Schriften zu Leben und Werk - Alfred Döblin - E-Book

Schriften zu Leben und Werk E-Book

Alfred Döblin

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Beschreibung

Die wichtigsten autobiographischen Schriften in einem Band »Eine wirkliche Autobiographie ist nicht möglich. Man kann Vorgänge und Ereignisse seines eigenen Lebens berichten und auch Betrachtungen daran anschließen, aber tiefer geht es nicht. Wie soll man es auch machen, wie soll man an sich herankommen?« Alfred Döblin war stets skeptisch und zurückhaltend, wenn es darum ging, das eigene Leben zu betrachten oder gar zu erzählen. Dennoch sind im Lauf seines Lebens zahlreiche Texte entstanden, in denen er auf beeindruckende Weise an sich heranzukommen versucht. Der vorliegende Band versammelt die wichtigsten Selbstzeugnisse und autobiographischen Schriften Döblins und bietet einzigartige Einblicke in sein vielgestaltiges, bewegtes Leben und Werk. Mit einem Nachwort von Wilfried F. Schoeller

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Seitenzahl: 810

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Alfred Döblin

Schriften zu Leben und Werk

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort von Wilfried F. Schoeller

Inhalt

[Biographische Bemerkungen]Doktor DöblinGeist und GeldDer Epiker, sein Stoff und die KritikAutobiographische SkizzeBerlin und die KünstlerErlebnis zweier KräfteEindrücke eines Autors bei seiner PremiereBemerkungen zu ›Berge Meere und Giganten‹Deutsche Zustände – jüdische AntwortWas waren Sie für ein Schüler?Ferien in FrankreichGleiswechsel im HirnkastenDas PseudonymÖkonomisches aus der LiteraturPhantasie oder Vorbild?Stille Bewohner des RollschranksVon einem Zahnarzt und seinem OpferBriefe, die mich nicht erreichenArzt und DichterEine kassenärztliche Sprechstunde[Lebenslauf für die Preußische Akademie der Künste]Aberglaube und BerufZwei Seelen in einer BrustKunstwerk und NaturwerkErster RückblickI Dialog in der MünzstraßeII Ankunft in BerlinIII Man bereite sich auf eine baldige Katastrophe vorIV Die Geschichte wird noch einmal erzähltV Zum dritten Mal!VI Übrigens hatte er eine SchwesterVII Ehre, dem Ehre gebührtVIII Vom Schicksal der entwurzelten FamilieIX Lebensabschluß meiner MutterX Vermittlung der Bekanntschaft mit einem FamilienmitgliedXI GespenstersonateXII Es wird Wasser in die Lauge gegossenXIII Das Leben Jacks, des BauchaufschlitzersErgänzungen zu ›Erster Rückblick‹Zur Physiologie des dichterischen Schaffens[Fragebogen:][Antworten Alfred Döblins:]ZukunftspläneWas war uns die Schule?Alfred Döblin erzählt sein LebenEntstehung und Sinn meines Buches ›Wallenstein‹Mit dem Blick zur Latinität[Fragen an Alfred Döblin][Mein Standort]Mein Lebensgesetz[Ursprüngliche Brief-Fassung][Überarbeitete Fassung]Reines Vergnügen am TheaterGespräche über Gespräche[Rückkehr zur Natur]»Ich bin nicht im Stande, ›Stellung‹ zur Religion zu nehmen.«Nachwort [zu ›Giganten‹]Mein Buch »Berlin Alexanderplatz«Altes BerlinMein erster Erfolg – mein erster MißerfolgErfolg[Notizen zu Vorträgen über sein Werk aus der Zeit des Pariser Exils][Über das Werk vor 1933][Zum Buch »Pardon wird nicht gegeben«][Notizen zu »Pardon wird nicht gegeben«]Der 27. September 1935Der Anfang eines TagesAlfred DöblinPersönliches und UnpersönlichesSelbstporträtEindrücke von New York[Tagebuch Mai 1940][Tagebuch 1945–1946]Abschied und WiederkehrAls ich Abschied nahm …Als ich wiederkam …[Zu ›November 1918‹]Alfred Döblin schreibt dem ›Ulenspiegel‹Berlin Alexanderplatz – heuteWiedersehen mit BerlinEpilog[Manuskriptfassung][Endfassung]Und ich habe die siebzig überschrittenDichten heißt, Gerichtstag über sich selbst haltenWarum schreiben Sie? Für wen schreiben Sie?[Bemerkungen über mein Leben und mein literarisches Werk]Journal 1952/53EingangEin regnerischer Septembertag20. SeptemberMeine TotenRückblickUm Weihnachten 1952Januar 1953Ich kannte die DeutschenEine kleine Bilanz»Das Goldene Tor«AschermittwochWas ich selber schriebEine Akademie21. AprilVon der VergänglichkeitDas Glockenlied von NietzscheUnter den Klängen des Triumphmarsches aus AidaMittwoch, den 29. April 53Paris, Mai 53.Die Welt hat GeschichteDie Verschränkung der WeltenVom UrsprungDer AblaufAusgeschiedene Aufzeichnungen zum ›Journal 1952/53‹Trauer über TrauerII Trauer über TrauerNachwort [zur DDR-Ausgabe von ›Berlin Alexanderplatz‹]Von Leben und Tod, die es beide nicht gibt.Zu Hamlet 7.9.1955AnhangEditorische NotizEinzelnachweise:Daten zu Leben und WerkNachwort»Confabulationen«Doktor DöblinReise in PolenErster RückblickFrankreichExilSchicksalsreiseWiedersehen mit BerlinEpilog – Journal 1952/53Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein EndeLiteraturhinweise1. Texte von Alfred Döblin2. Texte über Alfred DöblinAlfred Döblin Gesammelte Werke Herausgegeben von Christina Althen

