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DAVOR war ich zerbrochen.
DAVOR war er verloren.
DAVOR haben wir einander gefunden.
DAVOR war er mein Wes.
Für Madelyn Prince ist nichts wichtiger als ihre Arbeit im Unternehmen ihrer Familie. Doch als der renommierte Verlag plötzlich verkauft wird, stellt sie dies vor ungeahnte Herausforderungen: denn der junge Erbe des Konkurrenzverlags - und Maddies neuer Boss - ist niemand anders als Wesley Knight. Ausgerechnet Wes, in den sie in der Schule schon verliebt war, der sie aber nie wirklich beachtet hat. Wes, der trotz aller Mauern um ihr Herz tief in ihre Seele schaut. Doch je mehr Zeit die beiden miteinander verbringen, desto stärker sind die Gefühle zwischen ihnen mit einem Mal - bis ein Moment alles verändert ...
Band 1 der LONDON IS LONELY-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Anna Savas
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Seitenzahl: 594
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Motto
Playlist
Glossar
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
Nachricht #26
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
Nachricht #27
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
Nachricht #29
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
Nachricht #33
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
Nachricht #34
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
Epilog
Die Autorin
Impressum
ANNA SAVAS
Beneath Broken Skies
Roman
Für Madelyn Prince ist nichts wichtiger als ihre Arbeit in dem Unternehmen ihrer Familie. Sie liebt Bücher und ihren Job als Herstellerin bei Prince Publishing über alles und träumt insgeheim davon, eines Tages in die Fußstapfen ihres Großvaters zu treten und die Geschäfte zu übernehmen. Doch als Maddie plötzlich erfährt, dass der renommierte Verlag an ihren größten Konkurrenten verkauft wird, stellt sie dies vor ungeahnte Herausforderungen: Denn der junge Erbe von Knight Books – und damit Maddies neuer Boss – ist niemand anders als Wesley Knight. Ausgerechnet Wes, in den sie in der Schule schon verliebt war, der aber nie mehr als eine Freundin in ihr gesehen hat. Wes, der nach dem Internat den Kontakt abgebrochen und nicht um ihre Freundschaft gekämpft hat. Ihm ab sofort dabei zusehen zu müssen, wie er ihren Traum lebt, obwohl er sich noch nie für Bücher oder den Verlag interessiert hat, bricht Maddie jeden Tag aufs Neue das Herz. Doch je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto schwerer wird es auch, die Mauern um ihr Herz aufrecht zu erhalten und sich nicht noch mal in Wes’ charmante Art zu verlieben – bis ein Moment alles verändert …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Anna und euer LYX-Verlag
Für alle, die zwischen den Seiten
eines Buches ihr Herz verlieren.
Und für Charleen und Luisa.
Ihr wisst, warum.
We read to know
we are not alone.
– C. S. Lewis
london is lonely – holly humberstone
something in the orange – zach bryan
when the sun hits – slowdive
emails i can’t send – sabrina carpenter
just like you – nf
hurtless – dean lewis
wings – birdy
this love (taylor’s version) – taylor swift
die first – nessa barrett
i hate it here – taylor swift
falling colour – vanbur
when the music stops – jxdn
spinning – tom odell
beautiful things – benson boone
i can do it with a broken heart – taylor swift
close to you – gracie abrams
block me out – gracie abrams
you’re on your own, kid – taylor swift
i know the end – phoebe bridgers
close to you – kenzie, ASTN
all i wanted – paramore
so long, london – taylor swift
i knew it, i know you – gracie abrams
wildflower – billie eilish
IMPRINT
ist im Verlagswesen eine Marke eines Verlags, die im Buchhandel wie ein eigenständiger Verlag behandelt wird, inkl. eigenem Logo, obwohl er nicht eigenständig ist. Ein Imprint ist also quasi ein Verlag innerhalb eines Verlags. Mit einem Imprint kann ein Verlag zielgruppenspezifischer auftreten, da das Verlagsprogramm so in thematische Segmente aufgeteilt werden kann. Ein Imprint kann sich also z. B. vor allem auf ein weiblich orientiertes Zielpublikum fokussieren, eine bestimmte Altersgruppe oder ein Genre, wie z. B. Liebesromane.
HERSTELLUNG
ist die Abteilung in einem Verlagshaus, die dafür sorgt, dass aus dem Manuskript tatsächlich ein Buch wird. Sie ist verantwortlich für die Planung, Koordination und Kontrolle des Herstellungsprozesses und arbeitet dafür eng mit verlagsinternen Abteilungen, wie dem Lektorat, und externen Dienstleistern, wie Satzbetrieben und Druckereien, zusammen.
SATZSPIEGEL
ist die bedruckte Fläche auf der Seite eines Buches. Der Satzspiegel kann je nach Format (Hardcover, Paperback, Taschenbuch) und auch je nach Verlag anders ausfallen. Manche Satzspiegel sind größer als andere, weil auf einer Seite mehr Zeilen untergebracht sind. Das bedingt sich unter anderem durch die grundsätzlichen Maße der Seite, aber auch durch die Schriftart, die Schriftgröße und den Zeilenabstand.
SCHMUTZTITEL
ist die erste Innenseite eines Buches und enthält in der Regel den Autor:innennamen und den Titel des Buches. Der Schmutztitel gehört zur Titelei, wird aber auf einem gesonderten Blatt dem eigentlichen Titelblatt vorangestellt.
VEREDELUNGEN
heben bei der Buchproduktion bestimmte Bereiche des Covers besonders hervor. So kann z. B. der Titel geprägt werden, also dass die Buchstaben fühlbar hervorstehen, oder bestimmte Gestaltungselemente können z. B. mit Goldfolie überzogen oder lackiert werden. Unter dem Begriff Veredelung lassen sich viele verschiedene Formen zusammenfassen. So gibt es z. B. Hoch- und Tiefprägungen, Folien- und Lackveredelung oder Stanzungen.
FARBSCHNITT
ist die Verzierung des Buchschnitts – also der drei Seiten des Buches, an denen dieses geöffnet werden kann. Früher diente ein Farbschnitt vor allem zum Schutz der Seiten vor Verschmutzungen, heute wird ein Buch vor allem mit einem Farbschnitt verziert, weil es sehr hübsch aussieht.
BUCHBLOCK
sind die miteinander verbundenen Blätter oder Bogen eines Buches ohne die Buchdecke. Stell dir vor, du entfernst bei einem Buch den äußeren Umschlag: übrig bleibt nur noch etwas, das aussieht wie ein Block – der Buchblock.
BUCHDECKE
bezeichnet den Teil des Buches, der den Buchblock umfasst. Bei Hardcovern ist das die dicke Pappe, die meist noch durch einen Schutzumschlag geschützt wird, bei Paperbacks ist das etwas dünnere Pappe. Die Buchdecke besteht aus drei Teilen: die Rückseite, auf der meistens der Klappentext steht, die Vorderseite mit dem Cover – bei Hardcovern, die einen Schutzumschlag haben, gibt es manchmal noch eine andere Gestaltung – und der Buchrücken.
BUCHRÜCKEN
ist der Teil des Bucheinbandes, der die beiden Buchdeckel verbindet. Auf dem steht immer auch der Autor:innenname und der Titel. Es ist der Teil des Buches, den man im Regal als Erstes sieht (außer ihr stellt das Buch mit dem Cover oder dem Farbschnitt nach vorn ins Regal).
KAPITALBÄNDCHEN
ist das kleine, farbige Bändchen, das bei Hardcovern an der Ober- und Unterkante des Buchrückens angeklebt ist.
VOR- UND NACHSATZ
sind die (meist) bunten oder mit Illustrationen verschönerten Seiten, wenn man ein Hardcover aufklappt. Diese Seiten werden benötigt, um den Buchblock mit der Buchdecke zu verbinden.
FADENHEFTUNG
ist ein Bindeverfahren, bei dem die Bogen (vereinfacht gesagt: die Seiten) eines Buches vernäht werden. Die Fadenheftung wird bei Hardcovern genutzt und sorgt für ein besseres Aufschlagverhalten.
KLEBEBINDUNG
ist ein Bindeverfahren, bei dem die Seiten eines Buches mit dem Buchrücken verbunden werden.
Vergangenheit
18 Jahre alt
Ich glaube, die meisten Menschen neigen dazu, sich mit ihren Geschwistern zu streiten. Meistens über Kleinigkeiten – wer das letzte Stück Schokolade bekommt, wer das Fernsehprogramm aussuchen darf, welches Hörbuch bei langen Autofahrten in den Urlaub gehört werden soll.
Adam und ich haben uns nie gestritten. Vielleicht, weil er nur ein Jahr jünger ist als ich, vielleicht – wahrscheinlich –, weil wir so verschieden sind, dass solche Kleinigkeiten keine Rolle gespielt haben. Ich mochte nie Schokolade, ihm war es egal, welchen Film oder welche Serie ich ausgesucht habe, weil seine Nase ohnehin immer in einem Buch steckte, schon dann, als er noch gar nicht lesen konnte. Im Gegenzug war es mir vollkommen gleich, welche Hörbücher er aussuchte, ich hörte eh nie zu.
