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Mit einem Nachwort von Moritz Baßler und Melanie Horn. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk. Ein Klassiker der literarischen Moderne ›Berlin Alexanderplatz‹ gehört neben dem ›Ulysses‹ von James Joyce und ›Manhattan Transfer‹ von John Dos Passos zu den bedeutendsten Großstadtromanen der Weltliteratur. Erstmals 1929 im S. Fischer Verlag erschienen, erzählt der Roman die bewegende Geschichte des Franz Biberkopf, der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in einen Strudel aus Verrat und Verbrechen gerät. Darüber hinaus aber erzählt der Roman auch vom Berlin der Zwanziger Jahre und findet zum ersten Mal in der deutschen Literatur eine eigene, ganz neue Sprache für das Tempo der Stadt.
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Seitenzahl: 845
Alfred Döblin
Berlin Alexanderplatz
Die Geschichte vom Franz Biberkopf
FISCHER E-Books
Roman
Mit einem Nachwort von Moritz Baßler und Melanie Horn
Dies Buch berichtet von einem ehemaligen Zement- und Transportarbeiter Franz Biberkopf in Berlin. Er ist aus dem Gefängnis, wo er wegen älterer Vorfälle saß, entlassen und steht nun wieder in Berlin und will anständig sein.
Das gelingt ihm auch anfangs. Dann aber wird er, obwohl es ihm wirtschaftlich leidlich geht, in einen regelrechten Kampf verwickelt mit etwas, das von außen kommt, das unberechenbar ist und wie ein Schicksal aussieht.
Dreimal fährt dies gegen den Mann und stört ihn in seinem Lebensplan. Es rennt gegen ihn mit einem Schwindel und Betrug. Der Mann kann sich wieder aufrappeln, er steht noch fest.
Es stößt und schlägt ihn mit einer Gemeinheit. Er kann sich schon schwer erheben, er wird schon fast ausgezählt.
Zuletzt torpediert es ihn mit einer ungeheuerlichen äußersten Roheit.
Damit ist unser guter Mann, der sich bis zuletzt stramm gehalten hat, zur Strecke gebracht. Er gibt die Partie verloren, er weiß nicht weiter und scheint erledigt.
Bevor er aber ein radikales Ende mit sich macht, wird ihm auf eine Weise, die ich hier nicht bezeichne, der Star gestochen. Es wird ihm aufs deutlichste klargemacht, woran alles lag. Und zwar an ihm selbst, man sieht es schon, an seinem Lebensplan, der wie nichts aussah, aber jetzt plötzlich ganz anders aussieht, nicht einfach und fast selbstverständlich, sondern hochmütig und ahnungslos, frech, dabei feige und voller Schwäche.
Das furchtbare Ding, das sein Leben war, bekommt einen Sinn. Es ist eine Gewaltkur mit Franz Biberkopf vollzogen. Wir sehen am Schluß den Mann wieder am Alexanderplatz stehen, sehr verändert, ramponiert, aber doch zurechtgebogen.
Dies zu betrachten und zu hören wird sich für viele lohnen, die wie Franz Biberkopf in einer Menschenhaut wohnen und denen es passiert wie diesem Franz Biberkopf, nämlich vom Leben mehr zu verlangen als das Butterbrot.
Hier im Beginn verläßt Franz Biberkopf das Gefängnis Tegel, in das ihn ein früheres sinnloses Leben geführt hat. Er faßt in Berlin schwer wieder Fuß, aber schließlich gelingt es ihm doch, worüber er sich freut, und er tut nun den Schwur, anständig zu sein.
Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. Gestern hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den andern, in Sträflingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten hinten, er war frei. Er ließ Elektrische auf Elektrische vorbeifahren, drückte den Rücken an die rote Mauer und ging nicht. Der Aufseher am Tor spazierte einige Male an ihm vorbei, zeigte ihm seine Bahn, er ging nicht. Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich?), die vier Jahre waren um. Die schwarzen eisernen Torflügel, die er seit einem Jahre mit wachsendem Widerwillen betrachtet hatte (Widerwillen, warum Widerwillen), waren hinter ihm geschlossen. Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle.
Die Strafe beginnt.
Er schüttelte sich, schluckte. Er trat sich auf den Fuß. Dann nahm er einen Anlauf und saß in der Elektrischen. Mitten unter den Leuten. Los. Das war zuerst, als wenn man beim Zahnarzt sitzt, der eine Wurzel mit der Zange gepackt hat und zieht, der Schmerz wächst, der Kopf will platzen. Er drehte den Kopf zurück nach der roten Mauer, aber die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen weg, dann stand nur noch sein Kopf in der Richtung des Gefängnisses. Der Wagen machte eine Biegung, Bäume, Häuser traten dazwischen. Lebhafte Straßen tauchten auf, die Seestraße, Leute stiegen ein und aus. In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe schwirrte es. »Zwölf Uhr Mittagszeitung«, »B. Z.«, »Die neuste Illustrirte«, »Die Funkstunde neu«, »Noch jemand zugestiegen?« Die Schupos haben jetzt blaue Uniformen. Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen. Was war denn? Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein, reiß dich zusammen, kriegst meine Faust zu riechen. Gewimmel, welch Gewimmel. Wie sich das bewegte. Mein Brägen hat wohl kein Schmalz mehr, der ist wohl ganz ausgetrocknet. Was war das alles. Schuhgeschäfte, Hutgeschäfte, Glühlampen, Destillen. Die Menschen müssen doch Schuhe haben, wenn sie so viel rumlaufen, wir hatten ja auch eine Schusterei, wollen das mal festhalten. Hundert blanke Scheiben, laß die doch blitzern, die werden dir doch nicht bange machen, kannst sie ja kaputt schlagen, was ist denn mit die, sind eben blankgeputzt. Man riß das Pflaster am Rosenthaler Platz auf, er ging zwischen den andern auf Holzbohlen. Man mischt sich unter die andern, da vergeht alles, dann merkst du nichts, Kerl. Figuren standen in den Schaufenstern in Anzügen, Mänteln, mit Röcken, mit Strümpfen und Schuhen. Draußen bewegte sich alles, aber – dahinter – war nichts! Es – lebte – nicht! Es hatte fröhliche Gesichter, es lachte, wartete auf der Schutzinsel gegenüber Aschinger zu zweit oder zu dritt, rauchte Zigaretten, blätterte in Zeitungen. So stand das da wie die Laternen – und – wurde immer starrer. Sie gehörten zusammen mit den Häusern, alles weiß, alles Holz.
Schreck fuhr in ihn, als er die Rosenthaler Straße herunterging und in einer kleinen Kneipe ein Mann und eine Frau dicht am Fenster saßen: die gossen sich Bier aus Seideln in den Hals, ja was war dabei, sie tranken eben, sie hatten Gabeln und stachen sich damit Fleischstücke in den Mund, dann zogen sie die Gabeln wieder heraus und bluteten nicht. Oh, krampfte sich sein Leib zusammen, ich kriege es nicht weg, wo soll ich hin? Es antwortete: Die Strafe.
Er konnte nicht zurück, er war mit der Elektrischen so weit hierher gefahren, er war aus dem Gefängnis entlassen und mußte hier hinein, noch tiefer hinein.
Das weiß ich, seufzte er in sich, daß ich hier rin muß und daß ich aus dem Gefängnis entlassen bin. Sie mußten mich ja entlassen, die Strafe war um, hat seine Ordnung, der Bürokrat tut seine Pflicht. Ich geh auch rin, aber ich möchte nicht, mein Gott, ich kann nicht.
