, ist das nicht …?«

Sie nickte eifrig. »Das geht schon in Ordnung, ich habe eine formazione inferieristica e una biglietto di iniezione, das ist eine pflegerische Ausbildung mit Spritzenschein.«

»Verstehe. Ihre Fingerabdrücke sind gewiss überall im Haus zu finden. In diesem Fall wären Sie vermutlich mit einem Anwalt gut beraten, falls es zu Ermittlungen kommt!«

»Oh caro, in was bin ich da bloß hineingeraten? Ich … ich will Menschen helfen, und jetzt so was.« Sie schluchzte. »Das hätte ich doch nie … ausgerechnet bei Ricci.«

»Dann kann Ihnen auch nichts passieren«, besänftigte Isabelle sie erneut. »Mein Kollege wollte nur das weitere Prozedere erklären. Noch steht ja überhaupt nicht fest, ob …«

»Der arme Ricci … er hat keinem was getan, für mich war er wie ein Vater. Er ist immer Mensch geblieben in diesem scheinheiligen Showbusiness. Dafür war er zu sensibel.« Sie wischte sich Tränen ab, Kajal und Wimperntusche verliefen zu einem gräulichen Gemisch.

Schwaiger räusperte sich. »Alles gut, wir wären dann fertig – halten Sie sich bitte zur Verfügung, Carina!«

»Ich habe aber noch drei Patienten heute, die versorgt werden müssen.«

»Vielleicht sollten Sie sich besser ausruhen … nach all der Aufregung!«

»Geht nicht. Einer wartet drüben in Cavallino auf mich und ein Ehepaar im Campingresort Union Lido«, erklärte Carina leise. »Tausende deutsche und österreichische Rentner verbringen hier ihren Lebensabend. Für einige wandelt sich der Traum vom unbeschwerten Ruhestand an der Adria zum Albtraum, gesundheitlich gesehen.«

»Umso wichtiger, dass es so engagierte Engel wie Sie gibt.« Isabelle hielt ihr zum Abschied die Hand hin. »Hoffen wir, dass Sie sich geirrt haben, was Herrn Bianco angeht – Ihr Instinkt in allen Ehren!«

Als die Therapeutin mit ihrem Smart davongebraust war, standen sich die beiden Ermittler alleine auf dem Gehweg gegenüber. Sie schnupperte. Noch immer lag süßlicher Parfümgeruch in der Luft … das war beileibe nicht nur von den Pflanzen und der Hitze.

»Dürfte ich Sie auf einen großen Nachmittagskaffee oder vorabendliche Pasta einladen, verehrte Frau Kollegin?«, bot Schwaiger kumpelhaft an. Aha, von der »Signorina« über die »reizende Kollegin« waren sie jetzt bei der »verehrten Kollegin« – ein Fortschritt immerhin. Als er ihr Zögern bemerkte, schob er schalkhaft hinterher: »Einen klitzekleinen?« Blinzeln. Noch immer keine Reaktion. »Sie machen es einem aber wirklich nicht leicht. Nur ein paar Meter von hier kenne ich eine charmante Kaffeebar. Gleich hinter dem Dünengürtel.«

Sie musste schmunzeln. Eigentlich hatte sie ja tatsächlich einen Espresso trinken gehen wollen, aber jetzt war es zu spät dafür, das Abendbuffet wartete. »Eventuell später einen lauen Nachtbummel zum weiteren Besprechen des Prozederes durch Caorle-Downtown oder Eraclea Mare. Nach dem Dinner.«

»Auch recht.« Kurze Pause. »Nur dass es in Eraclea kein Downtown gibt …«

Meine Güte – was für eine Haarspalterei! »Dann eben Caorle, okay?«

»Sollten wir uns nicht lieber ganz pragmatisch duzen? So ermittelt sich’s leichter.«

Sie stockte. Ging das nicht gerade viel zu fix? Andererseits … Sie rang sich ein Lächeln ab. »Meinetwegen. Ich heiße Isabelle.«

»Ups. Klingt französisch.«

»Oui. Ursprünglich komme ich aus La Rochelle, einer alten Seeräuberhochburg an der Atlantikküste, seit über zwei Jahrzehnten lebe ich aber am Chiemsee.«

»Kann passieren«, scherzte Schwaiger einigermaßen distanzlos. »Im Ernst: Bretagne ist super, Chiemsee nicht weniger. Der Starnberger See kann aber durchaus konkurrieren. Mein Nachbar in Tutzing ist übrigens Michael Schanze, falls Ihnen der ein Begriff ist. Der kannte Bianco garantiert persönlich, ich werde direkt mal meine Fühler ausstrecken.«

Was hatte das jetzt mit dem Fall zu tun? War dieser Neu-Kollege ein schräger Kauz? Litt er an Komplexen? Isabelle kniff ein Auge zusammen.