[Biographische Bemerkungen]

Geboren 10. August 1878 zu Stettin als Sohn eines Kaufmanns, bis 1888 in Stettin auf der Vorschule des Realgymnasiums und in Privatunterricht, von da ab in Berlin, das Köllnische Gymnasium bis zum Abiturium 1901 absolvierend. 1901–1905 Studium, wesentlich Medizin, auch Philosophie, in Berlin; die letzte Zeit in Freiburg i.B.; dort Approbation als Arzt und medizinisches Doktorexamen. Drei Jahre rein irrenärztliche Tätigkeit an der Kreisirrenanstalt Regensburg; Buch bei Berlin; Privatirrenanstalt bei Berlin. Darauf Übergang zur inneren Medizin mit Assistenten- und Ausbildungszeit in Berlin. 1911 niedergelassen als Spezialarzt in Berlin, 1912 verheiratet. Mit Ende 1914 als landsturmpflichtiger Arzt zum Heeresdienst eingezogen.

Hand in Hand mit medizinisch-klinischer und wissenschaftlicher Arbeit und philosophischer Beschäftigung literarische Tätigkeit lebhafter 1901 einsetzend, jahrelang hinter der konkurrierenden andern zurücktretend, erst in den letzten Jahren im Vordergrund der Tätigkeit. Nach einem nicht publizierten lyrischen Roman (»Die jagenden Rosse« 1901), 1902/03 ein zweiter streng stilisierter Roman (»Der schwarze Vorhang«), der später im »Sturm« abgedruckt wurde. 1906 der Einakter »Lydia und Mäxchen« bei Joh. Singer Straßburg, Elsaß. 1907 ein musikphilosophisches Buch: »Gespräche mit Kalypso über die Musik«, teilweise im »Sturm« publiziert. 1908 ein nicht publizierter Einakter »Komteß Mizzi«. Eine Anzahl Essays, Bemerkungen, Kritiken in den Zeitschriften Her[warth] Waldens, bes[onders] »Der Sturm«, dort auch erster Abdruck einiger der bis 1903 zurückreichenden Novellen, die 1912 bei Georg Müller München (»Ermordung einer Butterblume«) herauskamen. 1916 »Die drei Sprünge des Wang-lun«, chinesischer Roman, bei S. Fischer Berlin. 1917 »Die Lobensteiner reisen nach Böhmen« zwölf Geschichten und Novellen bei Georg Müller München. Neuere Essays und Novellen in der »Neuen Rundschau« S. Fischer Berlin.

