Move On - New England School of Ballet - Anna Savas - E-Book

Move On - New England School of Ballet E-Book

Anna Savas

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Beschreibung

Wenn ich dich jetzt küssen würde, würdest du es zulassen?

Als die Dreharbeiten zu einer Dokumentation über die New England School of Ballet beginnen, traut Skye ihren Augen nicht! Nie im Leben hätte sie gedacht, ausgerechnet Gabriel am Set plötzlich wieder gegenüberzustehen - dem Jungen, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hat und der ihr vor drei Jahren auf schmerzhafteste Weise das Herz gebrochen hat. Sofort werden längst vergessene Erinnerungen wach. Und so sehr Skye versucht, Gabriel aus dem Weg zu gehen, kann ihr verräterisches Herz doch nicht leugnen, dass da immer noch viel zu viele Gefühle zwischen ihnen existieren - bis ein Kuss alles ins Wanken bringt ...

Band 4 der New-Adult-Reihe an der NEW ENGLAND SCHOOL OF BALLET von Anna Savas

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Playlist

Prolog

1. Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Was bisher geschah …

4. Kapitel

5. Kapitel

2. Teil

6. Kapitel

Was bisher geschah …

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Was bisher geschah …

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Was bisher geschah …

3. Teil

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Was bisher geschah …

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Was bisher geschah …

4. Teil

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Was bisher geschah …

28. Kapitel

29. Kapitel

Was bisher geschah …

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Was bisher geschah …

5. Teil

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

6. Teil

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

Epilog

Nachwort

Danksagung

Die Autorin

Die Bücher von Anna Savas bei LYX

Impressum

ANNA SAVAS

Move On

NEW ENGLAND SCHOOL OF BALLET

Roman

ZU DIESEM BUCH

Als die Dreharbeiten zu einer Dokumentation über die New England School of Ballet beginnen und die Filmcrew mit den Aufbauarbeiten auf dem Campus anfängt, wird Skye schlagartig der Boden unter den Füßen weggerissen: Nie im Leben hätte sie gedacht, ausgerechnet Gabriel am Set plötzlich wieder gegenüberzustehen – dem Jungen, in den sie sich Hals über Kopf verliebt und der ihr vor drei Jahren auf schmerzhafteste Weise das Herz gebrochen hat. Ein Blick von ihm genügt, und sofort werden längst vergessene Erinnerungen wach. An den Anfang ihrer Liebe, das Ende – und alles dazwischen. Und so sehr sie auch versuchen, sich aus dem Weg zu gehen, fühlen sie sich doch immer wieder zueinander hingezogen. Aber das Praktikum hinzuschmeißen ist für Gabriel keine Option, wenn er seinen Abschluss in Film Directing nicht gefährden will. Und je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto schwieriger wird es zu leugnen, dass das mit ihnen nicht vorbei ist. Weil das mit ihnen nie vorbei sein wird, und ein Kuss plötzlich alles ins Wanken bringt …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle

das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Anna und euer LYX-Verlag

Für alle, die vergeben können,

auch wenn es manchmal einfacher ist,

wütend zu sein.

PLAYLIST

logical – olivia rodrigo

you broke me first – conor maynard

all too well (10 minute version) (taylor’s version) – taylor swift

house of memories – panic! at the disco

all for you – cian ducrot

love of my life – harry styles

happy – nf

want you back – 5 seconds of summer

i miss you, i’m sorry – gracie abrams

therapy – voilà

good enough – maisie peters

maroon – taylor swift

bad idea right? – olivia rodrigo

is it over now? (taylor’s version) (from the vault) – taylor swift

21 – gracie abrams

birthday cake – dylan conrique

cross my heart i hope u die – meg smith

gone – nf, julia michaels

i should hate you – gracie abrams

i miss you (skin to skin) – dylan conrique

teeth – 5 seconds of summer

nevergreen – voilà, kellin quinn

get him back! – olivia rodrigo

if i don’t laugh, i’ll cry – frawley

PROLOG

Skye

Vergangenheit

Skye, 17 – Gabriel, 18

16. Mai

Es endet mit einer Lüge.

Fassungslos starre ich Gabriel an. Mein Herz schlägt hart und schnell gegen meine Rippen, als wollte es mir aus der Brust springen und sich irgendwo verstecken, damit es nicht gebrochen wird.

Zu spät, zu spät, zu spät.

In meinen Ohren rauscht es. Er meint das nicht ernst. Kann er nicht. Nicht einfach so. Nicht ohne Vorwarnung. Dabei gab es sie, oder? Erste Anzeichen, die ich verdrängt habe, weil ich Angst hatte. Aber sie waren da. Ich hätte nur besser hinschauen müssen.

»Sag das noch mal.« Meine Stimme klingt hohl und tonlos, nicht so wie sonst, nicht nach mir.

Gabriels Blick ist kalt. »Es ist vorbei.«

»Vorbei«, echoe ich, obwohl er es schon zwei Mal gesagt hat.

»Ja. Vorbei.«

Das dritte Mal. Es wird nicht besser. Nur schlimmer. So viel schlimmer.

»Warum?«, frage ich erstickt. Tränen kriechen mir die Kehle hoch, meine Haut beginnt, unangenehm zu jucken. Ich will mich kratzen, damit es aufhört, nur wird es das nicht, egal, was ich tue. Stattdessen ballen sich meine Hände zu Fäusten, so fest, dass sich meine Fingernägel schmerzhaft in meine Handflächen bohren.

Gabriel zuckt nur wortlos mit den Schultern und kann mir dabei noch nicht mal in die Augen sehen.

Wut durchströmt mich, glühend heiß und unaufhaltsam, kollidiert in meinem Inneren mit stechendem Schmerz. Meine Hände treffen auf seine Brust, ich schubse ihn, ohne nachzudenken. Er stolpert einen Schritt zurück, bevor er sich wieder fängt.

»Sag mir verdammt noch mal, warum!«, schreie ich, verliere die Kontrolle, über die Situation, mich, einfach alles. »Ich war für dich da. Die ganze Zeit! Ich habe alles für dich getan, und du –«

»Du warst nicht für mich da!«, unterbricht er mich scharf, und jetzt sieht er mich doch an.

Ich wünschte augenblicklich, er würde es nicht tun. Er hat mich noch nie so angesehen. So als würde ich ihm nichts bedeuten.

»Du hast mich erstickt!«

Ich zucke zusammen. »Was?« Mein Zorn fällt so schnell in sich zusammen, wie er hochgekocht ist. Meine Sicht verschwimmt, mir wird erst heiß und dann eiskalt.

»Du hast mich schon verstanden.«

Ja, das habe ich. Und doch begreife ich gar nichts.

»Ich habe überhaupt nicht …« Ich breche ab, meine Stimme gehorcht mir nicht mehr, ich kann nicht klar denken, mein Kopf ist auf einmal vollkommen leer.

»Du nervst, Skye. Seit Wochen klebst du an mir, du bist überall. Es ist unerträglich«, sagt er, und er klingt so beherrscht, so gleichgültig, dass mein Herz sich nicht länger verstecken kann.

Ich hätte es ihm nicht so leichtfertig schenken dürfen, hätte besser darauf aufpassen müssen, damit er es nicht brechen kann.

Aber er tut es.

Einfach so.

Als wäre nichts dabei.

Und ich kann nichts dagegen tun. Ich kann es nicht aufhalten.

»Das meinst du nicht ernst«, bringe ich erstickt hervor, klammere mich mit allem, was ich habe, an diesen allerletzten winzigen Funken Hoffnung, der in meiner Brust flackert und im nächsten Moment erlischt.

Gabriels Hände ballen sich zu Fäusten, seine Kiefermuskeln treten hervor. »Skye, du bist unerträglich.«

Es dauert ein, zwei, drei viel zu lange Sekunden, bis seine Worte bei mir ankommen. Bis sie sich mit scharfen Krallen in mein Inneres graben, sich festsetzen.

Ich werde sie nie wieder vergessen.

Du bist unerträglich.

Ein Zittern durchläuft meinen Körper, mir werden die Knie weich, ich fürchte, sie geben gleich einfach nach, und dann falle, falle, falle ich. In diesen Abgrund, den er zwischen uns aufgerissen hat.

Ich weiche zurück, bringe Abstand zwischen uns, obwohl ich mich auf ihn stürzen und ihm wehtun will, so wie er mir gerade wehtut. Aber ich kann nicht.

»Ich hasse dich«, flüstere ich, meine Augen schwimmen in Tränen.

Lüge. Lüge. Lüge.

Ich hasse ihn nicht. Ich bin in ihn verliebt. Und ich dachte, er würde das Gleiche für mich empfinden. Ich dachte, wir würden das zusammen durchstehen. Dass wir alles zusammen schaffen könnten. Ganz gleich, was passiert. Ich dachte, wir würden zusammengehören.

»Gut«, erwidert er, und dann geht er.

Gabriel geht, und es spielt keine Rolle mehr, was zwischen uns war, was aus uns hätte werden können.

Es endet mit einer Lüge, und ich wünschte, es wäre die Wahrheit.

