Gelbe Schule - Stefan Schmid - E-Book

Gelbe Schule E-Book

Stefan Schmid

0,0

Beschreibung

Unterricht und Schule sind heute wie viele andere Bereiche von einer Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit und Unplanbarkeit geprägt, die viele Menschen an ihre Grenzen bringt. Unterrichtsstörungen mannigfaltiger Art erhöhen die psychische Belastung und können zu Erkrankungen führen, wenn dem nicht entgegengewirkt wird. In der Gelben Schule geht es nicht darum, möglichst viele Führungstechniken zu kennen und zu beherrschen, sondern darum, Führungskraft zu sein und in der Führung präsent zu sein. Gelbe Schule ist die Haltung der sicheren persönlichen Verbindung, die Menschen als Persönlichkeiten achtet und bei ihrer Identitätsbildung und Entwicklung begleitet. Sie ist nicht nur für einen gelingenden Unterricht entscheidend, sondern für das gesamte soziale Miteinander im "System Schule". Stefan Schmid und Erwin Müller zeigen aus ihrer Perspektive als Coach bzw. Rektor, wie Lehrkräfte eine solche Haltung entwickeln können, die auch zu ihnen persönlich passt. Sie stützen sich dabei auf Methoden, die aktuell in der Psychologie und der Pädagogik viel Aufmerksamkeit erfahren. Anhand von Übungen verknüpfen die Autoren Theoriewissen und Praxisanwendung miteinander. Das bietet die Möglichkeit, das Gelesene selbst anzuwenden und seinen Sinn für den Schulalltag unmittelbar zu erfassen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 292

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Systemische Pädagogik

Was treibt Menschen zum Lernen an? Was hält sie davon ab? Wie kann eine funktionierende Lehrer-Schüler-Eltern-Beziehung entstehen? Wie gelingen Erziehung und Bildung? Was sind Kompetenzen und wie lässt sich deren Reifung unterstützen? Wie fördert man Persönlichkeiten?

Diese und ähnliche Fragen stehen im Mittelpunkt der Systemischen Pädagogik. Das Ziel ist ein von wechselseitigem Respekt geprägter Umgang von Schülern, Lehrern, Erziehern und Eltern. Gemeinsames Lernen mit Zuversicht und Spaß, der Blick auf die Potenziale und Fähigkeiten – zwei Grundannahmen der Systemischen Pädagogik. Gleichzeitig ist sich die Systemische Pädagogik der Tatsache bewusst, dass Menschen lernfähig, aber unbelehrbar sind. Welche Konsequenzen sich daraus für gelingende Lern- und Bildungsprozesse für Lehrende bzw. Lernbegleiter ergeben, ist eine wichtige Zukunftsfrage der Systemischen Pädagogik.

Der Ansatz der Systemischen Pädagogik verbindet systemtheoretische Erkenntnisse, Sicht- und Handlungsweisen mit dem Forschungsstand und den Erkenntnissen der Erziehungswissenschaften und macht sie für den pädagogischen Alltag nutzbar. Auch im familiären Erziehungsalltag lässt sich systemisches Denken und Handeln gut nutzen, ohne Kinder zu disziplinieren oder ihnen mit Anpassungsforderungen zu begegnen. Selbstkritische und selbststeuerungsfähige Menschen benötigen sehr spezifische Möglichkeiten der Reifung und Auseinandersetzung beim Aufwachsen. Welche das sind und wie das gehen kann, zeigen anerkannte Therapeuten, Pädagogen und Berater in den Büchern dieser Reihe.

Prof. Dr. Rolf ArnoldHerausgeber der Reihe Systemische Pädagogik

Stefan Schmid / Erwin Müller

Gelbe Schule

Gelassenheit und Präsenzdurch sichere persönliche Verbindungen

2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Systemische Pädagogik«

hrsg. von Rolf Arnold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: © contrastwerkstatt – stock.adobe.com

Redaktion: Nicola Offermanns

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0419-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8370-9 (ePUB)

© 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/.

Dort können Sie auch unseren Newsletter abonnieren.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort

Teil 1: Sichere persönliche Verbindungen lernen

Stefan Schmid

1Einführung

1.1Wichtige Begriffsklärungen

2Der Selbstwert als Basis für die Haltung der sicheren persönlichen Verbindung

2.1Der gesunde Selbstwert

2.2Selbstwert und Bühne

2.3Selbstwert und die PSI-Theorie von Julius Kuhl

3Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges

3.1Verbundenheit – ein biologischer Imperativ

3.2Neurozeption – Sicherheit und Gefahr erkennen

3.2.1Interaktives Spielen – das ideale Training

3.2.2So gelingt Lernen mit Sicherheit

3.2.3Wenn es gefährlich wird

3.2.4Immobilität in Angst

3.3Wie ich mir, so ich dir

4Wie funktioniert Handeln?

4.1Erst- und Zweitreaktion

4.2Motive – intelligente Bedürfnisse

4.2.1Beziehungsmotiv: Wunsch nach Kontakt

4.2.2Leistungsmotiv: Wunsch nach Herausforderung

4.2.3Machtmotiv: Wunsch nach Dominanz

4.2.4Freiheitsmotiv: Wunsch nach freiem Selbstsein

4.3Implizite (nichtbewusste) und explizite (bewusste) Motive

4.4Motivkongruenzen – Motivinkongruenzen

4.5Motive und die Polyvagal-Theorie

5Die Theorie der Persönlichkeit-System-Interaktionen (PSI) von Julius Kuhl

5.1Stimmungsregulation als wichtige Selbststeuerungskompetenz

5.2Das Selbst in der PSI-Theorie

5.2.1Selbstmotivierung – Vorsätze umsetzen: Handeln

5.2.2Selbstberuhigung: Aus Fehlern lernen und wachsen

5.3Der Stress in der PSI-Theorie: Handlungs- und Lageorientierung

5.3.1Lageorientierung

5.3.2Handlungsorientierung

5.4Die Therapie- und trainingsbegleitende Osnabrücker Persönlichkeitsdiagnostik (TOP) – eine umfassende Persönlichkeitsanalyse