Doktor Döblin

Selbstbiographie

Es sind nicht leichte Erschütterungen und Erregungen, unter denen ich diese Lebensbeschreibung beginne, die mich treiben, sie anzufangen. Es ist ein unnatürliches körperliches Feuer, eine Hitze, der ich mit der Selbstbetrachtung, der Rückschau begegnen will. Mir hilft nicht Brom, ich kann nicht schlafen, mein Appetit ist wie erloschen. Ich muß nachdenken, das Drängen in meiner Brust besänftigen, die rastlose Unruhe, die mich über die Straßen und Plätze treibt und wieder auf mein Zimmer zurück, hinlegen, hinschweigen. Ich gehe und sehe kaum einen Menschen, ich verlaufe mich, da ich nicht nach dem Straßenschild blicke; gequält bin ich sehr, verfolgt. Und ich hoffe, verfolgt von mir selbst.

Ich nähere mich jetzt den Vierzig. Viele graue Haare habe ich an den Schläfen, vieles, was mich früher sehr gelockt hat, ist mir jetzt nichts. Ich gehe über die Straßen, sehe stolze Wagen fahren – und ich bin neidisch; ich möchte auch meine Ruhe haben, die Sorge los sein, die sich mir immer nähert. Schöne Mädchen, stolze Fräulein mit lächelnden Herren: es ist mir nichts, das geht mich nichts an, das ist laues ödes Wasser; ich bin zu sehr gebrannt und geglüht worden; wie soll mein Organismus nicht so vernünftig sein und noch irgendein Gefühl dafür hergeben, noch irgendeine Kraft daran vergeuden. Ich verstecke mich nicht vor diesen Weibern; etwas wie Mitleid gegen sie habe ich und ein ganz fernes, kaum gezeichnetes schmerzliches Erinnern, eine blasse Traurigkeit, die ich belächeln kann. Ja, das ist ein Fortschritt: sie schreien mir nicht mehr zu: du bist allein, einsam, durchaus und völlig verlassen, – so daß mir die Kehle zugeschnürt war, ich auf mein Zimmer kroch, mich verkroch, die Fenster zuschloß, um nicht Tritte zu hören, nicht [L]achen, nicht Lautenklimpern, nicht die heimkehrenden Spaziergänger. Mir wurden solche entsetzlichen Abende und Halbnächte in Freiburg gut in die Erinnerung geätzt, wo ich tagelang, tagelang keine Silbe sprach, öfter vor mich [hin] summte und sang, bloß um wieder meine Stimme zu hören, die mir tröstlich wie die eines Fremden klang; ich sprach auf der Straße Kinder an, meine Stimme war mein einziger Freund. Ich suchte nicht diese Einsamkeit, ich habe sie so nie gesucht; ich lief frei herum, blieb in Einzelhaft! Was nützten mir die Berge, das blitzend schöne Wetter, die Berge und Wälder und Seen? Ich habe jahrelang und noch jetzt einen Haß auf sie gehabt, einen Widerwillen; sie bereiteten mir Pein; es ist, als ob ich allein in ein großes Vergnügungslokal trete und niemand spielt, alle Tische leer: wer soll sich da freuen. Bitterkeit: das ist der richtige Ausdruck; so empfinde ich oft genug jetzt noch Wälder. Wenn ich nicht schwermütig verliebt in sie bin, reif, weich, zärtlich, sohnsmäßig ergeben mich auf eine Wurzel setze, zu den Blättern aufblicke und mich in einem Grabe dünke, – in einem schönen weltfremden Raum. Die Tierchen um mich herum, die Käfer: alles stumm, sargmäßig, und doch mich rufend, daß ich mich lang hinstrecke, ausstrecke.

Ich lüge in diesen Zeilen nicht, ich will mir ja helfen. Noch freilich bin ich nicht ruhig, noch gar nicht.