1. TEIL

Erste Folge

»Pilotfolge«

1. KAPITEL

Gabriel

Gegenwart

Skye, 20 – Gabriel, fast 21

Zwischen Weihnachten und Silvester aus seinem Urlaub gerufen zu werden, weil der Boss einem etwas Wichtiges mitzuteilen hat, ist vermutlich kein besonders gutes Zeichen, oder?

Nein, echt nicht. Eigentlich ist es ein besonders mieses Zeichen.

Mit beiden Händen fahre ich mir durch die dunklen Haare, als könnte mich das irgendwie beruhigen, bevor ich an Deannas Tür klopfe. Am liebsten würde ich so tun, als hätte ich ihre Mail heute Morgen überhaupt nicht gelesen, aber ich schätze, dann hätte ich meinen Praktikumsplatz eher früher als später wieder verloren. Und ich brauche diesen Platz.

Ein einjähriges Praktikum ist Grundvoraussetzung für meinen Abschluss an der Los Angeles Film School in Film Directing, und es war schon viel zu schwierig, überhaupt einen Platz zu bekommen. Es gibt mehr Studierende als offene Praktikumsstellen. Wenn ich jetzt rausfliege und von vorne anfangen muss, verliere ich mindestens ein Semester, das ich dann am Ende dranhängen muss, und das wäre mehr als nur beschissen. Die Studiengebühren sind ohnehin schon viel zu hoch.

»Komm rein.« Deannas helle Stimme ist freundlich, aber das muss nichts heißen. Sie ist immer freundlich, beherrscht, professionell. Und undurchschaubar. Sie könnte mich jetzt feuern oder befördern. Da Letzteres bei einem simplen Praktikum eher unwahrscheinlich ist, bleibt im Grunde nur die andere Möglichkeit.

Großartig.

Ich würde dann jetzt doch ganz gerne verschwinden.

Leider ist das keine Option, also atme ich tief durch und stoße die Tür zu ihrem Büro auf. Mein Blick huscht durch den Raum, über die Filmplakate, die in schwarzen Bilderrahmen an den Wänden hängen, und das niedrige Sideboard, auf dem ordentlich aufgereiht kleine Statuen stehen, Auszeichnungen für ihre bisherigen Arbeiten.

Deanna Lewis ist eine beeindruckende Frau, trotz oder gerade wegen ihres Alters. Sie ist erst Anfang dreißig, hat als Regisseurin und Produzentin allerdings bereits mehr erreicht als andere Männer und Frauen, die schon deutlich länger in der Branche sind.

Die Leute neigen dazu, sie zu unterschätzen, nicht zuletzt wegen der weichen rotblonden Locken, die ihr rundes Gesicht umrahmen, und der großen blauen Augen, die ihr etwas sehr Unschuldiges verleihen. Etwas, das sie definitiv nicht ist. Deanna ist knallhart. Sie weiß, was sie will, und in der Regel bekommt sie es auch.

»Gabriel, danke, dass du deinen freien Tag für mich geopfert hast«, begrüßt sie mich und bedeutet mir mit einer Handbewegung, mich auf einen der Stühle vor ihrem Schreibtisch zu setzen.

»Kein Problem.« Ich ringe mir ein Lächeln ab und bete, dass es die Wahrheit ist.

»Sehr schön.« Ihre Mundwinkel heben sich ein winziges Stück, doch ihr Blick bleibt ernst. »Ich dagegen habe ein Problem. Deswegen bist du auch hier«, fährt sie fort.

Ich bin ihr dankbar, dass sie sofort zum Punkt kommt und sich nicht mit höflicher Fragerei über meine Weihnachtsfeiertage aufhält. Das hätte mir gerade echt noch gefehlt.

»Jacob ist beim Ballett-Projekt abgesprungen, weil er es offenbar nicht fertigbringt, ein paar Monate ohne seine Freundin zu überleben.« In ihrer Stimme schwingt jetzt ein säuerlicher Unterton mit, das einzige Anzeichen dafür, dass sie eindeutig genervt ist.

Ich richte mich bei ihren Worten instinktiv auf, ein mulmiges Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus, eine dunkle Vorahnung, worauf dieses Gespräch hinauslaufen wird.

Bitte nicht.

Das Ballett-Projekt ist eine Dokumentation über eine Ballettakademie, die an einer der renommiertesten Schulen des Landes gedreht wird. Ein Semester lang werden die Schülerinnen und Schüler dieser Schule bei ihrem Alltag begleitet. Es wird eine Serie voller Tanz und Tränen, Druck und Ästhetik.

Dieses Projekt ist Deannas Baby, sie hat Jahre darauf hingearbeitet. Ich habe mit der ganzen Sache absolut nichts zu tun. Will ich auch nicht. Genau genommen ist es das Letzte, was ich will. Das Allerletzte.

»Jacob ist abgesprungen?«, hake ich nach, obwohl sie genau das gerade gesagt hat.

»Eigentlich hat er mich gebeten, ihm ein Projekt hier in Los Angeles zuzuteilen.« Sie streicht sich eine Strähne ihrer rotblonden Locken hinters Ohr, ihr Blick durchbohrt mich.

»Und hast du?« Ich klinge unbeteiligter, als ich mich fühle.

»Nein.« Ihre Antwort ist knapp, doch ich weiß genau, was sie bedeutet. Sie hat ihm nicht nur kein Projekt in L. A. gegeben, sondern ihn gefeuert.

Nicht, dass mich das stören würde. Jacob und ich haben uns von Anfang an nicht besonders gut verstanden. Im Gegensatz zu mir ist er kein Praktikant mehr, sondern ein festangestellter Kameraassistent, und das hat er permanent raushängen lassen. Er hat einfach so eine Art, mit der ich nicht besonders klarkomme, nicht zuletzt deshalb, weil er immer jede noch so kleine Aufgabe an sich reißt, nur um sich dann zu beschweren, dass er so viel zu tun hat. Hilfe will er dann aber auch nie. Na ja, jetzt braucht er offenbar eh keine mehr. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das auch für mich gilt.

»Und das heißt jetzt was genau?«, erkundige ich mich und kann mich kaum davon abhalten, nach dem Haargummi zu greifen, das ich an meinem Handgelenk trage, und es gegen meine Haut schnellen zu lassen. Eine nervöse Angewohnheit, die ich einfach nicht ablegen kann, egal, wie oft ich es versuche.

Ich weiß, was Deanna sagt, noch bevor sie den Mund aufmacht.

»Es heißt, dass du mitkommst.«

Stumm starre ich sie an. Mein Herz schlägt so heftig gegen meine Rippen, als wollte es sie brechen, und ehrlich gesagt hätte ich gerade nicht mal was dagegen. Es würde nämlich bedeuten, ich könnte hierbleiben. Ich müsste nicht zurück nach Boston und nicht zurück an diese verdammte Schule.

»Habe ich eine Wahl?«, frage ich, nachdem ich endlich meine Stimme wiedergefunden habe.

Deanna schenkt mir ein trügerisch sanftes Lächeln. »Nicht, wenn du deinen Job behalten möchtest.«

Ich nicke wortlos, obwohl alles in mir danach drängt, Nein zu sagen. Ich kann das nicht.

Fuck, ich will das nicht.

»Eigentlich bin ich davon ausgegangen, du würdest dich über diese Gelegenheit ein bisschen mehr freuen«, meint Deanna, nachdem ich nicht antworte, und mustert mich prüfend. »Bist du nicht selbst auf die New England School of Ballet gegangen? Ich meine, ich hätte da irgendwas in deinem Lebenslauf gelesen.«

»Ja. Ich war da«, erwidere ich, während mein Magen sich verknotet. Es ist etwas mehr als drei Jahre her, seit ich die Schule verlassen habe, aber es fühlt sich nicht so an. Nicht mal ansatzweise. Eher nach drei Wochen, vielleicht nach Monaten, aber nicht nach Jahren, obwohl ich seitdem nicht nur meinen Schulabschluss gemacht, sondern auch angefangen habe, zu studieren. Ich bin ans andere Ende des Landes gezogen, und trotzdem fühlt es sich nicht so an.

»Und du freust dich nicht, weil …?« Deannas Augenbrauen wandern auffordernd nach oben.

»Weil es Gründe dafür gibt, dass ich gegangen bin«, gebe ich kurz angebunden zurück und bete, dass sie nicht nachhakt.

Deanna schürzt die Lippen und neigt nachdenklich den Kopf zu einer Seite. Ihr Blick ist so durchdringend, als würde sie versuchen, in meinen Kopf zu schauen. Keine Chance.

»Gründe, die dich davon abhalten, bei diesem Projekt mitzumachen?«

Wenn ich dadurch nicht meinen Job verlieren würde, würde ich wirklich gerne Ja sagen. Denn es gibt zu viele Gründe, warum ich nie wieder einen Fuß auf diesen Campus setzen möchte.

Zu viele und zwei ganz bestimmte.

Einer davon hat zu viel damit zu tun, dass ich in diesem Moment hier stehe. In diesem Büro in Los Angeles. Dass ich Film Directing studiere, anstatt zu tanzen.

Der andere hat dunkle Haare und noch dunklere Augen, mit vollen Lippen und einer Stimme, die mich auch heute noch verfolgt.

