12,99 €
Das Leben mischt die Karten, doch du spielst das Spiel! Harper ist an der Studentenverbindung der Diamonds beigetreten und steckt mitten im intriganten Spiel der Vier Farben – ein Spiel, das sie um jeden Preis gewinnen muss. Doch je weiter die Runden voranschreiten, desto erbarmungsloser werden die Aufgaben und Gegner. Darunter auch Finley, zu dem sie gerade erst wieder Vertrauen gefasst hat. Was Harper nicht ahnt: Genau wie Finley verfolgen die Vier Farben mit ihrer Inszenierung noch ein anderes Ziel. Eines, das sie alle das Leben kosten könnte. Die Bücher der "The Four Houses of Oxford"-Dilogie: Band 1: Brich die Regeln Band 2: Gewinne das Spiel ***Eine Szene aus FOUR HOUSES OF OXFORD, Bd. 2*** "Du wolltest, dass ich herkomme, um zu reden. Also …" Finley wirkte so gefühlskalt, dass ich auf einmal das Gefühl hatte, als wäre mir mit einem Ruck der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Mein Herz raste, es fehlte nicht mehr viel, bis ich die Fassung verlor. "Ich musste heute wieder in das Haus eines Dozenten einbrechen und eine Karte austauschen." "Und? Ist das wichtig?" "Ja, ist es", fauchte ich. "Es ist wichtig, weil ich keine Ahnung habe, was das zu bedeuten hat. Was ich jetzt tun soll. Mit wem ich reden soll. Was ich fühlen soll. Ich bin komplett verwirrt und du …" Ich verstummte. Du machst alles noch komplizierter. Finley erwiderte meinen glühenden Blick unbeeindruckt. "Und inwiefern soll ich dir da jetzt helfen?"
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 558
Originalausgabe
Als Ravensburger E-Book erschienen 2022
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
© 2022 Ravensburger Verlag GmbH
Text © 2022 Anna Savas
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Lektorat: Franziska Jaekel
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins unter Verwendung von Fotos von Shutterstock (© Greens87, © Papuchalka – kaelaimages, © pixel creator, © logoboom, © Ollyy, © Ironika, © Lia Koltyrina, © KDdesignphoto, © Mrs.Moon, © Alex Staroseltsev)
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-473-51117-4
ravensburger.com
Für Becca und Vivi, weil ich dieses Buch ohne euch nicht hätte schreiben können.
Midnight Sky – Living in Fiction
Tonight Is The Night I Die – Palaye Royale
all the good girls go to hell – Billie Eilish
Run Boy – Madalen Duke
The Beginning of the End – Klergy, Valerie Broussard
Will You Fight – Klergy, BEGINNERS
Hard to Kill – Beth Crowley
The Light – We The Kings
Kings & Queens – Ava Max
Vendetta – UNSECRET, Krigarè
Heroes Never Die – UNSECRET, Krigarè
With You Til The End – Tommee Profitt, Sam Tinnesz
Nothing Is As It Seems – Hidden Citizens – Ruelle
Never Say Die – Neoni
Losing You – UNSECRET, Sam Tinnesz
When The Storm Is Over – Sofia Karlberg
Devil Inside – CRMNL
The Bones – Maren Morris, Hozier
no body, no crime – Taylor Swift, HAIM
Who Will Save You – Katie Garfield, Obeds
Castle – Halsey
Never Surrender – Liv Ash
Born Alone Die Alone – Madalen Duke
Meine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, mir tat alles weh. Mein Hals fühlte sich an, als hätte ich Säure geschluckt, meine Hände waren aufgerissen, ich spürte, wie Blut an meinen Armen hinablief, weil ich mir die Haut an dem rauen Holz aufgerissen hatte. Splitter bohrten sich schmerzhaft fest in meine Finger.
Ich wusste nicht, wie lange ich schon in der Dunkelheit gefangen war. Wie lange die Wände der Kiste näher und näher kamen, mich erdrückten, mir die Luft zum Atmen nahmen. Es konnten Minuten oder Stunden sein. Eine Sekunde oder die Ewigkeit.
Inzwischen war ich jenseits von Gut und Böse. Ich wollte nur noch hier raus. Aber niemand erhörte meine Schreie, mein stummes Flehen.
Ich war gefangen.
Ich würde sterben.
Ein Teil von mir fragte sich, ob das hier echt war. Ob es nicht vielleicht einfach nur eine Illusion war. Es musste eine sein, sie konnten mich unmöglich in eine Kiste gesperrt haben. Oder doch?
Noch einmal versuchte ich mich zu beruhigen, suchte in meinem Kopf nach golden leuchtenden Fäden, die nicht da waren, wo sie hingehörten. Nach Puzzlestücken, die sich zwar einfügten, aber nicht richtig passten.
Doch da war nichts. Nichts, was auf eine Illusion hindeutete.
Ich schluchzte auf. Sie hatten mich wirklich eingesperrt. In eine Kiste, die kaum größer war als ich.
Ich musste hier raus.
Meine Panik fraß den Sauerstoff, löste ihn praktisch in Nichts auf, und ein letzter winzig kleiner rationaler Teil von mir wusste, dass ich mich beruhigen musste, um Sauerstoff zu sparen.
Aber ich konnte nicht.
Ich konnte mich nicht beruhigen.
Ich bekam keine Luft.
Heiße Tränen liefen über mein Gesicht. Kraftlos hob ich die Hände, klopfte gegen das Holz, obwohl ich wusste, dass es nichts bewirkte.
Meine Stimme versagte.
Ich bekam keine Luft.
Konnte nicht atmen.
Ich würde sterben.
Ein Funken Erleichterung stieg in mir auf. Weil ich Finley gesagt hatte, was ich für ihn empfand. Wenigstens das würde ich nicht bereuen. Und mit dieser Erkenntnis verstummte mein letztes Aufbäumen. Ich hatte keine Kraft mehr, darum zu kämpfen, hier herauszukommen. Ich würde es nicht schaffen.
Ich war gefangen.
Ich konnte nicht atmen.
Ich würde sterben.
Dann wurde die Dunkelheit um mich herum weich und warm, ich atmete aus und gab auf.
Schwerelos trieb ich durch die Finsternis, hatte jedes Gefühl für Zeit, Raum und Realität verloren. Ich hörte nur mein noch immer panisch schlagendes Herz. Meine Brust hob und senkte sich viel zu hektisch in dem verzweifelten Versuch, meine Lunge mit Sauerstoff zu füllen.
Mein Körper wehrte sich immer noch, obwohl mein Geist längst aufgegeben hatte. Obwohl ich aufgegeben hatte. Ich wollte nur, dass es vorbei war.
Bilder wirbelten durch meinen Kopf. Unendlich viele Sequenzen, Bruchstücke meines Lebens, zu unscharf, als dass ich sie zu fassen bekommen hätte. Ich hatte nicht genug Kraft, um nach ihnen zu greifen, sie festzuhalten, mich an die Teile zu klammern, die nach mir riefen, mich dazu bringen wollten weiterzukämpfen.
Es war zwecklos.
Ich wusste, dass der Sauerstoff knapp geworden war. Ich wusste, dass zu viele Minuten verstrichen waren, seit ich in dieser Kiste zu mir gekommen war, und dass mir nicht mehr viel Zeit blieb, bevor mein Herz versagen würde.
Mein panisch schlagendes Herz. Es hämmerte gegen meine Rippen, wollte mit aller Kraft aus mir herausbrechen. Aus meinem Körper, aus dieser Kiste.
Meine Lider flatterten, als sich ein Gedanke durch die Dunkelheit schlängelte. Langsam und träge, aber eindeutig da.
Mein Herz war zu stark.
Die Panik zu heftig.
Die Finsternis um mich herum wurde tiefer, Schatten krochen auf mich zu, wollten mich mit sich ziehen. In eine Hölle, aus der es kein Entkommen mehr gab.
Ich bäumte mich auf, mein Körper prallte schmerzhaft gegen das raue Holz. Mir entwich ein Keuchen, als meine Haut weiter aufriss. Wieder konnte ich warmes Blut an meinen Händen fühlen.
Scharfe Krallen bohrten sich in mein Herz, drückten zu, trieben es an, schneller und schneller zu schlagen.
Und dann hörte ich die Stimme. Leise. Ich erkannte sie, obwohl ich wusste, dass er es nicht sein konnte. Er konnte nicht in meinen Kopf eindringen, mir keine beruhigenden Worte zuflüstern.
Trotzdem war er da. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein? Es spielte keine Rolle. Ich hörte seine Stimme, weich und vertraut. Und seine Worte waren wahr.
Das ist nicht echt.
Wieder entfuhr mir ein Laut, ein atemloses Lachen. Ich konnte die Panik spüren, die durch meine Adern strömte. Zu viel. Es war zu viel.
Das ist nicht echt.
Nein, hier war gar nichts echt. Ich war eine Diamond. Ich gehörte zu den Vier Farben, die ihre Mitmenschen manipulierten.
Genau wie uns.
Ich hatte nach einer Illusion gesucht, danach, dass meine Gedanken nicht länger mir gehörten. Aber das war es nicht.