Mum hat immer gesagt, wir sind so verschieden, dass sie nicht wüsste, worüber wir uns je streiten sollten. Ich habe ihr zugestimmt.
Adam und ich streiten nicht. Schon gar nicht wegen eines Mädchens. Und doch stehen wir jetzt hier und streiten genau deswegen.
Dabei geht es nicht um irgendein Mädchen. Es geht um Maddie.
Und nichts daran ergibt auch nur ansatzweise Sinn.
»Madelyn hat was Besseres verdient, und das weißt du!«, zischt Adam wütend, seine braungrünen Augen glühen, er hat die Hände zu Fäusten geballt.
Er bebt vor Zorn. Das ist nichts Neues. Adam ist immer wütend, er zeigt seine Wut nur nie, schluckt sie immer runter. Trotzdem bin ich nicht überrascht. Wenn jemand dafür sorgen kann, dass Adam die Kontrolle über seine Gefühle verliert, dann sie.
Trotzdem ergibt nichts an diesem Streit Sinn.
»Wovon zum Teufel redest du eigentlich?«, frage ich irritiert.
Ich weiß nicht mal, wie wir an diesen Punkt gekommen sind. In einem Moment haben wir noch darüber gesprochen, wie es nächstes Jahr weitergeht, wenn ich nicht mehr am Internat, sondern in Oxford sein werde, und dass er und Maddie mich unbedingt besuchen kommen müssen, und dann sind wir irgendwann … irgendwie … hier gelandet.
Fragt sich verdammt noch mal nur, wie.
»Ist das dein Ernst? So blöd bist du doch nicht, oder? Hör endlich auf, mit ihr zu spielen, geh zur Uni und sei glücklich mit Hailey, aber lass Madelyn in Ruhe. Du weißt, dass sie Gefühle für dich hat! Was du da machst, ist echt nicht fair«, faucht Adam.
Fassungslos starre ich ihn an. Ich würde die Fragen gern zurückgeben, doch ich bin viel zu überrumpelt, um zu antworten.
Ist das sein Scheißernst? Hat er den Verstand verloren? Maddie hat keine Gefühle für mich. Sie ist in ihn verliebt, es ist so offensichtlich.
Nur scheint für Adam gar nichts offensichtlich zu sein. Wie kann er das nicht sehen?
Niemand redet offen darüber, aber alle wissen es. Alle warten nur darauf, dass die beiden sich endlich ihre Gefühle eingestehen. In der Abschlussklasse haben sie Wetten darauf abgeschlossen, ob es noch in unserem letzten Jahr passiert.
Ist es nicht.
Heute ist der erste Tag der Sommerferien, der Tag, an dem wir alle abgeholt werden, und Adam bewegt sich gerade in die vollkommen falsche Richtung.
»Adam«, sage ich so ruhig und beschwichtigend wie möglich. »Das ist doch Quatsch. Maddie und ich sind Freunde, mehr nicht.«
»Nein, seid ihr nicht. Ich bin ihr Freund. Du bist mein Bruder, und sie ist in dich verliebt. Und du weißt das.«
»Das ist Bullshit! Ich meine, hast du mal gesehen, wie sie …« dich anschaut, will ich sagen. Wie sie sich verhält, wenn sie in deiner Nähe ist? Wie entspannt sie ist, wenn du da bist, und wie nervös, wenn du weg bist? Hast du mal mitgekriegt, wie sie dich anlächelt? Ist dir nie aufgefallen, dass du der Einzige bist, von dem sie Berührungen nicht nur über sich ergehen lässt, sondern mag? Dass sie immer deine Nähe sucht? Nur deine.
Aber ich sage nichts davon. Stattdessen verstumme ich mitten im Satz, weil es an der Tür klopft. Leise, aber nachdrücklich. Ich kenne dieses Klopfen, und ich weiß, wer da draußen auf dem Flur steht.
Fuck.
Das hat jetzt gerade noch gefehlt.
Adam wirft mir einen mörderischen Blick zu, eine stumme Warnung, bloß die Klappe zu halten, bevor er sein Zimmer durchquert und die Tür öffnet.
Maddie steht da, ihr Blick findet ihn, weil es immer so ist. Sie sieht immer zuerst ihn an, so, wie er immer zuerst sie ansieht, egal, wo sie sind, egal, mit wem sie zusammen sind. Die beiden finden sich, als wären sie durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpft. Wie können sie das nicht merken? Wie können sie so verdammt ahnungslos sein?
Adams Schultern sinken nach unten, als er sie anschaut, er entspannt sich ganz von selbst.
»Hey.« Seine Stimme ist weich geworden, die Wut erloschen.
»Entschuldigt, ich wollte euch nicht … stören.« Es klingt mehr nach Frage als nach Aussage. Ihre Augen zucken zu mir, bevor sie zurück zu meinem Bruder springen.
»Du störst nicht«, entgegne ich entschieden und bete, dass sie nicht mitbekommen hat, worüber Adam und ich gestritten haben.
Sie lächelt. Ein weiches, warmes Maddie-Lächeln, und ich weiß, sie hat nichts gehört. »Ich wollte mich nur verabschieden. Grandma meinte, wir müssen langsam los, wenn wir unseren Flieger nicht verpassen wollen, also …«
Im ersten Moment habe ich keinen Schimmer, wovon sie da redet, dann fällt es mir wieder ein. Die Reise mit ihrer Großmutter durch Europa. Griechenland, Italien, Frankreich, Spanien. Sie sind den ganzen Sommer unterwegs. Eigentlich war die Reise fürs nächste Jahr geplant, für den Sommer nach ihrem Abschluss, aber Maddie möchte nächstes Jahr ein Praktikum im Verlag ihres Großvaters machen, also haben sie die Reise vorgezogen.
Maddie ist fast zwei Monate weg. Zwei Monate, die Adam jetzt schon nervös machen, auch wenn er es nie zugeben würde.
Ich gehe zu den beiden und schiebe Adam bestimmt zur Seite, bevor ich Maddie in eine kurze, aber feste Umarmung ziehe. »Viel Spaß bei eurer Tour. Zieh dir ordentliche Schuhe an und pass auf dich auf.«
Lachend löst Maddie sich von mir. »Du klingst wie mein Großvater.«
»Scheint ein kluger Mann zu sein.« Ich grinse sie an und dränge mich an ihr vorbei in den Flur, um die beiden allein zu lassen. Sie sollen sich vernünftig voneinander verabschieden, ohne Zuschauer. Vielleicht kriegen sie es dann endlich hin.
Ich versetze Maddie einen sanften Stoß in Adams Richtung und werfe ihm einen vielsagenden Blick zu.
Einen, der sagt: Siehst du? Sie vergleicht mich mit ihrem Großvater.
Einen, der sagt: Kriegt euren Scheiß geregelt.
Einen, der sagt: Seid ehrlich zueinander. Alle wissen, was ihr füreinander empfindet, nur ihr nicht.
»Hab einen schönen Sommer«, rufe ich über meine Schulter hinweg, dann ziehe ich die Tür hinter mir zu und lasse sie allein.
Zu dem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass ich Maddie gerade zum letzten Mal gesehen habe.
Dass es sechs Jahre dauern wird, bis ich sie wiedersehen werde.
Dass sechs Jahre später alles anders sein wird.
Dass ich hoffen werde, Adam hätte doch recht gehabt.
Sechs Jahre später wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass sie etwas für mich empfindet. Weil ich zu viel für sie empfinde.
Gegenwart
Madelyn, 23 – Wes, 24
Ich habe in meinem Leben so viele Bücher gelesen, dass ich mich nicht mehr an alle erinnern kann.
Es gibt Erinnerungsfetzen, natürlich. Vage, verschwommene Bilder und ein deutlicheres Gefühl von Wärme. Grandmas weiche Stimme, wenn sie mir vorgelesen hat, Grandpas tieferer Bass mit dem kratzigen Unterton, für den zu viele Zigarren verantwortlich waren, bevor er irgendwann zu rauchen aufgehört hat. Ich erinnere mich daran, wie ich zum Klang ihrer Stimmen eingeschlafen bin, wie sie mich weggeführt haben von der Realität in ein Traumland, in dem die Geschichten, die sie mir vorlasen, Wirklichkeit wurden.
An die einzelnen Bücher erinnere ich mich nicht. Ein paar Titel sind hängen geblieben, vor allem dann, als ich älter wurde. Aber alle Bücher, die mich begleitet haben, bevor ich acht war, sind ein wirres Durcheinander aus fantastischen Wesen und gefährlichen Abenteuern, aus mutigen Prinzessinnen und noch mutigeren Hexen.
Irgendwann haben die Geschichten sich verändert, aus Kinderbüchern wurden Jugendbücher und schließlich Liebes- und Fantasyromane. Meine Liebe zu Büchern ist jedoch immer gleich geblieben. Sie hat sich lediglich ein bisschen weiterentwickelt, und irgendwann waren nicht mehr nur die Geschichten wichtig, sondern auch das Buch an sich.
Das Gefühl von Papier zwischen den Fingern, raue Seiten aus Naturpapier, glatteres, dickeres Bilderdruckpapier beim Umschlag, Prägungen von Titeln, Veredelungen mit Folie und Lack. Kapitalbändchen und Buchumschläge. Pantonefarben und Buchsatz.