Er wanderte die Rosenthaler Straße am Warenhaus Wertheim vorbei, nach rechts bog er ein in die schmale Sophienstraße. Er dachte, diese Straße ist dunkler, wo es dunkel ist, wird es besser sein. Die Gefangenen werden in Einzelhaft, Zellenhaft und Gemeinschaftshaft untergebracht. Bei Einzelhaft wird der Gefangene bei Tag und Nacht unausgesetzt von andern Gefangenen gesondert gehalten. Bei Zellenhaft wird der Gefangene in einer Zelle untergebracht, jedoch bei Bewegung im Freien, beim Unterricht, Gottesdienst mit andern zusammengebracht. Die Wagen tobten und klingelten weiter, es rann Häuserfront neben Häuserfront ohne Aufhören hin. Und Dächer waren auf den Häusern, die schwebten auf den Häusern, seine Augen irrten nach oben: wenn die Dächer nur nicht abrutschten, aber die Häuser standen grade. Wo soll ick armer Deibel hin, er latschte an der Häuserwand lang, es nahm kein Ende damit. Ich bin ein ganz großer Dussel, man wird sich hier doch noch durchschlängeln können, fünf Minuten, zehn Minuten, dann trinkt man einen Kognak und setzt sich. Auf entsprechendes Glockenzeichen ist sofort mit der Arbeit zu beginnen. Sie darf nur unterbrochen werden in der zum Essen, Spaziergang, Unterricht bestimmten Zeit. Beim Spaziergang haben die Gefangenen die Arme ausgestreckt zu halten und sie vor- und rückwärts zu bewegen.
Da war ein Haus, er nahm den Blick weg von dem Pflaster, eine Haustür stieß er auf, und aus seiner Brust kam ein trauriges brummendes oh, oh. Er schlug die Arme umeinander, so mein Junge, hier frierst du nicht. Die Hoftür öffnete sich, einer schlürfte an ihm vorbei, stellte sich hinter ihn. Er ächzte jetzt, ihm tat wohl zu ächzen. Er hatte in der ersten Einzelhaft immer so geächzt und sich gefreut, daß er seine Stimme hörte, da hat man was, es ist noch nicht alles vorbei. Das taten viele in den Zellen, einige am Anfang, andere später, wenn sie sich einsam fühlten. Dann fingen sie damit an, das war noch was Menschliches, es tröstete sie. So stand der Mann in dem Hausflur, hörte das schreckliche Lärmen von der Straße nicht, die irrsinnigen Häuser waren nicht da. Mit gespitztem Munde grunzte er und ermutigte sich, die Hände in den Taschen geballt. Seine Schultern im gelben Sommermantel waren zusammengezogen zur Abwehr.
Ein Fremder hatte sich neben den entlassenen Sträfling gestellt, sah ihm zu. Er fragte: »Ist Euch was, ist Euch nicht gut, habt Ihr Schmerzen?«, bis der ihn bemerkte, sofort mit dem Grunzen aufhörte. »Ist Euch schlecht, wohnt Ihr hier im Haus?« Es war ein Jude mit rotem Vollbart, ein kleiner Mann im Mantel, einen schwarzen Velourshut auf, einen Stock in der Hand. »Ne, hier wohn ich nich.« Er mußte aus dem Flur, der Flur war schon gut gewesen. Und nun fing die Straße wieder an, die Häuserfronten, die Schaufenster, die eiligen Figuren mit Hosen oder hellen Strümpfen, alle so rasch, so fix, jeden Augenblick eine andere. Und da er entschlossen war, trat er wieder in einen Hausflur, wo man aber die Tore aufriß, um einen Wagen durchzulassen. Dann rasch ins Nachbarhaus in einen engen Flur neben dem Treppenaufgang. Hier konnte kein Wagen kommen. Er hielt den Geländerpfosten fest. Und während er ihn hielt, wußte er, er wollte sich der Strafe entziehen (o Franz, was willst du tun, du wirst es nicht können), bestimmt würde er es tun, er wußte schon, wo ein Ausweg war. Und leise fing er wieder seine Musik an, das Grunzen und Brummen, und ich geh nich wieder auf die Straße. Der rote Jude trat wieder in das Haus, entdeckte den andern am Geländer zuerst nicht. Er hörte ihn summen. »Nun sagt, was macht Ihr hier? Ist Euch nicht gut?« Er machte sich vom Pfosten los, ging nach dem Hof zu. Wie er den Torflügel anfaßte, sah er, es war der Jude von dem andern Haus. »Gehn Sie doch los! Was wolln Sie denn von einem?« »Nun nun, nichts. Ihr ächzt und stöhnt so, wird man doch fragen können, wie Euch ist.« Und durch den Türspalt drüben schon wieder die ollen Häuser, die wimmelnden Menschen, die rutschenden Dächer. Der Strafentlassene zog die Hoftür auf, der Jude hinter ihm: »Nun nun, was soll geschehn, wird doch nicht so schlimm sein. Man wird schon nicht verkommen. Berlin ist groß. Wo tausend leben, wird noch einer leben.«
Ein hoher finsterer Hof war da. Neben dem Müllkasten stand er. Und plötzlich sang er schallend los, sang die Wände an. Den Hut nahm er vom Kopf wie ein Leierkastenmann. Von den Wänden kam der Ton wieder. Das war gut. Seine Stimme erfüllte seine Ohren. Er sang mit so lauter Stimme, wie er im Gefängnis nie hätte singen dürfen. Und was er sang, daß es von den Wänden widertönte? »Es braust ein Ruf wie Donnerhall.« Kriegerisch fest und markig. Und dann: »Juvivallerallera« mitten aus einem Lied. Es beachtete ihn keiner. Der Jude nahm ihn am Tor in Empfang: »Ihr habt schön gesungen. Ihr habt wirklich schön gesungen. Ihr könntet Gold mit einer Stimme verdienen, wie Ihr habt.« Der Jude folgte ihm auf der Straße, nahm ihn beim Arm, zog ihn unter unendlichem Gespräch weiter, bis sie in die Gormannstraße einbogen, der Jude und der starkknochige, große Kerl im Sommermantel, der den Mund zusammenpreßte, als wenn er Galle spucken müßte.
In eine Stube führte er ihn, wo ein Eisenofen brannte, setzte ihn auf das Sofa: »Nun, da seid Ihr. Setzt Euch nur ruhig hin. Könnt den Hut aufbehalten oder hinlegen, wie Ihr wollt. Ich will nur jemand holen, der Euch gefallen wird. Ich wohne nämlich selbst nicht hier. Bin nur Gast hier wie Ihr. Nun, wie es ist, ein Gast bringt den andern, wenn die Stube nur warm ist.«
Der Entlassene saß allein. Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall. Er fuhr mit der Elektrischen, blickte seitlich hinaus, die roten Mauern waren sichtbar zwischen den Bäumen, es regnete buntes Laub. Die Mauern standen vor seinen Augen, sie betrachtete er auf dem Sofa, betrachtete sie unentwegt. Es ist ein großes Glück, in diesen Mauern zu wohnen, man weiß, wie der Tag anfängt und wie er weiter geht. (Franz, du möchtest dich doch nicht verstecken, du hast dich schon die vier Jahre versteckt, habe Mut, blick um dich, einmal hat das Verstecken doch ein Ende.) Alles Singen, Pfeifen, Lärmen ist verboten. Die Gefangenen müssen sich des Morgens auf das Zeichen zum Aufstehen sofort erheben, das Lager ordnen, sich waschen, kämmen, die Kleider reinigen und sich ankleiden. Seife ist in ausreichender Menge zu verabreichen. Bum, ein Glockenschlag, Aufstehen, bum fünf Uhr dreißig, bum sechs Uhr dreißig, Aufschluß, bum bum, es geht raus, Morgenkostempfang, Arbeitszeit, Freistunde, bum bum bum Mittag, Junge, nicht das Maul schief ziehen, gemästet wirst du hier nicht, die Sänger haben sich zu melden, Antreten der Sänger fünf Uhr vierzig, ich melde mir heiser, sechs Uhr Einschluß, guten Abend, wir habens geschafft. Ein großes Glück, in diesen Mauern zu wohnen, mir haben sie in den Dreck gefahren, ich hab schon fast gemordet, war aber bloß Totschlag, Körperverletzung mit tödlichem Ausgang, war nicht so schlimm, ein großer Schuft war ich geworden, ein Schubiack, fehlt nicht viel zum Penner.