Sie hatten sich nicht in meinen Verstand geschlichen, sondern in mein Herz.
Mein Herz, dass bei dieser Erkenntnis einen stolpernden Schlag aussetzte, um dann noch schneller weiterzurasen. Um mich herum begann sich alles zu drehen, obwohl das nicht möglich war. Ich konnte nichts sehen, war in völliger Dunkelheit eingeschlossen, die sich nicht drehen konnte. Sie tat es trotzdem. Mein Atem ging flach und da war die Panik wieder, jagte meinen Puls in schwindelerregende Höhen.
Ich musste dagegen ankämpfen, mein Herz befreien, bis meine Emotionen wieder mir gehörten.
Aber ich wusste nicht, wie.
Ich wusste verdammt noch mal nicht, wie.
Wut durchströmte mich. Sie hatten mir die Kontrolle über meine Emotionen gestohlen. Mein Herz. Den Teil von mir, den ich sowieso schon nicht unter Kontrolle hatte. Und jetzt hatten sie mir auch noch das letzte Stück geraubt.
Ich schrie auf, meine Stimme rau vor Zorn. Meine Fäuste prallten mit einem befriedigenden Knacken gegen das Holz. Ich hieß den Schmerz willkommen. Er fachte meine Wut an, bis jede Faser meines Selbst in lodernden Flammen stand.
Sie verschlang die Panik, löschte sie vollkommen aus.
Mein Atem ging noch immer rasselnd, mein Herz schlug noch immer zu schnell, aber die Panik verschwand. Von einer Sekunde auf die nächste, als hätte sie nie existiert.
Wieder schlug ich gegen das Holz, so zornig, dass es ausreichen müsste, um endlich ausbrechen zu können. Doch es reichte natürlich nicht.
»Lasst mich raus! Ich weiß, dass ihr da seid!«, fauchte ich, meine Stimme zu schwach, um lauter zu sprechen. Aber ich wusste, dass sie mich hören konnten, genauso wie ich wusste, dass sie da waren. Sie würden mich nicht allein lassen. Wie sollten sie mich sonst manipulieren können?
Doch es blieb still. Zu still. Ein Teil von mir wollte wieder in Panik verfallen – echte Panik dieses Mal –, aber ich drängte sie energisch zurück.
Nein. Nicht schon wieder. Sie waren hier und sie würden mich rauslassen.
Dann endlich hörte ich etwas. Ein Klacken, als würde ein Schloss geöffnet werden. Im nächsten Moment verschwand der Deckel der Kiste und die plötzliche Helligkeit traf mich wie ein Schlag. Blinzelnd versuchte ich, die Augen zu öffnen, irgendetwas oder jemanden zu erkennen, aber mein Körper konnte das gleißende Licht nicht verarbeiten.
»Das hat ganz schön lange gedauert.«
Die Stimme klang vertraut, trotzdem konnte ich sie erst zuordnen, als ich es endlich schaffte, die Augen offen zu halten und mich aufzusetzen.
Reese grinste mich spöttisch an. »Ich hab wirklich damit gerechnet, dass du es schneller schaffst, die Manipulation zu lösen.«
Schwankend kämpfte ich mich auf die Füße und kletterte aus der Kiste. Eine schmale Hand schloss sich um mein Handgelenk und half mir hoch. Ich hob den Kopf und schenkte dem Mädchen ein dankbares Lächeln. Erst einen Moment später, als meine Haut zu kribbeln begann, merkte ich, dass sie mir nicht einfach nur half – sie heilte mich. Aus dem Augenwinkel sah ich Chuck und ein weiteres Mädchen, das zu den Cross gehören musste, konzentrierte mich aber trotzdem voll und ganz auf den Anführer der Hearts.
»Ach echt?«, gab ich mit einiger Verspätung zurück. Ich zitterte am ganzen Körper, während sich die Wunden an meinen Händen allmählich schlossen und meine Erschöpfung nachließ.
Reese zuckte mit den Schultern, in seinen Augen lag ein schadenfrohes Funkeln. »Bei den anderen Aufgaben warst du besser. Aber mir soll’s egal sein. Dein Versagen ist gut für uns.«
Dein Versagen.
Mein Versagen?! Sie hatten mich in einer Kiste eingesperrt und manipuliert. Sie hatten mir die Kontrolle über meine Emotionen gestohlen, und obwohl sie mich nicht hätten sterben lassen, war ich mir nicht sicher, wie lange es noch gedauert hätte, bevor sie mich rausgelassen hätten.
Ich riss mich von dem Mädchen los, das mich immer noch heilte, meine flache Hand traf mit einem befriedigenden Klatschen auf Reese’ Wange, bevor ich auch nur einen Gedanken daran verschwenden konnte, dass ich einen Fehler machte. Es war ein Reflex, reiner Instinkt, angetrieben von meiner Wut, von der Panik, die mir immer noch in den Knochen steckte.
Seine Augen weiteten sich überrascht, das Mädchen neben mir schnappte fassungslos nach Luft.
»Du kannst mich mal!«, knurrte ich, schob mich an ihm vorbei und ließ ihn einfach stehen.
Ich hörte, wie Chuck meinen Namen rief, ignorierte ihn jedoch. Ich wollte einfach nur noch hier weg.
Blicklos starrte ich auf Dorians leblosen Körper.
Es war nur eine Illusion.
Nur eine Illusion.
Die Welt um mich herum verschwamm. Mir entwich ein erstickter Laut.
Dorian. Dorian. Dorian.
Hass loderte in mir auf, rein und glühend heiß. Hass auf die Vier Farben, weil Dorian zu ihnen gehört hatte und er hier gestorben war. Und weil sie ihn jetzt für meine Aufgabe benutzten.
Ich wollte schreien, toben, die ganze verdammte Welt verfluchen, aber ich brachte keinen Ton über die Lippen. Ich blieb stumm, während der Hass sich durch meinen Körper fraß, mein Herz umschloss und es verschlang.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging, wie lange ich still auf dem Boden neben Dorians leblosem Körper saß und mich von diesem wilden, verzweifelten Hass verzehren ließ.
Ich wusste nur, dass ich ihn nie wieder loslassen würde.
Gestern noch hatte ich geglaubt, dass ich sie längst für das hassen würde, was sie getan hatten. Was sie uns antaten, wozu sie uns brachten. Was sie Dorian und seiner Familie angetan hatten. Ich hatte mich geirrt.
Das, was ich vorher empfunden hatte – die Wut auf die Vier Farben, die Verbitterung –, war nichts im Vergleich zu dem, was ich jetzt fühlte.
Der Hass half mir, die Bilder zu vertreiben, die mich umgaben. Den Raum um mich herum verschwinden zu lassen, Dorians Klamotten, die Fotos auf dem Nachttisch. Das Bild von uns. Der Hass half, Dorian gehen zu lassen, auch wenn alles in mir danach schrie, ihn zu retten, völlig egal wie absolut hoffnungslos es war.
Weil es nicht echt war. Nichts davon.
Meine Fingernägel drückten schmerzhaft fest in meine Haut, als ich einen letzten Blick auf den Menschen warf, der für mich immer wie ein Bruder gewesen war. Mein bester Freund. Er lag genauso still da wie gerade eben noch. Doch irgendetwas in seinem Gesicht war jetzt anders. Seltsam friedlich. Einen Wimpernschlag lang glaubte ich beinahe, ein Lächeln um seine Lippen spielen zu sehen.
Dann verblasste sein Körper, schimmerte ein letztes Mal auf und verschwand.
Der Muskel in meiner Brust verkrampfte sich, ich spürte, wie warmes Blut über meine Handflächen lief. Dorian war weg und ich war allein.
Allein.
Ich schloss die Augen, atmete tief durch, wollte mich sammeln und scheiterte kläglich. Verzweifelt versuchte ich, gegen die Enge in meiner Kehle anzukämpfen, die Tränen zurückzudrängen, die wie Säure in meinen Augen brannten. Mein Atem ging unregelmäßig, der Schrei, der um Freiheit bettelte, blieb mir im Hals stecken.
Erschrocken zuckte ich zusammen, als mir jemand unsanft gegen die Schulter boxte und mich damit zurück in die Realität holte. Ich sprang auf, wirbelte herum und meine Finger schlossen sich wie von selbst um die Kehle desjenigen, der hinter mir stand.
Mir entfuhr ein Lachen, als ich Eli erkannte. Dieser Mistkerl von den Diamonds, der Cece bei unserer letzten Aufgabe das Leben zur Hölle gemacht hatte. Und damit auch Harper.
Aus großen Augen starrte Eli mich an, in seinem Blick loderte unbändiger Zorn, aber er rührte sich nicht. Bewegte sich keinen Millimeter, weil meine Hand um seinen Hals lag. Ich spürte, wie sein Adamsapfel hüpfte, als er schluckte.
Wie oft hatte ich mir gewünscht, ich könnte ihm eine reinhauen, und hatte es nur deshalb nicht getan, weil ich mich und Harper damit verraten hätte. Ich durfte ihre Kämpfe nicht zu meinen machen. Abgesehen davon konnte sie gut für sich selbst kämpfen.