Bilder steigen in mir auf, Erinnerungen. An den Anfang. Das Ende. Und alles dazwischen.

Ihre Hand in meiner, meine Hände an ihrer Taille, Hebefiguren, sie war so leicht. Brennende Muskeln, ziehender Schmerz, schweißdurchtränkte T-Shirts. Leise geflüsterte Gespräche mitten in der Nacht, weil ich nicht auf ihrem Zimmer sein durfte und sie nicht auf meinem. Mein Kopf auf ihrer Brust, ihr Herzschlag unter meinem Ohr, schnell und unregelmäßig. Tage, an denen ich mich kaum bewegen konnte, von den vielen Stunden Training.

Andere Tage, an denen mir alles wehtat, aus anderen, sehr viel schmerzhafteren Gründen.

Entschieden schiebe ich die Erinnerungen beiseite. Es ist vorbei. Das ist meine Vergangenheit, nicht meine Gegenwart.

Vergangenheit.

»Nein«, entgegne ich mit einiger Verspätung und drücke den Rücken durch, ignoriere den unangenehmen Schauer, der mir die Wirbelsäule hinunterrast.

»Wunderbar. Das wollte ich hören.« Zufrieden lehnt Deanna sich auf ihrem Stuhl zurück und schlägt die Beine übereinander. »Ich glaube, du bist eine hervorragende Bereicherung für unser Team. Immerhin kennst du dich nicht nur auf dem Campus, sondern auch mit dem Ballett aus.«

Nur mit Mühe kann ich mich davon abhalten, das Gesicht zu verziehen. Sie hat recht. Ich kenne mich aus und wünsche mir in diesem Augenblick viel zu sehr, ich täte es nicht. Dann wäre vielleicht jemand anders ausgewählt worden. Jemand, der tatsächlich nach Boston gehen wollen würde.

»Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, dich sofort für das Projekt einzuteilen, dann hätte ich mir das Drama mit Jacob erspart, aber er hat nun mal schon seinen Abschluss, und ich will die besten Leute für das Projekt«, fährt Deanna fort.

»Was ist denn mit Lenny? Wäre sie kein geeigneter Ersatz für Jacob?« Ich greife nach dem letzten Strohhalm, weiß aber schon, dass es absolut hoffnungslos ist, noch bevor Deanna den Kopf schüttelt.

»Ich hätte sie gerne mitgenommen, aber Lenny hat schon ein wichtiges Projekt. Sie kommt nicht infrage.«

Schade.

»Wann geht es denn los?«

Konzentrier dich auf die Fakten, dann wird alles gut. Einfach konzentrieren, nicht fühlen. Ganz simpel.

»Übermorgen. Du kannst Silvester also noch mit deiner Familie und deinen Freunden feiern.«

»Danke.« Ich zwinge mich zu einem dankbaren Lächeln und verfluche mich selbst dafür, dass ich nicht einfach dankbar sein kann.

Die Hälfte meiner Kommilitonen würde für die Chance töten, mit Deanna am Ballett-Projekt zu arbeiten. Überhaupt dafür, mit ihr an etwas zu arbeiten. Allerdings ist das Ballett-Projekt anders. Besonders.

Dummerweise ist es mein ganz persönlicher Albtraum.

* * *

Als wir zwei Tage später am Logan International Airport in Boston ankommen, ist es arschkalt, und es schneit. Dicke weiße Flocken wirbeln durch die Luft und bleiben in meinen Wimpern hängen. Die Luft ist klar, ich habe vergessen, wie das ist, wenn es schneit. Dass die Geräusche der Stadt leiser werden, dass es anders riecht, dass alles anders ist.

In meiner Brust zieht es, als ich tief durchatme. Ich habe seit drei Jahren keinen Fuß mehr in diese Stadt gesetzt, und trotzdem fühlt es sich von einer zur nächsten Sekunde so an, als wäre ich nie weg gewesen. Ich schätze, es liegt am Schnee, der in L. A. einfach fehlt und für mich untrennbar mit Boston verbunden ist.

»Gabriel, beweg dich und steig ins Auto.« Deannas Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich hebe den Kopf und stelle fest, dass abgesehen von ihr und mir bereits alle in die am Straßenrand parkenden SUVs gestiegen sind. Ein Großteil des Teams ist schon heute Morgen angekommen, um mit dem Aufbau zu beginnen. Wir dagegen sind spät dran. Unser Flug hatte wegen des Schnees Verspätung. Das Wetter ist in den letzten Stunden schlechter geworden, wir können froh sein, dass wir überhaupt fliegen konnten. Deanna hat sich den halben Tag darüber beschwert, dass sie doch den früheren Flug hätte nehmen sollen. Dummerweise hatte sie da noch einen letzten Termin, der sich nicht verschieben ließ.

»Sorry«, murmle ich und setze mich in Bewegung. Ich klettere auf die Rückbank, Deanna auf den Beifahrersitz.

Einen Moment später rollt der dunkle Wagen durch den Bostoner Feierabendverkehr, und plötzlich ist an dem Schnee gar nichts mehr schön, denn offenbar vergisst ein Großteil der Menschen, wie man vernünftig Auto fährt, wenn die Straßen mit dunkelgrauem Matsch bedeckt sind.

Niemand spricht, alle sind zu erledigt von dem siebenstündigen Flug, also ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und schreibe meinen Eltern, dass ich gut gelandet bin. Mom schreibt sofort zurück und wünscht mir viel Spaß, Dad schickt nach ein paar Minuten ein Daumen-hoch-Emoji, das war’s. So wie immer. Er ist kein Freund vieler Worte.

Ich tippe gerade auf den Chat mit Noah, um meinem besten Freund zu schreiben, da sehe ich, dass er mir zuvorgekommen ist.

Noah: Seid ihr zwischendurch abgestürzt, oder warum meldest du dich nicht?

Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Ich kenne Noah, seitdem wir im ersten Semester unseren ersten Kurs zusammen hatten. Wir haben uns auf Anhieb verstanden, und das hat sich auch dann nicht geändert, als er nach ein paar Wochen gemerkt hat, dass er doch lieber vor als hinter der Kamera steht. Er hat das Studium geschmissen, ich habe weitergemacht, und irgendwie sind wir Freunde geworden. In meinem zweiten Semester sind wir zusammengezogen. Wie sich herausgestellt hat, ist es ziemlich praktisch, wenn ein Filmstudent und ein angehender Schauspieler zusammenwohnen, dessen Eltern in der Branche nicht ganz unbekannt sind. Er hat mich meinen Lernstoff abgefragt, ich ihn seine Texte. Ich konnte ihm dabei helfen, seine Präsenz vor der Kamera zu verbessern, er hat mir geholfen, den Praktikumsplatz bei Deanna zu ergattern. In Los Angeles kommt man ohne Vitamin B und eine gehörige Portion Glück nicht so wahnsinnig weit, da nützt einem auch alles Talent der Welt nichts.

Gabriel: Tut mir leid, wir hatten Verspätung. Der Schnee ist schuld.

Noah: Schnee? Ernsthaft?

Gabriel: Es ist Januar, was hast du erwartet?

Noah: Keinen Schnee?

Gabriel: Du hast zu viel Zeit in L. A. verbracht.

Noah: Könnte daran liegen, dass ich nie aus Kalifornien rausgekommen bin.

Gabriel: Das solltest du dringend ändern.

Noah: Ich könnte dich in Boston besuchen. Und mir das Mädchen anschauen, über das du nicht reden willst.

Nur mit Mühe kann ich das genervte Stöhnen unterdrücken, das in mir aufsteigt. Es war so klar, dass er wieder darauf zurückkommen würde. Seit ich ihm vorgestern erzählt habe, dass ich nach Boston muss, fängt er immer wieder davon an. Er kennt die Geschichte. Zumindest die Kurzfassung. Die lange, schmerzhafte Version habe ich für mich behalten.

Gabriel: Was genau bringt dich auf den Gedanken, dass ich anfange, mit dir über sie zu reden, wenn du hier auftauchst?

Noah: Gar nichts. Du musst meine Nachricht richtig lesen. Ich will sie sehen, nicht mit dir über sie reden.

Gabriel: Und was versprichst du dir davon, sie zu sehen?

Noah: Weiß ich noch nicht. Ich bin einfach nur neugierig, wer dieses Mädchen ist, das für dein schwarzes Herz verantwortlich ist.

Gabriel: Warum musst du eigentlich immer so pathetisch sein?

Noah: Ich bin nicht pathetisch, sondern theatralisch, und ich bin theatralisch, weil ich Schauspieler bin.

Gabriel: Gerade bist du vor allem nervig.

Noah: Und du wirst mich trotzdem vermissen.

Gabriel: Ich glaube nicht.

Noah: Lügner.

Augenrollend lasse ich das Handy sinken. Leider hat er recht. Ich werde ihn vermissen, weil er mir sehr verlässlich dabei hilft, nicht den Verstand zu verlieren. Vielleicht sollte er doch nach Boston kommen, denn die Wahrscheinlichkeit, hier nicht den Verstand zu verlieren, ist verschwindend gering.

Das Display leuchtet auf.

