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Die Welt wird immer komplexer? Keine Frage – wirtschaftliche Globalisierung und Migration stellen uns vor Herausforderungen. Auch die Beratungswelt hat sich in den letzten Jahrzehnten schleichend verändert: Immer häufiger ist auf Seiten der Beratenden interkulturelle Kompetenz gefordert und die Beratung selbst wird ebenfalls zunehmend zur interkulturellen Situation. Migrationsprozesse, Diskriminierung und unterschiedliche Sozialisationserfahrungen können Beratende überfordern, wenn sie keine angemessene Herangehensweise zu diesen Themen entwickeln. Die Fähigkeit zum Perspektivwechsel ist somit umso wichtiger. Stefan Schmid bietet einen selbstreflexiven Zugang, um eigenes Wissen zu erweitern, Lücken und Vorbehalte zu erkennen und so eine kultursensible Gesprächsführung aufzubauen. Diese zielt nicht darauf ab, alles zu wissen, sondern die richtigen Fragen zu stellen. Also nehmen Sie die Herausforderung an und werden Sie interkulturell kompetent!
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Seitenzahl: 124
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BERATEN IN DER ARBEITSWELT
Herausgegeben vonStefan Busse, Heidi Möller, Silja Kotte und Olaf Geramanis
Stefan Schmid
Beratungskompetenz für eine globalisierte Gesellschaft
Kultur, Globalisierung, Migration
Mit drei Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: ProStockStudio/shutterstock.com
Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISSN 2625-6061ISBN 978-3-647-99484-0
Zu dieser Buchreihe
1 Warum dieses Buch?
2 Die Bedeutung von Interkulturalität in der Beratung
3 Modelle interkultureller Kompetenz
4 Kultursensible Selbstreflexivität in der Praxis
4.1 Hierarchieverständnis
4.2 Unabhängiges versus interdependentes Selbstkonzept
4.3 Diffusion der Lebensbereiche versus getrennte Lebensbereiche
4.4 Expliziter versus impliziter Kommunikationsstil
4.5 Monochrones versus polychrones Zeitverständnis
4.6 Analyseorientierung versus Handlungsorientierung
4.7 Emotionsausdruck: Expressiv versus instrumentell
4.8 Starke versus schwache Geschlechterrollengleichheit
5 Migrationsaspekte in der Beratung
5.1 Akkulturation
5.1.1 Akkulturation als wechselseitiger Prozess
5.1.2 Akkulturation als lebensbereichsspezifische Bewältigung
5.1.3 Wahrgenommene Akkulturationsorientierung
5.1.4 Generationsübergreifende Akkulturationsprozesse
5.2 Identität und Gruppenzugehörigkeit
5.3 Kulturelle Identität
5.4 Bedrohungsempfinden
6 Vom Reflektieren und Wissen zum kultursensiblen Handeln
6.1 Individuelle Perspektive
6.2 Interaktionelle Perspektive
6.3 Kontextperspektive
7 Kulturreflexive Abschlussbetrachtung
Literatur
Zu dieser Buchreihe
Die Reihe wendet sich an erfahrene Berater/-innen, die Lust haben, scheinbar vertraute Positionen neu zu entdecken, neue Positionen kennenzulernen und die auch angeregt werden wollen, eigene zu beziehen. Wir denken aber auch an Kolleginnen und Kollegen in der Aus- und Weiterbildung, die neben dem Bedürfnis, sich Beratungsexpertise anzueignen, verfolgen wollen, was in der Community praktisch, theoretisch und diskursiv en vogue ist. Als weitere Zielgruppe haben wir mit dieser Reihe Beratungsforscher/-innen, die den Dialog mit einer theoretisch aufgeklärten Praxis und einer praxisaffinen Theorie verfolgen und mit gestalten wollen, im Blick.
Theoretische wie konzeptuelle Basics als auch aktuelle Trends werden pointiert, kompakt, aber auch kritisch und kontrovers dargestellt und besprochen. Komprimierende Darstellungen »verstreuten« Wissens als auch theoretische wie konzeptuelle Weiterentwicklungen von Beratungsansätzen sollen hier Platz haben. Die Bände wollen auf je rund 90 Seiten den Leser/-innen, die Option eröffnen, sich mit den Themen intensiver vertraut zu machen als dies bei der Lektüre kleinerer Formate wie Zeitschriftenaufsätzen oder Hand- oder Lehrbuchartikeln möglich ist.