Aber jetzt und hier war es mein Kampf. In diesem Moment gehörte er mir. Er hatte mich manipuliert, hatte die Hoffnung in mir geweckt, Dorian retten zu können, obwohl er nicht zu retten war.
In meinem Mund formten sich Worte, Sätze, die ich ihm entgegenschleudern wollte, doch ich blieb stumm, erwiderte seinen Blick völlig ungerührt. Seine Augen weiteten sich, als mein Griff kaum merklich fester wurde, eine Warnung, dass er nicht unbesiegbar war.
Niemand war das.
»Finley.« Die Stimme war leise und sanft, beruhigend.
Ich wandte den Kopf und begegnete Priyas undurchdringlichem Blick. Sie gehörte wie ich zu den Spades, aber wir hatten in den vergangenen Wochen kaum miteinander geredet. Ich hatte keine Ahnung, wer sie wirklich war, und es interessierte mich auch nicht.
Neben ihr stand ein rothaariges Mädchen und ein dunkelhaariger Kerl von den Hearts, der Robbie hieß, soweit ich mich erinnerte. Mein Blick huschte durch den Raum, weiße Wände, keine Möbel. Wir konnten überall und nirgends sein. Aber es spielte keine Rolle, wo wir gerade waren. Der Drang, Eli die Luft abzuschnüren, bis ihm sein spöttisches Grinsen verging, war stärker als alles andere.
Wahrscheinlich sollte ich mir deswegen Sorgen machen, weil mir das gar nicht ähnlich sah. Das war nicht ich. Aber bei dieser Aufgabe war ein Teil von mir gestorben, hatte sich mit Dorians Körper in Luft aufgelöst und war nicht mehr zu retten.
»Lass ihn los«, sagte Priya. Eine Bitte, kein Befehl. »Ich kann verstehen, warum du Eli am liebsten den Hals umdrehen würdest – kann ich wirklich –, aber du musst ihn loslassen, sonst wird er sich wehren.«
Statt meinen Griff zu lockern, wurde er instinktiv noch etwas fester. Eli stieß ein wütendes Knurren aus und umfasste mein Handgelenk. Seine Fingernägel bohrten sich in meine Haut. Ich registrierte den Schmerz, doch er kam nicht richtig bei mir an. Erst als ich mich auf meine Hand konzentrierte, fiel mir auf, dass ich meinen Ring nicht mehr trug.
Was vollkommen logisch war, sonst hätten sie mich nicht manipulieren können. Aber es bedeutete auch, dass sie es jederzeit wieder tun konnten.
Ich hatte keine Kontrolle über diese Situation, auch wenn ich es für ein paar kostbare Augenblicke geglaubt hatte.
»Finger weg«, presste Eli jetzt zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, seine Stimme war nur ein leises, kaum hörbares Flüstern.
Ein paar Sekunden lang wollte ich es darauf ankommen lassen, mir die Illusion der Kontrolle entreißen lassen, anstatt sie freiwillig abzugeben. Na ja, mehr oder weniger freiwillig.
Mit einem grimmigen Lächeln lehnte ich mich zu ihm. Wir waren uns jetzt so nah, dass unsere Nasenspitzen sich beinahe berührten. »Schleich dich noch einmal in meinen Kopf und du wirst es bereuen.«
Ihm musste klar sein, dass das keine leere Drohung war, trotzdem besaß Eli die Dreistigkeit, die Augen zu verdrehen und den Mund zu einem herablassenden Grinsen zu verziehen.
»Hast du etwas zu verbergen?«, krächzte er.
Ich sparte mir eine Antwort, wir wussten beide, dass es so war. Meine Schultern verkrampften sich, doch ich zwang mich, nicht daran zu denken, was er bei der Manipulation möglicherweise in meinem Kopf gesehen haben könnte.
Harper. Mich. Uns zusammen.
Wenn ich mir in die Karten schauen ließ, waren wir verloren. Langsam löste ich meine Finger von Elis Hals und er schlug meine Hand weg. Jeder andere wäre zurückgewichen. Er dagegen lehnte sich noch weiter zu mir, seine Brust stieß an meine.
»Du solltest vorsichtig sein, Kleiner.«
Anstelle einer Antwort warf ich ihm nur einen spöttischen Blick zu, wandte mich ab und streckte Priya eine Hand hin. »Mein Ring«, forderte ich kalt.
Sie schien noch etwas sagen zu wollen, nickte dann aber und reichte mir den Ring. Als das kühle Silber meine Haut berührte, durchströmte mich Erleichterung.
Ich gehörte wieder mir.
Orientierungslos lief ich eine menschenleere Straße entlang und verfluchte die Vier Farben einmal mehr, weil ich absolut keine Ahnung hatte, wo ich war und wie ich zurück zum Verbindungshaus kommen sollte. Ich hatte kein Handy dabei und konnte deshalb weder meinen Standort bestimmen noch einen Weg nach Hause suchen.
Nach Hause.
Mir entfuhr ein Schnauben. Die Vier Farben mochten alles sein, aber garantiert keine Familie und das Verbindungshaus war auch kein Zuhause.
Eher ein Gefängnis.
Und wir waren freiwillig hineingegangen.
Meine Stiefel trafen hart auf den Asphalt, in jedem Schritt lag Zorn. Der Wind fuhr unbarmherzig unter das Kleid und durch meine zerrissene Strumpfhose, doch ich spürte die Kälte kaum. Ich war so wütend, dass ich glaubte, jeden Moment zu platzen.
Die Kiste, in der ich wer weiß wie lange eingesperrt gewesen war, hatte auf einem Feld gestanden, das sich meilenweit in alle Himmelsrichtungen erstreckte. In der Ferne hatte ich ein schwarzes Auto gesehen, in dem sie mich vermutlich dorthin gebracht hatten und nun wieder zurück in die Stadt fuhren.
Eher wäre die Hölle zugefroren, als dass ich in dieses Auto gestiegen wäre.
Ich hatte Reese geschlagen. Ich hatte den Vorsitzenden der Hearts geschlagen.
Scheiße.
Ich suchte nach einem Anflug von Reue, fand aber nur einen Funken, der gleich wieder erlosch. Es tat mir nicht leid. Er hatte es verdient. Genau genommen hätte es jeder Einzelne von ihnen verdient.
Dieses verfluchte Spiel trieb uns nicht nur an unsere Grenzen, sondern stieß uns mit einem irren Lachen die Klippen hinunter.
Wortwörtlich.
Als die Welt um mich herum verschwamm, blieb ich stehen und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als ich sie wieder aufschlug, sah ich silberne Sterne durch die Luft tanzen. Mein Magen machte einen Satz. Wann hatte ich das letzte Mal etwas gegessen oder getrunken? Ich konnte mich nicht erinnern und die Heilung durch das Mädchen von den Spades hatte zwar gegen die Erschöpfung geholfen, aber nicht das Hungergefühl vertrieben.
Wieder traf mich ein Windstoß. Dieses Mal spürte ich die beißende Kälte und zog fröstelnd die Schultern hoch.
Ich atmete tief durch, sammelte mich und machte eine Bestandsaufnahme. Ich war mitten im Nirgendwo und es war entschieden zu kalt, um in einem Minikleid herumzulaufen. Außerdem brauchte ich wirklich dringend etwas zu essen.
Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich das leise Brummen eines näher kommenden Autos hörte. Wenn das Chuck und die anderen waren … Keine Ahnung, was ich dann tun würde. Am liebsten hätte ich mich versteckt, aber hier waren weit und breit nur Felder und Wiesen. In der Ferne sah ich ein paar einsame Bäume, mehr nicht.
Ich drehte mich um, erwartete den schwarzen Wagen der Vier Farben, doch das Auto, das herangefahren kam, war dunkelrot und ziemlich klein.
Ich zögerte keine Sekunde, suchte das Licht in mir und schickte es in die Richtung meiner Rettung.
Der Geist der Frau am Steuer lag offen und ungeschützt vor mir. Ich stieß ein erleichtertes Seufzen aus. Das würde alles ein bisschen einfacher machen. Eine Sekunde später war ich in ihrem Kopf und sah, was sie sah. Ein junges Mädchen mit zerzausten blonden Haaren und zerrissenen Klamotten, das offensichtlich Hilfe brauchte. Aber ich hörte auch ihre misstrauischen Gedanken. Sie wollte nicht anhalten und mir helfen.
Bleib stehen. Bitte bleib stehen und hilf mir, befahl ich ihr, während die golden leuchtenden Lichtfäden tiefer in ihre Haut sickerten, doch sie reagierte nicht. Unter anderen Umständen wäre es leicht gewesen, sie unter Kontrolle zu bringen, aber ich war trotz der Heilung noch nicht so stark wie sonst, und das rächte sich jetzt.
Der Wagen kam näher, die junge Frau hinter dem Steuer warf mir einen irritierten Blick zu, dann fuhr sie einfach an mir vorbei, ohne auch nur ein bisschen langsamer zu werden.
Bleib stehen!