Die Herstellung von Büchern ist beinahe genauso faszinierend wie die Geschichten, die mit Tinte auf Papier gedruckt werden.
Man muss sich nur ein bisschen damit beschäftigen, darauf einlassen, von welcher Bedeutung es ist, wie sich das Papier anfühlt, wie es riecht und welches Volumen es hat. Papier ist nicht nur ein Mittel zum Zweck, es ist nicht nur dafür da, bedruckt zu werden. Für mich macht Papier das Lesen besser. Es ist das leise Geräusch beim Umblättern der Seite, der Geruch, der nicht wirklich klar zu definieren, aber immer eine Mischung aus Papier, Tinte und Klebstoff ist. Es ist das Gefühl, das man hat, wenn die Augen über eine Seite fliegen, wenn man sich davon abhalten muss, ein paar Zeilen zu weit nach unten oder zur nächsten Seite zu rutschen, um sich nicht selbst zu spoilern.
Bücher sind magisch, nicht zuletzt deshalb, weil es sich manchmal so anfühlt, als würde man sein eigenes Zuhause, seine Familie verlassen, wenn man am Ende die letzten Wörter liest, die letzte Seite umblättert und das Buch schließlich zuklappt, den Schutzumschlag wieder überstülpt und es zu seinen Brüdern und Schwestern ins Regal stellt …
Das Klingeln meines Telefons reißt mich aus meinen Gedanken, fort von der Exceltabelle, die mich die vergangenen Stunden vollkommen vereinnahmt und zu wenig mit Büchern selbst und zu viel mit Herstellkosten zu tun hat.
Ich muss blinzeln, um meinen Blick auf etwas anderes als meinen Computerbildschirm fokussieren zu können. Auf dem kleinen Display leuchtet mir in schwarzen Druckbuchstaben Adeles Nachname entgegen. Stirnrunzelnd nehme ich das Gespräch entgegen. Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft Grandpas Assistentin mich angerufen hat, seit ich vor vierzehn Monaten bei Prince Publishing angefangen habe. Normalerweise schreibt Grandpa mir eine kurze Mail, wenn er etwas von mir möchte, oder stellt direkt einen Termin ein.
»Maddie?«, fragt Adele ohne richtige Begrüßung. Sie klingt gestresst. Ich kann förmlich vor mir sehen, wie sie an ihrem Schreibtisch sitzt und ihre Augen über den Bildschirm huschen, während sie versucht, Grandpas Termine zu organisieren, gleichzeitig mit mir zu telefonieren und dabei nicht den Faden zu verlieren. Aber wenn jemand Multitasking beherrscht, dann sie. Sie macht den Job schließlich schon lange genug. Adele ist an seiner Seite, seit ich denken kann. Sie war höchstwahrscheinlich auch schon hier, als Grandpa mich zum ersten Mal als Baby mit hergenommen hat, auch wenn ich daran selbst keine Erinnerung mehr habe.
»Ja, ich bin dran. Was gibt’s?«
»Kannst du in …« Sie zögert, linst mit Sicherheit gerade auf die Uhr. Ich tue reflexartig das Gleiche. Es ist kurz vor halb zwölf. »In sieben Minuten zu uns hochkommen? Dein Großvater möchte mit dir sprechen. Es ist wichtig.«
»Natürlich. Ist alles in Ordnung? Du klingst gestresst.«
»Ja, ja. Alles in Ordnung. Es ist nur etwas … Egal, das sagt er dir besser selbst. Also bis gleich?«
»Klar«, versichere ich ihr. »Aber was ist denn –«
Das Freizeichen ertönt, sie hat aufgelegt, ohne sich zu verabschieden oder mich auch nur ausreden zu lassen. Irritiert starre ich auf das Telefon, den Hörer immer noch in der Hand. Was war das denn?
»Maddie? Alles okay?« Die weiche Stimme lässt mich den Kopf heben, und ich begegne Blairs fragendem Blick aus warmen, tiefbraunen Augen. Dunkelblonde Strähnen haben sich aus ihrem unordentlichen Knoten gelöst und fallen ihr jetzt in sanften Wellen in die Stirn. Blair ist auf eine unaufdringliche Weise sehr hübsch, von der Art, bei der man erst beim zweiten Hinsehen feststellt, wie hübsch sie tatsächlich ist.
Ihr Schreibtisch steht direkt gegenüber von meinem, wenn wir uns gerade hinsetzen, können wir uns über unsere Bildschirme hinweg anschauen.
Blair arbeitet erst seit fünf Monaten bei uns in der Herstellung als Unterstützung für unsere Grafikdesignerin Joana, weil im letzten halben Jahr immer öfter Cover intern designt wurden, anstatt die Aufträge an eine Agentur zu vergeben. Seitdem teilen wir uns ein Büro. Die Aufteilung ist etwas unglücklich, denn mein Job hat mit Grafikdesign ungefähr gar nichts zu tun, aber sonst war nirgendwo Platz für sie. Ganz abgesehen davon ist es auch völlig egal, denn Joana wohnt in Brighton und nicht wie der Rest von uns in London, von daher ist sie bis auf wenige Ausnahmen ohnehin meistens im Homeoffice. Deshalb hätten die beiden sich so oder so kein Büro geteilt, und weil ich allein saß, hat Caitlin beschlossen, Blair bei mir unterzubringen.
Der Schreibtischstuhl quietscht leise, als ich ihn zurückschiebe und aufstehe. »Ich muss nur mal eben nach oben, bin gleich wieder da«, antworte ich mit einiger Verspätung.
»Okay, bis gleich«, erwidert Blair, wendet sich wieder dem Cover zu, an dem sie gerade arbeitet, und ich verlasse unser Büro.
Es ist das letzte auf dem Flur, direkt gegenüber von Caitlins. Ein flaues Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus, als mein Blick auf ihre offen stehende Tür und den Raum dahinter fällt.
Caitlin ist die ganze Woche nicht in den Verlag gekommen, was mehr als ungewöhnlich ist. Sie ist die Einzige, die morgens noch vor mir hier ist, und die Letzte, die nach mir geht. Sie nimmt ihren Job als unsere Führungskraft sehr ernst, und es passt überhaupt nicht zu ihr, dass sie nicht nur nicht hier ist, sondern sich auch bei niemandem von uns gemeldet hat. Normalerweise schreibt sie mir, wenn sie krank ist, und erinnert mich an die anstehenden To-dos, als hätten wir keinen gemeinsamen Kalender, in dem alle Termine und Aufgaben festgehalten werden. Diesmal habe ich jedoch seit Tagen nichts von ihr gehört, und das beunruhigt mich.
Mit einem leisen Seufzen wende ich mich ab und gehe den Flur hinunter. Doch die Gedanken an Caitlin lassen mich nicht los, während ich vom zweiten Stock des Verlagsgebäudes, in dem die Herstellung von Prince Publishing in vier Büros untergebracht ist, nach oben zu Grandpas Büro im fünften Stock gehe.
Hier sind hauptsächlich Besprechungsräume. Nur Grandpa und Adele verbringen den ganzen Tag oben. Manchen mag das einsam vorkommen, aber ich glaube, die beiden fühlen sich ganz wohl, ein bisschen abseits vom Trubel der anderen Abteilungen.
Die Tür zu Adeles Büro steht wie immer offen. Niemand kommt ungesehen an ihr vorbei.
Ich stecke den Kopf zu ihr herein, sehe, dass sie schon wieder am Telefon hängt, und winke ihr kurz zu, als sie den Blick hebt und mir ein gestresstes Lächeln schenkt. Unter ihren hellen Augen liegen dunkle Schatten, sie sieht aus, als müsste sie dringend mal ein paar Tage Urlaub machen. Noch besser wären wahrscheinlich ein paar Wochen. Aber wenn Grandpa da ist, ist auch Adele da, und Grandpa macht fast nie Urlaub.
Sie bedeutet mir mit einer Handbewegung, dass mein Großvater jetzt Zeit für mich hat – ein Blick auf die Uhr bestätigt, dass es Punkt halb zwölf ist –, und ich lasse sie wieder allein.
Ich will gerade die Hand heben, um an seine Tür zu klopfen, als sie von der anderen Seite geöffnet wird.
»Ah, da bist du ja«, begrüßt Grandpa mich mit einem breiten Lächeln, doch seine sorgenvolle Miene ist unübersehbar. Er wirkt müde und um Jahre gealtert.
Frederic Prince ist siebzig, sieht aber normalerweise wie allerhöchstens Anfang sechzig aus. Seine silbergrauen Haare sind immer noch von dunklen Strähnen durchzogen, die blauen Augen wach und hell. Doch daran liegt es nicht, dass man ihn jünger schätzt, auch nicht an seinem beinahe faltenfreien Gesicht. Es liegt ausschließlich an seiner Ausstrahlung, an der Ruhe und Gelassenheit, die er verkörpert, und an seinem messerscharfen Verstand.