6Die Haltung Gelbe Schule lernen

6.1Die vier Elemente zur Haltungsbildung

6.1.1Die Fähigkeit, sein Selbst zu aktivieren

6.1.2Bilder

6.1.3Worte

6.1.4Der eigene Körper – Embodiment

6.2Ein wertvolles Selbstmanagement-Training: Das Zürcher Ressourcen Modell (ZRM)

7Wirksamkeitsstudie der Niederalteicher Seminartage

8Die Kunst der Selbstführung – die Lehrkraft als Führungskraft

8.1Selbsterkenntnis

8.2Selbstakzeptanz

8.3Selbstvertrauen

8.4Selbstverantwortung

8.5Selbstberuhigung

8.6Selbstmotivierung

8.7Selbstbestimmung

8.8Selbstwachstum

8.9Selbstsicherheit

9Gelbe Schule für junge Menschen: »Mach, was du kannst!«

Teil 2: Sichere persönliche Verbindungen in der Praxis

Erwin Müller

10Der Stellenwert von Haltungen

11Mein Weg zur Haltung Gelbe Schule

12Die Haltung Gelbe Schule lernen

13Die Haltung der Schulleitung als Führungskraft

13.1Mein Einfluss als Schulleiter auf Haltungen

13.2Die Haltung des Lehrers als Führungskraft

13.3Haltung für neue Führungskräfte

14Haltung in der Lehrerausbildung

15Haltung und gesellschaftliche Anforderungen an die Schule

15.1Haltung in der Pandemie

15.2Haltungen und Leistungstests

15.3Haltungen im Wandel der Zeit

16Es sind die Kinder, die zählen

Danksagung

Literatur

Über die Autoren

Vorwort

»Niemand kann Ihnen Ihren Selbstwert nehmen,wenn Sie ihn nicht hergeben.«

Eleanor Roosevelt

Dieses Buch schreiben wir mitten in der sogenannten Corona-Pandemie – einer Zeit, die von maximaler Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit und Unplanbarkeit geprägt ist. Wir erleben, dass dies viele Menschen an ihre Grenzen und weit darüber hinaus bringt.

Wir erleben Lehrer1, die mit all ihren Möglichkeiten versuchen, möglichst viel Unterricht zu machen, die Schüler irgendwie zu erreichen, ihnen zu helfen, sie zu unterstützen, aufzumuntern, zu animieren, und wir erleben auch solche, die jeglichen Antrieb verlieren, die sich total alleingelassen fühlen, die verzweifeln und ausbrennen: Lehrer in Sicherheit und Lehrer in Gefahr.

Wir erleben Schulleiter, die jeden Tag aufs Neue Pläne machen, Hygienekonzepte entwickeln, tägliche Besprechungen mit dem Kollegium abhalten, Eltern beruhigen und sich mit den vorgesetzten Behörden auseinandersetzen. Und wir erleben Schulleiter, die einfach nur die Vorschriften abarbeiten, alles von zu Hause aus machen und jegliche Kraft verloren haben: Schulleiter in Sicherheit und in Gefahr.

Wir erleben Kinder und Jugendliche, die täglich aktiv am Online-Unterricht teilnehmen, sich vorbereiten und den Unterrichtsstofflernen; und solche, die einfach nur wieder an die Schule wollen, die nicht mehr können, die zusammenbrechen, die abtauchen, nicht mehr am Homeschooling teilnehmen und quasi verschwinden: Kinder und Jugendliche in Sicherheit und solche in Gefahr.

Und wir erleben Eltern, die ihren Kindern zu Hause Arbeitsplätze einrichten, mit ihnen lernen, bei den Vorbereitungen helfen; und solche, die wutentbrannt in der Schule auftauchen, die die Lehrer angreifen und die eigenen Kinder nur noch beschimpfen, die aufgegeben haben, die zu Hause sitzen und denen alles egal ist: Eltern in Sicherheit und Eltern in Gefahr.

Wie kann hier Unterricht, Lernen, Erziehung oder Führung gelingen? Was hilft Ihnen als Lehrer oder Schulleiter im Umgang mit den einzelnen Kindern, deren Eltern oder den Kollegen und deren Verhalten? Fühlen Sie sich in Ihrem Beruf noch geachtet und geschätzt? Fühlen Sie sich in Ihrer Arbeit in Sicherheit? Haben Sie in Ihrer Arbeit noch den Spielraum, den Sie brauchen?

Dieses Buch möchte eine Haltung vermitteln, die eine sichere Basis für alles Unterrichten, Lernen, Erziehen und Führen bieten kann: jeden Menschen aus einer sicheren persönlichen Verbindung heraus als Persönlichkeit zu achten und in seiner Identitätsbildung bzw. Entwicklung zu begleiten. Wir nennen diese Haltung die Gelbe Schule. »Gelb« bezieht sich dabei auf eine Theorie von Julius Kuhl, in der diese Farbe für das Extensionsgedächtnis und damit den Sitz des Selbst steht, wie weiter unten im Detail erläutert wird.

Zu ihren Grundvoraussetzungen gehört, dass Sie sich selbst als Persönlichkeit achten, sich selbst für wertvoll halten (»Wie ich mir, so ich dir«) und dass Sie selbst in Ihrer Arbeit in Sicherheit sind. Denn nur dann haben Sie Zugang zu Ihrem Selbst, zu all Ihrer Lebenserfahrung.

Das bahnbrechende Konzept der Neurozeption aus der Polyvagal-Theorie von Stephen Porges liefert einen Schlüssel für das Verstehen der Verhaltensweisen von Menschen. Neurozeption bedeutet aus dem autonomen Nervensystem heraus die permanente Überwachung von Gehirn und Körper auf in der Umgebung bestehende Sicherheit oder Gefahr. Erst wenn Sie sich in Ihrer Umgebung, in Ihrem Empfinden, in Ihren Gefühlen und Gedanken sicher fühlen, haben Sie Zugang zu sich und Ihrem Selbst. Das ist Ihr ausgedehntes, riesiges Erfahrungsnetzwerk. Erst dann können Sie zu »Ihren« Kindern und zu anderen Menschen eine sichere Verbindung aufbauen.