Ein großer, alter, langhaariger Jude, schwarzes Käppchen auf dem Hinterkopf, saß ihm schon lange gegenüber. In der Stadt Susan lebte einmal ein Mann namens Mordechai, der erzog die Esther, die Tochter seines Oheims, das Mädchen aber war schön von Gestalt und schön von Ansehn. Der Alte nahm die Augen von dem Mann weg, drehte den Kopf zurück zu dem Roten: »Wo habt Ihr den her?« »Er ist von Haus zu Haus geloffen. Auf einen Hof hat er sich gestellt und hat gesungen.« »Gesungen?« »Kriegslieder.« »Er wird frieren.« »Vielleicht.« Der Alte betrachtete ihn. Mit einem Leichnam sollen sich am ersten Festtag nicht Juden befassen, am zweiten Festtag auch Israeliten, das gilt sogar von beiden Neujahrstagen. Und wer ist der Autor folgender Lehre der Rabbanan: Wenn jemand vom Aas eines reinen Vogels ißt, ist er nicht unrein; wenn aber vom Darm oder vom Kropf, so ist er unrein? Mit seiner langen gelben Hand tastete der Alte nach der Hand des Entlassenen, die auf dem Mantel lag: »Ihr, wollt Ihr Euch den Mantel ausziehen? Es ist heiß hier. Wir sind alte Leute, wir frieren im ganzen Jahr, für Euch wirds zuviel sein.«
Er saß auf dem Sofa, er schielte auf seine Hand herunter, er war von Hof zu Hof gegangen durch die Straßen, man mußte sehen, wo sich etwas findet in der Welt. Und er wollte aufstehen, zur Tür hinausgehen, seine Augen suchten in dem dunklen Raum nach der Tür. Da drückte ihn der Alte auf das Sofa zurück: »Nun bleibt doch, was wollt Ihr denn.« Er wollte hinaus. Der Alte hielt ihn aber am Handgelenk und drückte, drückte: »Wollen doch sehen, wer stärker ist, Ihr oder ich. Wollt Ihr sitzenbleiben, wenn ich sage.« Der Alte schrie: »Nun, Ihr werdet schon sitzenbleiben. Ihr werdet schon hören, was ich sage, junges Blut. Nehmt Euch zusammen, Bösewicht.« Und zu dem Roten, der den Mann bei den Schultern griff: »Geht Ihr weg, weg hier. Hab ich Euch gerufen. Ich werd schon mit ihm fertig werden.«
Was wollten diese Leute von ihm. Er wollte hinaus, er drängte hoch, aber der Alte drückte nieder. Da schrie er: »Was macht Ihr mit mir?« »Schimpft nur, werdet schon noch mehr schimpfen.« »Ihr sollt mich loslassen. Ich muß raus.« »Vielleicht auf die Straße, vielleicht auf die Höfe?«
Da stand der Alte vom Stuhl auf, ging rauschend durch die Stube hin und her: »Laß ihn schrein, soviel er will. Laß ihn tun und machen. Aber nicht bei mir. Mach die Tür auf für ihn.« »Was ist, gibt doch sonst Geschrei bei Euch.« »Bringt mir nicht Leute ins Haus, die Lärm machen. Die Kinder von der Tochter sind krank, liegen hinten, ich hab Lärm genug.« »Nun nun, welches Unglück, ich hab nicht gewußt, Ihr müßt mir schon verzeihn.« Der Rote faßte den Mann bei den Händen: »Kommt mit. Der Rebbe hat das Haus voll. Die Enkelkinder sind krank. Wir gehn weiter.« Aber der wollte nicht aufstehn. »Kommt.« Er mußte aufstehn. Da flüsterte er: »Nicht ziehen. Lassen Sie mich doch hier.« »Der hat das Haus voll, Ihr habt gehört.« »Lassen Sie mich doch hier.«
Mit funkelnden Augen betrachtete der Alte den fremden Mann, der bat. Sprach Jeremia, wir wollen Babylon heilen, aber es ließ sich nicht heilen. Verlaßt es, wir wollen jeglicher nach seinem Lande ziehen. Das Schwert komme über die Kaldäer, über die Bewohner Babylons. »Wenn er still ist, mag er bleiben mit Euch. Wenn er nicht still ist, soll er gehen.« »Gut gut, wir werden nicht lärmen. Ich sitz bei ihm, Ihr könnt Euch verlassen auf mich.« Der Alte rauschte wortlos hinaus.
Da saß der Strafentlassene im gelben Sommermantel wieder auf dem Sofa. Seufzend und kopfschüttelnd ging der Rote durch die Stube: »Nun seid nicht böse, daß der Alte so wild war. Seid Ihr ein Zugereister?« »Ja, ich bin, ich war –« Die roten Mauern, schöne Mauern, Zellen, er mußte sie sehnsüchtig betrachten, er klebte mit dem Rücken an der roten Mauer, ein kluger Mann hat sie gebaut, er ging nicht weg. Und der Mann rutschte wie eine Puppe von dem Sofa herunter auf den Teppich, den Tisch schob er im Sinken beiseite. »Was ist?« schrie der Rote. Der Entlassene krümmte sich über den Teppich, der Hut rollte neben seine Hände, den Kopf bohrte er herunter, stöhnte: »In den Boden rin, in die Erde rin, wo es finster ist.« Der Rote zerrte an ihm: »Um Gottes willen. Ihr seid bei fremden Leuten. Wenn der Alte kommt. Steht auf.« Der ließ sich aber nicht hochziehen, er hielt am Teppich fest, stöhnte weiter. »Seid nur still, um Gottes willen, wenn der Alte hört. Wir werden schon fertig werden miteinander.« »Mir kriegt keener weg hier.« Wie ein Maulwurf.
Und wie der Rote ihn nicht aufheben konnte, kraute der sich die Schläfenlocken, schloß die Tür und setzte sich resolut neben den Mann unten auf den Boden. Er zog die Knie hoch, blickte vor sich die Tischbeine an: »Nun scheen. Bleibt ruhig da. Setz ich mich auch hin. Ist zwar nicht bequem, aber warum nicht. Ihr werdet nicht sprechen, was mit Euch ist, werde ich Euch was erzählen.« Der Entlassene ächzte, den Kopf auf dem Teppich. (Warum er aber stöhnt und ächzt? Es heißt sich entschließen, es muß ein Weg gegangen werden, – und du weißt keinen, Franze. Den alten Mist möchtest du nicht und in der Zelle hast du auch nur gestöhnt und dich versteckt und nicht gedacht, nicht gedacht, Franze.) Der Rote sprach grimmig: »Man soll nicht so viel von sich machen. Man soll auf andere hören. Wer sagt Euch, daß so viel mit Euch ist. Gott läßt schon keinen von seiner Hand fallen, aber es sind noch andere Leute da. Habt Ihr nicht gelesen, was Noah in die Arche getan hat, in sein Schiff, als die große Sintflut kam? Von jedem ein Pärchen. Gott hat sie alle nicht vergessen. Nicht mal die Läuse auf dem Kopf hat er vergessen. Waren ihm alle lieb und wert.« Der winselte unten. (Winseln ist kostenlos, Winseln kann ne kranke Maus auch.)