Das letzte Mal, dass ich ihn so ausgelaugt und gestresst erlebt habe, war in der Zeit nach Grandmas Tod. Unwillkürlich krampft sich mein Magen zusammen. Mein Herz pumpt Furcht durch meinen Körper, rasend schnell und unaufhaltsam.
Grandmas Tod hat uns tief getroffen, und wir sind beide noch nicht drüber hinweg, auch wenn es schon über ein Jahr her ist. Wir tun nur so, als ob. Tun so, als wäre das tiefe, schwarze Loch, das sie in unseren Herzen hinterlassen hat, mittlerweile winzig klein. Dabei ist es immer noch so groß, dass wir in einem unachtsamen Moment einfach hineinfallen könnten, und ich bin mir nicht sicher, ob Grandpa dann je wieder herausfinden würde.
»Hey, Grandpa«, sage ich und lasse mich von ihm in eine kurze, aber feste Umarmung ziehen.
Eigentlich tun wir so etwas nicht, solange wir im Verlag sind. Aber Adele ist die Einzige, die es mitbekommen könnte, und es stört weder meinen Großvater noch mich, wenn sie uns so zusammen sieht. Für die meisten anderen Angestellten gilt das nicht. Es ist ohnehin schon nicht leicht, die Enkeltochter des Geschäftsführers zu sein, komplizierter müssen wir es wirklich nicht machen.
»Wie geht’s dir?« Prüfend wandert sein Blick über mein Gesicht, als könnte er dort irgendwas entdecken, was ich vor ihm verheimliche, wenn er nur lange genug hinschaut.
»Mir geht’s gut«, erwidere ich sanft. »Du hingegen siehst müde aus.«
Er winkt ab, legt mir eine Hand auf den Rücken und schiebt mich in sein Büro. »Nein, nein. Alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.«
Grandpa lotst mich zu dem kleinen, runden Tisch vor dem tiefen Fenster, ein Stück von seinem Schreibtisch entfernt. Sachte drückt er mich auf einen der Stühle, bevor er sich mir gegenüber hinsetzt.
Sein Büro hatte schon immer etwas sehr Beruhigendes an sich, ich kann nicht mal erklären, warum genau. Es sieht genauso aus wie die meisten anderen. Dunkle Teppiche, weiße, hohe Wände, Stuckverzierungen an den Decken, weil das Gebäude alt ist und nie richtig modernisiert wurde. Die Wand neben dem Tisch wird von einem deckenhohen Regal eingenommen, in dem größtenteils die Bücher untergebracht sind, die unter Grandpas Leitung veröffentlicht wurden. Für alle Bücher ist nicht nur das Regal, sondern auch der Raum schlicht und ergreifend zu klein, aber Grandpas Lieblingsbücher und die aktuellsten Erscheinungen stehen immer hier.
Prince Publishing hat ein großartiges Jugendbuchprogramm, wagt sich seit ein paar Jahren allerdings auch an eine etwas ältere Zielgruppe, nicht erwachsen, jedoch auch nicht mehr so jugendlich. Eher junge Erwachsene, zu alt für die einen Bücher, zu jung für die anderen. Und im Gegensatz zu vielen anderen Verlagen konzentriert sich Prince Publishing vor allem auf eine weibliche Zielgruppe.
Grandma hat früher immer gesagt, dass Grandpa Bücher nur für mich herausbringt. Das entspricht natürlich nicht der Wahrheit, Prince Publishing wurde etliche Jahrzehnte vor meiner Geburt gegründet, aber als ich noch klein war, fühlte der Gedanke sich schön an, dass das alles nur für mich war.
»Wie läuft dein Tag bisher?«, fragt er, und irgendwas an seinem Tonfall klingt nicht richtig, irgendwie zu … beiläufig. Mein Herz reagiert darauf mit einem ängstlichen Zucken.
Alles gut. Mach dir keine Sorgen. Er hat gesagt, es geht ihm gut. Es ist alles gut.
»Ganz okay, ich sitze gerade noch an den Auswertungen fürs letzte Jahr«, antworte ich zögerlich und frage dann, weil es sowieso nichts nützt, es weiter hinauszuzögern, auch wenn er das scheinbar gern täte: »Aber deswegen wolltest du mich doch ganz bestimmt nicht so kurzfristig sprechen, oder?«
Grandpa seufzt und kneift sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel. »Nein. Wollte ich nicht«, gibt er zu, und in meinem Inneren beginnen sämtliche Alarmglocken zu schrillen.
»Was ist los? Bist du sicher, dass es dir gut geht? Was …«
Er legt seine Hand auf meine und bringt mich mit der Berührung zum Schweigen. »Maddie«, sagt er leise, ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, immer noch müde, aber doch ziemlich ehrlich. »Mir geht es gut. Ich habe dich nicht hergebeten, um mit dir über mich zu sprechen. Es geht um Caitlin.«
»Caitlin?« Verständnislos sehe ich ihn an. »Warum solltest du mit mir über Caitlin sprechen?«
Noch ein Seufzen, schwerer dieses Mal, und das ungute Gefühl von vorhin, als ich vor ihrem Büro stand und darüber nachgedacht habe, warum sie sich nicht meldet, verwandelt sich in eine dunkle Vorahnung.
»Geht es ihr gut?« Die Frage platzt aus mir heraus, bevor ich mich aufhalten kann und ihm überhaupt die Gelegenheit gebe, die letzte zu beantworten.
Grandpa nickt, doch die Erleichterung, die ich deswegen fühlen möchte, bleibt aus. Weil das nicht alles sein kann.
»Es geht ihr gut. Ich wollte mit dir sprechen, weil Caitlin nicht wiederkommen wird.«
»Was?« Ungläubig starre ich ihn an. Das kann unmöglich sein. Sie muss wiederkommen. Wir haben uns letzte Woche noch gesehen und die gesamte Jahresplanung besprochen. Sie liebt ihren Job bei uns in der Herstellung. Nichts von dem, was Grandpa sagt, ergibt Sinn.
»Caitlin ist nicht länger bei uns angestellt«, lässt Grandpa jetzt die Bombe platzen.
»Sie … Was? Sie hat gekündigt?«, bringe ich fassungslos hervor. Das kann echt nicht sein.
Grandpa neigt leicht den Kopf zu einer Seite. »Sagen wir, wir haben uns in gegenseitigem Einvernehmen voneinander getrennt.«
»Aber warum?«
Er macht eine abwehrende Handbewegung. »Es gab einige Gründe, aber deswegen wollte ich nicht mit dir sprechen.«
»Sondern?« Mir schwirrt der Kopf, ich kann nicht mehr richtig denken. Mir ist klar, dass er mir ausweicht, dass es wirklich gute Gründe dafür geben muss, wenn Caitlin ihren Job aufgegeben hat, ich bin gerade jedoch nicht in der Lage, nachzubohren.
»Es geht um Caitlins Nachfolge.« Grandpa macht eine bedeutungsschwere Pause. »Ich möchte, dass du die Leitung der Herstellung übernimmst.«
Ich weiß zwar, dass er mit mir redet, seine Worte vermischen sich allerdings zu einem undeutlichen Rauschen in meinen Ohren, weil ich mir ziemlich sicher bin, mich verhört zu haben.
»Ich soll …« Mein Verstand ist nicht mehr in der Lage, einen ganzen Satz zu bilden.
Grandpa lächelt, ein echtes Lächeln dieses Mal, eins, das seine Augen leuchten lässt. »Ja, du sollst das machen.«
»Ich? Aber warum? Wäre es nicht logischer, Marjorie die Leitung zu geben?«
Grandpa schüttelt den Kopf. »Marjorie kommt aus mehreren Gründen nicht infrage, vor allem, weil sie nur eine Teilzeitstelle hat und das auch nicht ändern möchte.«
»Ja, ich weiß. Aber … ich? Ehrlich?«
»Ehrlich«, bestätigt Grandpa. »Du kennst dich am besten in der Thematik aus, und du bist am längsten hier. Ich bin überzeugt davon, dass du dieser Herausforderung gewachsen bist.«
Mir liegt noch ein Aber auf der Zunge. Eins, zwei, hundert. Aber ich bin zu jung, aber ich hab nicht genug Erfahrung, aber, aber, aber.
»Habt ihr nicht darüber nachgedacht, jemanden von extern einzustellen?« Meine Stimme hat sich in ein heiseres Krächzen verwandelt.
»Nein, haben wir nicht. Jemanden von außen einzustellen ist immer mit einem großen Risiko verbunden, und gerade bei dieser Position möchten wir darauf verzichten. Wir möchten jemanden in der Herstellung haben, der mit unseren Büchern vertraut ist und der weiß, wie sehr ihre hohe Qualität uns am Herzen liegt. Und da bist du unsere erste Wahl. Du weißt, wie es bei uns läuft, schließlich warst du Caitlins rechte Hand. Wenn du dir die Leitung zutraust, gehört sie dir.« Grandpa sieht mich auf eine Weise an, dass mir ganz anders wird. Nicht nur mit Stolz, sondern voller Vertrauen. »Ich möchte dir aber keinen Druck machen, Maddie. Ich weiß, wie hart du arbeitest, und wenn du dich mit dem Gedanken nicht wohlfühlst, dann sag mir das bitte, und wir finden eine andere Lösung. Allerdings bin ich wirklich davon überzeugt, dass du das kannst und dass es die richtige Entscheidung ist.«
Einen Moment lang kann ich ihn nur stumm anstarren. Dann schlucke ich jedes Aber, das mir auf der Zunge liegt, herunter. Er glaubt an mich, trotz meines Alters, trotz meiner Erfahrung, trotz allem. Er glaubt daran, dass ich für diesen Job geeignet bin. Er glaubt an mich.