Wenn allerdings Gefahr für Sie, die Kinder oder die anderen Menschen besteht – wie z. B. während einer Pandemie –, dann sichern Sie automatisch Ihr Überleben, indem Sie angreifen, fliehen oder sich zurückziehen. Das äußerst sich dann u. a. in Störungen, sei es im Unterricht, in der Gruppe oder in der Familie.

Julius Kuhl hat mit seiner PSI-Theorie gezeigt, dass ein »Selbst« ein anderes »Selbst« öffnen kann; d. h., wenn Sie als Lehrer als authentische, echte Persönlichkeit auftreten, dann sind Sie mit sich und Ihrem Selbst verbunden. Dieser Selbstzugang ermöglicht es Ihnen, das Kind, den Kollegen oder die Eltern als Persönlichkeit anzuerkennen und anzusprechen, was wiederum dem jeweils anderen zeigt, dass er wertvoll und in Sicherheit ist, auch mit seinen Sorgen und Ängsten. Reduzieren Sie sich aber auf Ihre Rolle, so ist der Zugang zur Persönlichkeit des anderen erschwert. Das Gegenüber ist unsicher, also in Gefahr, und es kommt leichter und öfter zu Störungen – im Unterricht, in der Gruppe oder in der Familie.

Damit Sie wissen, wie es mit Ihrem Selbstzugang aussieht und ob Sie Ihre Stimmungen auch unter Stress steuern können, können Sie die umfassende Persönlichkeitsanalyse aus der PSI-Theorie nutzen. Das Zürcher Ressourcen Modell (ZRM)2 liefert die perfekte Ausgangsbasis, um eine neue Haltung zu Ihrem ganz persönlichen Thema »aufzubauen«.

Noch einmal: Die Basis all dieser Erkenntnisse ist Ihr eigener gesunder Selbstwert. So wertvoll, wie Sie sich selbst einschätzen, für so wertvoll halten Sie auch andere Menschen, und Sie spüren, wenn Sie von anderen für wertvoll erachtet werden. Verlieren Sie Ihren Selbstwert, dann verlieren Sie die Basis in Ihrem Leben, die Basis Ihrer Persönlichkeit – die Leichtigkeit in Ihrem Leben.

Wir erleben in unserer Arbeit, dass Menschen mit einem guten Zugang zu ihrem Selbst und mit der Haltung einer sicheren persönlichen Verbindung mit all dem, was diese Zeit mit sich bringt, gelassener und entspannter umgehen. Natürlich nicht immer, denn wir alle sind Menschen und keine Maschinen. Aber diese Menschen wissen, wie sie sich selbst beruhigen, wie sie wieder zu sich selbst kommen und damit alles wieder in ihr Leben einordnen können. Das ist Inhalt des ersten Buchteils von Stefan Schmid. Im zweiten Teil des Buches, dem Praxisteil, erfahren Sie von Erwin Müller aus der Sicht eines Rektors, welche Wirkungen die Haltung Gelbe Schule auf Ihren Schulalltag haben kann.

Stefan Schmid und Erwin MüllerGeratskirchen und Deggendorf im September 2021

1Auf Wunsch des Verlags verwenden wir bei den Personenbezeichnungen die männliche Schreibweise, obgleich jeweils beide Geschlechter gemeint sind. Damit sollen Doppelnennungen, typografische Lösungen mit Sternchen oder Unterstrich oder das große »I« zugunsten der besseren Lesbarkeit vermieden werden. An Stellen, an denen die jeweilige Geschlechterzugehörigkeit von Bedeutung ist, wird sprachlich differenziert.

2Der Begriff ZRM ist – ebenso wie Gelbe Schule und PEP – als eingetragene Handelsmarke rechtlich geschützt und darf das ® tragen. Im Sinne der besseren Lesbarkeit haben wir im Fließtext bewusst darauf verzichtet.

Teil 1:Sichere persönliche Verbindungen lernen

Stefan Schmid

1Einführung

Sie können sich sicher noch an einzelne, beliebte Lehrer aus Ihrer Schulzeit erinnern. Das waren die besonderen Menschen, die Sie verstanden, Sie begleitet und als die Persönlichkeit geachtet haben, die Sie damals waren. Aber können Sie sich noch an die einzelnen Unterrichtsmethoden erinnern? Wissen Sie noch, welche Methode die Lehrkraft angewandt hat, um Sie als Persönlichkeit zu achten oder Sie für das jeweilige Fach zu begeistern?

Und natürlich kennen Sie auch die andere Seite: Lehrer, die Sie abgelehnt haben, so wie Sie waren, die Sie vielleicht sogar abgewertet haben, in welcher Hinsicht auch immer. Meistens wollen Sie dann auch mit dem jeweiligen Fach nichts mehr zu tun haben. Aber auch hier werden Sie sich nicht mehr an die Methoden erinnern, die Ihnen das Fach und das Schulleben so schwer gemacht haben, sondern nur mehr an die Person.

In meinen vielen Gesprächen mit Lehramtsstudierenden und Lehrern sämtlicher Schularten aus allen deutschen Bundesländern habe ich allerdings gelernt, dass die Methoden, wie man die Schüler etwas lehren soll, im Vordergrund der Ausbildung stehen. Gelingender Unterricht soll also immer noch mit Methodenvielfalt erreicht werden. Dabei hat schon John Hattie in seinem 2014 erschienen Buch Lernen sichtbar machen die Haltung der Lehrkraft in den Mittelpunkt gelingenden Unterrichts gestellt:

»Auf die Haltungen der Lehrpersonen kommt es an! Nicht die einzelne Lehrperson macht den Unterschied, sondern alle am Unterrichtsprozess Beteiligten sind gemeinsam tätig und können am erfolgreichsten sein, wenn sie diese Gemeinschaft nutzen: Lernende, Lehrpersonen, Erzieherinnen und Erzieher, Eltern usw.« (Hattie 2014).