Der Rote ließ ihn winseln, kraute sich die Backen: »Gibt vieles auf der Erde, man kann vieles erzählen, wenn man jung ist und wenn man alt ist. Ich werde Euch erzählen, nu, die Geschichte von Zannowich, Stefan Zannowich. Ihr werdet sie noch nicht gehört haben. Wenn Euch besser wird, setzt Euch e bißche auf. Das Blut steigt einem zu Kopf, es ist nicht gesund. Mein seliger Vater hat uns viel erzählt, er ist viel herumgereist wie die Leute von unserm Volk, er ist siebzig Jahr alt geworden, nach der Mutter selig ist er gestorben, hat viel gewußt, ein kluger Mann. Wir waren sieben hungrige Mäuler, und wenn es nichts zu essen gab, hat er uns Geschichten erzählt. Man wird nicht satt davon, aber man vergißt.« Das dumpfe Stöhnen unten ging weiter. (Stöhnen kann n krankes Kamel auch.) »Nun nun, wir wissen, es gibt auf der Welt nicht bloß Gold, Schönheit und Fraiden. Wer also war Zannowich, wer war sein Vater, wer waren seine Eltern? Bettler, wie die meisten von uns, Krämer, Händler, Geschäftemacher. Aus Albanien kam der alte Zannowich und ist nach Venedig gegangen. Er wußte schon, warum er nach Venedig ging. Die einen gehen von der Stadt aufs Land, die andern vom Land in die Stadt. Auf dem Land ist mehr Ruhe, die Leute drehen jedes Ding herum und herum, Ihr könnt reden stundenlang, und wenn Ihr Glück habt, habt Ihr ein paar Pfennige verdient. In der Stadt nun, es ist auch schwer, aber die Menschen stehen dichter beieinander, und sie haben keine Zeit. Ist es nicht der eine, ist es der andere. Man hat ka Ochsen, man hat rasche Pferde mit Kutschen. Man verliert und man gewinnt. Das hat der alte Zannowich gewußt. Hat erst verkauft, was er bei sich hatte, und dann hat er Karten genommen und hat gespielt mit de Leut. Er war kein ehrlicher Mann. Er hat ä Geschäft daraus gemacht, daß die Leute in der Stadt keine Zeit haben und unterhalten sein wollen. Er hat sie unterhalten. Es hat sie schweres Geld gekostet. Ein Betrüger, ein Falschspieler der alte Zannowich, aber einen Kopf hat er gehabt. Die Bauern hattens ihm schwer gemacht, hier lebte er leichter. Es ist ihm gut gegangen. Bis einer plötzlich meinte, es ist ihm unrecht geschehen. Nu, daran hatte der alte Zannowich grade nicht gedacht. Es gab Schläge, die Polizei, und zuletzt hat der alte Zannowich mit seinen Kindern lange Beine machen müssen. Das Gericht von Venedig war hinter ihm her, mit dem Gericht, dachte der alte Mann, wollte er sich lieber nicht unterhalten, sie verstehen mich nicht, sie haben ihn auch nicht fassen können. Er hatte Pferde und Geld bei sich und hat sich wieder in Albanien hingesetzt und hat sich ein Gut gekauft, ein ganzes Dorf, und seine Kinder hat er in hohe Schulen geschickt. Und wie er ganz alt war, ist er ruhig und geachtet gestorben. Das war das Leben des alten Zannowich. Die Bauern haben um ihn geweint, er aber hat sie nicht leiden mögen, weil er immer an die Zeit dachte, wo er vor ihnen stand mit seinem Tand, Ringe, Armbänder, Korallenketten, und sie haben sie hin und her gedreht und befühlt, und zuletzt sind sie weggegangen und haben ihn stehen gelassen.
Wißt Ihr, wenn der Vater ä Pflänzchen ist, so möcht er, der Sohn soll ä Baum sein. Wenn der Vater ä Stein ist, soll der Sohn ä Berg sein. Der alte Zannowich hat seinen Söhnen gesagt: Ich bin hier in Albanien nichts gewesen, solange ich hausierte, zwanzig Jahre lang, und warum nicht? Weil ich meinen Kopf nicht dahin trug, wo er hingehörte. Ich schick euch auf die große Schule, nach Padua, nehmt Pferde und Wagen, und wenn ihr ausstudiert habt, denkt an mich, der Kummer hatte zusammen mit eurer Mutter und mit euch und der nachts mit euch im Wald schlief wie ein Eber: ich war selbst schuld dran. Die Bauern hatten mich ausgetrocknet wie ein schlechtes Jahr, und ich wär verdorben, ich bin unter die Menschen gegangen, und da bin ich nicht umgekommen.«
Der Rote lachte für sich, wiegte den Kopf, schaukelte den Rumpf. Sie saßen am Boden auf dem Teppich: »Wenn jetzt einer hereinkommt, möchte er uns beide für meschugge halten, man hat ein Sofa und setzt sich davor auf die Erde. Nu, wie einer will, warum nicht, wenns einem nur gefällt. Der junge Zannowich Stefan war ein großer Redner schon als junger Mensch mit zwanzig Jahren. Er konnte sich drehen, sich beliebt machen, er konnte zärteln mit de Frauen und vornehm tun mit de Männer. In Padua lernen die Adligen von de Professoren, Stefan lernte von de Adligen. Sie waren ihm alle gut. Und wie er nach Hause kam nach Albanien, sein Vater lebte noch, freute der sich über ihn und hatte ihn auch gern und sagte: ›Seht euch den an, das ist ein Mann für die Welt, er wird nicht zwanzick Jahr wie ich mit den Bauern handeln, er ist seinem Vater um zwanzick Jahr voraus.‹ Und das Jüngelchen strich sich seine Seidenärmel, hob sich die schönen Locken von de Stirn und küßte seinen alten glücklichen Vater: ›Aber Ihr, Vater, habt mir die schlimmen zwanzick Jahre erspart.‹ ›Die besten von deinem Leben sollens sein‹, meinte der Alte und streichelte und hätschelte sein Jüngelchen.
Und da ist es dem jungen Zannowich gegangen wie ein Wunder, und war doch kein Wunder. Es sind ihm überall die Menschen zugeflogen. Er hat zu allen Herzen den Schlüssel gehabt. Er ist nach Montenegro gegangen, zu einem Ausflug als Kavalier mit Kutschen und Pferden und Dienern, sein Vater hat Freude dran gehabt, den Sohn groß zu sehn, – der Vater ein Pflänzchen, der Sohn ein Baum, – und in Montenegro haben sie ihn angesprochen als Graf und Fürst. Man hätte ihm nicht geglaubt, hätte er gesagt: mein Vater heißt Zannowich, wir sitzen in Pastrowich auf einem Dorf, worauf mein Vater stolz ist! Man hätte ihm nicht geglaubt, so ist er aufgetreten wie ein Adliger aus Padua und sah aus wie einer und kannte auch alle. Hat Stefan gesagt und gelacht: Sollt ihr euren Willen haben. Und hat sich bei den Leuten für einen reichen Polen ausgegeben, wofür sie ihn selber hielten, für einen Baron Warta, und da haben sie sich gefreut, und er hat sich gefreut.«
Der Strafentlassene hatte sich mit einem plötzlichen Ruck aufgesetzt. Er hockte auf den Knien und belauerte von oben den andern. Jetzt sagte er mit eisigem Blick: »Affe.« Der Rote gab geringschätzig zurück: »Dann werd ich ä Affe sein. Dann weiß der Affe doch mehr als mancher Mensch.« Der andere wurde schon wieder auf den Boden heruntergezwungen. (Bereuen sollst du; erkennen, was geschehen ist; erkennen, was nottut!)
»So kann man also weitersprechen. Es ist noch viel zu lernen von andere Menschen. Der junge Zannowich war auf diesem Weg, und so ging es weiter. Ich habe ihn nicht erlebt, und mein Vater hat ihn nicht erlebt, aber man kann ihn sich schon denken. Wenn ich euch frage, Ihr, der mich einen Affen nennt – man soll kein Tier auf Gottes Erdboden verachten, sie geben uns ihr Fleisch, und sie erweisen uns auch sonst viele Wohltaten, denkt an ä Pferd, an ä Hund, an Singvögel, Affen kenn ich nur vom Jahrmarkt, sie müssen Possen reißen an der Kette, ä schweres Los, kein Mensch hat solch schweres –, nun ich will Euch fragen, ich kann Euch nicht bei Namen nennen, weil Ihr mir Euren Namen nicht sagt: wodurch ist der Zannowich weitergekommen, der junge wie der alte. Ihr meint, sie haben ein Gehirn gehabt, sie sind klug gewesen. Sind noch andere klug gewesen und waren mit achtzick Jahren nicht so weit wie Stefan mit zwanzick. Aber die Hauptsache am Menschen sind seine Augen und seine Füße. Man muß die Welt sehen können und zu ihr hingehn.