Ich schrie ihr den Befehl in Gedanken entgegen, ließ meine Frustration an ihr aus, und der Wagen bremste so abrupt ab, dass die Reifen protestierend quietschten. Mein schlechtes Gewissen meldete sich. Es war falsch, was ich hier machte. Es war auf so vielen Ebenen einfach nur falsch, aber ich hatte keine Kraft für Schuldgefühle. Ich wollte nur noch hier weg.
Die Frau rührte sich nicht, als ich die Beifahrertür öffnete und mich auf den Sitz fallen ließ. Ich hielt ihren Geist eisern umklammert, um die Kontrolle zu behalten. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, wieder sah ich Sterne.
Verdammt.
Hätte ich mich nicht losgerissen, um Reese zu schlagen, hätte das Mädchen von den Spades mich vermutlich vollständig geheilt und jetzt wäre alles einfacher.
Ich blinzelte und versuchte vergeblich, den Schwindel zu vertreiben. Die Gedanken der Frau entglitten mir und sie wandte sich mir zu.
»Was soll das werden?«, fragte sie, in ihrer Stimme schwangen Misstrauen und Angst mit.
Es ist alles in Ordnung, bring mich einfach nach Hause. Erschöpft lehnte ich mich zurück. In Gedanken gab ich ihr die Adresse und schloss die Augen. Ich brachte sie dazu, sich nur auf die Straße und den Weg zu konzentrieren, der vor uns lag, und mich gar nicht zu beachten.
Warme Luft strich über meine Haut, als ich die Hand ausstreckte und die Heizung aufdrehte. Ein Zittern durchlief meinen Körper und erst jetzt merkte ich, wie kalt mir tatsächlich war. Ich seufzte, zog die Beine an und legte das Kinn auf den Knien ab.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis wir schließlich durch die vertrauten Straßen von Oxford fuhren, aber es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit, obwohl die Stadt so klein war, dass man meist nicht mal den Bus nehmen musste, um sein Ziel zu erreichen. Sandsteinfarbene Häuser zogen am Autofenster vorbei, schließlich das Oxford Castle – eine halb verfallene, aber trotzdem wunderschöne mittelalterliche Burg in der Innenstadt.
Wehmut stieg in mir auf. Die Stadt war atemberaubend, es gab tausend Dinge zu entdecken und ich hatte bisher nicht mal einen Bruchteil der Sehenswürdigkeiten besucht, abgesehen von der Uni, der Bodleian Library und den Orten, zu denen die Diamonds uns bei der Schnitzeljagd geschickt hatten, noch bevor das Spiel richtig angefangen hatte. Die letzten Wochen hatten für mich nur aus dem Spiel, meinen mehr oder weniger erfolgreichen Recherchen und Lehrveranstaltungen bestanden – wobei die Uni im Grunde viel zu kurz gekommen war. Aber das ließ sich nicht ändern. Das Spiel hatte Priorität, das war uns nicht umsonst am Abend der Einführungsparty eingebläut worden.
Mir entfuhr ein Stöhnen, als ich mich aufrichtete und die Beine wieder ausstreckte. Ich drückte den Rücken durch, wandte mich meiner Fahrerin zu und begann, ihre Erinnerungen zu löschen.
Mein Magen rebellierte, mir wurde kotzübel, der Schwindel stärker. Aber ich zwang mich durchzuhalten, trennte Faden um Faden und befahl ihr schließlich, sich wieder auf den Weg zu ihrem ursprünglichen Ziel zu machen.
Die Beifahrertür fiel mit einem viel zu lauten Geräusch hinter mir zu und ich blieb vor dem Tor der Diamonds stehen. Das majestätische von Efeu bewachsene Herrenhaus hob sich dahinter dunkel vor dem sich verfärbenden Himmel ab und ich musste unwillkürlich an den Moment zurückdenken, als ich es das erste Mal gesehen und das Gefühl gehabt hatte, es würde etwas Düsteres und Mystisches ausstrahlen. Offensichtlich hatte ich recht behalten, obwohl das Gebäude an diesem Abend auf eine seltsame Art beinahe friedlich wirkte. Als würde es mich nach den Schrecken der letzten Aufgabe irgendwie beruhigen wollen. Ich senkte den Blick auf das schmiedeeiserne Tor und erstarrte.
Ich hatte keinen Schlüssel dabei. Natürlich nicht. Keine Jacke, kein Handy, kein Schlüssel. Und es gab keine verdammte Klingel an diesem verfluchten Tor.
Ein frustrierter Schrei stieg in mir auf, Tränen schossen mir in die Augen, als ich mich erschöpft gegen die Mauer sinken ließ, die das Grundstück umgab. Was sollte ich jetzt tun? Ich könnte zu Cece gehen. Ich könnte …
»Ich dachte schon, du wärst uns verloren gegangen. Aber offensichtlich hast du den Weg nach Hause irgendwie gefunden.« Chucks belustigte Stimme ließ mich den Kopf drehen. Er stand auf der anderen Seite des Tors, die Hände in die Hosentaschen geschoben, ein breites Grinsen im Gesicht.
Ich zeigte ihm den Mittelfinger.
Er lachte leise und schloss das Tor auf. »Na los, komm rein. Du siehst scheiße aus.«
»Du mich auch«, murmelte ich, stieß mich aber von der Wand ab und folgte ihm.
»Du hast Reese ganz schön eine verpasst«, sagte Chuck beiläufig und warf mir einen kurzen Blick zu.
Ich zuckte mit den Schultern. »Er hatte es verdient.«
Seine Mundwinkel zuckten verdächtig. »Dazu sage ich lieber nichts.«
»Was sollte das überhaupt? Was war das für eine bescheuerte Aufgabe?«
»Das erfahrt ihr bei der Punktevergabe. Aber vermisst du nicht irgendetwas?«, wechselte Chuck das Thema und blieb stehen. Er zog etwas aus seiner Hosentasche, und erst als ich den Ring sah, wurde mir bewusst, dass er nicht an meinem Finger steckte.
Mir war auf einen Schlag eiskalt. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass er fehlte, obwohl Reese mich nur deswegen hatte manipulieren können.
Aufmerksam, Harper, wirklich aufmerksam.
»Ich hasse euch alle«, murrte ich, griff nach dem Ring und schob ihn zurück auf meinen Finger.
Chuck legte mir einen Arm um die Schultern und ich musste mich zwingen, ihn nicht sofort wieder abzuschütteln. »Du trägst viel Hass in dir.«
»Alles eine Frage der Übung«, gab ich zurück und setzte mich in Bewegung. Chucks Arm löste sich von meiner Schulter. Schweigend gingen wir zum Haus.
»In einer Stunde ist die Punktevergabe«, rief Chuck mir nach, als ich wenig später ohne ein weiteres Wort die Treppe hinaufstieg.
Ich nickte nur. Eine Stunde. Das reichte gerade eben für eine Dusche und um etwas zu essen.
Ich drehte um und machte einen kurzen Abstecher in die Küche. Es war das erste Mal, dass absolut niemand hier war, was mir sehr gelegen kam. Rasch belegte ich mir ein Sandwich und kochte mir einen Tee, bevor ich nach oben ging.
Vor meinem Zimmer hielt ich zögernd inne. Der Flur war menschenleer und totenstill. Ich huschte zu Lexies Tür und klopfte zaghaft an. Sie war die Einzige in diesem Haus, mit der ich gern darüber geredet hätte, was ich erlebt hatte. Was sie erlebt hatte. Außerdem wollte ich nicht allein sein.
Doch ich bekam keine Antwort. Aus Lexies Zimmer drang nicht das leiseste Geräusch.
Seufzend wandte ich mich ab und ging in mein eigenes Zimmer, um erst mal zu duschen und dann in Ruhe mein Sandwich zu essen, während die Punktevergabe unaufhaltsam näher rückte.
Eine drückende Stille lag über dem Salon des Gemeinschaftshauses der Vier Farben, als ich den Raum betrat. Ich war zwar nicht die Letzte, aber es fehlten nicht mehr viele. Eigentlich nur die Spades. Und die Vorsitzenden.
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus, eine dunkle Ahnung. Als würde etwas nicht stimmen.
Mir entfuhr ein erstickter Laut, der entfernt an ein entsetztes Lachen erinnerte. Hier stimmte sowieso nichts.
Zum Glück entdeckte ich in diesem Moment Lexie. Sie warf mir von der Seite einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts. Sie war blass, ihre Augen waren gerötet, als hätte sie geweint. Ihre kurzen schwarzen Haare waren zerzaust und es war das erste Mal, dass ich sie ungeschminkt sah. Sie wirkte jünger ohne das dunkle Make-up. Jünger und verletzlicher.
Meine Hand tastete nach ihrer und Lexie klammerte sich so sehr an mir fest, dass es wehtat. Als wäre ich ihre Rettungsleine. Vielleicht war ich das in dem Moment auch.
Ich sparte mir die Frage, ob alles in Ordnung war. Bei keinem von uns war das der Fall.
Wir waren alle blass, ein paar von uns sahen aus, als wären sie durch die Hölle gegangen.
Mir schnürte sich die Kehle zu, als ein Echo der Panik in mir aufstieg, die mich vor ein paar Stunden fast in den Abgrund gerissen hatte. Ich zwang mich dazu, sie zurückzudrängen, mich nicht schon wieder von ihr überwältigen zu lassen.