»Ich mache es«, platzt es aus mir heraus. Es ist ganz leicht. Ich entscheide mich einfach. Ohne Pro-und-Contra-Liste, ohne alles tausendfach zu zerdenken. Ich entscheide mich, weil ich das will. Weil ich insgeheim schon immer davon geträumt habe, diesen Job zu übernehmen.
Für Prince Publishing arbeiten, Verantwortung übernehmen, Bücher herstellen. Meinen Teil zum großen Ganzen beitragen. Ich habe nie mit Grandpa darüber gesprochen, nicht wirklich. Es hat sich nicht richtig angefühlt. Denn solange diese Träume nur mir gehörten, gab es immer die Chance, dass sie in Erfüllung gehen. Dass sie wahr werden. Weil ich es verdiene. Und nicht, weil ich bin, wer ich nun mal bin.
Ein Schatten huscht über Grandpas Gesicht, so kurz, dass ich mir in der nächsten Sekunde schon wieder sicher bin, ihn mir nur eingebildet zu haben.
»In Ordnung«, nickt er. »Dann spreche ich mit Brittany von der Personalabteilung und lasse alles in die Wege leiten. Deine erste Aufgabe wird es dann wohl sein, dein Team über alles zu unterrichten. Brauchst du dabei Unterstützung?«
Ein Kribbeln breitet sich in meinem Körper aus, nervös, aufgeregt, ein bisschen ängstlich.
Mein Team.
Ich muss mein Team über die Änderungen aufklären. Und darüber, dass mein Platz nicht mehr neben, sondern über ihnen sein wird.
»Nein«, winke ich ab, obwohl ein Teil von mir gern Ja schreien würde. Aber ich fürchte, das muss ich allein schaffen. Wenn ich das nicht allein hinbekomme, hätte Grandpa mir den Job nicht geben dürfen. »Ich komme klar. Trotzdem danke.«
»In Ordnung. Dann halte ich dich nicht länger auf, ihr habt jetzt einiges zu besprechen.«
Wir erheben uns gleichzeitig, und ich bin schon fast an der Tür, als Grandpa mich noch mal zurückruft. Ich drehe mich um, sein Lächeln ist warm. »Lass uns am Sonntag zusammen essen und feiern«, schlägt er vor. »Es gibt da noch ein paar Dinge, über die wir reden müssen, aber das hat bis dahin Zeit.«
»Okay, dann komme ich Sonntag vorbei.«
»Wunderbar. Ach, und Maddie? Ich bin stolz auf dich. Und ich weiß, deine Großmutter wäre es auch.«
Mir schnürt sich die Kehle zu, hinter meinen Augen baut sich ein vertrauter Druck auf, doch ich schlucke die Tränen hinunter, die in mir aufsteigen. »Danke, Gramps.«
»Danke, dass ihr so kurzfristig Zeit für mich hattet«, sage ich, mein Blick wandert von einem zum anderen. Wir sitzen in Caitlins Büro, es ist das einzige, das groß genug ist, damit wir uns alle an den kleinen, runden Tisch quetschen können, dessen Zwilling bei Grandpa steht. Joana schaut uns aus Blairs iPad entgegen. Es war pures Glück, dass niemand einen Termin hatte und ich das Meeting so kurzfristig ansetzen konnte, normalerweise ist immer mindestens einer von uns im Haus unterwegs oder in einem Videocall.
»Für dich nehmen wir uns doch immer Zeit«, gibt Elliot grinsend zurück. Er ist erst vor sechs Monaten eingestellt worden und der einzige Mann in unserem Team.
»Schleimer«, hustet Sloane, die nur ein paar Wochen nach mir in der Herstellung angefangen hat und sich das Büro mit Elliot teilt.
»Gar nicht wahr, ich bin einfach nur charmant.«
»In welchem Universum, Elli?«
»Hör auf, mich Elli zu nennen.«
»Dann hör auf, dich wie ein Idiot zu benehmen«, schießt Sloane zurück.
»Mach ich doch gar nicht! Ich bin total charmant, oder, Maddie?« Elliot klimpert herzig mit den Wimpern.
»Wahnsinnig charmant«, gebe ich ironisch zurück.
Er strahlt erst mich an, dann Sloane. »Siehst du.«
Sloane legt ihm eine Hand auf den Unterarm. »Sie lügt, damit du dich besser fühlst«, erklärt sie ihm so mitleidig, dass ich beinahe lachen muss.
»Können wir mal zum Punkt kommen?«, mischt Daisy sich ein. »Uns läuft die Zeit davon, und ich habe noch ein bisschen was zu tun.« Demonstrativ hält sie ihr Handgelenk mitsamt Armbanduhr hoch. Es ist zwanzig nach zwölf, wir haben noch vierzig Minuten, bis die meisten aus dem Team Schluss machen.
Caitlin hat letztes Jahr festgelegt, dass freitags alle um ein Uhr Feierabend machen können. Sie war die Einzige, die länger geblieben ist, weil das Büro bis vier Uhr besetzt sein muss. Na ja, und ich bin auch meistens länger da, weil ich immer noch etwas finde, das erledigt werden muss, auch wenn es bei den meisten Dingen keinen Zeitdruck gibt.
»Meinetwegen«, murrt Elliot und fährt sich mit einer Hand durch die dunkelblonden, kurzen Haare. Er sieht gut aus, und er weiß es. Zu seinem Leidwesen interessiert das nur niemanden aus unserem Team.
Marjorie ist glücklich verheiratet, Daisy hat eine Freundin, und Sloane würde eher von der nächsten Brücke springen, als was mit ihm anzufangen. Bleiben nur noch Blair und ich, aber ich fürchte, Blair hat kein Interesse, und ich bin weder an einer Beziehung noch an Elliot interessiert. Ganz abgesehen davon, dass ich jetzt für ihn verantwortlich bin und wir damit absolut tabu füreinander sind.
Womit wir wieder beim Thema wären.
»Ich wollte mit euch sprechen, weil ich gerade darüber informiert wurde, dass Caitlin Prince Publishing verlassen hat.«
Ich vermeide ganz bewusst, Grandpa zu erwähnen, weil ich mehr bin als die Enkeltochter des Geschäftsführers. Vor allem aber möchte ich nicht, dass der erste Gedanke, den sie gleich nach meiner Verkündung haben werden, der ist, dass ich den Job nur bekommen habe, weil ich bin, wer ich bin.
»Was?«, entfährt es Marjorie, das Entsetzen steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Warum? Hat sie hingeschmissen? Gott, sie kann uns doch nicht einfach hängen lassen!«
»Ehrlich gesagt hat man mir die Gründe dafür nicht genannt«, erwidere ich. »Ich weiß nur, dass sie gegangen ist und nicht zurückkommen wird.«
»Aber warum?«, fragt Daisy besorgt. Zwischen ihren fein geschwungenen Augenbrauen bildet sich eine steile Falte, ihre Finger schließen sich instinktiv um den Anhänger der Kette, die sie jeden Tag trägt. Das macht sie oft, wenn sie gestresst ist. »Ich meine, das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!«
Meine Schultern verkrampfen sich, als alle anfangen durcheinanderzureden. Ich habe das Gleiche gedacht wie Daisy, tue ich immer noch. Es ist wirklich absolut unlogisch, dass Caitlin den Verlag verlässt. Es fühlt sich an, als würde mir das wichtigste Teil eines Puzzles fehlen. Ich hätte eben bei Grandpa nicht lockerlassen dürfen. Ich hätte mich nicht so sehr darauf konzentrieren sollen, dass er mir Caitlins Job übertragen hat, sondern darauf, warum sie ihn nicht mehr ausüben wird.
Sloane legt den Kopf schief, sodass ihr langes, kohlrabenschwarzes Haar über ihre Schultern nach vorn fällt, ihr Blick ist offen und klar. Sie ist gedanklich schon drei Schritte weiter, das ist ihr anzusehen. »Wenn Caitlin weg ist, wie geht es dann für uns weiter? Gibt es eine vorläufige Vertretung? Wer soll ihren Job machen?«
Meine Brust hebt sich, als ich einmal tief Luft hole, mein Herz rast. »Ich soll die Leitung übernehmen.«
Ein Satz, er fällt wie ein Stein zwischen uns, rollt über den Tisch an allen vorbei, nur um am Ende wieder bei mir zu landen.
Bitte hasst mich nicht. Der Gedanke blitzt unvermittelt auf, während Sloane und Elliot einen Blick wechseln, den ich nicht deuten kann, der jedoch deutlich zeigt, dass zwischen ihnen noch ein ganz anderes Verständnis besteht und nicht ihre ganze Zusammenarbeit und Beziehung von bissigen Kabbeleien geprägt ist. Marjorie und Daisy gucken sich auf ähnliche Art an, dann schauen alle gleichzeitig zu mir.