So hört, was Stefan Zannowich getan hat, der die Menschen gesehn hat und der wußte, wie wenig man sich vor Menschen fürchten muß. Seht einmal, wie sie einem die Wege ebenen, wie sie fast dem Blinden den Weg zeigen. Sie haben von ihm gewollt: Du bist der Baron Warta. Scheen, hat er gesagt, bin ich der Baron Warta. Später hat ihm das nicht genügt, oder ihnen nicht. Wenn schon Baron, warum nicht mehr. Es gibt da ä Berühmtheit in Albanien, die war lange tot, aber sie feiern ihn, wie das Volk Helden feiert, er hieß Skanderbeg. Wenn Zannowich gekonnt hätte, hätte er gesagt: er ist selber Skanderbeg. Wo Skanderbeg tot war, hat er gesagt, ich bin ein Nachfahr Skanderbegs, und warf sich in die Brust, hieß Prinz Castriota von Albanien, er wird Albanien wieder groß machen, sein Anhang wartet auf ihn. Sie gaben ihm Geld, damit er leben könne, wie ein Nachkomme Skanderbegs lebt. Er hat den Leuten wohlgetan. Sie gehn ins Theater und hören ausgedachte Dinge an, die ihnen angenehm sind. Sie bezahlen dafür. Können se auch dafür bezahlen, wenn ihnen die angenehmen Dinge nachmittags passieren oder vormittags, und wenn se selbst dabei mitspielen können.«
Und wieder richtete sich der Mann im gelben Sommerpaletot auf, hatte ein trübes, faltiges Gesicht, blickte von oben auf den Roten, räusperte sich, seine Stimme war verändert: »Sagen Se mal, Sie, Sie Männeken, Sie sind wohl übergefahren, wat? Sie sind wohl überkandidelt?« »Übergefahren, vielleicht. Einmal bin ich ein Affe, das andere Mal bin ich meschugge.« »Sagen Se mal, Sie, wat sitzen Sie eigentlich hier und quatschen mir vor?« »Wer sitzt auf der Erde und will nicht aufstehn? Ich? Wo ein Sofa hinter mir steht? Nun, wenn es Euch stört, hör ich schon auf zu sprechen.«
Da zog sich der andere, der sich zugleich im Zimmer umgesehn hatte, die Beine hervor und setzte sich hin mit dem Rücken gegen das Sofa, die Hände stützte er auf den Teppich. »So sitzt Ihr schon bequemer.« »Nun können Se also sachte aufhören mit dem Quatsch.« »Wenn Ihr wollt. Ich habe die Geschichte schon oft erzählt, mir liegt nichts dran. Wenn Euch nichts dran liegt.« Aber nach einer Pause drehte ihm der andere wieder den Kopf zu: »Erzählen Sie man ruhig weiter die Geschichte.« »Nu seht. Man erzählt und spricht miteinander, die Zeit vergeht einem leichter. Ich wollt Euch ja nur die Augen aufmachen. Der Stefan Zannowich, von dem Ihr geheert habt, hat Geld bekommen, so viel, daß er damit nach Deutschland reisen konnte. Sie haben ihn nicht entlarvt in Montenegro. Zu lernen ist von Zannowich Stefan, daß er wußte von sich und den Menschen. Da war er unschuldig wie ein zwitscherndes Vöglein. Und seht, er hat so wenig Angst gehabt vor der Welt: die größten, gewaltigsten Menschen, die es gab, die fürchterlichsten waren seine Freunde: der sächsische Kurfürst, der Kronprinz von Preußen, der später ein großer Kriegsheld war und vor dem die Österreicherin, die Kaiserin Therese, erzitterte auf ihrem Thron. Vor dem hat Zannowich nicht gezittert. Und als der Stefan mal nach Wien kam und an Leute geriet, die ihm nachschnüffelten, da hat die Kaiserin selbst die Hand erhoben und hat gesagt: Laßt das Jingelche frei!«
Der andere lachte, er wieherte am Sofa: »Ihr seid ne Marke. Sie könnten als Clown inn Zirkus gehn.« Der Rote kicherte mit: »Nun seht Ihr. Aber still, die Enkelkinder vom Alten. Vielleicht setzen wir uns doch auf das Sofa. Was meint Ihr.« Der andere lachte, kroch auf, setzte sich in die Sofaecke, der Rote in die andere. »Man sitzt weicher, man zerdrückt sich nicht so den Mantel.« Der im Sommerpaletot fixierte aus der Ecke den Roten: »Sone Kruke wie Sie ist mir lange nicht vorgekommen.« Gleichmütig der Rote: »Vielleicht habt Ihr nur nicht hingesehn, es gibt noch. Ihr habt Euch den Mantel schmutzig gemacht, hier putzt man sich nicht die Schuhe ab.« Der Entlassene, ein Mann anfangs 30, hatte muntre Augen, sein Gesicht war frischer: »Sie, sagen Sie mal, womit handeln Se eigentlich? Sie leben wohl auf dem Mond?« »Nun, das ist gut, jetzt werden wir sprechen vom Mond.«
An der Tür hatte schon etwa fünf Minuten ein Mann mit braunem Kräuselbart gestanden. Der ging jetzt an den Tisch, setzte sich auf einen Stuhl. Er war jung, trug einen schwarzen Velourshut wie der andere. Er fuhr mit der Hand im Bogen durch die Luft, ließ seine gelle Stimme los: »Wer ist jenner? Was tust du mit jennem?« »Und was tust du hier, Eliser? Ich kenn ihn nicht, er nennt seinen Namen nicht.« »Hast ihm Geschichten erzählt.« »Nun, was gehts dich an.« Der Braune zu dem Sträfling: »Hat er Aich Geschichten erzählt, der?« »Er spricht nicht. Er geht herum und singt auf de Höfe.« »So laß ihn gehn.« »Es kümmert dich nicht, was ich tue.« »Hab doch zugehört an der Tür, was gewesen ist. Hast ihm erzählt von Zannowich. Was wirst du tun als erzählen und erzählen?« Brummte der Fremde, der den Braunen fixiert hatte: »Wer sind Sie denn eigentlich, wo kommen Sie eigentlich hier rin? Wat mischen Sie sich in den seine Sachen?« »Hat er Euch von Zannowich erzählt oder nicht? Er hat Euch erzählt. Mein Schwager Nachum geht überall herum und erzählt und erzählt und kann sich allaine nischt helfen.« »Ich hab dich doch noch nicht beansprucht für mich. Siehst du nicht, daß dem nicht gut ist, du schlechter Mensch.« »Und wenn ihm schlecht ist. Gott hat dich nicht beauftragt, schau einer an, Gott hat gewartet, bis er kommt. Allain hat Gott nicht helfen gekonnt.« »Schlechter Mensch.« »Haltet Aich von dem fern, Ihr. Er wird Euch gesagt haben, wie es dem Zannowich und wem sonst geglückt ist in der Welt.« »Willst du nicht bald gehn?« »Hör einer den Schwindler an, den Gutestuer. Will mit mir redden. Ist es seine Wohnung? Was hast du nu wieder erzählt von deinem Zannowich, und wie man lernen kann von ihm. Du hättest Rebbe werden müssen bei uns. Wir hätten dich noch ausgefuttert.« »Ich brauch Eure Wohltaten nicht.« Der Braune schrie wieder: »Und wir brauchen keine Schmarotzer, die einem am Rockschoß hängen. Hat er Euch auch erzählt, wie es seinem Zannowich zuletzt gegangen ist, am Schluß?« »Lump, du schlechter Mensch.« »Hat er Euch das erzählt?« Der Sträfling blinzelte müde den Roten an, der die Faust schüttelte und zur Tür ging, er knurrte hinter dem Roten: »Sie, laufen Sie doch nicht raus, regen Sie sich nicht auf, lassen Sie den quasseln.«