Ich bin in Sicherheit.
Es ist alles gut.
Ich habe meinen Ring.
Es ist alles gut.
Niemand kann mich manipulieren.
Es ist alles gut.
Ich wiederholte die Worte so lange, bis ich sie beinahe selbst glaubte. Aber wirklich nur beinahe. Im Grunde war gar nichts gut, denn unsere Ringe konnten uns offenbar jederzeit weggenommen werden. Sicher vor Manipulationen schien hier niemand zu sein.
Schritte vor dem Salon rissen mich aus meinen Gedanken. Die Vorsitzenden der Vier Farben kamen herein, dicht gefolgt von den Spades.
Mein Blick zuckte zu Finley und das mulmige Gefühl, das ich vorhin gehabt hatte, kehrte schlagartig zurück. Sein Gesicht war eine kalte, ausdruckslose Maske, die Schultern verkrampft. Auch er war blass, doch in seinen Augen lag glühender Hass.
Mir wurde kalt, mein Herz schlug plötzlich viel zu schnell. Was zum Teufel war mit ihm passiert?
Ich bekam nur am Rande mit, wie Beth und Trent die Punkte für diese Runde verteilten. Es kümmerte mich nicht, wer gewonnen und wer verloren hatte.
Ich konnte nur Finley ansehen.
Finley, der auf einmal ganz weit weg zu sein schien.
Finley, den ich noch nie so voller Zorn gesehen hatte.
Finley, der mich kein einziges Mal angeschaut hatte, seit er den Raum betreten hatte.
Als hätte er meinen Blick gespürt, drehte er den Kopf in meine Richtung und für einen Moment blitzte Schmerz unter dem tiefen Hass hervor.
Meine Augen begannen zu brennen, ich spürte, wie die Nähe, die sich während der vergangenen Wochen zwischen uns aufgebaut hatte, zu bröckeln begann. Ich wusste nicht, warum, hatte keine Ahnung, was passiert war, und konnte nichts dagegen tun.
Es fühlte sich an, als würde ich ihn verlieren. Als wäre ein Teil von ihm gestorben.
Ich rang nach Atem, Panik überrollte mich. Dieses Mal war sie echt. Sie war echt und sie gehörte mir.
Lexies Finger drückten noch fester zu, sodass mir ein ersticktes Wimmern entwich. Ich blinzelte, verlor den Blickkontakt zu Finley, und als ich ihn wieder anschaute, hatte er sich längst abgewandt.
Dafür war ich wieder in der Realität angekommen. Ich hörte Trents Stimme, die sachlich verkündete, dass ich zu lange gebraucht hatte, um meine Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Ich bekam dennoch ein paar Punkte, weil ich es geschafft hatte, mich allein aus der Panik zu befreien, aber es gab nichts, was mich gerade weniger interessierte.
Ich wollte wissen, was sie mit Finley gemacht hatten. Was hatten sie ihm angetan?
165 Punkte
140 Punkte
130 Punkte
125 Punkte
Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen, spürte das Adrenalin durch meine Adern jagen, während ich mit aller Macht dagegen ankämpfte, das verfluchte Haus und das Vermächtnis der Vier Farben einfach niederzubrennen.
Hass brennt glühend heiß, verschlingt dich und kühlt irgendwann ab, bis nur noch eine dicke Schicht aus Eis dein Herz gefangen hält. In mir trafen Feuer und Eis aufeinander, kämpften um die Vorherrschaft, kämpften darum, der Wut freien Lauf zu lassen oder sie so tief zu vergraben, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war, um die Vier Farben für alles bezahlen zu lassen.
Ich ließ das Eis gewinnen, hüllte mich darin ein wie in eine schützende Decke und verschloss jedes Gefühl hinter einer undurchdringlichen Mauer. Übrig blieb nur der Hass. Mehr brauchte ich nicht. Mehr ertrug ich gerade nicht.
Wie durch Watte drangen Trents Worte zu mir durch. Ich bekam kaum mit, wie er zuerst die Punkte verteilte, um uns anschließend zu erklären, warum wir uns überhaupt durch diese beschissene Aufgabe hatten quälen müssen. Um zu erfahren, wie es sich anfühlte, manipuliert zu werden – um selbst zu spüren, was wir anderen mit unseren Fähigkeiten antun konnten –, und um zu lernen, diese Manipulation aus eigener Kraft zu durchbrechen.
So ein Bullshit.
Sie konnten uns diese Geschichte auftischen, wenn sie wollten, aber erwarteten sie ernsthaft, auch nur einer von uns würde ihnen das abkaufen?
Warum sollten wir irgendwann noch einmal manipuliert werden? Und von wem? Es gab keinen Grund dafür, abgesehen von diesem Spiel. Abgesehen davon, dass es ihnen Spaß machte, uns zu quälen.
Ich kam erst wieder zu mir, als Sophie und Jackson sich neben mir in Bewegung setzten. Die Punktevergabe war vorbei und wir waren entlassen.
Ich konnte Harpers Blick spüren, fragend und besorgt, aber ich brachte es nicht über mich, sie anzuschauen.
Es war bereits dunkel, als wir das Gemeinschaftshaus verließen und uns auf den Weg zu den Verbindungshäusern der Vier Farben machten. Dunkel und kalt. Der Winter kam mit schnellen Schritten näher und damit auch der Tag, an dem Dorian gestorben war.
Ein stechender Schmerz zuckte durch meine Brust. Ein Jahr. Fast ein Jahr war vergangen, seit er gestorben war. Ein Jahr, und ich wusste noch immer nicht, was passiert war. Ich hatte keine verdammte Ahnung, warum Dorian sterben musste. Und ich wusste nicht, wie ich dieses Loch füllen sollte, das sein Tod in mein Herz und meine Seele gerissen hatte. Diese Leere, die nichts füllen konnte.
Ich schluckte den Fluch herunter, der mir auf der Zunge lag, ignorierte Harper und die anderen, wartete auf niemanden, sondern machte mich allein auf den Heimweg.
Ich machte nur einen kurzen Abstecher zum Verbindungshaus, zog mich eilig um und verließ es dann schnell wieder, bevor die anderen überhaupt angekommen waren. Es war schon spät, der Himmel mitternachtsblau. Die ersten Sterne zeigten sich bereits, irgendwo in der Ferne war der Mond als schmale Sichel zu sehen.
Erinnerungen stiegen in mir auf, Bilder von Dorian und mir, wie wir mit meinem Dad ins Planetarium gegangen waren und er uns Sternbilder erklärt hatte. Bilder von Tagen, an denen alles gut gewesen war. An denen ich nicht nur eine, sondern zwei Familien gehabt hatte.
Schmerz stieg in mir auf, wollte den Hass verdrängen, doch ich schob die Bilder energisch beiseite. Ich brauchte den Hass, brauchte den Zorn, die einzigen Gefühle, die mich davon abhielten, in ein tiefes Loch zu stürzen.
Ich setzte mir Kopfhörer auf und drehte die Musik so laut auf, dass ich nichts anderes hörte außer wummernde Bässe, die meine Gedanken übertönten.
Meine Brust fühlte sich zu eng an, als würde ich jeden Moment ersticken, dabei konnte ich atmen. Ich atmete. Meine Lunge füllte sich mit Sauerstoff und doch schien ich keine Luft zu bekommen.
Ich musste hier weg. Weg von den Spades, den Vier Farben, weg von Harper, die nicht einmal in meiner Nähe und trotzdem viel zu sehr da war.
Mein Atem malte sich als feine Wölkchen vor meinem Gesicht ab, während ich durch die Straßen lief. Erst ging ich, dann wurde ich schneller, immer schneller, bis ich rannte.
Meine Füße hämmerten im Takt der Musik auf den Asphalt, mein Herz schlug im gleichen Rhythmus, jagte Adrenalin durch meine Adern und doch fühlte ich mich kein Stück besser.
Erst als ich das dunkle Wasser der Themse vor mir sah, wurde ich ruhiger.
Meine Schritte wurden etwas langsamer, während ich zu den Bootshäusern ging. Vor dem fünften blieb ich stehen und tastete nach dem Schlüssel, der unter einem Blumentopf vor dem Bootshaus versteckt war.
Die Tür quietschte leise, als ich sie öffnete und eintrat. Es war dunkel, aber meine Augen gewöhnten sich schnell daran, und ich war in den letzten Wochen so oft hier gewesen, dass ich kein Licht brauchte, um mich zurechtzufinden. Ich streifte meine Schuhe ab, griff nach zwei Ruderstangen und wählte eins der kleineren, schlanken Ruderboote, die nur für eine Person gedacht waren.
Vorsichtig ließ ich das Boot an der Anlegestelle ins Wasser gleiten und schlüpfte hinein. Mir entfuhr ein Seufzen, sobald ich mich vom Steg abstieß und das Boot hinaus auf den Fluss trieb.