Noah: Siehst du. Du widersprichst nicht mal.

Gabriel: Was ist, wenn das Projekt so richtig scheiße wird?

Noah: Wegen Skye?

Gabriel: Noah …

Noah: Was denn? Es gibt exakt einen Grund, warum das Projekt scheiße werden könnte. Sie. Das war’s. Mehr ist da nicht. Und wenn du mir einfach sagen würdest, was zwischen euch vorgefallen ist, könnte ich dir auch sagen, dass du dir deswegen keine Gedanken machen musst.

Wir wissen beide, dass es mehr als nur diesen einen Grund gibt. Er versucht, mich von dem anderen abzulenken, aber es funktioniert nicht. Mein Magen rebelliert, in meiner Brust zieht es.

Gabriel: Vielleicht nächstes Mal. Wir sind da. Ich melde mich später.

Noah: LÜGNER!

Ich spare mir eine Antwort, weil er schon wieder recht hat, lasse mein Handy in der Hosentasche verschwinden und greife nach dem Haargummi an meinem Handgelenk, konzentriere mich darauf, wie es sich unter meinen Fingern anfühlt, auf meiner Haut. Nur, um nicht nachdenken zu müssen.

Doch nur ein paar Minuten später biegt der Wagen auf den Parkplatz der New England School of Ballet ab, und als wir aussteigen, weiß ich auf einmal nicht mehr, wie das mit dem Atmen geht. Nichts hat sich verändert. Alles ist genauso wie früher. Die hellen Sandsteingebäude, das schmiedeeiserne Tor, durch das man den Campus betritt. Das Theater, das das Herzstück der Schule ist. Die Wohnheime.

Neu sind nur die Trailer, die auf dem Campus verteilt wurden und in denen wir uns zwischen den Drehpausen aufhalten können.

Mein Herz krampft sich zusammen. Ich will wirklich nicht hier sein. Warum mussten wir direkt herfahren? Hätten wir nicht zuerst einen Abstecher ins Hotel machen können? Dann hätte ich mich irgendwie besser auf diesen Moment vorbereiten können.

Als ob du im Flugzeug nicht genug Zeit gehabt hättest, verspottet mich eine Stimme in meinem Kopf.

»Gabriel, kannst du kurz rüberkommen?« Deannas Assistentin Bree winkt mich zu sich. Sie steht nur ein paar Meter von mir entfernt und tippt mit fliegenden Fingern eine Nachricht in ihr Handy ein. Der Schnee knirscht leise unter meinen Füßen, während ich zu den beiden rübergehe.

»Was gibt’s?«

Bree schaut von ihrem Handy auf, streckt mir eine Hand entgegen, und erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass sie mir einen Schlüssel reichen möchte. »Deine Sachen wurden schon nach oben gebracht. Du bist im großen Wohnheim untergebracht. Dritter Stock, Zimmer siebzehn.«

Ich erstarre. »Mein Zimmer?«

»Ja. Dein Zimmer. Da, wo du schlafen wirst.« Ungeduldig wedelt sie mit dem Schlüssel vor meiner Nase herum.

»Schon klar, aber wo genau ist mein Zimmer?« Ich muss nachfragen, auch wenn sie es mir gerade schon gesagt hat.

Bree verdreht die Augen. »Im Wohnheim.«

»Im Wohnheim«, echoe ich, mein Körper begreift vor meinem Verstand, was das bedeutet. Meine Schultern verkrampfen sich, zusammen mit meinem Magen. Ich stehe stocksteif da und will nicht glauben, was hier passiert. »Warum sollte ich im Wohnheim wohnen?«

Noch ein Augenrollen, deutlich genervter dieses Mal. »Weil das nun mal so ist. Alle Assistenten wohnen hier im Wohnheim. Anordnung von oben.«

»Warum?«, frage ich tonlos.

»Gott, Gabriel, keine Ahnung. Wahrscheinlich, weil es günstiger ist, als uns alle im Hotel unterzubringen. Und weil wir morgens die Ersten am Set sind.«

»Ich kann nicht hier im Wohnheim wohnen.«

»Dann sprich mit Deanna und hol dir deine Kündigung.« Sie schenkt mir ein kühles Lächeln. »Oder du nimmst endlich diesen verdammten Schlüssel und lässt mich weiterarbeiten.«

Einen Moment lang kann ich sie nur anstarren. Einen Moment, in dem ich die Zähne so fest aufeinanderbeiße, dass es wehtut, und in dem ich ernsthaft überlege, dieses Praktikum hinzuschmeißen, mich wieder dahin zu verpissen, wo ich hergekommen bin, und die letzten zwölf Stunden ersatzlos aus meinem Gedächtnis zu streichen. Das Gespräch mit Deanna vor zwei Tagen am besten auch, wenn ich schon mal dabei bin.

Dukannstnichthinschmeißen.Dumusstdasdurchziehen.EssindnureinpaarMonate,mehrnicht.EinSemester.Dasschaffstdu.

Die warnende Stimme in meinem Kopf gehört eindeutig Noah, und ich wünschte, ich könnte sie einfach ignorieren. Kann ich aber nicht.

Also nehme ich Bree zähneknirschend den Schlüssel aus der Hand.

»Geht doch. Wie gesagt, deine Sachen sind schon oben. Wir treffen uns in einer Stunde im Theater. Deanna will noch ein paar Dinge mit uns durchsprechen«, rattert sie runter und richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr Handy, ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen.

Offensichtlich bin ich damit entlassen.

Mit einem schweren Seufzen wende ich mich Richtung Wohnheim und merke erst, als ich schon den ersten Schritt gemacht habe, dass es das falsche ist. Ich wollte instinktiv zurück ins kleine Wohnheim, in dem ich früher untergebracht war, bevor ich die Schule verlassen habe.

Meine Schultern verkrampfen sich, mein Puls geht schneller, immer schneller, während ich den Campus überquere und schließlich das große Wohnheim betrete. Es unterscheidet sich nur unwesentlich von dem kleinen, die gleichen dunklen Böden, die gleichen hellen Wände, dafür gibt es mehr Zimmer. Auf dem Weg nach oben begegnen mir einige Jungen und Mädchen, die mich neugierig mustern und zu tuscheln beginnen, sobald sie an mir vorbei sind.

Ich ignoriere sie. In meinen Ohren rauscht es.

Dritter Stock, Zimmer siebzehn.

Ich zähle die Treppenstufen, versuche, meine Gedanken in Schach zu halten, sie nicht in die Richtung wandern zu lassen, in die sie unbedingt wollen. Zwinge mich, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren, nicht auf die Vergangenheit, und deshalb übersehe ich sie, als ich den Flur betrete.

Ich pralle gegen einen kleinen, schmalen Körper, stolpere zurück, eine Entschuldigung auf den Lippen, die mir im Hals stecken bleibt, als das Mädchen, mit dem ich zusammengestoßen bin, den Kopf hebt.

Dunkle Haare fallen in ein ovales Gesicht mit hohen Wangenknochen, einer geraden Nase und vollen Lippen. Mein Blick wandert über ihre zarten Züge, ich kann nichts dagegen tun. Sie ist schön, das war sie immer schon, aber in den letzten Jahren ist sie erwachsen geworden. Sie hat sich verändert.

Überraschung.

Fassungslos starrt sie mich an, aus diesen dunklen Augen, die immer noch verdammt zu vertraut sind.

Abgründe, dunkle Tunnel, in denen man sich verlieren kann, wenn man nicht vorsichtig ist.

Skye.

2. KAPITEL

Skye

Einige Minuten zuvor

Meine Tür fliegt auf, ohne dass sich jemand die Mühe macht, anzuklopfen. Wobei von jemand keine Rede sein kann. Es gibt nicht besonders viele Menschen, die einfach so bei mir reinplatzen.

Genau genommen nur zwei.

Jase und Mae.

Ich hebe den Kopf und stelle fest, dass es dieses Mal tatsächlich beide sind. Das wiederum ist dann doch eher ungewöhnlich.

»Unhöflich«, kommentiere ich ihr plötzliches Auftauchen knapp, doch Mae winkt ab.

»Guckst du eigentlich nie auf dein Handy?«, will sie mit einem vorwurfsvollen Seufzen wissen und lässt sich neben mich auf mein Bett fallen, während Jase sich auf meinen Schreibtischstuhl setzt, nachdem er und Mae achtlos ihre Mäntel auf den Boden neben meinem Kleiderschrank geworfen haben.

Hinter den beiden betritt Zoe das Zimmer und schließt die Tür mit einem leisen Klicken, nicht ohne mir einen entschuldigenden Blick zuzuwerfen, bevor sie ihren eigenen Mantel ordentlich auf denen der anderen ablegt. Sie ist die Einzige, die nicht nur anklopfen, sondern sogar auf meine Antwort warten würde, bevor sie reinkäme. Sie geht rüber zu Jase und lässt sich von ihm auf seinen Schoß ziehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der er das tut, versetzt mir einen kleinen, eifersüchtigen Stich. Nicht seinetwegen, Gott bewahre.