Da sprach der Braune schon heftig auf ihn ein, mit fahrigen Händen, mit Hin- und Herrutschen, mit Schnalzen und Kopfzucken, jeden Augenblick eine andere Miene, bald zu dem Fremden, bald zu dem Roten: »Er macht die Leute meschugge. Er soll Euch erzählen, was es für ein Ende genommen hat mit seinem Zannowich Stefan. Er erzählt es nicht, warum erzählt ers nicht, warum, ich frage.« »Weil du ä schlechter Mensch bist, Eliser.« »Ein besserer als du. Man hat (der Braune erhob mit Abscheu beide Hände, machte schreckliche Glotzaugen) seinen Zannowich gejagt aus Florenz wie einen Dieb. Warum? Weil man ihn erkannt hat.« Der Rote stellte sich gefährlich vor ihn, der Braune winkte ab: »Jetzt red ich. Er hat an Fürsten Briefe geschrieben, ein Fürst kriegt viele Briefe, man kann aus der Handschrift nicht sehen, was einer ist. Dann hat er sich aufgeblasen und ist nach Brüssel gegangen als Prinz von Albanien und hat sich in die hohe Politik gemischt. Das war sein böser Engel, der ihm das gesagt hat. Er geht zur Regierung, stellt Euch vor den Zannowich Stefan, das Jingelchen, und verspricht ihr für einen Krieg, weiß ich mit wem, hunderttausend Leute oder zweihundert, kommt nicht drauf an, die Regierung schreibt ein Briefchen, danke schön, sie wird sich nicht auf unsichere Geschäfte einlassen. Da hat der böse Engel dem Stefan noch gesagt: nimm den Brief und leih dir darauf Geld. Hast doch einen Brief gehabt vom Minister mit der Adresse: An den Herrn Prinzen von Albanien, Hochwohlgeboren, Durchlaucht. Sie haben ihm Geld geliehen, und dann wars aus mit dem Betrüger. Wie alt ist er geworden? Dreißick Jahr, mehr hat er nicht bekommen zur Strafe für seine Ibeltaten. Er hat nicht zurückzahlen können, sie haben ihn angezeigt in Brüssel, und dabei ist alles herausgekommen. Dein Held, Nachum! Hast erzählt von seinem schwarzen Ende im Gefängnis, wo er sich selbst die Adern geöffnet hat? Und wie er tot war – ä scheenes Leben, ä scheenes Ende, man soll es erzählen –, nachher ist der Henker gekommen, der Schinder mit einem Karren für die toten Hunde und Pferde und Katzen, hat ihn aufgeladen, den Stefan Zannowich, und ihn hingeworfen am Galgen draußen und Müll aus der Stadt über ihn geschüttet.«
Dem Mann im Sommermantel stand der Mund offen: »Das ist wahr?« (Stöhnen kann ne kranke Maus auch.) Der Rote hatte jedes Wort gezählt, das sein Schwager herausschrie. Er wartete mit gehobenem Zeigefinger vor dem Gesicht des Braunen wie auf ein Stichwort und tupfte ihm jetzt auf die Brust und spuckte vor ihm auf den Boden, pih pih: »Das ist für dich. Daß du so einer bist. Mein Schwager.« Der Braune zappelte zum Fenster: »So, und jetzt red du und sag, es ist nicht wahr.«
Die Mauern waren nicht mehr da. Eine kleine Stube mit einer Hängelampe, zwei Juden liefen herum, ein brauner und ein roter, hatten schwarze Velourshüte auf, zankten miteinander. Er verfolgte den Freund, den Roten: »Sie, hören Se mal, Sie, das ist richtig, was der erzählt hat von dem Mann, wie der verschütt ging und wie sie ihn umgebracht haben?« Der Braune schrie: »Umgebracht, hab ich gesagt umgebracht? Er hat sich allein umgebracht.« Der Rote: »Wird er sich schon umgebracht haben.« Der Entlassene: »Und was haben die denn getan, da, die andern?« Der Rote: »Wer, wer?« »Nun, werden doch noch andere gewesen sein wie der, wie der Stefan. Werden doch nicht alle Minister gewesen sein und Schinder und Bankiers.« Der Rote und der Braune wechselten Blicke. Der Rote: »Nun, was sollen se machen? Zugesehen haben se.«
Der Strafentlassene im gelben Sommermantel, der große Kerl, trat hinter dem Sofa vor, nahm seinen Hut auf, putzte ihn ab, legte ihn auf den Tisch, dann schlug er seinen Mantel zurück, alles stumm, knöpfte sich die Weste auf: »Da, kucken Se her, meine Hose. So dick war ich, und so steht sie ab, zwei starke Fäuste übereinander, vom Kohldampfschieben. Alles weg. Die ganze Plautze zum Deibel. So wird man ruiniert, weil man nicht immer so gewesen ist, wie man sein sollte. Ich gloobe nicht, daß die andern viel besser sind. Nee, det gloob ick nicht. Verrückt wollen sie eenen machen.«
Der Braune tuschelte zum Roten: »Da hast dus.« »Was habe ich.« »Na, einen Zuchthäusler.« »Wenn schon.« Der Entlassene: »Dann heißt es: bist entlassen und wieder rin, mang in den Dreck, und das ist noch derselbe Dreck wie vorher. Da gibts nichts zu lachen.« Er knöpfte seine Weste wieder zu: »Das sehen Se daran, was die gemacht haben. Die holen den toten Mann da aus dem Bau, der Schweinekerl mit dem Hundewagen kommt und wirft eenen toten Menschen ruff, der sich umgebracht hat, so ein verfluchtes Mistvieh, daß sie den nicht gleich totgeschlagen haben, sich so zu versündigen an einem Menschen, und es kann sein, wer es will.« Der Rote betrübt: »Was soll man sagen.« »Ja, sind wir denn nichts, weil wir mal was getan haben? Es können alle wieder auf die Beene kommen, die gesessen haben, und die können gemacht haben, wat sie wollen.« (Was bereuen! Luft muß man sich machen! Drauflosschlagen! Dann liegt alles hinter einem, dann ist alles vorbei, Angst und alles.) »Ich wollt Euch bloß zaigen: Ihr sollt nicht hören auf alles, was Aich mein Schwager erzählt. Man kann manchmal nicht alles, was man möchte, es geht manchmal auch anders.« »Das ist keene Gerechtigkeit, einen auf den Mist zu schmeißen wie einen Köter und schütten noch Müll rauf, und das ist die Gerechtigkeit gegen eenen toten Mann. Pfui Deibel. Jetzt will ich mir aber verabschieden von Sie. Geben Sie mir Ihre Flosse. Sie meinen es gut und Sie auch (er drückte dem Roten die Hand). Ick heeße Biberkopf, Franz. War schön von Ihnen, daß Sie mir uffgenommen haben. Mein Piepmatz hat schon gesungen auf dem Hof. Na, prost Neumann, et jeht vorüber.« Die beiden Juden schüttelten ihm die Hände, lächelten. Der Rote hielt seine Hand lange fest, strahlte: »Nun, ist Euch wirklich gut. Und wird mich freuen, wenn Ihr Zeit habt, kommt mal vorbei.« »Dank schön, wird bestens besorgt, Zeit wird sich schon finden, bloß keen Geld. Und grüßen Sie auch den alten Herrn von vorhin. Der hat Ihnen Kraft in de Hand, sagen Se mal, der war wohl früher Schlächter. Au, wollen noch rasch den Teppich in Ordnung bringen, ist ja ganz verrutscht. Aber nein, machen wir alles selbst, und der Tisch, so.« Er arbeitete am Boden, lachte den Roten von hinten an: »Haben wir unten gesessen und uns was erzählt. Ne feine Sitzgelegenheit, entschuldigen Se man.«
Sie begleiteten ihn zur Tür, der Rote blieb besorgt: »Werdet Ihr auch allein gehen können?« Der Braune stieß ihn in die Seite: »Red ihm doch nicht nach.« Der Strafentlassene, aufrecht wandernd, schüttelte den Kopf, schob Luft mit beiden Armen von sich weg (Luft muß man sich machen, Luft, Luft und weiter nischt): »Machen Se sich keene Sorgen. Mir können Se ruhig laufen lassen. Sie haben doch erzählt von die Füße und die Augen. Ick habe die noch. Mir hat die keener abgehauen. Morgen, die Herren.«
Und über den engen, verstellten Hof ging er, die beiden blickten von der Treppe hinter ihm her. Er hatte den steifen Hut im Gesicht, murmelte, wie er über eine Benzinpfütze trat: »Olles Giftzeug. Mal n Kognak. Wer ankommt, kriegt eins in die Fresse. Mal sehn, wos nen Kognak gibt.«
Es regnete. Links in der Münzstraße blinkten Schilder, die Kinos waren. An der Ecke kam er nicht durch, die Menschen standen an einem Zaun, da ging es tief runter, die Schienen der Elektrischen liefen auf Bohlen frei in der Luft, eben fuhr langsam eine Elektrische rüber. Sieh mal an, die bauen Untergrundbahn, muß doch Arbeit geben in Berlin. Da war noch ein Kino. Jugendlichen unter 17 Jahren ist der Eintritt verboten. Auf dem Riesenplakat stand knallrot ein Herr auf einer Treppe, und ein duftes junges Mädchen umfaßte seine Beine, sie lag auf der Treppe, und er schnitt oben ein kesses Gesicht. Darunter stand: Elternlos, Schicksal eines Waisenkindes in 6 Akten. Jawoll, das seh ich mir an. Das Orchestrion paukte. Eintritt 60 Pfennig.