Es war leichtsinnig, so spät Rudern zu gehen, noch dazu allein und ohne jemandem Bescheid zu sagen, aber das kümmerte mich nicht. Als meine Schultern von der Anstrengung schließlich brannten wie Feuer hatte ich zum ersten Mal seit Stunden das Gefühl, wieder richtig atmen zu können.
Ich schoss den Fluss hinunter, die Luft schnitt kalt in meine Haut. Es fühlte sich an, als würde ich fliegen. Als wäre ich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit frei. Meine Klamotten klebten schweißnass an meinem Körper, es war eiskalt. Ein Teil von mir fror, der andere Teil registrierte die Kälte kaum.
Als ich irgendwann aus dem Fluss kletterte und das Ruderboot zum Bootshaus zurückbrachte, schrie mein Körper regelrecht vor Schmerz, doch ich ignorierte das Ziehen in meinen Muskeln. Morgen würde ich höllischen Muskelkater haben, aber das war es wert gewesen.
Ganz abgesehen davon konnte ich den Muskelkater auch umgehen, wenn ich wollte.
Ich zog mir meinen Hoodie über, den ich am Bootshaus gelassen hatte, drehte mich um und stieß einen erschrockenen Fluch aus, als ich jemanden vor mir stehen sah. So spät trieb sich sonst niemand hier herum.
Der Typ war vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich. Dunkle Haare fielen ihm in wirren Locken in die Stirn, seine Augenfarbe konnte ich in der Dunkelheit nicht richtig erkennen. Ich registrierte die scharf geschnittenen Wangenknochen, die ausgeprägte Kieferpartie und das feine Lächeln, das um seinen Mund spielte. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und wirkte völlig tiefenentspannt. Doch etwas an ihm irritierte mich, ohne dass ich benennen konnte, was es war.
Einen Moment lang standen wir uns nur stumm gegenüber und starrten einander an, dann wollte ich mich an ihm vorbeischieben, doch er trat mir mit einer fließenden Bewegung in den Weg. Unwillig schob ich mir die Kopfhörer von den Ohren.
»Ist was?« Ich gab mir keine Mühe, den genervten Unterton in meiner Stimme zu unterdrücken, und zog die Augenbrauen hoch.
»Wir müssen reden, Finley.«
»Kennen wir uns?«, fragte ich und widerstand dem Drang, einen Schritt zurückzuweichen. Woher auch immer er meinen Namen wusste, ich hatte ihn noch nie im Leben gesehen. Und mein Gefühl sagte mir, dass ich auch auf diese Begegnung lieber verzichtet hätte.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich kenne dich, das reicht.«
Mir entfuhr ein ungläubiges Lachen. »Das reicht wofür?«
»Um zu reden.« Er verdrehte die Augen, als wäre das offensichtlich.
Klar doch.
»Wer bist du?«, wollte ich wissen, während ich fieberhaft überlegte, ob ich ihm vielleicht doch irgendwann einmal begegnet war.
»Das ist nicht wichtig.«
»Ach echt? Ich finde das nämlich ziemlich wichtig. Warum sollte ich mit dir reden, wenn du mir nicht mal sagst, wer du bist und woher zum Teufel du meinen Namen kennst?«
Seine Mundwinkel zuckten belustigt, dann schüttelte er den Kopf, als hätte ich irgendetwas wahnsinnig Witziges gesagt. Unwillkürlich knirschte ich mit den Zähnen.
»Genau genommen redest du längst mit mir«, stellte er klar.
Ich stöhnte auf. »Was du nicht sagst. Dann lasse ich das jetzt wohl besser.« Wieder machte ich Anstalten, mich an ihm vorbeizuschieben, und wieder trat er mir in den Weg.
»Es ist wirklich nicht wichtig, wer ich bin. Wichtig ist nur, dass du mir zuhörst. Es geht um Dorian.«
Im ersten Augenblick war ich mir sicher, mich verhört zu haben.
Seit ich in Oxford war, versuchte ich herauszufinden, was mit Dorian geschehen war. Und ausgerechnet jetzt – nach dieser verfluchten Aufgabe, während der ich mich für ein paar Sekunden lang der Illusion hingegeben hatte, ihn retten zu können, tauchte aus dem Nichts jemand auf, der mit mir über ihn reden wollte?
Obwohl mir wochenlang alle ausgewichen waren, die ich auf ihn angesprochen hatte?
Sollte das ein Witz sein?
»Was?« Meine Stimme durschnitt kalt und seltsam hohl die Stille, die sich zwischen uns ausgebreitet hatte.
»Es geht um Dorian«, wiederholte er, als würde auch er glauben, ich hätte mich verhört.
»Das hast du bereits erwähnt. Was weißt du über Dorian?«, fragte ich gepresst, meine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Eine Menge und nichts, was ich dir jetzt sagen kann.«
Ich blinzelte, starrte ihn fassungslos an. Mir wurde erst eiskalt und dann viel zu heiß. Wut durchströmte mich, kollidierte mit dem Hass in mir, und ich spürte, wie mir die Kontrolle zu entgleiten drohte.
»Willst du mich verarschen? Du willst mit mir über Dorian reden, kannst mir aber nicht sagen, was du über ihn weißt? Du kennst mich und offensichtlich auch ihn, verrätst mir deinen Namen aber nicht? Was stimmt nicht mit dir?«
»Bist du fertig?«, gab er ungerührt zurück und betrachtete mich mit einem Ausdruck in den Augen, der beinahe gelangweilt wirkte.
In mir zersprang etwas. Ich hielt sein Herz in der Hand, bevor ich auch nur darüber nachdenken konnte, was ich tat. Seine Augen weiteten sich, als ich zudrückte. Er konnte nicht verstehen, warum seine Brust sich plötzlich viel zu eng anfühlte, warum er das Gefühl hatte, sein Herz würde jede Sekunde aufhören zu schlagen.
Ich hatte die Kontrolle über seinen Körper übernommen, ohne auch nur einen Finger rühren zu müssen. Langsam trat ich auf ihn zu, während sein Atem immer schneller ging. Irgendwo tief in mir drin wusste ich, dass es nicht gut war. Nichts an der ganzen Situation und vor allem nicht, was ich hier gerade tat.
Ich setzte meine Fähigkeiten zu offensichtlich ein. Jetzt wusste er, dass ich ihn kontrollierte, und das konnte ich nicht ungeschehen machen. Nicht, ohne jemanden von den Diamonds um Hilfe zu bitten. Und das kam nicht infrage.
Ich verstieß schon wieder gegen die Regeln, aber damit konnte und wollte ich mich jetzt nicht auseinandersetzen.
Es ging um Dorian, alles andere spielte keine Rolle.
»Versuch nicht, mit mir zu spielen«, sagte ich und ließ seine Knochen knacken, brach sie aber nicht. So weit war ich noch nicht.
Ich rechnete damit, Angst in seinen Augen zu sehen, stattdessen blitzte so etwas wie Anerkennung in seinem Blick auf und er stieß ein raues Lachen aus.
»Keine Sorge, ich weiß, welches Spiel bei den Vier Farben gespielt wird.« Er rang nach Atem.
»Ist das so?« Ich verlagerte mein Gewicht, um mir meine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen. Wer zum Teufel war der Kerl und was wusste er über Dorian, die Vier Farben und mich? Und vor allem, woher wusste er davon?
»Ja. Ich weiß alles. Ich weiß von dem Spiel und ich weiß von euren Fähigkeiten. Lässt du mich jetzt los? Du hast gewonnen. Ich werde dir alles über Dorian sagen, was ich kann.« Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser, schwächer. So langsam ging ihm nicht nur der Sauerstoff aus.
Aus schmalen Augen sah ich ihn an. Er war die beste Chance, die ich hatte, um endlich herauszufinden, was mit Dorian passiert war. Genau genommen, war er meine einzige Chance.
Ich ließ ihn noch einen Moment zappeln, dann lockerte ich meinen Griff und zog mich zurück. Er schnappte nach Luft, taumelte und stützte sich keuchend mit beiden Händen auf den Oberschenkeln ab.
Abwartend musterte ich ihn, beobachtete, wie er langsam wieder zu Kräften kam, und spürte noch immer sein Herz zwischen meinen Fingern schlagen. Ich hatte ihn losgelassen, aber das bedeutete nicht, dass ich die Kontrolle vollständig wieder abgeben würde.
»Also damit habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet«, sagte er, als er sich schließlich wieder aufrichtete. Ein Grinsen umspielte seine Mundwinkel. »Ich hätte nicht gedacht, dass du deine Fähigkeiten so offensichtlich einsetzen würdest.«
»So kann man sich irren«, erwiderte ich bissig und spürte, wie schon wieder Zorn in mir hochkochte. »Kommst du jetzt endlich zum Punkt oder willst du weiter nur herumlabern? Ich hab nämlich noch was vor.«
»Hast du noch ein Date mit Harper?« Er lachte leise, während ich erstarrte.
Er wusste auch von Harper? Und wieso überraschte mich das überhaupt?
Er machte einen Schritt auf mich zu, und obwohl ich jede Faser seines Körpers kontrollieren konnte, hatte ich auf einmal das Gefühl, als wäre mir die Kontrolle über die ganze Situation gerade völlig entrissen worden.