Jase ist seit unserem ersten gemeinsamen Tag an der New England School of Ballet mein bester Freund. Wir waren praktisch dazu verdammt. Denn es gab entweder die Option, dass wir Freunde werden oder vögeln, und er brauchte dringender eine gute Freundin, so wie ich einen guten Freund brauchte. Also haben wir das mit dem Sex gelassen. Das war eine der wenigen Entscheidungen, die ich in den letzten Jahren nicht bereut habe. Es ist leicht, jemanden zu finden, mit dem man die Realität für ein paar wenige Stunden vergessen kann. Echte Freunde dagegen sind deutlich schwieriger zu finden.

»Heute nicht«, erwidere ich und halte Mae demonstrativ meinen Laptop unter die Nase. Ich bearbeite gerade eins meiner Tanzvideos für YouTube und TikTok, oder zumindest tue ich so als ob, denn eigentlich starre ich nur stumpf auf den Bildschirm, weil meine Gedanken die ganze Zeit zu Sawyer wandern.

Deswegen liegt mein Handy auch auf meinem Schreibtisch, außer Reichweite. Mom hat mir garantiert geschrieben. Dad auch. Die beiden machen sich Sorgen, kein Wunder. Leider macht das nichts einfacher, sondern alles nur noch komplizierter, als es ohnehin schon ist. Denn je mehr Nachrichten ich von ihnen bekomme, desto schwerer fällt es mir, zu ignorieren, dass Sawyer schon wieder in die Klinik muss. Der nächste Rückfall, obwohl sein letzter doch wirklich der letzte hätte sein sollen.

Mein Magen verkrampft sich, ich muss aufhören, daran zu denken, sonst drehe ich noch durch.

»Skye, du enttäuschst mich.« Noch ein schweres Seufzen, theatralischer dieses Mal, aber Maes Augen funkeln übermütig, und ich weiß, sie meint das kein bisschen ernst.

»Aber das ist doch genau mein Job, und den versuche ich, so gut es geht, zu erfüllen«, gebe ich mit einem gezwungenen Grinsen zurück, schiebe jeden Gedanken an Sawyer entschieden beiseite und klappe den Laptop zu, ohne sicherzugehen, dass ich das Video tatsächlich schon abgespeichert habe. Ich muss ohnehin noch mal von vorne anfangen, weil nichts so funktioniert hat, wie ich mir vorgestellt habe. »Was ist denn so wichtig, dass ihr alle drei hier auftaucht?«

Mein Blick wandert zu Jase, der Mae und mich mit amüsierter Miene beobachtet, während er mit Zoes Haaren spielt. Es sieht beinahe so aus, als würde er kleine Zöpfe aus ihren langen roten Strähnen flechten. Noch ein Stich, anders dieses Mal.

Es ist Erleichterung, weil ich mich noch ganz genau daran erinnere, wie es Jase ging, als er an diese Schule gekommen ist. Der Jase, der jetzt vor mir sitzt, ist ein anderer. Einer, der weniger wütend und sehr viel weicher geworden ist. Ein Junge, der seiner Freundin die Haare flicht. Der glücklich ist. Er hat es verdient.

»Wir wollten runtergehen und mal schauen, was draußen so abgeht. Die Leute von der Serie sind eingetroffen und verunstalten mit ihren hässlichen Trailern unseren Campus«, sagt er trocken, und ich muss lachen.

»Du bist ja wirklich schwer begeistert von der ganzen Angelegenheit.«

»Jase ist von gar nichts begeistert, der alte Griesgram«, wirft Mae ein.

»Ich bin nur nicht so wahnsinnig begeistert davon, dass ein Haufen Leute herkommt, um in unserem Leben rumzustochern und daraus eine Story zu machen.« Seine Miene verdüstert sich, und ich weiß, woran er denkt. An Zoe und das, was sie durchmachen musste. An seine Schwester Lia, die mit einem unserer Lehrer zusammen ist – nicht, dass ihr das irgendjemand von uns übelnehmen könnte, Phoenix ist umwerfend.

Es gibt genug Geschichten, die sich für eine Dokumentation prima ausschlachten lassen, und unsere einzige Hoffnung ist, dass die Produzenten sich mehr auf das Ballett als unsere Privatangelegenheiten konzentrieren. So richtig groß ist diese Hoffnung jedoch nicht. Andererseits …

»Sie können nicht in eurem Leben rumstochern, solange ihr ihnen nicht die Erlaubnis dazu erteilt habt«, gebe ich zu bedenken.

»Schon klar. Aber es gibt überall Schlupflöcher. Wenn sie eine Story bringen wollen, werden sie das schon hinkriegen, Einverständniserklärung hin oder her.« Jase verzieht das Gesicht.

»Abwarten«, entgegnet Zoe sanft und verschränkt ihre Finger mit seinen.

»Genau. Und während wir warten, können wir auch produktiv sein.« Mae springt von meinem Bett, greift nach meinen Händen und zieht mich ebenfalls hoch. »Und produktiv sein heißt in diesem Fall, dass wir das machen, weswegen wir hergekommen sind: nämlich runtergehen und uns den Zirkus mal näher anschauen.«

»Zirkus trifft es wirklich gut«, murmelt Jase, lässt sich aber auch von Zoe vom Stuhl ziehen.

»Bist du wirklich gar nicht neugierig?«, fragt sie schmunzelnd, doch Jase zuckt nur mit den Schultern.

Ihm ist die ganze Sache mit der Dokumentation wirklich ziemlich egal. Er will nichts damit zu tun haben, und deswegen hat er sich auch nicht bereiterklärt, bei den Interviews mitzumachen, die mit einzelnen Schülerinnen und Schülern geführt werden. Einen Moment lang frage ich mich, ob ich es genauso hätte handhaben sollen.

Dummerweise ist diese Serie eine Chance, die sich so schnell nicht wieder ergeben wird. Eine Chance, vor der Kamera zu stehen, bekannt und gesehen zu werden, weiterzukommen. Schritt für Schritt.

»Ich sterbe vor Neugierde, also kommt endlich.« Mae lässt mir gerade genug Zeit, in meine Stiefel zu schlüpfen und nach meiner Winterjacke zu greifen, bevor sie mich entschieden aus dem Zimmer schiebt. Jase und Zoe folgen uns mit einem leisen Lachen.

»Sag mal, warum hast du es eigentlich so eilig? Wir haben praktisch das ganze Semester Zeit, uns anzuschauen, was da draußen abgeht«, murmle ich und ziehe mir die Jacke an. »Kein Grund, so zu stressen.«

»Ich stresse doch gar nicht!«, protestiert sie. »Ich bin echt nur neugierig, und außerdem sind es doch nur ein paar Minuten, also …« Maes Worte dringen nicht mehr zu mir durch, denn auf einmal versperrt mir etwas, oder vielmehr jemand, den Weg.

Ich pralle gegen einen großen Körper, stolpere einen Schritt zurück und will mich schon entschuldigen, als ich den Kopf hebe und in ein sehr vertrautes Gesicht schaue.

Ein lächerlich perfektes Gesicht, das nicht hierhergehört. Genauso wenig wie der Rest von ihm.

Mein Herz gerät aus dem Takt und die Welt in Schieflage. Alles verschwimmt, nur sein Gesicht, sein blödes, schönes Gesicht bleibt klar. Markante Augenbrauen, eine Kinnlinie, die zu scharf ist, um wahr, und vor allem, um echt zu sein. Nur ist alles an ihm echt und wirklich entschieden zu schön. Seine Nase, die hohen Wangenknochen und nicht zuletzt diese sündhaft vollen, sinnlichen Lippen, bei denen man gar nicht anders kann, als sich vorzustellen, wie es sich anfühlt, von ihnen geküsst zu werden.

Ich weiß es. Leider hat es sich viel zu gut angefühlt.

Und dann sind da noch seine Augen. Eine Mischung aus Blau und Grün, beinahe unnatürlich hell, und umrahmt von den dichtesten Wimpern, die ich je an einem Menschen gesehen habe. An den Mann vor mir sind sie auf jeden Fall fürchterlich verschwendet.

Einen Moment lang starren wir uns an, seine Miene ist ausdruckslos, ich fürchte, ich bin nicht so gut darin, meine Gefühle zu verbergen. Die Fassungslosigkeit, das Entsetzen, das mir die Kehle hochkriecht, dicht gefolgt von glühender Wut und grenzenlosem Hass.

Du bist unerträglich.

Ich weiß immer noch, wie er sie gesagt hat, diese Worte, die mir das Herz mit scharfen Klauen direkt aus der Brust gerissen haben. Seinen Tonfall. Abfällig. Arrogant. Arschlochmäßig.

Meine Hände ballen sich zu Fäusten, vor meinen Augen flimmert es, und zum ersten Mal begreife ich, was es heißt, wenn man rotsieht. Ein Zittern durchläuft meinen Körper, seine Augenbrauen heben sich kaum merklich, er sieht es, und ich hasse, hasse, hasse es, dass er immer noch so aufmerksam zu sein scheint wie früher.

Das Rauschen in meinen Ohren übertönt die Stimmen hinter und neben mir, Jase, Zoe und Mae, die nicht verstehen, was hier vor sich geht, aber wie könnten sie auch. Sie haben keine Ahnung, wer er ist. Ich bin gerade allerdings auch nicht in der Verfassung, sie aufzuklären.