Ein Mann zu der Kassiererin: »Fräulein, ists nicht billiger für einen alten Landsturm ohne Bauch?« »Nee, nur für Kinder unter fünf Monaten, mit nem Lutschpfropfen.« »Gemacht. So alt sind wir. Neujeborene auf Stottern.« »Na, also fuffzig, mal rin.« Hinter dem schlängelte sich ein Junger, Schlanker mit Halstuch an: »Frollein, ich möchte rin, aber nich zahlen.« »Wie is mich denn. Laß dich von deine Mutti aufs Töppchen setzen.« »Na, darf ich rin?« »Wo?« »Ins Kino.« »Hier is keen Kino.« »Nanu, is hier keen Kino.« Sie rief durchs Kassenfenster zum Aufpasser an der Tür: »Maxe, komm mal her. Da möcht einer wissen, ob hier Kino ist. Geld hat er keins. Zeig ihm mal, was hier ist.« »Wat hier ist, junger Mann? Hamse das noch nicht bemerkt? Hier ist die Armenkasse, Abteilung Münzstraße.« Er schob den Schlanken von der Kasse, zeigte ihm die Faust: »Wennste willst, zahl ich dir jleich aus.«
Franz schob rin. Es war grade Pause. Der lange Raum war knüppeldick voll, 90 Prozent Männer in Mützen, die nehmen sie nicht ab. Drei Lampen an der Decke sind rot verhängt. Vorn ein gelbes Klavier mit Paketen drauf. Das Orchestrion macht ununterbrochen Krach. Dann wird es finster und der Film läuft. Einem Gänsemädchen soll Bildung beigebracht werden, warum, wird einem so mitten drin nicht klar. Sie wischte sich die Nase mit der Hand, sie kratzte sich auf der Treppe den Hintern, alles im Kino lachte. Ganz wunderbar ergriff es Franz, als das Kichern um ihn losging. Lauter Menschen, freie Leute, amüsieren sich, hat ihnen keiner was zu sagen, wunderbar schön, und ich stehe mitten mang! Dann lief es weiter. Der feine Baron hatte eine Geliebte, die sich auf eine Hängematte legte und dabei ihre Beine senkrecht nach oben streckte. Die hatte Hosen an. Das ist eine Sache. Was sich die Leute bloß aus dem dreckigen Gänseliesel machten und daß die die Teller ausleckte. Wieder flimmerte die mit den schlanken Beinen auf. Der Baron hatte sie allein gelassen, jetzt kippte sie aus der Hängematte und flog ins Gras, lag lang da. Franz stierte auf die Wand, es gab schon ein anderes Bild, er sah sie noch immer herauskippen und lang daliegen. Er kaute an seiner Zunge, Donnerkiel, was war das. Als dann einer, der aber der Liebhaber der Gänsemagd war, diese feine Frau umarmte, lief es ihm heiß über die Brusthaut, als wenn er sie selbst umarmte. Das ging auf ihn über und machte ihn schwach.
Ein Weibsstück. (Es gibt noch mehr als Ärger und die Angst. Was soll der ganze Quatsch? Luft, Mensch, ein Weib!) Daß er daran nicht gedacht hatte. Man steht am Zellenfenster und sieht durchs Gitter auf den Hof. Manchmal gehen Frauen vorbei, Besuch oder Kinder oder Hausreinigung beim Alten. Wie sie überall an den Fenstern stehn, die Sträflinge, und kucken, alle Fenster besetzt, verschlingen jedes Weib. Ein Wachtmeister hatte mal 14 Tage Besuch von seiner Frau aus Eberswalde, früher ist er bloß alle 14 Tage rübergefahren zu ihr, jetzt hat sie die Zeit weidlich ausgenützt, bei der Arbeit läßt er den Kopf vor Müdigkeit fallen, kann kaum noch laufen.
Franz war schon draußen auf der Straße im Regen. Wat machen wir? Ick bin frei. Ick muß ein Weib haben. Ein Weib muß ick haben. Schöne Lust, fein is das Leben draußen. Nur mal fest stehn und laufen können. Es federte in seinen Beinen, er hatte keinen Boden unter sich. Dann war an der Ecke Kaiser-Wilhelm-Straße hinter den Marktwagen schon eine, neben die er sich gleich stellte, egal was für eine. Donnerkiel, wo kriegen wir mit einmal die Eisbeene her. Er zog mit ihr los, zerbiß sich die Unterlippe, so schauerte ihn, wenn du weit wohnst, komm ich nicht mit. Es war nur quer über den Bülowplatz, an den Zäunen vorbei, durch einen Hausflur, auf den Hof, sechs Stufen herunter. Sie drehte sich zurück, lachte: »Mensch, sei nich so jieprig, fällst mir ja aufn Kopp.« Wie sie nur die Türe hinter sich geschlossen hatte, packte er sie an. »Mensch, laß mich doch erst den Schirm hinlegen.« Er preßte, drückte, kniff an ihr, rieb seine Hände über ihren Mantel, er hatte noch den Hut auf, den Schirm ließ sie ärgerlich fallen: »Laß mir doch los, Mensch«, er ächzte, lächelte falsch und schwindlig: »Was is denn los?« »Du reißt mir die Kledage kaputt. Wirst du se etwa berappen. Na also. Uns schenkt auch keiner was.« Als er sie nicht losließ: »Ich krieg doch keine Luft, Dussel. Bist wohl übergeschnappt.« Sie war dick und langsam, klein, er mußte ihr erst die drei Mark geben, die legte sie sorgfältig in die Kommode, den Schlüssel steckte sie in ihre Tasche. Er mit den Augen immer hinter ihr her: »Weil ich nämlich ein paar Jährchen abgerissen habe, Dicke. Draußen, Tegel, kannst dir ja denken.« »Wo?« »Tegel. Kannst dir ja denken.«
Das schwammige Weib lachte aus vollem Hals. Sie knöpfte sich oben die Bluse auf. Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb. Wenn der Hund mit der Wurst übern Rinnstein springt. Sie griff ihn, drückte ihn an sich. Putt, putt, putt, mein Hühnchen, putt, putt, putt, mein Hahn.
Bald darauf hatte er Schweißtropfen im Gesicht, er stöhnte. »Na, wat stöhnst du.« »Was läuft da für ein Kerl nebenan?« »Is kein Kerl, is meine Wirtin.« »Was macht denn die?« »Was soll die denn machen. Die hat da ihre Küche.« »Na ja. Die soll doch aufhören zu laufen. Was hat die jetzt zu laufen. Ich kann es nicht vertragen.« »Jotte doch, ich geh schon hin, ich sags ihr schon.« Ist das ein schweißiger Kerl, man is ordentlich froh, wenn man ihn los is, der olle Penner, den setz ich bald raus. Sie klopfte an die Nebentür: »Frau Priese, ein paar Minuten sind Sie man ruhig, ich hab hier mit einem Herrn zu reden, Wichtiges.« So, nun haben wir es geschafft, lieb Vaterland, kannst ruhig sein, komm an mein Herz, aber du fliegst bald raus.
Sie dachte, den Kopf auf dem Kissen: die gelben Halbschuhe können noch gut besohlt werden, Kittys neuer Bräutigam macht das für zwei Mark, wenn sie nichts dagegen hat, ich schnappe ihn ihr nicht weg, er kann sie mir auch braun färben zu der braunen Bluse, ist schon n oller Lappen, grade gut als Kaffeewärmer, da müssen die Bänder von aufgebügelt werden, ich werde Frau Priese gleich sagen, die wird ja noch Feuer haben, was kocht die eigentlich heute. Sie schnüffelte. Grüne Heringe.
Durch seinen Kopf rollten Verse, im Kreis, nicht zu verstehen: Kochste Suppe, Fräulein Stein, krieg ich n Löffel, Fräulein Stein. Kochste Nudeln, Fräulein Stein, gib mir Nudeln, Fräulein Stein. Fall ich runter, fall ich rauf. Laut stöhnte er: »Du magst mich wohl nicht?« »Warum denn nich, komm her, immer fürn Sechser Liebe.« Er fiel ab ins Bett, grunzte, stöhnte. Sie rieb sich den Hals: »Ich lach mir schief. Bleib man ruhig liegen. Mir störste nich.« Sie lachte, hob ihre fetten Arme, steckte die Füße mit Strümpfen aus dem Bett: »Ick kann nischt dafür.«
Raus auf die Straße! Luft! Regnet noch immer. Was ist nur los? Ich muß mir ne andre nehmen. Erst mal ausschlafen. Franz, wat ist denn mit dir los?