Die Autorinnen und Autoren der Reihe werden Themen bearbeiten, die sie aktuell selbst beschäftigen und umtreiben, die aber auch in der Beratungscommunity Virulenz haben und Aufmerksamkeit finden. So werden die Texte nicht einfach abgehangenes Beratungswissen nochmals offerieren und aufbereiten, sondern sich an den vordersten Linien aktueller und brisanter Themen und Fragestellungen von Beratung in der Arbeitswelt bewegen. Der gemeinsame Fokus liegt dabei auf einer handwerklich fundierten, theoretisch verankerten und gesellschaftlich verantwortlichen Beratung. Die Reihe versteht sich dabei als methoden- und Schulen übergreifend, in der nicht einzelne Positionen prämiert werden, sondern zu einem transdisziplinären und interprofessionellen Dialog in der Beratungsszene anregt wird.
Wir laden Sie als Leserinnen und Leser dazu ein, sich von der Themenauswahl und der kompakten Qualität der Texte für Ihren Arbeitsalltag in den Feldern Supervision, Coaching und Organisationsberatung inspirieren zu lassen.
Stefan Busse, Heidi Möller, Silja Kotte und Olaf Geramanis
1 Warum dieses Buch?
Globalisierung ist kein neues Phänomen, sondern stand schon an der Wiege des kapitalistischen Wirtschaftssystems, wie wir es heute kennen (Beckert, 2017; Marx u. Engels, 1859/1967). Allerdings hat sich der Personenkreis, der sich unmittelbar damit auseinandersetzt und betroffen ist, in den letzten Jahrzehnten beträchtlich erweitert. Im Alltag sind wir ständig mit Fragestellungen konfrontiert, die unmittelbar aus dem Prozess der Globalisierung resultieren. Beim Konsum gilt es zu reflektieren, wie und wo ein Artikel hergestellt wurde, im Arbeitsleben drängt die weltweite Präsenz des Arbeitgebers in eine 24/7-Verfügbarkeit. In der Beratungspraxis wird klar, dass selbst in Organisationen, die ausschließlich im Inland präsent sind, rund ein Viertel der Klient*innen Eltern haben, die eingewandert sind oder selbst Migrationserfahrung mitbringen. Arbeitet man mit Kindern in Großstädten, kann es sich auch mal um mehr als die Hälfte der Klient*innen handeln (München, 2017).
Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Fachrichtungen befassen sich mit den verschiedenen Facetten der psychischen und sozialen Auswirkungen von Globalisierung auf den einzelnen Menschen. Steht die Verdichtung, Beschleunigung und Stress im Alltag durch die Veränderung von Reise- und Kommunikationsmitteln bei manchen Autor*innen im Fokus (z. B. Rosa, 2014), rücken andere Ängste vor sozialem Abstieg, ausgelöst durch einen wahrgenommenen Optimierungsdruck, ins Zentrum ihrer Betrachtung (Bude, 2015). Auch wird der Ruf nach einer systematischen »Psychologie der Globalisierung« (Chiu u. Kwan, 2016; Diaz u. Zirkel, 2012; Marsella, 2012) lauter. Unter diesem Schlagwort versammelt sich eine Fülle von Themen, wie z. B.
Beziehungen zwischen Mehrheitsgesellschaft und Zugewandertengruppen
Auswirkungen dieser Gruppenbeziehungen auf die einzelnen Personen
Bedrohungsempfinden gegenüber spezifischen Zugewandertengruppen und daraus resultierende Diskriminierung; die Reaktion der Zugewanderten darauf
Entstehung von Stereotypen bzgl. Zugewandertengruppen zu denen kein persönlicher Kontakt besteht
Kulturelles Selbstverständnis und Identitätskonstruktion von Zugewanderten, deren Kindern und von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft (Bernardo u. Presbitero, 2018; Ying yi Hong, Zhan, Morris, u. Benet-Martínez, 2016; Morris, Chiu, u. Liu, 2015)
Integrations- und Abstoßungsprozesse in einer multikulturellen Gesellschaft
Rolle interkulturellen Lernens und Förderung interkultureller Lernprozesse
Welche Auswirkungen haben diese Fragestellungen auf die Arbeit von Berater*innen? Erfahrene Coaches winken bei den zuerst genannten Aspekten, wie Stress, Ängste und Überforderung oft ab und sehen diese als altbekannte Themen eines erweiterten Personenkreis, deren Auslöser sich nur verändert hat.