Ein Aspekt dabei ist, wie diese Haltung beschaffen sein soll bzw. welche Haltung die Lehrkraft haben muss, damit Unterricht gelingt. Dazu hat Claudia Solzbacher intensiv geforscht und viele wichtige Ergebnisse erarbeitet (Kuhl, Schwer u. Solzbacher 2014).

Ein anderer Aspekt ist aber, und jetzt kommen wir zu unserem Ansatz Gelbe Schule: Wer steht da vor der Klasse? Welche Persönlichkeit ist diese Lehrkraft, welche Präsenz hat sie und kann die Lehrkraft auch Lehrkraft sein – fernab von allem Rollenverständnis und der Identifikation damit? Genau das ist auch mein Coachingansatz im Führungsbereich: Es geht nicht darum, möglichst viele Führungstechniken zu kennen und zu beherrschen, sondern darum, Führungskraft zu sein, bei der Führung präsent zu sein. In enger Zusammenarbeit haben Erwin Müller und ich die Gelbe Schule entwickelt. Es ist die Haltung der sicheren persönlichen Verbindung, die folgendes Ziel hat: Menschen als Persönlichkeiten achten und bei ihrer Identitätsbildung begleiten.

Durch Seminare, Einzelgespräche, Coachings und wertvolle wissenschaftliche Theorien vermitteln wir diese Haltung so, dass die einzelne Lehrkraft sie erlernen und einsetzen kann und dass sie nachhaltig bleibt.

Es beginnt mit dem Selbstwert der jeweiligen Lehrkraft und der Erkenntnis, dass dieser Selbstwert »gesund« sein sollte. Gemäß dem Motto »Wie ich mir, so ich dir« kann ein Mensch nur dann andere Menschen als Persönlichkeiten achten, wenn er sich auch selbst als Persönlichkeit achtet. Das setzt einen gesunden Selbstwert voraus. Gesund deshalb, weil der Selbstwert von mehreren Faktoren bestimmt wird: der Selbstwerthöhe, der Selbstwertstabilität und der Selbstwertkontingenz.

Um Ihren Wert selbst auch spüren zu können, brauchen Sie einen Zugang zu sich selbst, Sie müssen Ihr Selbst aktivieren können – das Selbst als Ihr psychisches System, das Ihnen alle Ihre persönlichen Erfahrungen gleichzeitig und parallel verarbeitend präsent macht. In Ihr Selbst kommen Sie am besten in einer Stimmung der Gelassenheit und Sicherheit oder in Stille. Damit Sie dies lernen können, nutzen Sie die wertvollen Erkenntnisse der PSI-Theorie (Persönlichkeit-System-Interaktion) von Julius Kuhl und ihre dazugehörige umfassende Persönlichkeitsanalyse.

Bevor Sie aber Ihr Selbst öffnen können, sollten Sie sich in einer sicheren Umgebung befinden – innerhalb Ihres Körpers und außerhalb. Denn wenn Sie sich nicht sicher fühlen und eine Gefahr spüren, können Sie Ihr Selbst nicht erreichen. Ihr autonomes Nervensystem ist ständig am Überprüfen, ob die Umgebung in Ihnen und um Sie herum gefährlich oder sicher ist. Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges beschreibt dazu, wie Ihr physiologischer Zustand Ihren psychologischen Zustand, Ihr Verhalten und damit Ihre Gesundheit beeinflusst. Die Themen Sicherheit und Verbundenheit spielen dabei die zentrale Rolle.

Wenn Sie also Ihren Selbstwert kennen, spüren und wissen, wann Sie in Sicherheit oder gelassen sind und Ihr Selbst öffnen können, dann erarbeiten Sie sich mit dem Zürcher Ressourcen Modell (ZRM) von Maja Storch und Frank Krause Ihre ganz persönliche Haltung. Das sind meine Instrumente auf dem Weg zur Haltung Gelbe Schule. Die Instrumente von Erwin Müller sind seine jahrelange Erfahrung als Vorsitzender eines Berufsverbandes für Lehrkräfte und Pädagogen, als qualifizierter, psychologischer Beratungslehrer und vor allem als Schulleiter und damit die Erfahrung in der Führung von ca. 450 Kindern aus etwa 40 Nationen und ca. 50 Lehrkräften, pädagogischem Personal und Mitarbeitern. Zusammen haben wir ein großes »Orchester« entwickelt: Gelbe Schule.

In dem vorliegenden Buch beschreiben wir, wie die einzelnen Instrumente sich zu diesem Orchester verbinden und wie es immer auf den Menschen ankommt, der das einzelne Instrument spielt. Denn ein Instrument ohne Mensch erschafft keinen Klang.

Sie als (angehender) Lehrer oder Erzieher wissen nicht,

•aus welchem Erziehungskontext die einzelnen Kinder täglich an Ihre Schule kommen

•ob die Kinder in einer sicheren Umgebung aufwachsen oder aufgewachsen sind

•was für ein Kind Sicherheit ist und was Gefahr bedeutet

•ob die Eltern in der Lage sind, zu ihrem Kind eine sichere Verbindung aufzubauen bzw. zu Hause für eine sichere Umgebung zu sorgen

•wie sich die Persönlichkeit eines Kindes bis zum Zeitpunkt des täglichen Schulbesuches bereits entwickelt hat und weiterentwickelt

•ob es vor jedem Schultag zu Hause oder auf dem Weg Situationen gegeben hat, die für die Persönlichkeit des Kindes gefährlich waren.

All das wissen Sie nicht.

So legen die Kinder in der Schule ein völlig unterschiedliches Verhalten an den Tag – jedes Kind für sich individuell und in jeder Situation anders. Wie können hier Führung, Unterricht, Lernen und Erziehung gelingen?

Was bleibt Ihnen als Lehrer oder Erzieher im Umgang mit den einzelnen Kindern und deren Verhalten? Sie sollten zuerst die Prozesse verstehen, die das Verhalten der Kinder verursachen, erst dann können Sie etwas tun, eine Maßnahme ergreifen, eine Methode anwenden. Viele Verhaltensweisen der Kinder sind Reaktionen des Körpers auf Stress, also kein absichtliches Verhalten. Wenn Ihre ergriffenen Maßnahmen dies berücksichtigen, werden sie von Erfolg auf allen Seiten gekrönt sein.