»Weißt du, Finley, du spielst ziemlich viele gefährliche Spiele. Ist dir das überhaupt bewusst? Du bringst dich und Harper in Gefahr. Du riskierst dein Pfand für sie und willst gleichzeitig herausfinden, was mit Dorian passiert ist. Aber ich glaube, du hast keine Ahnung, was die Wahrheit dich kosten kann.«
»Und du schon?« Krampfhaft versuchte ich, die Kälte zu unterdrücken, die in mir aufstieg. Was ging hier vor?
Er neigte den Kopf, etwas Dunkles blitzte in seinen Augen auf. »Wie gesagt, ich weiß alles. Aber ich kann dir nicht alles sagen.«
»Warum nicht?«
»Weil es immer und überall Regeln gibt. Manche lassen sich brechen, diese nicht. Aber zurück zu Dorian. Ich kann dir helfen, ihn zurückzuholen.«
Mein Herz setzte einen Schlag aus, die Welt um mich herum geriet aus dem Gleichgewicht, kippte und hörte auf zu existieren. Nur für einen Moment, dann kam sie mit einem Ruck zum Stillstand. Dieses Mal wusste ich, dass ich mich nicht verhört hatte. Doch obwohl ich jedes Wort verstanden hatte, verstand ich gleichzeitig gar nichts mehr.
»Was?«
»Du hast mich schon verstanden«, antwortete er, als hätte er meine Gedanken gelesen, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und nein, ich will dich nicht verarschen und du musst mir bitte auch nicht wieder das Herz zerquetschen. Das war echt unangenehm. Ich wiederhole es aber trotzdem noch mal, damit es auch wirklich in deinem Hirn ankommt: Ich kann dir helfen, Dorian zurückzuholen.«
Sechs Worte, ein Satz. Aber der reichte, um mich ins Chaos zu stürzen. Mein Herz raste, jeder Muskel war bis zum Zerreißen angespannt. Ich wollte, dass er die Wahrheit sagte. Ich wollte es so sehr, dass die Hoffnung, seine Worte könnten wirklich stimmen, mich beinahe umbrachte.
Aber es gab nur eine Wahrheit und an der konnte niemand etwas ändern.
»Dorian ist tot. Niemand kann ihn zurückholen.« Doch noch in der Sekunde, in der ich es aussprach, war ich mir schon nicht mehr sicher, ob das tatsächlich zutraf. Denn es gab diese eine Farbe, über deren Fähigkeit ich mir nie wirklich Gedanken gemacht hatte. Ich hatte in den vergangenen Monaten einfach zu wenig mit ihren Mitgliedern zu tun gehabt. Aber sie waren da und sie waren die Einzigen, die auch nur den Hauch einer Möglichkeit hatten, das zu tun, was er behauptete.
»Bist du ein Cross? Kannst du ihn deshalb zurückholen?«
»Ich bitte dich.« Er lachte. Ein echtes, amüsiertes Lachen, das in mir den Drang weckte, seinen Kiefer mit meiner Faust bekannt zu machen. »Die Cross mögen zwar den Tod kontrollieren, aber sie können niemanden, der seit fast einem Jahr unter der Erde liegt, ins Leben zurückholen. Lernt ihr eigentlich gar nichts bei den Vier Farben?« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern sprach sofort weiter. »Die Cross können dir in einem Sekundenbruchteil das Licht ausknipsen, und wenn sie wollen, können sie dich auch wieder zurückholen. Aber nur innerhalb einer sehr begrenzten Zeitspanne. Im Grunde spielen sie vor allem mit der Angst vor dem Tod und das können sie richtig gut. Aber dazu seid ihr auch in der Lage, nicht wahr? Die Spades, Diamonds und Hearts können den Tod genauso kontrollieren wie die Cross, wenn auch auf eine andere Weise. Du hast gerade bewiesen, dass du mein Herz einfach zerquetschen könntest, selbst die Diamonds und Hearts können Gedanken und Emotionen in eine tödliche Richtung lenken. Es ist nicht so wahnsinnig schwierig, dafür zu sorgen, dass sich jemand von einer Brücke stürzt.«
»Na das ist dann doch genau das Richtige, um unsere Fähigkeiten einzusetzen. Wieso sollten wir die auch für etwas Gutes benutzen?«, warf ich ironisch ein, aber er überging meine Antwort einfach, als hätte ich nichts gesagt.
»Abgesehen von den Cross können allerdings nur die Spades jemanden zurückzuholen, aber für euch ist es anstrengender und ihr müsst mehr bedenken. Der Körper ist ein kompliziertes Kunstwerk und im Gegensatz zu den Cross, die einfach beschließen können, jemanden wieder zum Leben zu erwecken, müsst ihr jeden Nerv und jeden Muskel berücksichtigen. Vielleicht solltest du überlegen, ob du nicht doch lieber Medizin anstatt Jura studieren solltest. Könnte dir helfen«, sinnierte er.
»Danke, aber ich brauche niemanden, der sich Gedanken über die Wahl meiner Studienfächer macht.« Ich schnaubte abfällig, während ich verzweifelt gegen die Hoffnung ankämpfte, die sich in mein Herz schlich. Ich konnte mir keine Hoffnung leisten. »Du kannst Dorian nicht zurückholen. Wenn die Vier Farben es nicht können, kannst du es erst recht nicht.« Das war eine glatte Lüge, ich hatte keine Ahnung, wozu er fähig war.
Ein gefährliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und seine Augen blitzten auf. Wir standen jetzt so nah beieinander, dass ich eine Mischung aus Braun und Grün darin erkennen konnte. »Tja und in dem Punkt irrst du dich. Die Vier Farben mögen dazu nicht in der Lage sein. Aber ich kann dir helfen und ich werde es tun«, erwiderte er. »Allerdings habe ich Bedingungen.«
»Welche?« Unwillkürlich hielt ich den Atem an, weil meine Hoffnung sich schließlich doch gegen die Vernunft durchgesetzt hatte. Tausend Fragen wirbelten durch meinen Kopf. Wichtige Fragen, nach dem Wie und Warum, aber im Moment war nur wichtig, was er als Gegenleistung erwartete. Was ich tun musste, um Dorian zurückzubekommen.
»Halte dich von Harper fern.«
»Wieso?«
Überrascht zog er die Augenbrauen hoch. »Was denn? Kein Protest?«
Ich zuckte mit den Schultern und ignorierte die leise Stimme in mir, die ebenfalls wissen wollte, warum ich nicht protestierte. »Kannst du ein einziges Mal meine Frage beantworten, ohne irgendeine dumme Erwiderung?«
»Was passiert, wenn ich Nein sage?« Er grinste und ich knirschte wütend mit den Zähnen. »Schon gut«, fuhr er in einem beschwichtigenden Tonfall fort, doch seine Augen funkelten spöttisch. »Du musst dich von Harper fernhalten, weil es zu gefährlich ist. Wenn ihr erwischt werdet, verlierst du dein Pfand, und das willst du nicht, vertrau mir. Damit wären wir auch bei der zweiten Bedingung, die du erfüllen musst, damit du Dorian zurückbekommst: Du musst das Spiel gewinnen.«
Unruhig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Es war viel zu spät und ich viel zu wach. Seit Stunden versuchte ich, einzuschlafen und die Gedanken in meinen Kopf zur Ruhe zu bringen.
Aber ich kam nicht dagegen an. Die ganze Zeit sah ich Finley während der Punktevergabe vor mir und egal, wie oft ich mir sagte, dass die Kälte in seinem Blick nicht mir gegolten hatte, dass er mich nur nicht angeschaut hatte, weil er uns nicht verraten wollte – egal, wie oft ich mir all das sagte, ich glaubte mir selbst kein Wort.
Ein zaghaftes Klopfen ließ mich hochfahren. Im ersten Moment konnte ich das Geräusch nicht zuordnen, im zweiten erkannte ich, dass jemand gegen die Badezimmertür klopfte. Lexie.
»Komm rein«, sagte ich gerade laut genug, dass sie mich hören konnte.
Die Tür schwang auf und Lexie tapste auf nackten Füßen in mein Zimmer. Ihre Haut leuchtete unnatürlich hell im Licht des Mondes, das durch den Spalt zwischen meinen Vorhängen fiel.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken, aber …« Sie brach ab und blieb unschlüssig mitten im Zimmer stehen.
»Hast du nicht. Ich konnte nicht schlafen. Alles in Ordnung?« Eigentlich war die Frage überflüssig. Lexie würde niemals mitten in der Nacht in mein Zimmer kommen, wenn alles in Ordnung wäre.
Stumm schüttelte sie den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. Sie wich meinem Blick aus, trotzdem war ihr anzusehen, dass sie etwas sagen wollte. Doch sie brachte keinen Ton heraus und plötzlich begriff ich auch ohne Worte, worum sie mich bitten wollte. Sie schaffte es nur nicht. Weil sie sich dann etwas eingestehen müsste, was sie nicht sehen wollte.
Aber ich konnte es sehen. Weil es mir genauso ging.
Ich schlug die Decke zurück und schenkte ihr ein sanftes Lächeln. »Bleibst du heute Nacht hier?«
Erleichterung huschte über ihr Gesicht, sie nickte und kroch zu mir ins Bett.