Betrachtet man allerdings die interkulturellen Aspekte, wird klar, dass sich durch Globalisierung eine deutliche Veränderung abzeichnet. Es gibt nicht mehr nur einzelne spezialisierte Berater*innen für interkulturelle Themen, die sich mit wenigen Betroffenen beschäftigen, sondern der Anteil der Klient*innen, bei denen interkulturelle Aspekte in der Arbeit eine zentrale oder begleitende Rolle spielen, wächst seit Jahren. Im gleichen Sinne häufen sich Beratungssituationen, in denen Klient*in und Berater*in unterschiedlich kulturell sozialisiert wurden, also die Beratung selbst zur interkulturellen Situation wird. Dies als Berater*in zu unterschätzen und als normale Herausforderung an die eigene Fähigkeit zum Perspektivenwechsel einzuschätzen, wäre höchst unprofessionell. Therapiestudien mit erhöhten Abbruchquoten bei bikulturellen Therapiedyaden bzw. bei nicht kultursensibel agierenden Berater*innen, die glauben zu verstehen und Klient*innen, die sich nicht verstanden fühlen, sprechen eine deutliche Sprache (Owen, Imel, Adelson, u. Rodolfa, 2012; T. B. Smith, Trimble, Smith, u. Trimble, 2015; Sue, Sue, Neville, u. Smith, 2019): Hier verbirgt sich eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für Berater*innen, die gleichzeitig die Chance bietet, den eigenen Horizont beträchtlich zu erweitern.
Dieses Büchlein bietet einen Baustein, die eigene Kultursensitivität in der Beratung zu reflektieren, Lernbedarfe zu erkennen und sich vielleicht schon bei der Lektüre weiterzuentwickeln.
Das zweite Kapitel verdeutlicht die Relevanz von Interkulturalität für Beratungsprozesse. Anschließend und in Kapitel drei, werden zwei Modelle interkultureller Kompetenz vorgestellt und die spezifischen Anforderungen für Berater*innen herausgearbeitet. Das vierte Kapitel stellt einen heuristischen Rahmen zur kulturellen Selbstreflexion vor. Kapitel fünf erweitert die beraterische Perspektive um migrantische Themen. Abschließend werden Beratungstechniken in Kapitel sechs vorgestellt, die interkulturelle Aspekte in der Beratung explorieren und bearbeiteten können.
Bevor wir uns konzeptuell dem Thema nähern, werfen wir zunächst einen Blick darauf, wie sich Interkulturalität in verschiedenartigen Beratungssituationen äußern kann. Impulsfragen dienen der Selbstverortung – wie schätzen Sie folgende Situationen ein?
Integrationsberatung
Eine Sozialarbeiterin arbeitet häufig in der Beratung mit Afghaninnen und unterstützt diese beim Integrationsprozess in Deutschland. Dabei ermuntert sie die jungen Frauen, ihren Weg zu gehen und die Freiräume in der deutschen Gesellschaft zu nutzen. Anfangs schätzte sie die dabei entstehenden Konflikte in den Familien als logische Konsequenz aus dieser Abnabelung ein. Allerdings kommen ihr mit der Zeit immer mehr Zweifel, ob sie ihre Klientinnen nicht mit diesem Problem allein lässt, dieses nicht richtig versteht oder durch ihre Beratung gar verstärkt.
Zu welchem Vorgehen würden Sie raten?
Studienberatung
Ein Studienberater an der Hochschule erlebt es immer wieder, dass bei Migrant*innen Eltern oder Verwandte sehr stark in die Entscheidungsfindung der zukünftigen Studierenden involviert sind. Er ist dann oft bemüht allein mit den Studierenden zu reden und die Familienangehörigen aus dem Beratungsprozess herauszuhalten. Er sieht die Studierenden als mündige Erwachsene und als solche will er sie behandeln. Etwas unsicher wird er allerdings, als eine Kollegin anmerkt, dass es doch toll sei, dass sich die Angehörigen so engagieren und die zukünftigen Studierenden nicht auf sich gestellt sind. Ob sein Verhalten diese einer wichtigen Ressource beraubt?
Wie schätzen Sie diese Situation und die Rolle der Verwandten ein?