1.1Wichtige Begriffsklärungen

Warum »Gelbe« Schule?

Wenn wir von Gelber Schule sprechen, so meinen wir damit die Haltung der sicheren persönlichen Verbindungen: »Menschen als Persönlichkeiten achten und bei der Identitätsbildung begleiten.« Wie oben beschrieben ist die PSI-Theorie von Julius Kuhl eine der wichtigen Instrumente für die Gelbe Schule. In dieser Theorie spielt die Farbe Gelb eine entscheidende Rolle: Kuhl verbindet sie mit dem sogenannten Extensionsgedächtnis und damit dem Sitz des Selbst.

Das Selbst

Wenn wir in diesem Buch vom Selbst schreiben, so meinen wir das Selbst, wie es Kuhl in der PSI-Theorie beschrieben hat:

»Das Selbst wird als ein psychisches System beschrieben, das unzählige persönlich relevante Erfahrungen in einem ausgedehnten, parallel arbeitenden Netzwerk zu einem impliziten Bild integriert. Das experimentell und hirnbiologisch begründete Funktionsprofil des Selbst umfasst, neben der weitgehend unbewussten, in Ausschnitten aber bewusstseinsfähigen parallelen Verarbeitungscharakteristik die direkte und ausgedehnte Einbeziehung von Emotionen und Körpersignalen und ermöglicht die Integration auch widersprüchlicher oder gegensätzlicher emotionaler und kognitiver Erfahrungen« (Kuhl 2020, S. 45).

2Der Selbstwert als Basis für die Haltung der sicheren persönlichen Verbindung

»Versuche nicht, ein erfolgreicher,sondern lieber ein wertvoller Mensch zu werden.«

Albert Einstein

LAURA geht in die 1. Klasse und ist ein sehr aufgewecktes Kind. Allerdings bleibt sie immer dann, wenn die Klasse in die Pause oder in die Turnhalle geht, sitzen, und kein Erwachsener kann sie zum Mitgehen bewegen. Ihre Lehrkraft Frau Maier, Mitte 50, ist eine erfahrene Pädagogin. In ihren vielen Fortbildungen zu den Themen »Unterrichtsstörungen« oder »verhaltensauffällige Kinder« hat sie gelernt, wie man mit solchen Kindern umgeht. Also spielt sie auch bei Laura ihr gesamtes Instrumentarium aus – von Ignorieren bis hin zu Bestrafen. Aber nichts nützt. Laura bewegt sich nicht. Selbst wenn sie eine Kollegin bittet, mal mit Laura zu sprechen: Laura bleibt sitzen. Einzig den Klassenkameraden gelingt es, Laura zum Mitgehen zu überreden. Das macht Frau Maier zuerst sehr wütend, dann ratlos und dann sehr unsicher, denn sie ist der Meinung, dass sie es selbst »nicht drauf hat«, einem Mädchen der 1. Klasse »Disziplin« beizubringen. Mit dieser Unsicherheit geht Frau Maier nun in jede Stunde. Die anderen Kinder aus der Klasse bemerken diese Unsicherheit und beginnen ebenfalls, immer weniger »zu folgen« – mit dem Ergebnis, dass Frau Maier noch unsicherer wird und sie schon Angst vor jeder Stunde in Lauras Klasse hat.

Nach Rücksprache mit der Mutter erklärt diese, dass so etwas zu Hause bei Laura nie vorkomme, denn Laura sei ein aufgewecktes Kind. Das müsse wohl an der Lehrkraft liegen, noch dazu, wenn es den Klassenkameraden gelingt, Laura zum Mitgehen zu bewegen.

In einem Coaching-Gespräch erzählt Frau Maier, dass sie der Meinung ist, dass Laura all dies extra mache, um sie zu ärgern. »Was immer ich sage oder tue, es nützt einfach gar nichts. Da macht mir der Unterricht in dieser Klasse gar keine Freude mehr!«

Die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften ist in Deutschland unterschiedlich geregelt, da Bildung Sache des jeweiligen Bundeslandes ist. Dementsprechend werden Lehrkräfte nach Beendigung ihrer Ausbildung auch in unterschiedlicher Form angestellt. Bis auf die Bundesländer Sachsen, Thüringen und Berlin werden die meisten Lehrkräfte Beamte des jeweiligen Bundeslandes – wenn sie dies wollen. Die gesamte Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften ist stark methodenorientiert. Das heißt, zum Umgang mit einem Thema wird meist eine Methode verwendet. Erwin Müller hat in seinen Anfangsjahren als Rektor einer kleineren Grundschule in Bayern ein sogenanntes Methodencurriculum für Grundschulen geschrieben. Ob die jeweilige Lehrkraft diese Methode auch in der jeweiligen Situation anwenden kann, wurde dabei nicht hinterfragt. Sprich, die jeweilige persönliche Haltung, mit der die Lehrkraft die empfohlene Methode anwendet, war bis dato kein Gegenstand der Methodenlehre.

Dies war auch der Beginn von Gelbe Schule. Es begann mit einer Methodenfortbildung zum großen Thema Unterrichtsstörungen: »Der Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern«, so der Titel. Veranstalter der Fortbildung, die von einem sehr erfahrenen Sozialpädagogen durchgeführt wurde, war die KEG3 Niederbayern, ein Lehrerverband. Zusammen mit einem Bekannten von mir, ebenfalls Lehrer, nahm ich auch daran teil. Der Vortrag war hervorragend aufbereitet; erst erzählte der Sozialpädagoge, wie die Störung genannt wird, wie sie sich bemerkbar macht und welche Auffälligkeiten es dabei gibt, um dann jeweils eine Möglichkeit, eine Methode vorzustellen, wie man mit dieser Störung im Unterricht umgehen kann. Ganz einfach. Der Vortrag endete mit einem großen und verdienten Applaus für den Referenten. Dieser fragte auch gleich: »Gibt es dazu noch Fragen?« Stille. So meldete ich mich und fragte ihn: »Und was ist, wenn ich das alles nicht kann? Wenn ich das, was Sie bei jeder Verhaltensauffälligkeit als Umgang vorschlagen, nicht kann? Was ist dann mit mir?«