Stille breitete sich zwischen uns aus, ich hörte unseren Atem, der langsam den gleichen Rhythmus fand, und spürte, wie ich ruhiger wurde.
»Wie haben sie das Spiel ertragen? Die anderen vor uns. Wie haben sie es ertragen? Und wie können sie jetzt so … glücklich sein. So unbeschwert?«, flüsterte Lexie irgendwann. Ihre Worte hingen schwer zwischen uns.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie es einfach hinter sich gelassen. Vielleicht konnten sie es abhaken und weitermachen.«
»Glaubst du, wir können das auch? Nach allem … was wir tun mussten und was sie uns angetan haben?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht, dass ich das einfach hinter mir lassen kann.« Meine Stimme war nur noch ein leises Wispern. Bilder stiegen vor mir auf. Cece, die mit angsterfülltem Blick auf dieser Klippe stand. Ich konnte noch immer ihre Hand in meiner spüren, als wir zusammen gesprungen waren.
»Ich auch nicht.«
Energisch schüttelte ich die Bilder ab und tastete nach Lexies Hand. »Willst du darüber reden?«
Sie atmete tief ein, ich erwartete fast, dass sie ablehnen würde, aber dann seufzte sie leise und begann zu erzählen. »Ich kann nicht schwimmen. Ich hatte immer Angst davor. Keine Ahnung, warum. Sie haben meinen Körper manipuliert, damit ich mich nicht bewegen kann. Und mich dann ins Wasser gestoßen.« Sie schauderte. »Ich hab ziemlich schnell das Bewusstsein verloren. Und damit hatte sich die Aufgabe für mich erledigt. Ich habe versagt.«
Ich wollte widersprechen, aber im Grunde hatte sie recht. Sie hatte versagt, genau wie ich. Ich war mir nicht sicher, ob überhaupt jemand die Aufgabe richtig erfüllen konnte.
»Ist doch egal. Scheiß auf die Aufgabe. Scheiß auf das Spiel.«
Lexie stieß ein ersticktes Lachen aus. »Schön wär’s. Aber wir können nicht gehen. Wir können uns nicht mal weigern, die Aufgaben zu erfüllen. Und was ist mit unseren Wünschen?«
Mein Herz krampfte sich zusammen. Ja, was war mit unseren Wünschen? Ich wollte dieses Spiel immer noch gewinnen, um meine Mutter zu finden, aber ich war mir nicht mehr sicher, ob ich dafür stark genug war. Die letzten Aufgaben hatten mir meine eigenen Schwächen viel zu deutlich vor Augen geführt.
»Ich weiß es nicht.«
Wieder breitete sich Stille zwischen uns aus, schwer und kalt, ein totes Gewicht, das uns zu erdrücken versuchte, und obwohl ich es nicht wollte, wanderten meine Gedanken zurück zu Finley. Zurück zu diesem Gefühl, dass bei seiner Aufgabe etwas furchtbar schiefgelaufen war, dass etwas in ihm zerbrochen war. Dieses Mal endgültig.
»Ich habe Angst, ihn zu verlieren«, flüsterte ich.
»Ich habe Angst, mich selbst zu verlieren«, flüsterte Lexie zurück.
»Ich weiß. Ich auch.«
Es regnete immer noch, als ich mich am nächsten Morgen auf den Weg zur juristischen Fakultät machte. Dichter Nebel hing über der Stadt und erschwerte die Sicht. Trotzdem waren die Straßen belebt. Kleine Gruppen von Studierenden waren unterwegs zu ihren Tutorien und Vorlesungen, Eltern brachten ihre Kinder zur Schule. Dafür, dass es so früh war, war ziemlich viel los. Es fühlte sich seltsam an, wieder in die Uni zu gehen. Irgendwie falsch. Viel zu normal nach allem, was geschehen war.
Gleichzeitig war ich aber froh über den Abstand von den Vier Farben. Und darüber, Cece wiederzusehen. Und … Finley.
Mein Magen verknotete sich allein beim Gedanken an ihn. Wir waren uns seit der letzten Punktevergabe nicht mehr begegnet, ich hatte nichts von ihm gehört. Kein Anruf, keine Nachricht. Absolut gar nichts.
Ich war mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt etwas erwarten sollte. Nach der Nacht, die wir bei Cece verbracht hatten, hatten wir unsere Nummern ausgetauscht und unter falschem Namen eingespeichert – Sara und Mitchell, zwei völlig willkürliche Namen, zu denen weder er noch ich irgendeinen Bezug hatten. Irgendwie mussten wir miteinander kommunizieren. Ich konnte schließlich nicht einfach zum Haus der Spades gehen, um mit ihm zu reden, genauso wenig, wie er zu mir kommen konnte.
In den letzten zwei Tagen war ich mehrmals kurz davor gewesen, ihm zu schreiben, und hatte es dann doch nicht über mich gebracht. Es war nur ein Gefühl, eine dunkle Ahnung, die mich davon abgehalten hatte.
Wir mussten reden. Richtig reden.
Trotzdem kam ich nicht dagegen an, mein Handy aus der Jackentasche zu ziehen und einen Blick auf das Display zu werfen. Nichts. Ich wollte es gerade wieder wegstecken, als es in meiner Hand zu vibrieren begann.
Mein Herz machte einen aufgeregten Satz, doch als ich die Nachricht las, durchströmte mich Enttäuschung, dicht gefolgt von einem schlechten Gewissen.
Cece 7:47:Ich bin spät dran, hältst du mir einen Platz frei?😊
Ich zwang mich, die Enttäuschung herunterzuschlucken. Warum sollte er sich ausgerechnet jetzt melden? Ganz abgesehen davon wollte ich ihn sehen, mich vergewissern, dass es ihm gut ging.
Ich antwortete Cece kurz und beschleunigte meine Schritte. Ich war selbst spät dran.
Doch als ich den Hörsaal betrat, waren die meisten Plätze noch unbesetzt. Ich war wohl nicht die Einzige, die heute Morgen lieber im Bett geblieben wäre. Die letzte Nacht war viel zu kurz gewesen. Es hatte ewig gedauert, bis ich endlich eingeschlafen war, und auch dann war es kein besonders erholsamer Schlaf gewesen.
In meinen Träumen hatte ich in einem gläsernen Sarg gelegen, nicht größer als die Kiste, in die sie mich bei der letzten Aufgabe gesperrt hatten. Sie hatten den Sarg über die Klippe geworfen, von der ich mit Cece gesprungen war. Erst war ich gefallen, und nachdem der Sarg die Wasseroberfläche durchbrochen hatte, war ich gesunken. Tiefer und tiefer. Ich hatte gesehen, wie sich das Licht immer weiter von mir entfernte, wie es vom Wasser verschluckt wurde, bis da nur noch Dunkelheit war. Dunkelheit und Panik.
Bei der Erinnerung begann mein Herz zu rasen und einen Moment lang fragte ich mich, ob es überhaupt noch einen normalen Rhythmus hatte. Regelmäßig und langsam. Ohne Angst.
»Willst du dich noch irgendwo hinsetzen oder einfach im Weg stehen bleiben?«
Die genervte Stimme holte mich mit einem Schlag zurück in die Realität. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss, als ich mich zu dem Mädchen umdrehte, das hinter mir stand und mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, als würde ich überallhin gehören – nur nicht in diesen Hörsaal.
»Sorry«, murmelte ich und trat beiseite. Leise murmelnd schob sie sich an mir vorbei, nicht ohne dabei mit ihrer Tasche gegen meine Brust zu stoßen.
Ich setzte mich auf einen Platz in der letzten Reihe, nah an der Tür, stellte jedoch schnell fest, dass ich mir damit keinen Gefallen getan hatte. Denn jedes Mal, wenn die Tür aufging und jemand hereinkam, rechnete ich mit Finley. Er war es nicht. Kein einziges Mal.
»Guten Morgen.« Schwungvoll ließ Cece sich auf den Platz neben mir fallen und reichte mir einen Becher, aus dem heißer Dampf aufstieg.
»Morgen«, murmelte ich, trank einen Schluck Tee und verbrannte mir prompt die Zunge. »Kein Kaffee heute?«
Cece zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, wir brauchen mal Abwechslung. Schwarzer Tee soll Stresshormone abbauen und du bist im Moment die ganze Zeit gestresst, also …«
Meine Lippen verzogen sich zu einem halbherzigen Lächeln. Wenn Tee wirklich gegen Stress helfen würde, würde ich den ganzen Tag nichts anderes trinken.
»Alles okay?« Mit gerunzelter Stirn musterte Cece mich.
Ich nickte, schüttelte den Kopf und seufzte. Ich hatte ihr noch nichts von der letzten Aufgabe erzählt und ich war mir auch nicht sicher, ob ich es konnte. »Ja. Nein. Ich …« Ich brach ab, als die Tür ein weiteres Mal aufging und ich mich reflexartig umdrehte.
Blonde Haare, grüne Augen, breite Schultern, ein Mund, den ich unzählige Male geküsst hatte.
Finley.