Gibt es einen Vater, zu dem man aufblicken kann? So schön einhüllend müßte das sein. Es ist schlimm für jemand wie mich, daß er viele Stunden über, Tage, ja Monate gehetzt ist und niemand ihn aufnimmt. Ein Gott – es ist ein schöner Gedanke; er ist stolz und menschenkennerisch, der Gedanke, – er sagt: nicht an einen Menschen kann ich mich wenden, mir hilft nur Gott; das Mißtrauen gegen die Menschen hat uns diesen Gott eingegeben. Sonderbar ist, daß mich oft der Trieb befällt, eine Selbstbiographie zu schreiben. Ich wehre mich dagegen: ich sei noch jung genug, ich habe mehr zu tun als rückzublicken; aber meine frühere tiefinnerliche Überzeugung: »ich habe noch Zeit« ist sehr verblaßt. Manchmal kommt es mir vor, als ob ich diese russische Weite in dem Gefühl meines Lebens nicht mehr habe; die Kraft ist mir irgendwie geknickt, alle meine alten, sehr stolzen, kalten Gefühle kann ich nur noch denken: die Sicherheit ist weg; ich habe das Gefühl: so weit ist das Leben nicht, so viel Zeit habe ich nicht; nicht mehr. Manchmal sitzt es mir sogar im Nacken: ich soll noch etwas literarisch arbeiten, es hetzt mich, ich solle nicht faul sein. Und dabei war früher mein köstlichstes Gefühl: »Ich kann faul sein, ich kann flanieren.« Dies und daneben die tiefinnere Sicherheit, rocher de bronce: »Mir kann nichts passieren. Das Schlimmste ist sterben, eine größere Variation bietet das Leben nicht, und was tut mir das Sterben? Es ist mein Schicksal, ich bleibe, verbleibe darin, mein Bett ist größer geworden, ich kann mich besser strecken.« Darum fühl ich mich auch in manchen Stunden dem Wald so nahe, den Tieren so freundlich, wahrhaft brüderlich, auch der Luft, dem Donner, dem Eisen, Stein: so bewußtlos stumm und sicher inwendig bin ich wie sie; ich donnere und es ist vorbei, es war eine unzeitliche Regung trotzdem; so unberührbar stolz ist all dieses Tote, Bewußtlose, und doch Seiende. Der Tod hat für mich keinen Stachel, wir kennen uns, innerlich sitzt er in mir, er ist meines Wesens Kern: So war es früher, so fühlte ich. Und etwas auch jetzt. Aber die Angst des Daseins überwältigt mich oft, sie erstickt mich, ich vergesse mich, bin eine arme, umgetriebene Kreatur, dem der Tod nur der Erlöser, Retter heißt, dem er sich als Flüchtling naht – nicht mehr um als Zechgenosse mit ihm die Beine unter einen Tisch zu strecken. So verwandelt, zermürbt, aufgerührt bin ich jetzt. Und fast von Jahr zu Jahr mehr. Wie schmählich werde ich noch hinsterben. Wie meiner unwürdig wird da vieles sein.

Es hilft mir nicht, daß ich schreibe und schreibe. Es beruhigt mich nicht. Es wird wieder Geschriebenes. Es soll nicht geredet werden von mir, sondern von Doktor Döblin.

Dieser ziemlich kleine bewegliche Mann von deutlich jüdischem Gesichtsschnitt mit langem Hinterkopf, die grauen Augen hinter einem sehr scharfen goldenen Kneifer, der Unterkiefer auffällig zurückweichend, beim Lächeln die vorstehenden Oberzähne entblößend, ein schmales langes, meist mageres, farbloses Gesicht, scharflinig, auf einem schmächtigen, unruhigen Körper, – dieser Mensch hat kein bewegtes äußeres Leben geführt, dessen Beschreibung abenteuerliche oder originelle Situationen aufzeigen könnte. Hat nur in zwei Städten, Stettin und Berlin gelebt, eigentlich nur in Berlin, nämlich von seinem zehnten Jahr ab, vorübergehend ein halbes Jahr als Knabe in Hamburg, hat in Freiburg seine beiden letzten Studiensemester abgemacht in seinem sechsundzwanzigsten Jahr, war dann als Medizindoktor etwa ein Jahr an einer Irrenanstalt bei Regensburg, weitere zwei Jahre an der Irrenanstalt Buch bei Berlin, dann immer noch Assistenzarzt trotz seinen nunmehrigen dreißig Jahren in Berlin an einem Krankenhaus. Nach drei Jahren verheiratet, Innerer Arzt in Berlin. Kaum daß er einmal einen Ausflug nach Basel machte auf seiner Rückkehr als junger Doktor von Freiburg, daß er zur Weltausstellung ein zwei Wochen Brüssel Antwerpen Ostende sah; auch ein paar Tage München passierte. Er war Berliner mit blasser Ahnung von anderen Orten und Gegenden.