Das genau brachte die Lehrerin FRAU MAIER im Falle von Lauras »Sitzenbleiben« in ihre missliche Situation. Sie wendete unterschiedliche gelernte, genau zum Verhalten von Laura passende Methoden an, und sie zeigten alle zusammen keinerlei Wirkung. Das führte schließlich dazu, dass Frau Meier die Freude am Unterrichten an ihrer Schule verlor und sogar Angst vor jeder einzelnen Unterrichtsstunde mit Laura bekam. Frau Maier hat sich damit selbst abgewertet. Ihr eigener Selbstwert ist »bis in den Keller« gefallen, wie sie selbst sagte.

Das Thema Selbstwert ist schon seit Jahrzehnten für die Psychologie ein sehr bedeutendes. Sucht man in einschlägigen Datenbanken nach Studien oder Veröffentlichungen zum Thema Selbstwert, so bekommt man mehr als 47.000 Ergebnisse (deutsch- und englischsprachig). Auch die populärwissenschaftliche Literatur steht dem keineswegs nach. Das bedeutet auch: vielfältige Ratgeber zum Thema Selbstwert für alle möglichen Zielgruppen. Fast jeder Mensch, mit dem ich arbeiten durfte, hat schon mindestens einen Ratgeber zum Thema Selbstwert und Selbstwertsteigerung gelesen, und es ist immer wieder interessant zu erfahren, welche abenteuerlichen Eigenschaften man mit dem Selbstwert verknüpfen kann.

Der Fokus in der Forschung und bei den Ratgebern wurde und wird dabei fast ausschließlich auf die Höhe des Selbstwertes gelegt. Ein hoher Selbstwert wird mit vielen positiven Konsequenzen assoziiert, wobei ein niedriger Selbstwert mit negativen einhergeht. Als aktuelles Beispiel sei die Forschung von Ulrich Orth an der Universität Bern genannt, der in einem Interview auf die Frage, ob unsere sozialen Beziehungen einen großen Effekt auf unser Selbstwertgefühl haben, der größer ist als Arbeit und Beruf, antwortete:

»Ja. Dies bestätigt eine Metaanalyse zur Rolle von sozialen Beziehungen, die wir in meiner Arbeitsgruppe kürzlich durchgeführt haben. Die Ergebnisse zeigten, dass soziale Beziehungen und soziale Einbindung in jedem Lebensalter einen bedeutsamen Einfluss auf das Selbstwertgefühl haben. Interessanterweise ergab sich zudem, dass der Zusammenhang zwischen sozialen Beziehungen und dem Selbstwertgefühl von Personen wechselseitig ist. Das heißt: Gute soziale Beziehungen fördern das Selbstwertgefühl und gleichzeitig führt ein hohes Selbstwertgefühl dazu, dass sich die soziale Einbindung weiter verbessert. Leider heißt dies auch, dass Menschen mit geringem Selbstwertgefühl in einen Teufelskreis aus Selbstzweifeln und negativen sozialen Erfahrungen kommen können. Umso wichtiger ist es also, die Selbstachtung von Kindern und Jugendlichen zu fördern« (Orth 2019).

Das Ergebnis der vielen Untersuchungen im Bereich Selbstwerthöhe sind viele Programme, Methoden, Lösungsvorschläge und Interventionen, die darauf abzielen, den Selbstwert des Menschen zu erhöhen. Allerdings erwies sich der Einsatz solcher Programme, beispielsweise an Schulen, als wenig wirksam, wie Baumeister und Kollegen in einer Studie festgestellt haben (Baumeister 2011).

Hinzu kommt, dass in den theoretischen Modellen und empirischen Studien die beschreibende Betrachtungsweise überwiegt, während Erklärungsmodelle und die Erforschung von Wirkmechanismen vergleichsweise kurz kommen.

Ich nutze in meiner Arbeit einen erweiterten Ansatz zum Thema Selbstwert von Joachim Stiensmeier-Pelster und seiner Mitarbeiterin Claudia Schöne. Sie haben das Thema Selbstwert um zwei wichtige Facetten erweitert: Selbstwertstabilität und Selbstwertkontingenz.

»Die Stabilität des Selbstwertes wird zum einen im Sinne geringer Schwankung der Selbstwerthöhe über die Zeit (zeitliche Stabilität) und zum anderen im Sinne eines robusten (vs. unsicheren und zerbrechlichen) Selbstwertes verstanden« (Schöne 2018, S. 40).

Für Seminare und Coachings habe ich dazu spezielle Fragen entwickelt, die die Stabilität des Selbstwertes nach der oben genannten Definition beleuchten. Dabei zeigt sich, dass die körperliche Verfassung und das Aussehen eine große Rolle bei der Selbstwertstabilität spielen. Menschen (und hier vor allem Frauen) erleben ihren Selbstwert als instabil, wenn sie z. B. stark an Gewicht zunehmen. Bei anderen wird der Selbstwert instabil, wenn Sie eine Schwelle überschritten haben, die sie nicht mehr jung aussehen lässt. Einige berichten dann, dass sie ihren Selbstwert als etwas »Zerbrechliches« erleben. Eine weitere Möglichkeit, selbst für einen instabilen Selbstwert zu sorgen, ist etwas, dass ich als »sich selbst rückwirkend abwerten« bezeichne. Menschen treffen Entscheidungen, die einen anderen, meist negativen, Ausgang haben, als sie erwartet haben. Für diese Entscheidung, die zum negativen Ausgang geführt hat, werten sie sich dann rückblickend ab: »Hätte ich nur anders entschieden.« Wir alle kennen diese Abwertungsspirale nur zu gut. Sie führt zu einer – je nach Dauer und Intensität der eigenen Abwertung – mehr oder minder hohen Instabilität des Selbstwertes. Ich habe gelernt, dass Menschen, die dies besonders häufig tun – sich selbst rückblickend abwerten –, eine hohe Instabilität in ihrem Selbstwert haben. Sie haben vorübergehend einen hohen Selbstwert, weil Sie ja gehandelt haben, um dann aber, nach »erfolgreicher« eigener Abwertung, wieder einen niedrigen Selbstwert zu bekommen. Je nachdem, in welcher »Selbstwertverfassung« man diese Menschen befragt, bekommt man als Ergebnis einen hohen oder einen niedrigen Selbstwert, der eben von der Tagesform abhängt.