Bitte hasst mich nicht dafür, dass mein Grandpa mir den Job gegeben hat. Bitte denkt nicht, dass ich den Job nur seinetwegen bekommen habe.
Ich räuspere mich, meine Handflächen sind auf einmal unangenehm feucht. Keine Ahnung, welche Reaktion ich erwartet habe, aber ich habe zumindest mit irgendeiner Reaktion gerechnet. Mit mehr als fassungsloser Stille. »Ich weiß, dass ihr das erst mal verdauen müsst und dass das eine schwierige Situation ist, und ich verstehe, wenn ihr euch bei dem Gedanken nicht wohlfühlt, weil …« Ich breche ab, als Blair entschieden den Kopf schüttelt und mir ein strahlendes Lächeln schenkt.
»Machst du Witze? Es ist großartig, dass du die Leitung übernimmst! Wirklich! Das ist richtig, richtig toll!«, beteuert sie, und sie sagt es so ehrlich, so aufrichtig, dass meine Schultern erleichtert nach unten sinken.
»Wirklich richtig toll!«, stimmt Sloane ihr zu, ihre vollen Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen. »Niemand hier arbeitet härter als du. Es wäre absolut albern, jemanden von extern einzustellen, der sich erst mal einarbeiten muss, wenn du hier bist und praktisch alles weißt, was Caitlin wusste.«
»Eben. Am Ende hättest du diese Person einarbeiten müssen, und dann kannst du den Job doch direkt selbst übernehmen«, findet auch Elliot.
»Mal ganz abgesehen davon hast du es auch echt verdient!« Marjorie schenkt mir ein Lächeln, und etwas in meinem Bauch wird ganz warm.
»Genau. Außerdem haben wir uns ja gerade erst richtig als Team eingespielt, wenn jetzt plötzlich jemand Neues von extern kommen würde, würde das doch alles wieder durcheinanderbringen.« Blair schneidet eine Grimasse. »Ich meine, stellt euch nur mal vor, man würde uns jemanden als Boss vor die Nase setzen, mit dem wir nicht klarkämen.«
»Das wäre eine Katastrophe.« Sloane zieht schaudernd die Schultern hoch.
»Dann …« Ich breche ab und ziehe unsicher die Zähne zwischen die Unterlippe.
»Dann was?«, hakt Marjorie sanft nach, und die Art und Weise, wie sie mich ansieht, lässt mich beinahe annehmen, sie ahnt, was in mir vorgeht. Dass ich Angst davor habe, was sie über die ganze Sache denken. Dass ich Angst davor habe, ich könnte versagen und alles gegen die Wand fahren. Dass sie glauben, ich bin ungeeignet für den Job.
Ich stoße ein hilfloses Lachen aus. »Dann ist es für euch nicht seltsam, dass ich jetzt eure Vorgesetzte bin?«
»Nein.« Blair schüttelt entschieden den Kopf. »Du warst doch ohnehin Caitlins rechte Hand und hast dich um alles gekümmert, wenn sie im Urlaub oder krank war. Ich finde das gar nicht seltsam.«
»Ich auch nicht.« Sloane nickt bekräftigend, die anderen ebenfalls, und es fühlt sich nicht so an, als würden sie das nur tun, um den beiden zuzustimmen. Es wirkt ehrlich auf mich.
Erleichterung durchflutet mich, grenzenlose Erleichterung, weil sie sich wirklich für mich zu freuen scheinen.
Ich atme auf. »Das ist lieb von euch. Echt. Danke.« Meine Stimme bricht bei dem letzten Wort, ich muss mich räuspern, bevor ich weitersprechen kann. »Vermutlich werden wir ein bisschen umstrukturieren müssen. Da Caitlin nicht mehr da ist und ich ihre Aufgaben übernehmen werde, müssen wir einen Teil meiner Aufgaben auf euch umverteilen. Ich versuche, mich so schnell wie möglich in Caitlins Bereich einzuarbeiten, um zu entscheiden, was priorisiert werden muss. Sollen wir uns vielleicht Mitte nächster Woche ein paar Stunden zusammensetzen und überlegen, wie wir uns am besten umorganisieren, damit sich niemand überlastet fühlt?«
»Das klingt doch gut.« Daisy nickt zustimmend.
»Klingt vor allem so, als hättest du jetzt schon einen Plan«, meint Elliot grinsend.
Tatsächlich rasen meine Gedanken, seit ich Grandpas Büro verlassen habe. Ich hatte nur noch keine Gelegenheit, sie zu sammeln und zu sortieren.
Später. Das kann ich alles später machen.
»Ich habe eine grobe Richtung und ein paar Vorschläge«, räume ich ein, denn da ist definitiv etwas. Es ist nur noch nicht ausgefeilt. Noch nicht so, wie es sein soll. Sein muss.
Daisy lacht. »Das überrascht wohl niemanden.«
»Ich nehme das jetzt mal als Kompliment«, sage ich mit einem leichten Lächeln.
Sie nickt bestätigend. »Solltest du auch.«
Ich linse auf die Uhr, es ist kurz nach halb eins. »Also von meiner Seite wären wir fürs Erste fertig. Ich denke, die nächsten Tage schaffen wir noch halbwegs in unseren alten Strukturen. Ich mache mir dann übers Wochenende mal ein paar Gedanken zu unserer Neustrukturierung, aber ich möchte, dass wir die Entscheidungen gemeinsam treffen, in Ordnung?«
Einvernehmliches Nicken.
»Gut. Dann … Habt ihr noch was? Irgendwelche Bedenken? Vorschläge?«
Dieses Mal schütteln alle den Kopf.
»In Ordnung, dann würde ich sagen, schönes Wochenende und wir sehen uns Montag.«
»Alles klar, bis Montag«, zwitschert Sloane, und dann schlüpfen sie nacheinander aus Caitlins Büro.
Caitlins Büro, das jetzt wohl mein Büro ist.
* * *
»Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst?« Blair mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Entschlossen schüttle ich den Kopf. »Nein, ich komme schon klar. Geh nach Hause.«
Es ist halb zwei, alle anderen haben längst Feierabend gemacht, nur Blair und ich sind noch hier, und obwohl ich mich mit den Mails befassen sollte, die sich in den vergangenen Tagen in Caitlins Postfach angestaut haben, stehe ich jetzt mit Blair in unserem Büro, um mein ganzes Zeug in mein neues rüberzuschaffen.
»Du hast aber ganz schön viel Zeug angesammelt. Mir macht es überhaupt nichts aus, dir zu helfen, alles rüberzubringen.« Sie schenkt mir ein gewinnendes Lächeln, und im ersten Moment bin ich zwar noch versucht abzulehnen, dann knicke ich doch ein.
»Okay, wenn du wirklich Zeit hast und ich dich nicht davon abhalte, ins Wochenende zu verschwinden …«
»Ich habe Zeit, und du hältst mich von gar nichts ab. Ich würde jetzt nicht behaupten, dass ich vor Freude in die Luft hüpfe, aber eher, weil du und ich uns ab sofort kein Büro mehr teilen. Ansonsten ist es kein Problem für mich.«
»Das ist lieb von dir, danke.«
Blair grinst mich an. »Wie gesagt, kein Problem. Und jetzt …« Sie zieht ihr Handy aus der hinteren Hosentasche ihrer Jeans, holt Lautsprecher aus der Schublade ihres Containers und verbindet beides miteinander. »Was hältst du von ein bisschen Musik, während wir hier alles umräumen?«
Ich muss lächeln. »Sehr viel.«
Blair nickt zufrieden, und einen Moment später hallt die Stimme von Olivia Rodrigo durch unser Büro und wir machen uns an die Arbeit.
Ich habe tatsächlich unfassbar viel Zeug. Bücher und Bilder, eine Wolldecke, Duftkerzen, die ich wegen der Brandschutzordnung zwar nicht anzünden darf, aber der Duft von Rosmarin und Zeder ist so beruhigend, dass ich sie trotzdem aufgestellt habe.
Wir arbeiten in einvernehmlichem Schweigen. Blair ist die Einzige, mit der das funktioniert. Die Einzige, bei der ich nicht das dringende Bedürfnis habe, die Stille mit oberflächlichem Small Talk zu füllen, weil ich mich sonst permanent frage, ob es für sie unangenehm ist.
Ich würde nicht sagen, dass Blair und ich Freundinnen sind, dafür bin ich zu sehr ich. Ich bin nicht gut darin, mich an andere Menschen zu binden, nicht seit der Sache mit Adam und Wes. Nicht seit der Sache mit Mum.
Die Menschen in meinem Leben haben mir schon zu oft bewiesen, dass es sich nicht lohnt, sich auf jemanden einzulassen. Sich richtig auf jemanden einzulassen, mit langen Gesprächen und sehr viel Ehrlichkeit. Sie haben mich gelehrt, dass es weniger schmerzhaft ist, auf Abstand zu bleiben und auf sein Herz aufzupassen. Ohne Erwartungen an andere Menschen wird man schlicht und ergreifend weniger verletzt.