Stettin, eine trübe verkommende Provinzstadt nach seiner Erinnerung, mit einem grellen Jahrmarkt auf dem Paradeplatz, Spielplätzen auf den Treppenabsätzen eines tief herabsteigenden Rathauses, hatte er als zehnjähriger Junge mit seiner Familie unter schlimmen Umständen verlassen: Sein Vater hatte das vermocht. Der war ein – ja sage ich: besserer Schneidermeister oder Konfektionsfabrikant; er hielt sich jedenfalls eine Anzahl Schneider und Zuschneider, auch Schneiderinnen, Näherinnen; diese hatten in oder bei der Wohnung einen oder mehrere Arbeitsräume: lange Zuschneidetische, auf denen Tuche mit ungeheuren Scheren zerschnitten wurden; dann waren riesige Regale da mit Tuchballen. Gearbeitet wurde im Auftrage einiger fremder Firmen; er entsinnt sich häufig den Namen einer solchen angeblich großen Hamburger Firma mit Respekt, mit tiefem Respekt aussprechen gehört zu haben. In der Wilhelmstraße, dann in der Friedrichstraße Ecke Unter den Linden – aber in Stettin, – wohnte seine Familie; man sah auf die baumbestandene Allee; einmal zog hier, wie er sich entsinnt, der alte Kaiser Wilhelm nach dem Paradeplatz zu; Fürst Bismarck war dabei, der hatte einen runzligen gelben kleinen Kopf unter einem ungeheuren blanken Kürassierhelm; dieser Zug verwunderte ihn mehr, als er ihm imponierte, besonders der viel gepriesene Bismarck enttäuschte ihn. Der alte Kaiser starb; das wurde ihm in der Schule, dem Friedrich-Wilhelm-Realgymnasium gesagt, wo er Sextaner war und schlecht, sehr schlecht Latein und Rechnen kapierte. Nach der Todesnachricht ging er mit dem Taschentuch [in] der Hand nach Hause; er schien sich dann und wann eine Träne zu trocknen; er glaubte, das gehöre sich so, – er war aber gar nicht traurig, sondern nur unklar, wie er sich nach den wehmütigen großartigen Redewendungen des Klassenlehrers benehmen sollte. Nicht viel später wehten zum zweiten Male die Fahnen halbmast beim Tode des Sohnes jenes Kaisers; er sah sich aus dem Eckfenster oft diese Fahnen an; er konnte mit dem Ereignis nichts anfangen und ging viel auf die Straße, um zu sehen, was die anderen, die Erwachsenen machten.

In dem Hause seiner Eltern wohnte zuletzt die alte Mutter seines Vaters; sie hatte ein langes schmales Zimmer. Da fand man sie eines Morgens tot im Bett. Bei der Beerdigung lief er, als nicht offizieller Teilnehmer, nebenher ein Stückchen mit; da fand er vor einem Hause einen Auflauf, ließ den Leichenwagen fahren, fragte, was es da im Flure gäbe; ein Mann sagte: »Da hat ein Mann ein Kind bekommen.« Worüber der Junge nachdachte. Das unbegriffene von ihm nicht als Spott erkannte Wort ist ihm noch heute ins Gedächtnis eingeprägt.