Gabriel.

Meine erste große Liebe und der größte Mistkerl unter der Sonne.

Seine Mundwinkel heben sich zu einem spöttischen Grinsen, das ich ihm am liebsten aus dem Gesicht schlagen würde. »Hallo, Bambi. Lange nicht gesehen«, sagt er, und seine Stimme klingt noch genau wie früher, tief und samtig weich, wie Honig.

Bambi.

Dieser verfluchte Spitzname, den er mir verpasst hat, weil ich so große braune Augen habe. Sanfte Augen, hat er immer gesagt. Augen, die ich jetzt zu schmalen Schlitzen verenge.

»Fick dich, Gabriel«, zische ich, dann schiebe ich mich ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei und lasse ihn einfach stehen.

Ich haste die Treppe nach unten und verfluche mich selbst dafür, überhaupt einen Ton von mir gegeben zu haben.

In schwachen Momenten habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, ihn irgendwann wiederzusehen. Wie ich mich verhalten würde. Erwachsen und beherrscht, gleichgültig.

Vollkommen anders, als ich es gerade getan habe.

Verdammt.

3. KAPITEL

Skye

Eiskalte Luft schneidet in meine erhitzte Haut, als ich die Tür des Wohnheims aufstoße und auf den Campus stolpere.

Ja, stolpere.

Gabriels Auftauchen hat etwas in mir aus dem Gleichgewicht gebracht, vielleicht auch einfach mein ganzes Selbst, wer weiß das schon. Ich atme zu schnell, meine Hände beben, ich will mich an etwas festhalten, aber da ist nichts.

Nichts und niemand.

Ein frustrierter Schrei steigt in mir auf und bleibt mir im Hals stecken. Mit beiden Händen fahre ich mir durch die dunklen Haare, ziehe und zerre an den langen Strähnen, bis meine Kopfhaut brennt.

Was zur Hölle hat er hier verloren? Er war fast drei Jahre weg, und jetzt taucht er einfach so wieder an dieser Schule auf. Warum?

Womit habe ich das verdient?

Laute Stimmen hallen zu mir herüber, ich lasse die Hände sinken und drehe den Kopf, und zumindest die Frage nach dem Warum wird im nächsten Augenblick beantwortet, als ich die Trailer sehe, die am Rand des Campus ordentlich aufgereiht nebeneinanderstehen. Leute eilen geschäftig über den Hof, überall stehen überdimensionale schwarze Kisten herum, vermutlich das Equipment.

Die verfluchte Serie.

Deswegen ist er hier. Muss er.

Gott, nein, er darf nicht wegen dieser blöden Serie hier sein, denn das würde bedeuten, dass er monatelang bleiben wird. Monate.

Das ist schlimmer als jeder Albtraum, den ich in letzter Zeit hatte. Und ich hatte in den vergangenen Tagen und Wochen einige. Wegen Sawyer. Immer wegen Sawyer.

Ich presse mir die Handflächen auf die Augenhöhlen, als mein Puls in die Höhe schießt, zu schnell, zu heftig. Es fühlt sich an, als würde jemand mit seinem ganzen Gewicht auf meinen Brustkorb drücken.

Sawyer. Gabriel.

Gabriel. Sawyer.

Das darf doch alles nicht wahr sein.

Es kann nicht sein, dass er ausgerechnet jetzt zurückkommt, wenn es Sawyer wieder schlecht geht.

Das ist nicht fair.

»Skye?« Die leise, sanfte Stimme hinter mir gehört zu Zoe, das weiß ich, noch bevor ich mich zu meinen Freunden umgedreht habe.

Sie stehen alle drei hinter mir, Zoe besorgt, Mae unverkennbar neugierig, Jase mit einer finsteren Miene, die mich beinahe lächeln lässt. Aber auch nur beinahe. Denn dann fällt mir wieder ein, warum in seinen Augen unterdrückte Wut lodert. Wer schuld daran ist, dass er mich beschützen möchte.

»Alles in Ordnung?« Zoe streckt eine Hand nach mir aus, doch ich weiche instinktiv zurück. Nicht ihretwegen. Aber ich fürchte, wenn sie mich jetzt anfasst, verliere ich die Beherrschung, und dann fange ich an zu heulen, und das geht nicht.

Trotzdem brennen meine Augen plötzlich, ich fürchte, es liegt an ihrer Frage, denn nein, gar nichts ist in Ordnung. Wirklich absolut gar nichts.

Gabriel ist hier, und das ist eine Katastrophe epischen Ausmaßes.

Es ist erbärmlich. Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen. Ihm nach all der Zeit wieder über den Weg zu laufen sollte nicht … so etwas in mir auslösen. So viel Chaos. Er sollte mir egal sein. Warum kann er mir nicht einfach egal sein?

»Ich …« Ich breche ab, meine Zunge gehorcht mir nicht. In meinem Inneren verschmelzen Wut und das Echo eines längst vergangenen Schmerzes miteinander, verbinden sich zu absoluter Überforderung.

»Wer war das?«, fragt Mae, und zumindest das ist eine Frage, die ich beantworten kann.

»Gabriel«, entgegne ich tonlos.

Ihre Mundwinkel zucken. »Ja, so viel haben wir mitbekommen. Nette Begrüßung übrigens.«

Fick dich, Gabriel.

Resigniert zucke ich mit den Schultern. »Er hat es verdient.«

»Daran haben wir absolut keinen Zweifel.« Mae grinst. »Erzählst du uns auch, warum?«

Mein Blick wandert hilfesuchend zu Jase, ich kann nichts dagegen tun. Er weiß Bescheid. Nicht über alles, aber genug. Es gab da eine Nacht vor knapp zwei Jahren, ein Ausflug in einen Club, obwohl wir noch keine einundzwanzig waren – sind wir immer noch nicht –, ein paar Drinks zu viel, und Sawyers letzten letzten Rückfall, der nicht der letzte war, mich aber viel zu sehr aus der Bahn geworfen hat. So sehr, dass ich zu viel getrunken, zu viel geheult und Jase zu viel erzählt habe.

Er erwidert meinen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen und einer stummen Frage.

Willst du reden?

Ja. Nein. Keine Ahnung.

Ich bin so überfordert mit all den Gefühlen, die ich nicht fühlen will, dass ich schreien möchte.

»Skye?«, fragt Mae behutsam, aber ich schüttle den Kopf. Ich kann ihr jetzt nicht sagen, was sie hören will.

Du hast mich erstickt. Du nervst, Skye.

Der Druck auf und in meiner Brust wird stärker. Hitze steigt in mir auf, dabei ist es hier draußen wirklich kalt. Meine Haut kribbelt, da ist wieder dieser unwiderstehliche Drang, mich zu kratzen, nur damit es aufhört. Aber das würde nicht helfen. Gar nichts wird helfen. Nicht so jedenfalls.

Ohne ein Wort wirble ich herum und stürme zurück ins Wohnheim. Ich koche vor Wut.

Das hier ist meine Schule. Er hat hier absolut nichts zu suchen. Nicht mehr.

Scheiß auf erwachsen, scheiß auf beherrscht, scheiß auf gleichgültig. Ich bin nicht gleichgültig.

Ich bin wirklich sauer.

Ich nehme zwei Stufen auf einmal, während ich nach oben hetze, zurück in den dritten Stock. Er könnte längst woanders sein, aber irgendwas sagt mir, dass er immer noch dort ist und dass er so schnell nicht verschwinden wird. Vielleicht meine Intuition.

Abrupt halte ich inne, als ich sehe, dass eine Tür offen steht, gegenüber von meinem eigenen Zimmer.

Natürlich.

Gabriel lehnt im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, und blickt mir mit undurchdringlicher, beinahe gleichgültiger Miene entgegen. Er hat auf mich gewartet. Er wusste, ich würde zurückkommen. Weil ich das immer mache. Ich lasse mir keine Zeit, nachzudenken und überlegt vorzugehen. Ich reagiere einfach nur.

So ein Mist.

»Was zur Hölle hast du hier verloren?« Ich komme direkt zur Sache, habe keinen Nerv, um Spielchen zu spielen.

»Ich dachte, das wäre offensichtlich.« Er zieht eine Augenbraue hoch, und Gott, ich hasse ihn. So, so sehr. Wieso kann er nicht mal eine simple Frage beantworten?

»Klär mich trotzdem auf. Ich glaube nämlich, dass du aus irgendwelchen Gründen, die sich mir wirklich nicht erschließen, bei dieser Serie mitarbeitest. Trotzdem verstehe ich nicht, warum du in diesem Zimmer stehst. In diesem Wohnheim.«

In meinem Zuhause. Die unausgesprochenen Worte hängen sehr laut zwischen uns.

»Wenn du das wissen willst, frag meinen Boss. Sie hat das entschieden.« Er wirkt so gleichgültig, dass ich beinahe platze, und er macht es mit Absicht, nur um mich zu provozieren.

Und ich lasse mich provozieren, weil ich einfach nicht anders kann und weil er hier wirklich absolut gar nichts verloren hat.