Trotzdem ist es bei Blair irgendwie anders. Vielleicht bleibt das nicht aus, wenn man sich fast ein halbes Jahr lang jeden Tag im Büro gegenübersitzt und unweigerlich anfängt zu reden. Und wir reden eigentlich viel; über Musik und Bücher, Filme und Serien. Über Oberflächliches, wenig über Persönliches, trotzdem fühlt es sich an, als wären wir mehr als Arbeitskolleginnen. Freundinnen sind wir deswegen, wie gesagt, allerdings noch lange nicht.
Wir brauchen eineinhalb Stunden, um meinen ganzen Krempel in Caitlins Büro zu verstauen, die Bilder wieder aufzuhängen und die Bücher auf die Regalbretter an den Wänden zu räumen, die viel hübscher aussehen als das kleine Regal, das in meinem alten Büro hinter dem Schreibtisch steht.
Mit einem Seufzen lässt Blair sich auf einen der Sessel fallen, die vor Caitlins – vor meinem – Schreibtisch stehen. »Es wird ganz schön seltsam sein, mir nicht mehr das Büro mit dir zu teilen.«
»Ja, schon, oder?«
»Ja! Ich meine, bei wem soll ich mich denn von jetzt an immer darüber beschweren, wie picky das Lektorat manchmal mit Covern sein kann, die absolut umwerfend, aber angeblich noch nicht perfekt genug sind?«
»Also erstens: Mein Büro ist nur ein paar Meter von deinem entfernt, du kannst trotzdem rüberkommen. Zweitens: Du beschwerst dich nicht. Und wenn doch, dann tust du es auf eine sehr nette Art und Weise.«
Blair lacht. »Das ist gelogen. Ich bin nicht nett.«
»Na gut, manchmal nicht, aber meistens schon.«
»Es wird trotzdem komisch sein, allein da drüben zu sitzen.« Blair verzieht das Gesicht, und die offensichtliche Traurigkeit in ihren Augen versetzt mir einen kleinen, spitzen Stich.
»Wenn du kein Büro für dich allein haben möchtest, können wir fragen, ob jemand von den anderen tauscht oder ob wir deinen Schreibtisch noch in einem anderen Büro unterbringen können.«
»Nein, schon gut. Das ist nicht nötig. Ich komme klar, und ich möchte auch gar nicht mit einem von den anderen zusammensitzen. Die sind manchmal so … laut. Also versteh mich nicht falsch, ich hab sie alle super gern, und es ist auch vollkommen okay, wenn sie untereinander damit fein sind, aber ich brauche manchmal einfach meine Ruhe. Und mit dir konnte ich auch gut … schweigen. Du weißt schon.«
»Ja.« Ein wehmütiges Lächeln huscht über mein Gesicht. Ich weiß genau, was sie meint.
»Es wird einfach nur komisch sein, dass du nicht mehr da bist, das ist alles.«
Dagegen kann ich irgendwie nichts sagen. Aber das ist auch gar nicht nötig, denn in der nächsten Sekunde hellt sich Blairs Gesicht auf.
»Sag mal, wir wollen heute Abend gemeinsam was trinken gehen, Sloane hat da so eine neue Bar entdeckt. Hast du Lust, mitzukommen?«
Das Nein liegt mir auf der Zunge, pelzig und ein bisschen bitter, ein erster Reflex, weil ich nie ausgehe, erst recht nicht mit meinen Arbeitskolleginnen und -kollegen. Ich arbeite, und wenn ich nicht arbeite, gehe ich wahlweise in die nächste Buchhandlung oder verkrieche mich auf meinem Sofa und lese.
Aber ein Teil von mir will Ja sagen. Weil sich heute irgendwie alles geändert hat und es sich falsch anfühlt, einfach nach Hause zu gehen und so zu tun, als wäre nichts gewesen.
Leider gibt es da jedoch schon wieder ein sehr lautes Aber.
»Meinst du, das ist eine gute Idee? Immerhin bin ich jetzt euer Boss. Ist es nicht seltsam, wenn ich mit euch ausgehe?«
Blair wischt meinen Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Ach Quatsch. Ich bin mir sehr sicher, dass niemand was dagegen hat. Elliot fragt immer, warum du nicht mitkommst, wenn wir was machen, also hat er schon mal kein Problem, und die anderen auch nicht, da bin ich mir hundertprozentig sicher.«
»Ich weiß nicht«, druckse ich herum.
Blair zuckt mit den Schultern. »Du musst nicht. Ich dachte nur, wir könnten deine Beförderung ein bisschen feiern. Aber wenn du dich damit nicht wohlfühlst, musst du wirklich nicht. Es war nur so eine Idee.«
»Das ist es nicht …«
Ist es doch, flüstert eine Stimme in meinem Kopf, und sie hat recht. Ich fühle mich tatsächlich nicht richtig wohl damit. Nur ist da noch eine andere Stimme, eindringlich und leise, die trotzdem gern Ja sagen möchte.
Ich denke nicht nach, ich entscheide mich einfach aus dem Bauch heraus. »Okay. Bin dabei.«
Blair strahlt mich an. »Toll! Ich schreib dir, wann und wo wir uns treffen, okay?«
Ich nicke nur.
»Ich freu mich! Dann mach ich mich jetzt mal auf den Heimweg, und du bleib bitte auch nicht mehr so lange, ja? Bis später.«
Blair verschwindet so schnell, dass ich keine Gelegenheit mehr habe, meine Entscheidung zu überdenken und das Ja doch noch in ein Nein zu verwandeln, und ich schätze, genau deshalb hat sie es getan.
Weil sie mich vielleicht ein bisschen besser kennt, als ich dachte. Besser, als sie sollte.
In der Bar, die Sloane ausgesucht hat, ist die Hölle los. Wenig überraschend für einen Freitagabend. Gedämpfte Musik hallt aus versteckten Lautsprechern, nicht so laut, dass man sich nicht mehr unterhalten kann, aber auch nicht so leise, dass unangenehme Pausen in Gesprächen nicht von der Musik überbrückt werden könnten. An der Theke drängen sich Menschen aneinander, hauptsächlich Leute in unserem Alter, also irgendwas zwischen Anfang zwanzig und Mitte dreißig.
Der Geruch von Parfum hängt in der Luft, als ich mich durch den schmalen Gang zwischen Tresen und Tischen quetsche, auf der Suche nach Blair und den anderen.
Ich finde sie an einem hohen Tisch im hinteren Bereich des Ladens.
Sloane entdeckt mich als Erste und empfängt mich mit einem strahlenden Lächeln. »Da bist du ja, wir haben uns schon gefragt, ob du auf dem Weg hierher verloren gegangen bist.«
Mein Herz macht einen erleichterten Satz, als mich alle der Reihe nach begrüßen.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin, mir ist noch was dazwischengekommen«, entschuldige ich mich, während ich mich aus meinem Mantel schäle. Draußen ist es elendig kalt und entschieden zu nass für meinen Geschmack. Das Wetter schreit förmlich nach meinem Lesesessel, einer Kuscheldecke und heißem Kakao, nicht nach einer Bar.
»Was wollen wir wetten, dass du direkt vom Büro hierher bist?« Elliots Blick wandert von meinem Gesicht über die weiße Bluse zu der dunklen Stoffhose. Beides hatte ich heute Morgen auch schon an.
»Was wollen wir wetten, dass unverschämte Fragen früher oder später zu deiner Kündigung führen werden, Elli?«, fragt Sloane mit einem zuckersüßen Lächeln.
»Ach, Leute, kommt schon.« Daisy stöhnt gequält auf. »Könnt ihr euch ein einziges Mal nicht zanken?«
»Wäre ich auch sehr dafür. Wie überlebt ihr es eigentlich, den ganzen Tag im selben Büro zu sitzen, ohne euch gegenseitig den Hals umzudrehen?«, fragt Blair neugierig.
»Das würde mich allerdings auch interessieren.« Ich hänge meinen Mantel an der Garderobe hinter dem Tisch auf und stelle mich dann zwischen Blair und Daisy.
»Mit vielen Tränen«, gibt Elliot todernst zurück. »Ich weine mich jede Nacht in den Schlaf, und dann kann ich am nächsten Tag so tun, als würden mir Sloanes Gemeinheiten nicht ständig das Herz brechen.«
Sloane bricht in schallendes Gelächter aus. »Oh mein Gott, du übertreibst maßlos! Ganz abgesehen davon bist du mindestens genauso gemein wie ich, du wirst es also überleben.«
»Ich hab auch nie das Gegenteil behauptet.« Ein breites Grinsen huscht über sein attraktives Gesicht, er zwinkert ihr zu, und sie verdreht die Augen, lächelt aber immer noch. »Okay, ich hole mal eine Runde. Was wollt ihr trinken?«
Ich entscheide mich für einen Gin Mule, die anderen wählen ebenfalls Cocktails, und einen Moment später verschwindet Elliot Richtung Theke.
»Verratet mich bitte nicht an Elliot, aber ich war wirklich noch im Büro«, gebe ich zu, sobald er außer Hörweite ist.