Er war ein sanfter, sehr besonderer, auch stark vom Vater gehätschelter Junge. Wegen seines großen Schädels hatte er den Beinamen »Dickkopf« bei seinen Geschwistern, – sie waren vier Brüder und eine Schwester; er war das vorjüngste Kind. Leidlich lernte er in der Vorschule, schwer wurde ihm schon die Sexta; er saß weit hinten: Aber zu Hause las und las er, schmökerte, was ihm in die Hände fiel. Während die Geschwister auf der Straße, am Rathaus, mit Peitsche und Kreisel spielten, las er. Seine Augen waren schon damals kurzsichtig; die schlechte Anlage dazu hatte ihm der Vater vererbt. Eine Brille, die der Augenarzt anordnete, lehnte aber der Vater ab; er mußte schon damals bei manchen Fächern ganz vorn vor der Tafel sitzen. Er hatte blonde, hellblonde Haare, die bis auf die Schultern fielen; damals galt er als hübsches Kind. Er lief viel allein auf den Straßen herum; einmal lief er auf den Jahrmarkt; da war an einer Bude eine Moritat angemalt, grell bemalte Leinwand, entsetzliche Totschlagsszene; der Junge lief ganz verwirrt nach Hause, das Bild konnte er nicht loswerden, es ängstigte ihn viel; lange Jahre später noch verließ ihn nicht der schreckliche Eindruck, dessen Pein er sich zu entziehen suchte.

Dunkel präludierten geschlechtliche Dinge, zwischen dem neunten und zehnten Jahre. Er bemerkte öfter mit Erstaunen den wechselnden Füllungszustand seiner Geschlechtsorgane, aus dem Bad aussteigend sagte er einmal einem seiner anwesenden Brüder, wie lästig das doch eigentlich sei; er schämte sich weder des Vorgangs noch daß einer ihn in dieser Verfassung sah; er wußte nicht, was das war; es war nicht mehr als eine ärgerliche Sache. Ein andermal aber lag er mit mehreren andern Kindern, – sie waren erst zwischen acht und neun Jahren, – auf einer Kellertreppe; was sie da wollten und warum man ihn dahingezogen hatte, wußte er nicht. Da lag ein etwa gleichaltriges, vielleicht noch jüngeres Mädchen; sie berührten es, – es lag auf dem Gesicht, – an den heimlichen Stellen; er auch, ohne daß er etwas anderes als ein unklares Gefühl von etwas Unanständigem hatte, worüber man nichts sagen darf. Es übte keinerlei Einfluß auf ihn aus, noch lange lange Jahre später hatte er keine Vorstellung von den weiblichen organischen Besonderheiten und ihrer Funktion. Ja, als er das erste Semester Medizin studierte in seinem dreiundzwanzigsten Jahr, wußte er noch nichts Genaues und wunderte sich bei seinem ersten Gang durch die Anatomiesäle in Berlin über die weiblichen Leichen, die offenbar einen Schnitt in der Mitte unterhalb des Schambogens hatten; er wollte immer einen der Arbeitskameraden danach interpellieren, tat es nicht aus Schamgefühl, – er hätte sich unsterblich blamiert. Denn es hieß so tun, als wäre man mit allen Wassern gewaschen, – damals und schon viel viel früher; es hieß so tun.

Öfter ging er in die Synagoge, wo sein Vater mitsang im Chor. Der Vater war sehr musikalisch, spielte Geige und Klavier, beides mäßig, lehrte die ältesten Kinder die Anfangsgründe. Er hatte eine lockere Hand und schlug nicht selten. Der Vater zeichnete auch kleine Bilder, die er austuschte.