»Selbstwertkontingenz bezeichnet die Bedingtheit und Abhängigkeit des Selbstwertes vom Erreichen von Standards (…) Personen unterscheiden sich im Ausmaß sowie in den Bereichen der Selbstwertkontingenz« (Schöne 2018, S. 41).

Bei der Selbstwertkontingenz ist der Selbstwert also nicht bedingungsfrei, sondern abhängig davon, ob man gewisse selbst- und fremdbestimmte Bedingungen erreicht. Es entsteht somit eine Kopplung des Selbstwertes an diese Bedingungen. Die am meisten untersuchten und empirisch belegten Bedingungen sind unter anderem akademische/schulische Kompetenz und Leistung, Attraktivität, Moral/Tugendhaftigkeit, Anerkennung durch andere, familiäre Unterstützung und Wettbewerb. Über die Entwicklung und die Ursachen von Selbstwertkontingenz gibt es noch sehr wenige Studien. Die bisherige Forschung gleicht in ihren Ergebnissen aber den Untersuchungen zum Selbstwert als solchem, nämlich, dass der Selbstwert bereits in der Kindheit entscheidend geprägt wird. Neuere Studien von Ulrich Orth an der Universität Bern (Orth 2018) zeigen, dass sich knapp 40 % der Unterschiede im Selbstwert – also, ob Menschen einen niedrigen oder einen höheren Selbstwert haben – über genetische Faktoren erklären lassen. Das sind z. B. Aussehen, Intelligenz, Temperament oder Gesundheit. 60 % des Selbstwertes basieren auf Umwelteinflüssen. Es gibt also kein »Selbstwert-Gen«. Allerdings beeinflussen die oben genannten genetischen Bedingungen wiederum, welche Erfahrungen ein Mensch in seinem Leben macht: Wenn man attraktiv, klug und umgänglich ist, wird man von anderen Menschen eher wertgeschätzt oder gemocht und kann dann auch eher einen höheren Selbstwert entwickeln.

Der Einfluss der Eltern auf die Bildung des Selbstwertes (also auf die 60 %) ist ebenfalls schon von verschiedenen Richtungen beleuchtet worden. Die Ergebnisse sind dabei ähnlich: Die Eltern haben in den ersten 6 Jahren einen enormen Einfluss darauf, wie sich der Selbstwert bei den eigenen Kindern entwickelt. Davon ist auch die Selbstwertkontingenz betroffen. Schon Virginia Satir hat dazu in ihrer Arbeit wertvolle Ergebnisse geliefert, die ich als Übung erweitert und ergänzt habe. So schreibt sie »Ich halte Einzigartigkeit für das Schlüsselwort zum Begriff des Selbstwertes« (Satir 1990, S. 318).

Ich möchte Sie dazu einladen, die Fragen auf dem nebenstehenden Übungsblatt zu beantworten (s. Übung 1). Versetzen Sie sich zurück in Ihre Kindheit, überlegen und spüren Sie, wie Sie von Ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten überwiegend gesehen oder behandelt wurden, ob dies für Sie eher zu einem hohen oder eher zu einem niedrigen Selbstwert beigetragen hat und ob es schon zur Bildung von Selbstwertkontingenzen bei Ihnen gekommen ist.

Sehr gut passend zum Thema Selbstwertkontingenz ist die Arbeit von Gerald Hüther. Er spricht sehr häufig davon, dass viele Kinder zu Objekten gemacht werden – zu Objekten der Erwartungen, Vorstellungen, Bewertungen oder Belehrungen der Eltern. Sie müssen immer dann funktionieren und z. B. von den Eltern erwartete Leistungen oder Ergebnisse bringen. Das Kind als solches, als »Subjekt«, als wertvoller Mensch, wird dabei außer Acht gelassen. Es wird nur dann wertgeschätzt, wenn es die Erwartungen oder Vorstellungen der Eltern erfüllt. Das sorgt für eine Störung der Verbundenheit des Kindes mit den Eltern und nimmt den Kindern die Möglichkeit, selbst etwas gestalten zu können, damit sie bedeutsam sein können und sich selbst so mögen, wie sie sind. Die Kinder gewöhnen sich dann an diese »Objektbehandlung«, und es ist für sie im Jugend- oder Erwachsenenalter »normal«, ständig als Objekt behandelt zu werden. Sie versuchen dann, Bedeutsamkeit über Leistung, beruflichen Erfolg, Luxus oder Ähnliches zu erreichen, um die Bedingungen, die ihren Selbstwert beeinflussen, ständig zu erfüllen. Das macht aus den Kindern keine Gestalter des eigenen Lebens, sondern Bedürftige (Hüther 2018).

»Wer also mit 16 viele Selbstzweifel hat, hat dies wahrscheinlich auch mit 30 und 50 Jahren, zumindest im Vergleich zu den Altersgenossen mit einer positiven Einstellung zu sich selbst. (…) Spätestens ab dem Jugendalter sind die Unterschiede, die sich einmal ausgeprägt haben, relativ stabil« (Orth 2018, S. 34).