»Wie hat es dich als Französin hierher verschlagen, wenn ich fragen darf?« Sie schlenderten über ein Pinienwäldchen in Richtung Baia Blu Beach, wo sie ihren Renault Clio geparkt hatte.

»Längere Geschichte.« Sie wollte ihm nicht gleich ihre ganze Lebensgeschichte auf die Nase binden. »Halbfranzösin übrigens nur. Mein Vater ist Deutscher.«

»Wir haben doch genug Zeit zum Reden, schließlich machen wir hier Ferien.«

Eben!, dachte Isabelle. Ihr Hunger meldete sich. »Mein Büfett wartet.«

Er wirkte enttäuscht. »Na, dann guten Appetit.« Kurze Pause. »Wie lange bleibst du an der Adria?«

»Zehn Tage. Fürs Erste.« Skandinavien war noch nicht komplett abgehakt.

Verschwörerisches Grinsen. »Wenig Zeit für eine Tätersuche. Aber wenn wir uns ranhalten …«

»Wir?« Sie verdrehte erneut die Augen. »Eigentlich hatte ich vorgehabt, tutto completto abzuschalten: sole, spa, spiaggia.«

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Schon wieder falscher Fuß! »Das eine schließt ja das andere nicht aus. Jedenfalls würde ich gern mit dir kooperieren, vier geschulte Augen sehen einfach mehr. Meine Nase sagt mir, dass diese Carina nicht so einfach der Kategorie ›Schaumschläger‹ zuzuordnen ist.«

»Ich wusste gar nicht, dass Nasen sprechen können.« Wenn es optisch an ihrem Kollegen überhaupt etwas auszusetzen gab, dann war es allenfalls seine Nase, die etwas größer als beim Durchschnitt war.

»Wie bitte?«

»War nur Spaß.« Sie nickte seufzend. »Diese Carina ist definitiv keine Hochstaplerin. Allenfalls eine Spur zu stark parfümiert.«

»Wo erreiche ich dich?«

»Im San Rafaele in Porto Santa Margherita, etwas westlich außerhalb der Altstadt. Nettes Kleinstadthotel mit Pool und eigenem idyllischen Strandabschnitt. Wär ich bloß dort geblieben!« Nicht ohne Neid dachte sie an Chiara und Lara. Deren Zukunft als Hotelerbinnen war vorgezeichnet. Die mussten nicht zeitlebens Gangster jagen und sich mit dem Bösen herumschlagen. Wobei … ein Leben lang eine Urlaubspension mit anspruchsvollem Publikum zu führen, war sicher auch nicht immer ein Zuckerschlecken.

Schwaiger zog eine Augenbraue hoch. Für ihn gab es nichts Spannenderes als ungelöste neue Fälle – auch nach 15 Kripojahren brannte er noch immer für seinen Beruf. »Wie sehr ich dich um dein Hotel beneide, Isabelle. Ich schlage mich aktuell in einem abgerissenen winzigen Wohnklo hier um die Ecke in Duna Azzurra durch, das sich ›Luxury Apartment‹ nennt.« Er zog die Stirn kraus. »Klassische Internet-Fehlbuchung, als ob ich ein Adria-Frischling wäre. Dabei hätte ich es wirklich besser wissen können. Hier wimmelt es nur so von erstklassigen Hotels und Pensionen, wenn auch nicht immer ganz billig. Doch ich Esel wollte mal wieder was Neues testen. Tja, Künstlerpech. Sehen wir uns nachher noch?«

»Ja. Aber keinen Absacker. Und ich zahle selber. Klar?«

»Ich hole dich ab. Um 20 Uhr bei Rafaele.«