Karriere-Beratung/Coaching
Ein junger Coaching-Klient mit Wurzeln im Nahen Osten lässt sich zu seiner beruflichen Karriere-Entwicklung beraten. Dabei entwickelt er eine Vielzahl an Ideen, die oft schwer zu konkretisieren sind und in der nächsten Sitzung durch völlig neue Ideen ersetzt werden. Viele Ideen sind in Anbetracht seiner Berufserfahrung nicht realistisch und zu hoch gesetzt. Bei dem Coach entsteht dadurch ein eher unreifer und kindlichnaiver Eindruck des Klienten. Die Situation gewinnt allerdings eine gänzlich neue Perspektive als das Gespräch auf die Migrationssituation des Klienten kommt: Er spüre immensen Erfolgsdruck, seine Familie in der Heimat habe keine Vorstellung von der Situation in Deutschland. Die Familie hätte aufgrund seines in Deutschland abgeschlossenen Studiums sehr hohe Erwartungen an ihn.
Wie würden Sie in der Beratung weiter vorgehen?
Coaching
Ein Coach bekommt von einem langjährigen Kunden aus der Industrie einen potenziellen Klienten für ein Probecoaching vermittelt. Der Klient, ein junger Mann mit vietnamesischen Wurzeln, würde durch seine zurückhaltende Art oft unterschätzt und im Unternehmen so unter seinen Möglichkeiten bleiben. Die Probesitzung verläuft anfangs etwas zäh, aber in einem freundlichen Klima. Der Klient wirkt auf den Coach etwas unmotiviert und orientierungslos in Bezug auf das Coaching – was aus seiner Sicht aber für eine Probesitzung nicht ungewöhnlich ist. Der Klient bittet den Coach immer wieder ihm konkrete Tipps zu geben. Der Coach sieht das nicht als seine Aufgabe und erläutert dem Klienten sein Rollenverständnis und seine Arbeitsweise. So müsse zunächst ein differenziertes Bild der Situation entstehen und der Klient selbst erarbeiten, wie er die erlebten Schwierigkeiten bewältigt: Hilfe zur Selbsthilfe. Der Coach ist nach alledem irritiert, als er über die Führungskraft des jungen Mannes erfährt, dass das Coaching nicht zu Stande kommt. Der potentielle Klient sei mit der Probesitzung sehr unzufrieden gewesen, habe den Eindruck gehabt, der Coach wisse nicht weiter und könne ihm keine konkrete Hilfe geben. Stattdessen habe er nur viele Fragen gestellt. Der Coach und die Führungskraft sind etwas überrascht, denn bisher gab es nur gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit.
Haben Sie Hypothesen wie die unterschiedliche Wahrnehmung der Coaching-Sitzung zustande kommen kann?
Konfliktberatung
Eine Psychologin arbeitet in einem Frauenhaus. Bei den dort auftretenden Alltags-Konflikten zwischen den Bewohnerinnen passiert es immer wieder, dass sich Bewohnerinnen mit afrikanischen Wurzeln ihr anvertrauen und von ihr ein »Machtwort« erwarten. Die Psychologin sieht sich jedoch als Moderatorin und »allparteilich«. Agiert sie dann in den folgenden Konfliktgesprächen in dieser Haltung, gewinnt sie den Eindruck, dass die afrikanisch-stämmigen Bewohnerinnen von ihr enttäuscht, nahezu gekränkt sind.
Wie erklären Sie sich diese Dynamik?
2 Die Bedeutung von Interkulturalität in der Beratung1
Interkulturalität kann in verschiedenen Formen Einfluss auf die Beratungssituation nehmen:
Explizit, als Thema und Anlass
Implizit, durch die Differenz der unterschiedlichen Sozialisation von Klient*in und Berater*in.
Studien zeigen, dass die Bedeutsamkeit von Interkulturalität und Migrationserfahrung von Berater*in und Klient*in nicht selten unterschiedlich bewertet wird – insbesondere, wenn der*die Berater*in selbst der Mehrheitsgesellschaft angehört.