Übung 1: Die Entstehung Ihres SELBSTwerts bei Ihnen zu Hause

Liegt bei einem Menschen eine Selbstwertkontingenz vor, so bedeutet dies, dass er selbst nicht für seinen Selbstwert sorgen kann, sondern die gesetzten Bedingungen erfüllen und sich somit seinen Selbstwert erst verdienen muss. Die Bedingung ist also ein energiereicher Motivator. Wird sie erfüllt, steigt der Selbstwert an, wird sie nicht erfüllt, sinkt der Selbstwert ab. Der Betreffende kann demnach nur für eine Stabilität des eigenen Selbstwertes sorgen, wenn er die gesetzte Bedingung erfüllt, und zwar so oft als möglich. Es entsteht ein Vermeidungs- bzw. Annäherungsverhalten. Selbstwertkontingenz führt somit dazu, dass Personen nach Steigerung des Selbstwerts über das für sie typische Selbstwertlevel hinaus streben und zugleich das Absinken unter dieses typische Selbstwertlevel vermeiden wollen. Das ständige Streben nach Beibehaltung des Selbstwerts führt aber zu einer Steigerung des Selbstwertes, dessen emotionale Folgen das Verhalten (nämlich, die Bedingung zu erfüllen) belohnen. Bei einer Selbstwertkontingenz ist die Motivation dort höher, wo die Selbstwertkontingenz höher ist, und in die Bereiche, in denen der Selbstwert kontingent ist, wird viel Zeit und Anstrengung investiert – auch, um einen Misserfolg möglichst zu vermeiden, da dieser den Selbstwert mindert.

LINUS ist 14 und besucht die 9. Klasse des Gymnasiums. Er ist seit der Grundschule ein sehr guter Schüler. Vor allem in den Hauptfächern sind seine Leistungen durchwegs sehr gut. Seinem Klassenlehrer fällt allerdings immer mehr auf, dass selbst kleinste Misserfolge für Linus sehr belastend sind. Entweder wird er richtig wütend oder deprimiert. Seine Erfolge in den verschiedenen Klassenarbeiten »feiert« er, sodass er innerhalb der Klasse zunehmend abgelehnt wird. Der Klassenlehrer vermutet einen starken häuslichen Leistungsdruck und lädt deshalb die Eltern zum Gespräch an die Schule. Dort stellt sich überraschenderweise heraus, dass die Eltern meinten, die Schule mache Druck auf Linus, sodass dieser die sehr guten Leistungen erbringen muss. Die Eltern beschreiben dem Lehrer, dass Linus vor Schulaufgaben oder Klausuren sehr schlecht schlafe und häufig Magenschmerzen habe. Wenn er mit einer sehr guten Note nach Hause kommt, dann ist der Tag für ihn gelungen, er ist völlig selbstbewusst und hat eine starke Ausstrahlung. Das bestätigt die Beobachtungen des Lehrers, dem ja das »Feiern« der guten Leistungen auffiel. Beide, Eltern und Lehrer von Linus, waren der Auffassung, dass dessen Selbstwert äußerst stark an seine Leistungen gekoppelt zu sein scheint.

Am Beispiel von Linus sehen Sie auch die persönlichen und gesundheitlichen Auswirkungen, die Selbstwertkontingenz mit sich bringt, nämlich neben den eben genannten auch höhere Neurotizismuswerte, Depression, Beziehungsprobleme, körperliche Symptome und geringere Lebenszufriedenheit.

Liegt bei einem Menschen, in welchem Bereich auch immer, eine Selbstwertbedingung seitens der Eltern oder Erziehungsberechtigten vor, so können Erziehende, Lehrkräfte und andere wichtige Bezugspersonen diese Lernerfahrung später weiter verstärken, wenn sie dem Kind Wertschätzung in Abhängigkeit von guter Leistung oder erwünschtem Verhalten entgegenbringen. »Es kann vermutet werden, dass diese bedingte Wertschätzung zur Entstehung, Aufrechterhaltung und Steigerung der Selbstwertkontingenz beiträgt« (Schöne 2018, S. 42).

Die Lehrerin FRAU MAIER (siehe oben) hat für sich mittels des Übungsblattes festgestellt, dass sie von zu Hause eher einen niedrigen Selbstwert »mitgebracht« hat. »Ich habe ganz viel funktionieren müssen, denn ich war das älteste Kind von dreien.« Verantwortung für die Geschwister habe sie schon sehr früh übernehmen müssen, da beide Eltern berufstätig waren. »Manchmal war mir das schon zu viel, manchmal wäre ich gerne einfach nur dagesessen und hätte ein Buch gelesen«, so ihre Aussage dazu. Was ihr aber mehr zu schaffen, machte war die Tatsache, dass sie für sich eine hohe Selbstwertkontingenz festgestellt hat: »Mir wurde sehr oft gesagt: Benimm dich ordentlich, denn was sagen sonst die Nachbarn dazu!« Hat sie sich ordentlich benommen, so wurde das von ihren Eltern gewürdigt – wenn nicht, dann gab es eine Strafe. Ihren Eltern will Frau Maier deshalb keine Schuld geben, denn sie hätten ja auch nicht anders gekonnt, und im Großen und Ganzen fühlt sie sich schon als ein geliebtes Kind.

Was bedeutet nun das von Frau Maier in ihrer eigenen Kindheit Erlebte für ihren Umgang mit den eigenen Kindern, mit den Kindern an ihrer Schule und speziell für Laura?

Wie ich mir, so ich dir

Ich habe dazu einen Ausspruch erfunden, den ich »Wie ich mir, so ich dir« nenne. Sie entscheiden selbst, ob Sie sich z. B. für wertvoll halten, ob Sie sich mögen, sich akzeptieren usw. Wenn Sie mit sich selbst liebevoll umgehen, dann gehen Sie auch mit anderen Menschen liebevoll um. Wenn Sie sich aber für einen wertlosen Menschen halten, dann können Sie von Ihren Mitmenschen nicht erwarten, dass diese Sie für wertvoll halten. Und selbst dann, wenn sie es täten, würden Sie es nicht spüren, da Sie sich selber ja für wertlos halten und dies auch so spüren. »Wie ich mir, so ich dir.« Das, was Sie bei anderen Menschen nicht mögen, muss etwas mit Ihnen zu tun haben, sonst würden Sie es nicht ablehnen, es würde Sie einfach nicht interessieren. Ich habe Ihnen dazu die folgende Übung zusammengestellt, die dies sehr gut verdeutlichen soll (s. Übung 2