Sloane stöhnt auf. »Nicht dein Ernst.«
»Was hast du da denn noch so lange gemacht?« Marjorie starrt mich so entsetzt an, als würde allein die Vorstellung, Freitagabend noch im Büro abzuhängen, ihr Unbehagen bereiten.
Ich hebe die Schultern. »Ich fürchte, ich habe mich in diversen Excel-Tabellen verloren.«
»Excel ist das Tor zur Hölle.« Daisy verzieht schaudernd das Gesicht.
»Nur wenn man nicht weiß, wie man damit umgehen muss.« Ich lächle, doch sie schüttelt vehement den Kopf.
»Nein. Ganz im Ernst, wer behauptet, sich mit Excel auszukennen und Spaß an dem Mist zu haben, kann nicht von dieser Welt sein.«
»Ich sehe schon, das wird ein Abend voller Grundsatzdiskussionen.« Sloane stößt ein theatralisches Seufzen aus. »Dafür brauche ich definitiv Alkohol. Wo bleibt Elli?« Suchend dreht sie sich um, entdeckt Elliot am Tresen und verabschiedet sich mit einem »Bin gleich wieder da«, um ihm beim Tragen unserer Getränke zu helfen.
»Seit wann nennt ihr Elliot eigentlich Elli?«, wundere ich mich, weil ich das Gefühl nicht loswerde, irgendwas verpasst zu haben.
»Oh, erst seit ein paar Tagen«, erklärt Blair mit einem süffisanten Grinsen. »Seine Schwester heiß Eleanor, und er hat den Fehler gemacht, Sloane zu erzählen, dass er sie immer Elli nennt und sie es hasst. Denn das hat sie zum Anlass genommen, es ihm im Namen seiner Schwester heimzuzahlen.«
»Elliot und Eleanor?« Ich muss lachen.
»Ja, ihre Eltern haben es nicht gut mit ihnen gemeint. Jetzt haben sie zwei Ellis.«
»Eigentlich ist es doch ganz süß«, meint Daisy diplomatisch, weil Daisy immer diplomatisch ist.
»Ist es nicht«, gibt Marjorie trocken zurück. »Man sollte sich wirklich überlegen, welche Spitznamen Kinder bekommen können, bevor man ihnen einen Namen gibt, und bei den beiden war Elli leider vorprogrammiert. Man kann aus den Namen ja gar nichts anderes machen.«
Ich will etwas erwidern, doch eine tiefe Stimme kommt mir zuvor. »Das ist nicht euer Ernst, oder? Seid ihr jetzt schon bei dem bescheuerten Namensthema angekommen?« Elliot drängt sich zurück an den Tisch, ein Tablett in der Hand. Sloane folgt ihm mit einem zweiten.
»Ich bin nicht schuld!«, ruft sie triumphierend. »Ich war nicht hier, als sie damit angefangen haben.«
»Du hast ihn aber gerade Elli genannt, bevor du zu ihm gegangen bist, also theoretisch …« Blair bricht ab, als Sloane sie vorwurfsvoll anfunkelt.
»Verräterin.«
»Entschuldigung«, sagt Blair, klingt aber nicht so, als würde ihr das auch nur eine Sekunde lang leidtun.
»Schon gut. Es war klar, dass ihr früher oder später wieder darauf zu sprechen kommt, also was soll’s.« Elliot verteilt die Getränke, bevor er sein eigenes Glas anhebt. »Lasst uns anstoßen. Auf die Herstellung von Prince Publishing und das beste Team der Welt. Und auf Maddie, die uns ab jetzt alle irgendwie unter Kontrolle bringen muss.«
»Auf Maddie!«, stimmen die anderen ein, unsere Gläser stoßen gegeneinander, und als ich einen Schluck nehme, ist es nicht nur der Alkohol, der ein warmes Gefühl in meinen Bauch zaubert.
* * *
Drei Stunden später ist mir nicht mehr nur warm, mein Kopf ist watteweich, und alles fühlt sich leicht an.
Die Stimme, die mir zuflüstert, dass es seltsam ist, mit meinem Team auszugehen, jetzt, wo ich ihr Boss bin, ist so leise geworden, dass ich sie kaum noch hören kann. Es ist beinahe irritierend, wie wenig unwohl ich mich hier in dieser Bar mit ihnen fühle. Möglicherweise liegt es daran, dass ich echt selten Alkohol trinke und inzwischen mehr als nur ein bisschen beschwipst bin. Vielleicht liegt es aber auch einfach an ihnen und der Tatsache, dass sie unseren gemeinsamen Abend alle tatsächlich zu genießen scheinen, obwohl – oder weil? – ich hier bin.
Sie lachen und reden und benehmen sich so, als würden sie nicht nur zusammenarbeiten, sondern als wären sie auch befreundet.
Und heute Abend gehöre ich ausnahmsweise dazu.
»Ich gehe mal eben zur Toilette. Soll ich danach noch etwas mitbringen?«, frage ich in die Runde, doch die anderen schütteln nur die Köpfe und halten ihre noch halb vollen Gläser hoch. »Okay, dann bis gleich.«
Umständlich schiebe ich mich durch die Menge – in den letzten Stunden hat es sich noch mehr gefüllt – Richtung Toiletten, als ich jemanden meinen Namen rufen höre. Klar und deutlich über den Lärm in der Bar hinweg.
Abrupt bleibe ich stehen.
Mein Name. Und eine Stimme, die ich unter Tausenden wiedererkennen würde. Sie ist mir immer noch vertraut, viel zu vertraut, dabei ist es sechs Jahre her, dass ich sie das letzte Mal gehört habe. Sechs Jahre, dass ich ihn das letzte Mal gehört habe.
Ich setze mich in Bewegung, schneller dieses Mal, drehe mich nicht um, tue einfach so, als hätte ich es nicht mitgekriegt. Das wäre nicht sonderlich überraschend, es ist wirklich voll und laut hier. So laut, dass es keine große Sache ist, einen Ruf zu überhören.
Keine große Sache.
Keine große …
Eine Hand schließt sich um meinen Oberarm, hält mich auf, und ich komme stolpernd zum Stehen. Ich war nicht schnell genug.
»Maddie.« Wieder mein Name, seine Stimme ist samtig weich, schon immer gewesen, und sie hat sich nicht verändert.
Langsam drehe ich den Kopf, versuche, mich zu wappnen, und versage völlig, als ich Wes ins Gesicht schaue.
Wesley Knight.
Der erste Junge, in den ich verliebt war. Der einzige Junge, in den ich je verliebt gewesen bin.
Er steht vor mir, nur wenige Zentimeter entfernt, seine Hand an meinem Arm, da ist nur eine dünne Schicht Stoff, die uns voneinander trennt. Die Berührung brennt, setzt meine Haut in Flammen.
Mein Verstand nimmt in Sekundenschnelle auf, was mein Herz sich zu erkennen weigert.
Wes war schon immer groß und gut aussehend, mit ausgeprägten, aber schlanken Muskeln. Doch der Wes, den ich kannte, der Junge, für den ich mal viel zu viel empfunden habe, hat kaum noch etwas gemein mit dem Mann, der dem Raum um uns herum jetzt jedes noch so kleine Fitzelchen Sauerstoff zu entziehen scheint.
Er ist attraktiv, auf eine Weise, die es einem schwermacht, ihn nicht anzuschauen.
Es liegt an seinen Augen, diesem dunklen Blauton, an den ich mich immer noch viel zu gut erinnern kann. Sein Gesicht ist eine Spur zu symmetrisch, es ist schon ein bisschen unfair, obwohl es im Grunde egal ist, weil seine Wangenknochen und seine Kieferlinie aussehen wie aus Stein gemeißelt. Da kommt es auf ein bisschen mehr Symmetrie auch nicht mehr an. Seine dunklen, kurzen Haare sind auf eine Weise zerzaust, die viel Mühe gekostet haben muss. Er trägt eine beige Stoffhose, dazu ein weißes Hemd, dessen oberster Knopf offen steht und glatte Haut hervorblitzen lässt.
Und er lächelt. Er lächelt mich mit diesem Lächeln an, das der Grund dafür war, dass ich damals mein Herz an ihn verloren habe.
»Maddie«, sagt er, mein Name, das dritte Mal, er soll bitte damit aufhören. Aber nein, er redet weiter. »Ich wusste doch, dass du es bist.«
Immerhin lässt er mich wieder los, die Stelle an meinem Oberarm brennt allerdings nach wie vor, selbst dann noch, als er die Hand längst in seine Hosentasche geschoben hat.
»Wesley«, bringe ich hervor, es fühlt sich falsch an, ihn Wes zu nennen. Früher habe ich ihn Wes genannt, aber früher war auch alles anders. »Was machst du hier?« Ich habe die Frage kaum ausgesprochen, als ich sie direkt zurücknehmen möchte. Ja, was macht er wohl hier? An einem Freitagabend in einer Bar … Dafür gibt es bestimmt keinen absolut offensichtlichen Grund.
»Ich bin mit ein paar Freunden hier.« Er deutet über seine Schulter hinweg zu einem Tisch, an dem drei Typen sitzen und uns neugierig beobachten. Keiner von ihnen kommt mir auch nur im Entferntesten bekannt vor.