Interkulturelle Beratung wird häufig so verstanden, dass ihr Gegenstand und Ziel einen interkulturellen Bezug aufweisen: Die Klient*innen agieren in einem interkulturellen Arbeitsumfeld und erhoffen sich für dieses Unterstützung durch die Beratung (Barmeyer u. Haupt, 2007). Deutlich seltener wird in Betracht gezogen, dass die Beratung selbst eine interkulturelle Situation darstellen kann: Klient*in und Berater*in stammen aus unterschiedlichen Kulturen, und damit wird die Beratung selbst zur interkulturellen Herausforderung (Kammhuber u. Schmid, 2021; Milner, Ostmeier u. Franke, 2013; Schmid, 2018). Im Englischen wurden dafür – je nach Arbeitskontext – die Begriffe des »cross-cultural coaching« oder »cross-cultural counseluling« eingeführt (Milner et al., 2013; Pedersen, 2008). Nazarkiewicz und Krämer (2012) schlagen für diese Konstellation den Begriff des transkulturellen Coachings vor. Dabei greifen sie auf das Konzept der Transkulturalität (Welsch, 1995) zurück, das eher philosophisch denn sozialpsychologisch begründet ist. Dieses beschreibt den modernen Menschen als kulturellen Hybrid, dessen Selbst sich aus einer Vielzahl von Identitäten und Rollen konstruiert – das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Abgrenzung in der Identitätsentwicklung spielt in diesem Ansatz keine Rolle, hingegen wird der Facettenreichtum der modernen Identität betont. Die kulturelle Identität steht bei Welsch gleichberechtigt neben einer Vielzahl anderer Rollen und Identitäten (Beruf, Schicht, Geschlecht etc.) – alles Unterschiede, die Berater*innen in der täglichen Arbeit ohnehin zu überbrücken haben. Damit drängt sich die Annahme auf, dass für den Umgang mit Kulturunterschieden in der Beratung keine anderen Kompetenzen nötig seien als für jeden anderen Unterschied zwischen Berater*in und Klient*in und dass damit eine generell selbstreflexive Herangehensweise ausreiche. Ähnlich argumentieren Roth und Kong nach einer Befragung von Coaches in China (2017).
Erkenntnisse aus der interkulturellen Therapieforschung legen jedoch nahe, dass man damit einer ethnozentrischen Minimierung (Bennett, 2013) von kulturellen Unterschieden Vorschub leistet, wie sie für Angehörige der Majoritätsgesellschaft nicht untypisch ist: Therapeut*innen neigen dazu, interkulturelle Probleme zu unterschätzen und die eigene Fähigkeit, Probleme der fremdkulturellen Klient*innen wahrzunehmen, zu überschätzen. So liegt die Abbruchquote in der Psychotherapie bei interkulturellen Paarungen von Therapeut*in und Patient*in deutlich höher als bei Konstellationen, in denen Therapeut und Patient der Mehrheitsgesellschaft entstammen (Kahraman, 2008; Owen et al., 2012; Smith et al., 2015; Sue et al., 2019).
Bennett (2013) geht sogar so weit, dass er die Minimierung von kulturellen Unterschieden als eine Abwehrreaktion sieht, um das eigene Verhalten nicht grundsätzlich in Frage stellen und sich der damit verbundenen Handlungsunsicherheit aussetzen zu müssen. Ursächlich für diese wird oft fehlendes Wissen und/oder fehlende adäquate Strategien angesehen, kulturelle Spezifika bei Klient*innen zu erkennen und zu explorieren (Pirmoradi, 2012; Schlippe, El Hachimi u. Jürgens, 2004). Ein tieferes Verständnis der Abwehrreaktionen von Berater*innen gegenüber der Thematisierung von kulturellen Aspekten bietet das Konstrukt der »weißen Fragilität« (»white fragility«), (DiAngelo, 2011), das die Hilflosigkeit, Schuldgefühle und daraus resultierende Abwehrreflexe bei »weißen« Berater*innen analysiert, wenn sie von Klient*innen auf mangelnde kulturelle Sensibilität angesprochen werden. Da das Konzept »white fragility« (Kap. 3, S. 18) großes Potential zur Selbstreflexion bietet, gehen wir im spätesren Verlauf noch näher darauf ein.
Darüber hinaus zeigen Studien, dass gerade ein Selbstbild als weltoffene, liberale und nicht-kategorisierende Person dem Erkennen eigener kultureller Vorannahmen und Privilegien im Wege stehen kann (Correll, Park u. Allegra Smith, 2008; Monteith, Spicer u. Tooman, 1998). Viele Klient*innen mit Migrationshintergrund erleben ihren Alltag als mitgeprägt von ihrer Andersartigkeit, Mikroaggressionen (Nishishiba, 2017; Sue, 2010) und Diskriminierung und bewerten und handeln in manchen Bereichen anders als Personen aus der Mehrheitsgesellschaft. Daher besteht die Gefahr, dass sich Klient*innen in der für sie offensichtlichen Unterschiedlichkeit der Lebens- und Erfahrungswelten nicht wahrgenommen fühlen (Ivey, Ivey u. Zalaquett, 2017).