»Du hättest Nein sagen können.« Es muss noch andere Unterkünfte geben. Unsere Wohnheime sind für all die Menschen, die sich da draußen herumtreiben, viel zu klein. So viele freie Zimmer gibt es nicht.

»Und mir dieses nette Gespräch entgehen lassen?« Er schüttelt langsam den Kopf, sodass ihm seine scheißperfekten, zerzausten Locken in die Stirn fallen. »Wo denkst du hin?«

Dieser. Mistkerl.

»Gabriel, ich mein’s ernst. Du kannst hier nicht wohnen«, sage ich und gehe auf ihn zu. Wenn ich zu viel Abstand halte, denkt er noch, ich habe ein Problem mit ihm. Moment, das habe ich. Aber das ist was anderes, also egal.

Direkt vor ihm bleibe ich stehen.

»Warum nicht?« Er mustert mich spöttisch.

Ich muss mir auf die Zunge beißen, um nicht mit der Wahrheit herauszuplatzen. Weil ich dir dann früher oder später den Hals umdrehe.

Stattdessen denke ich endlich doch einmal nach, bevor ich weiterrede. »Weil wir ein Recht auf Privatsphäre haben. Und wenn du bei dieser Serie mitmachst und hier wohnst, dann kann –«

»Um deine Privatsphäre musst du dir keine Sorgen machen«, unterbricht er mich, Arroganz kriecht in seine Züge. »Es gibt wirklich nichts, was mich gerade weniger interessiert.«

»Siehst du, und genau deswegen mache ich mir Sorgen. Oder du musst lernen, dich klarer auszudrücken. Denn wahrscheinlich meinst du, dass dich nichts weniger interessiert als ich, und nicht, dass dich nichts weniger interessiert als meine Privatsphäre.« Ich versprühe Gift in alle Richtungen. So viel dann dazu, mich zusammenzureißen.

Wenn es um jemand anderen gehen würde, würde ich mich dafür verabscheuen, wie ich mich benehme. Nein, wenn es um jemand anderen gehen würde, würde ich mich überhaupt nicht so verhalten. Aber es ist nun mal Gabriel, der vor mir steht.

Gabriel, der mir nicht nur das Herz gebrochen, sondern auch den Teil von mir getötet hat, der immer ganz genau wusste, wer ich bin. Nachdem er weg war, hatte ich keine Ahnung mehr.

Du bist unerträglich.

Ich habe ihm geglaubt. Und das ist es, was mich immer noch so wütend macht. Er hat mir etwas weggenommen, dessen ich mir immer so sicher war. Die Gewissheit, dass ich nett und empathisch bin, hilfsbereit und liebenswert.

»Du hast dich kein bisschen verändert«, stellt er fest. »Du bist immer noch genauso impulsiv wie früher und deswegen auch genauso berechenbar.«

»Und du bist immer noch ein Arschloch. Also haben wir uns wohl beide nicht besonders verändert.« Ich schenke ihm ein süßliches Lächeln und versuche irgendwie, die Kontrolle wiederzuerlangen, die er mir entrissen hat, ohne dass ich es überhaupt bemerkt habe.

Berechenbar. Als ob. Du kannst mich mal, Gabriel.

Er hat vielleicht damit gerechnet, dass ich zurückkomme, aber wir haben beide keine Ahnung mehr, wie der andere ist. Wir tun nur so als ob. Wir kennen uns nicht mehr. Und dabei soll es auch bitte bleiben.

»Ich würde ja sagen, dass es mir gefehlt hat, mich mit dir zu streiten, aber das wäre gelogen.« Gabriels Stimme ist ein heiseres Raunen, das mir einen Schauer über den Rücken jagt.

Ich mache instinktiv noch einen Schritt auf ihn zu, bin ihm jetzt so nah, dass ich die Wärme spüren kann, die von ihm ausgeht. Er provoziert mich, und das kann ich nicht einfach so auf mir sitzen lassen. Leider fällt mir auf, dass er immer noch genauso riecht wie früher. Nach Kiefern und etwas, das ganz und gar Gabriel ist. Und leider reagiert mein verräterischer Körper auf diesen Geruch, indem ich von Kopf bis Fuß eine Gänsehaut bekomme.

»Ich würde ja sagen, dass es mir gefehlt hat, überhaupt mit dir zu reden, aber das wäre auch gelogen«, schieße ich zurück, wütend auf mich selbst, auf ihn, auf die ganze verdammte Welt.

Seine Augen weiten sich, das einzige Zeichen dafür, dass ihm unsere Nähe genauso bewusst ist wie mir. »Du warst schon immer eine beschissene Lügnerin, Bambi.«

Ein paar Sekunden waren wir auf Augenhöhe, ein paar Sekunden hatte ich zumindest ansatzweise wieder die Kontrolle, und dann sagt er Bambi, und das war’s.

»Hör auf, mich so zu nennen, sonst kriegen wir ein ernsthaftes Problem«, fauche ich.

»Haben wir das nicht längst?«, schmunzelt er, und wie, wie, wie kann man nur so verflucht selbstgefällig sein?

Ich drücke den Rücken durch und weigere mich, seine Frage zu beantworten. Ich muss mich wirklich dringend zusammenreißen. Es läuft jetzt schon alles aus dem Ruder, dabei ist er gerade mal – wie lange? – zehn Minuten wieder hier?

»Halt dich von mir fern.« Meine Stimme klingt kühler als erwartet, und ganz kurz bin ich beinahe stolz auf mich.

»Sonst noch Wünsche?« Er klingt gelangweilt, aber da ist ein Unterton in seiner Stimme, etwas, das mich ohne ein Wort fragt, wie ich überhaupt auf die absurde Idee komme, er würde auch nur ansatzweise in meine Nähe kommen wollen.

Nur fürs Protokoll: Ich glaube das keine Sekunde lang. Aber sicher ist sicher.

Er soll mich einfach in Ruhe lassen.

»Ach, fick dich einfach, Gabriel.«

»Das sagtest du vorhin schon.« Sein Grinsen wird breiter, sein Blick wandert zu meinem Mund, nur ganz kurz, ich sehe es trotzdem, und in meinem Bauch zieht sich etwas zusammen. »Aber das konntest du schon immer besser.«

Seine Worte verschlagen mir die Sprache. Da ist nichts mehr, erst recht keine schlagfertige Erwiderung. Stattdessen zeige ich ihm wenig erwachsen den Mittelfinger – wir benehmen uns beide nicht besonders erwachsen, wenn ich ehrlich bin –, überquere den Flur und verschwinde in meinem Zimmer.

Ich höre ihn lachen, nachdem ich die Tür lautstark hinter mir zugeknallt habe. Und ich höre ihn immer noch lachen, als ich mich auf mein Bett werfe, das Kissen umschlinge und einen wütenden Schrei ausstoße, der von dem weichen Stoff gedämpft wird.

Ich hasse, hasse, hasse ihn.

So sehr, dass ich wünschte, ich hätte mich an meinem ersten Tag an der New England School of Ballet nicht neben ihn gesetzt und in diese irritierend schönen Augen gesehen. Ich wünschte, er hätte mich nicht so angelächelt. Mit diesem Lächeln, das mir von der ersten Sekunde an Schmetterlinge im Bauch beschert hat.

Ich wünschte, wir wären uns nie begegnet.

WAS BISHER GESCHAH …

Skye

Vergangenheit

Skye, fast 17 – Gabriel, 17

03. September

Die Neue an einer Schule zu sein ist immer schwierig. Die Neue an einer Ballettakademie zu sein, in der jede Klasse maximal zwanzig Schülerinnen und Schüler hat, ist noch schwieriger. Und die Neue zu sein, wenn alle anderen sich schon seit Jahren kennen, ist die absolute Hölle. Vor allem dann, wenn man bisher nicht auf ein Internat gegangen ist, sondern nur nachmittags nach der Schule Training hatte.

Es ist der erste Schultag, wenn man es genau nimmt, jedoch bereits der zweite Tag dieses Semesters. Gestern war noch nicht viel los. Alle sind nach den Ferien angekommen, haben ausgepackt und sich eingerichtet, bevor es ins Theater ging und Direktor Pearson seine alljährliche Willkommensrede gehalten hat. Danach gab es ein gemeinsames Abendessen, damit alle sich kennenlernen konnten, aber entweder wusste niemand davon, dass ich ab jetzt dazugehöre, oder, was mir wahrscheinlicher erscheint, es interessierte auch keinen. Auf jeden Fall hat mit mir niemand geredet. Mit den anderen Neuen dagegen schon, denen aus dem ersten Jahr, sowohl mit den vierzehn- als auch den achtzehnjährigen, denen, die anfangen, hier zur Schule zu gehen, und denen, die mit ihrem Studium beginnen.

Ich bin irgendwo dazwischen gelandet, und ich weiß, dass jemand gehen musste, damit ich diesen Platz bekommen konnte. Ein anderes Mädchen. Eine andere Tänzerin. Eine Freundin.