Die sexuelle Potenz kommt zustande durch das Zusammenwirken 1. des innersekretorischen Systems, 2. des Nervensystems und 3. des Geschlechtsapparates. Die an der Potenz beteiligten Drüsen sind: Hirnanhang, Schilddrüse, Nebenniere, Vorsteherdrüse, Samenblase und Nebenhoden. In diesem System überwiegt die Keimdrüse. Durch den von ihr bereiteten Stoff wird der gesamte Sexualapparat von der Hirnrinde bis zum Genitale geladen. Der erotische Eindruck bringt die erotische Spannung der Hirnrinde zur Auslösung, der Strom wandert als erotische Erregung von der Hirnrinde zum Schaltzentrum im Zwischenhirn. Dann rollt die Erregung zum Rückenmark hinab. Nicht ungehemmt, denn ehe sie das Gehirn verläßt, muß sie die Bremsfedern der Hemmungen passieren, jene vorwiegend seelischen Hemmungen, die als Moralbedenken, Mangel an Selbstvertrauen, Angst vor Blamage, Ansteckungs- und Schwängerungsfurcht und dergleichen mehr eine große Rolle spielen.
Und abends die Elsasser Straße heruntergeschliddert. Nicht gefackelt, Jungeken, keine Müdigkeit vorschützen. »Was kost das Vergnügen, Fräulein?« Die Schwarze ist gut, hat Hüften, knuspriger Brezel. Wenn ein Mädchen einen Hörrn hat, den sie liebt und den sie görn hat. »Du bist so lustig, Süßer. Hast was geerbt?« »Na ob. Kriegst noch n Taler ab.« »Warum nicht.« Aber Angst hat er doch.
Und nachher in der Stube, Blumen hinter der Gardine, sauberes Stübchen, niedliches Stübchen, hat das Mädchen sogar ein Grammophon, singt ihm vor, in Bembergs kunstseidnen Strümpfen, ohne Bluse, pechschwarze Augen: »Ich bin Stimmungssängerin, weißt du. Weißt du, wo? Wos mir grade paßt. Ich hab jetzt grade kein Engagement, weißt du. Ich geh in Lokale, wos schön ist, dann frag ich. Und dann: mein Schlager. Ich hab einen Schlager. Du, nicht kitzeln.« »Laß doch, Mensch.« »Nee, Hände weg, das versaut mir das Geschäft. Mein Schlager, sei lieb, Süßer, ich mache Auktion im Lokal, keine Tellersammlung: Wers dazu hat, kann mich küssen. Wahnsinnig, was. Im offnen Lokal. Keiner unter fuffzich Pfennig. Krieg ich, du, was nicht. Hier auf die Schulter. Da, kannst auch mal.« Sie setzt sich einen Herrenzylinder auf, kräht ihm ins Gesicht, wackelt die Hüften, die Arme eingestemmt: »Theodor, was hast du bloß dabei gedacht, als du gestern nacht mich hast angelacht? Theodor, was hast du bloß damit bezweckt, als du mich einludst zu Eisbein mit Sekt?«
Wie sie ihm auf dem Schoße sitzt, steckt sie sich eine Zigarette in den Schnabel, die sie ihm flott aus der Weste zieht, blickt ihm treu in die Augen, reibt zärtlich die Ohrmuscheln an seine, flötet: »Weißt du, was das heißt, Heimweh? Wie das Herz zerreißt Heimweh? Alles rings umher ist so kalt und leer.« Sie trällert, streckt sich auf das Kanapee. Sie pafft, streichelt ihm die Haare, trällert, lacht.
Der Schweiß auf seiner Stirn! Die Angst, wieder! Und plötzlich rutscht ihm der Kopf weg. Bumm, Glockenzeichen, Aufstehn, 5 Uhr 30, 6 Uhr Aufschluß, bumm bumm, rasch noch die Jacke bürsten, wenn der Alte revidiert, heute kommt er nicht. Ich wer bald entlassen. Pst du, heut nacht ist eener ausgekniffen, Klose, das Seil hängt noch draußen über die Mauer, sie gehen mit Polizeihunde. Er stöhnt, sein Kopf hebt sich, er sieht das Mädchen, ihr Kinn, ihren Hals. Wie komm ich bloß aus dem Gefängnis raus. Sie entlassen mir nich. Ick bin noch immer nich raus. Sie pafft ihm von der Seite blaue Ringe zu, kichert: »Bist du süß, komm, ich schenk dir ein Mampe ein, dreißig Pfennig.« Da bleibt er liegen, lang, wie er ist: »Was soll mich Mampe? Mir haben sie verplempert. Da hab ich in Tegel gesessen, für was denn. Erst bei de Preußen im Graben und dann in Tegel. Ich bin kein Mensch mehr.« »Nanu. Wirste doch nicht bei mir weinen. Tomm, machs Snäbelchen auf, droßer Mann muß tinken. Bei uns gibts Humor, hier ist man vergnügt, hier wird gelacht, vom Abend bis in die Nacht.« »Und dafür den Dreck. Da hätten sie einem doch gleich den Hals abschneiden können, die Hunde. Hätten mir auch auf den Müllhaufen schmeißen können.« »Tomm, droßer Mann, noch ein Mampe. Sinds die Augen, geh zu Mampe, gieß dir ein auf die Lampe.«
»Daß die Mädchen einem nachgelaufen sind wie die Hammel, und man hat sie nicht mal angespuckt, und dann liegt man platt auf de Neese.« Sie hebt sich noch eine von seinen Zigaretten auf, die von ihm auf den Boden purzeln: »Ja, mußt mal zum Schutzmann gehn und ihm sagen.« »Ich geh schon.« Er sucht seine Hosenträger. Und sagt kein Wort mehr und guckt das Mädchen nicht an, Sabberschnauze, die raucht und lächelt und sieht ihm zu, schiebt noch rasch mit dem Fuß Zigaretten unter das Kanapee. Und er greift seinen Hut und runter die Treppe, mit der 68 zum Alexanderplatz und brütet im Lokal über einem Glas Helles.
Testifortan, geschütztes Warenzeichen Nr. 365695, Sexualtherapeutikum nach Sanitätsrat Dr.Magnus Hirschfeld und Dr.Bernhard Schapiro, Institut für Sexualwissenschaft, Berlin. Die Hauptursachen der Impotenz sind: A. ungenügende Ladung durch Funktionsstörung der innersekretorischen Drüsen; B. zu großer Widerstand durch überstarke psychische Hemmungen, Erschöpfung des Erektionszentrums. Wann der Impotente die Versuche wieder aufnehmen soll, kann nur individuell aus dem Verlauf des Falls bestimmt werden. Eine Pause ist oft wertvoll.
Und frißt sich satt und schläft sich aus, und am nächsten Tag auf der Straße denkt er: die möcht ich haben, und die möcht ich haben, aber geht an keine ran. Und die im Schaufenster, son draller Proppen, der könnte uns passen, aber ich geh an keine ran. Und hockt wieder in der Kneipe und sieht keiner ins Gesicht und frißt sich wieder satt und säuft. Jetzt werde ich die ganzen Tage nichts tun als fressen und saufen und schlafen, und das Leben ist aus für mich. Aus, aus.
Und wie Mittwoch ist, der dritte Tag, zieht er sich den Rock an. Wer schuld an allem ist? Immer Ida. Wer sonst. Dem Biest hab ich die Rippen zerschlagen damals, darum hab ich ins Loch gemußt. Jetzt hat sie, wat sie wollte, das Biest ist tot, jetzt steh ich da. Und heult für sich und rennt in der Kälte die Straßen lang. Wohin? Wo sie gewohnt hat mit ihm, bei ihrer Schwester. Durch die Invalidenstraße, in die Ackerstraße, wie nichts ins Haus rin, zweiter Hof. Kein Gefängnis gewesen, kein Gespräch mit den Juden in der Dragonerstraße. Wo ist das Luder, die ist dran schuld. Nichts gesehn auf der Straße, aber hingefunden. Ein bißchen Gesichtszucken, ein bißchen Fingerzucken, da gehen wir hin, rummer di bummer di kieker di nell, rummer di bummer di kieker di nell, rummer di bummer.
Klingling. »Wer ist da?« »Ich.« »Wer?« »Mach auf, Mensch.«