Unschlüssig bleibe ich in der Tür des Klassenraums stehen. Ich bin spät dran, und das mit voller Absicht. Es gibt nichts Schlimmeres, als sich auf einen Platz zu setzen, der bereits von jemand anderem in Anspruch genommen wurde, und dann aufstehen zu müssen, wenn dieser Anspruch verteidigt wird.

Jetzt, nur ein paar Minuten vor Unterrichtsbeginn, sind nur noch zwei Plätze frei. Einer davon ist für mich. Fragt sich nur, ob es der in der zweiten Reihe neben einem Mädchen mit rotbraunen Haaren ist, oder der in der letzten Reihe neben einem Jungen, dem dunkle Locken in die Stirn fallen. Sein Gesicht kann ich nicht sehen, er hat den Blick auf sein Handy geheftet, seine Finger huschen in atemberaubender Geschwindigkeit über das Display, und ich frage mich unwillkürlich, wem er so früh am Morgen schon so viel zu sagen hat.

Jemand stößt gegen meine Schulter, und ich stolpere einen Schritt nach vorne, rein ins Klassenzimmer. Ein Mädchen mit kohlrabenschwarzen Haaren schiebt sich an mir vorbei, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, und lässt sich auf den freien Platz neben dem anderen Mädchen fallen.

Und da war es nur noch einer.

Seufzend setze ich mich in Bewegung, gehe den Gang zwischen den Tischen entlang und bleibe vor ihm stehen. Er schaut nicht mal auf.

»Ist hier noch frei?« Meine Stimme klingt unsicher, überhaupt nicht nach mir, und ich würde die Frage am liebsten zurücknehmen, immerhin ist es der einzige freie Platz, und ich bin die Einzige, die noch übrig ist. Allerdings kann ich die Frage auch nicht nicht stellen, so wurde ich nicht erzogen. Was ich mache, sollte er Nein sagen, weiß ich nicht.

Er reagiert nicht.

Mein Gesicht brennt vor Verlegenheit, ich muss mich nicht mal umdrehen, um zu wissen, dass alle mich beobachten.

Gott, ich will nach Hause.

Wir glauben, es ist besser, wenn du dich eine Weile nur auf dich konzentrieren kannst, Liebling.

Auf einmal habe ich wieder Moms Stimme im Ohr, sehe ihr Lächeln vor mir, gequält und besorgt. Ihre Augen schwimmen in Tränen. Und ich habe es verstanden, wirklich verstanden, warum sie und Dad wollten, dass ich gehe. Nicht, um mich loszuwerden, niemals. Ich soll nur nicht mitansehen, was mit Sawyer passiert. Wie er von Tag zu Tag weniger der ältere Bruder wird, den ich kenne und liebe.

Ich soll nicht mitansehen, wie alles kaputtgeht.

Und deswegen stehe ich jetzt hier, wie bestellt und nicht abgeholt, und dieser Typ klebt an seinem Handy, als würde nichts anderes auf der Welt existieren.

Ich räuspere mich. Einmal. Zweimal. Beim dritten Mal blickt er endlich auf. Meine Lippen öffnen sich, ich will die Frage wiederholen, genervter als beim ersten Mal, aber ich vergesse, wie man spricht, als mich ein Blick aus den hellsten Augen trifft, die ich jemals gesehen habe. Eine Mischung aus Blau und Grün, umrahmt von langen, dichten Wimpern. Ich habe noch nie so schöne Augen gesehen. Und mein Herz klopft auf einmal viel zu schnell.

»Sorry, was?« Verwirrt blinzelt er zu mir hoch, und ich glaube, er hat mich beim ersten Mal tatsächlich nicht gehört. Sein Blick ist offen und arglos.

Ich muss mich noch mal räuspern, um meine Stimme wiederzufinden. »Ist der Platz noch frei?« Ich deute auf den Stuhl neben ihm, als wäre nicht völlig klar, was ich meine.

»Klar. Setz dich.« Seine Mundwinkel heben sich zu einem winzig kleinen Lächeln, und ich lasse mich erleichtert auf den Stuhl sinken.

»Danke.«

»Du bist neu, oder?«, fragt er, und kurz bin ich überrascht, dass er sich offenbar weiter mit mir unterhalten möchte.

»Ja, genau.«

»Ich bin Gabriel.« Er streckt mir eine Hand entgegen. Ich zögere ein paar Sekunden, keine Ahnung, warum, bevor ich meine Finger um seine schließe. Sein Griff ist warm und fest, nicht unangenehm, sondern irgendwie … sicher?

Das ergibt keinen Sinn. Genauso wie es keinen Sinn ergibt, dass es in meinem Bauch seltsam zu flattern beginnt, als sein Lächeln breiter wird. Er hat ein wirklich schönes Lächeln. Zu schön. Unfair schön.

Mein Mund wird trocken, ich begreife wirklich nicht, was hier vor sich geht. Aber irgendwie gelingt es mir, zu antworten. »Ich bin Skye.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Skye.« Mein Name klingt anders, wenn er ihn ausspricht, vielleicht bilde ich mir das auch ein, weil er außerdem eine echt schöne Stimme hat. Irgendwie scheint alles an ihm schön zu sein. Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll.

Schönheit kann gefährlich sein.

Oder die allerbeste Ablenkung.

In diesen ersten Augenblicken weiß ich noch nicht, dass Gabriel mehr sein wird als eine bloße Ablenkung. Dass er nicht einfach nur viel zu attraktiv ist. Er ist mehr.

Wir werden mehr sein.

Bis wir uns selbst in Flammen stecken.

4. KAPITEL

Skye

Dieses Mal klopft es an der Tür, leise, aber nicht zögerlich, eher fragend. Mit einem schweren Seufzen drehe ich mich auf den Rücken und rufe »Komm rein«, weil ich ganz genau weiß, wer auf dem Flur vor meiner Tür steht. Denn auch wenn er wirklich so gut wie nie anklopft, erkenne ich an der Art, wie er es tut, trotzdem, dass er es ist.

Das ist wie mit Schritten auf dem Flur. Man sieht die Person nicht und erkennt sie trotzdem daran, wie sie läuft. Leichtfüßig und leise, schnell und mit Nachdruck oder ein bisschen zu sehr mit den Fersen, ein wütendes Stampfen. Kleine Eigenarten, die einen Menschen zu der Person machen, die sie ist, und an denen man sie immer erkennen kann, wenn man weiß, worauf man achten muss.

Und ich weiß, wie Jase anklopft, wenn er sich denn die Mühe macht, sich an die Gesetze der Höflichkeit zu erinnern.

Die Tür geht einen Spalt breit auf, und er steckt seinen Kopf ins Zimmer. Der Blick aus grünen Augen ist ein bisschen wütend, ein bisschen ernst und ziemlich besorgt. »Alles okay?«

»Nein.« Ich greife nach dem Kissen neben mir und drücke es mir aufs Gesicht. Als würde das helfen, die Welt auszusperren.

Jase schließt die Tür hinter sich, seine Schritte sind trotz seiner Schuhe beinahe lautlos, während er zu meinem Bett rüberkommt. Die Matratze senkt sich, als er sich neben mich setzt. Er zupft an dem Kissen, eine stumme Frage. Als wortlose Antwort lasse ich zu, dass er es wegzieht. Ich drehe den Kopf in seine Richtung und blinzle ihn durch die Haarsträhnen, die mir über die Augen hängen, an.

»Wo sind Mae und Zoe?«, frage ich und linse zur Tür, obwohl ich mir sehr sicher bin, dass die beiden nicht draußen auf dem Flur stehen und darauf warten, dass ich sie ebenfalls hereinbitte. Dafür sind sie zu einfühlsam, zu rücksichtsvoll. Sie wissen, dass ich jetzt nicht mit ihnen sprechen kann.

»Beim Abendessen.«

»Solltest du da nicht auch sein? Oder hast du keinen Hunger?«

Er zuckt mit den Schultern und schenkt mir ein kleines Lächeln. »Ich kann später noch was essen.«

Ich nicke nur. Abendessen gibt es von halb sechs bis acht, er hat also noch mehr als genug Zeit. Ich auch, aber ich schätze, für heute ist mir der Appetit gründlich vergangen.

»Willst du darüber reden?«

»Nein«, erwidere ich so schnell, dass er seinen Satz noch gar nicht beendet hat, bevor ich antworte.

»Soll ich gehen? Willst du allein sein?« Mit hochgezogenen Augenbrauen schaut Jase mich an.

Ich könnte jetzt Ja sagen, und er würde gehen. Einfach so. Ohne beleidigt zu sein, ohne meinen Wunsch zu hinterfragen, ohne sich aufzudrängen und doch zu bleiben.

Aber ich möchte nicht, dass er geht, und noch weniger will ich allein sein. Sonst fressen meine Gedanken mich auf. Bilder und Erinnerungen und Gabriel.

Verfluchter Gabriel.

»Nein«, wiederhole ich also, und dann ertappe ich mich dabei, wie ich doch zu reden anfange. »Er soll verschwinden. Er hat hier nichts zu suchen.«

Jase zögert kurz, dann fragt er: »Er macht bei der Serie mit, oder?«

»Ja, sieht so aus.« Ich stöhne, nehme ihm das Kissen wieder weg und drücke es mir wie ein Kuscheltier an die Brust.