Am besten konnte aber der vielseitig begabte flatterhafte energielose Mann etwas anderes. Seine Frau hatte vielen Grund auf ihn eifersüchtig zu sein. Zule[t]zt tat es ihm eine seiner Schneidermamsells an; es ging zu Hause die Rede davon, daß er mit dieser jungen, recht hübschen Person sich in Gärten treffe. Der Vater war auch sonst wenig zu Hause, von einem Familienleben war kaum die Rede; jetzt blieb er viele Abende auch weg. Einmal erwischte ihn die Mutter in irgendeiner Stettiner Gartenöffentlichkeit, zerbrach ihr unter Geschrei den Sonnenschirm. Später schlug der Vater seine Frau im Korridor, ich glaube mit einer Elle, nach einer Szene. Eines Tages erklärte der Vater eine Reise nach Mainz vorzuhaben, verabschiedete sich in jeglicher Ruhe, der Junge half ihm noch beim Anziehen der rechtzeitig von der Reparatur gebrachten Zugstiefel. Eines frühen Morgens aber kam die Mutter mit vielem Geschrei und Weinen in die Stuben, wo wir schliefen; ein Telegramm oder ein Brief des Vaters war gekommen: er schrieb aus Hamburg, er ginge nach Amerika, »goldene Berge will ich Euch bieten«.

Damit war die Familie zerstört. Es war vorher da eine sich gut entwickelnde Wohlhabenheit. Momentan mußte alles liquidiert werden; zur Aufnahme der Warenbestände kamen Vertreter aus Hamburg. Der Junge ging mit seiner Mutter später einmal durch die Linden, er guckt nach allen Seiten, ob man ihn nicht ansieht, er schämt sich des stadtbekannten Eklats, daß sein Vater mit einer Schneidermamsell nach Amerika durchgebrannt [ist]. Sofort wurde er aus der Schule genommen, kam in traurige Privatstunde. Die Frau hieß Sauter, sie wohnte irgendwo hoch, es war sehr hell bei ihr, meist unterrichtete sie Mädchen. Man saß da vormittag an einem Tisch, sie ließ schreiben, schreiben, schreiben; man meldete: »Frau Sauter, zwei Seiten!« Dann schrieb sie auf die erste Zeile des neuen Blattes einen frischen Satz, – den hatte man sorgfältig wieder an zwanzigmal nachzuziehen. Also Erziehung zur Kalligraphie. Die Mädchen lernten auch französische Gedichte: »France adorée, douce contrée!«

Das jammervolle Intermezzo dauerte nicht lange. Meine zuerst ganz kopflose Mutter wurde von ihren wohlhabenden Brüdern nach Berlin gezogen. Eine endlos lange Eisenbahnfahrt dritter Klasse. Schließlich dicht vor Berlin konnte der Junge ein natürliches kleines Bedürfnis kaum mehr bewältigen, wagte es aber nicht zu melden; denn die Mutter unterhielt sich über die Berliner Verhältnisse mit Reisegefährten. Als der Schlesische Bahnhof kam, drängte sich der Junge fassungslos an die Tür, und ein dünner, lang fließender Bach bezeichnete seine Tätigkeit und seine Erlösung; schleunigst wie ein Dieb stieg er an Jannowitzbrücke mit aus. Unterwegs erfuhr er, daß sie Blumenstraße wohnen würden; ein Herr sagte, das sei mitten in der Stadt; da sei viel Qualm.

Die Wohnung war klein. Man war in recht ärmliche Verhältnisse geraten. Der Vater schickte nichts, die Mutter besaß kaum etwas, ihre Brüder hielten alles über Wasser; der älteste Sohn, eben Tertianer in Stettin, mußte als Lehrling ins Geschäft zu dem großen N. Israel in der Spandauer Straße. Es hieß, daß das etwas Kolossales sei, man sprach von dem kleinen alten Chef wie von einem König, die kleinen Geschäftsdetails waren das Gesprächsthema. Sie wohnten eng aufeinandergepackt in wenigen Zimmerchen zur ebenen Erde; am Morgen des ersten Tages sah der Junge als erstes Zeichen der Großstadt Berlin einen Aushängekasten schräg rechts gegenüber am Haus von dem Schreiblehrer Rackow. Vor dieser Tafel stand er oft, er bewunderte die fabelhaft gezirkelten sicheren Figuren, er hielt es nicht für möglich, daß man so schreiben könne; aber er war in Berlin. Man gab ihn in eine Gemeindeschule in der Nähe. Die Schule befand sich in einem Hinterhaus. Er kam in die dritte Klasse. Er hatte nicht den geringsten Eindruck, degradiert zu werden, erst allmählich im Lauf der Jahre wurde ihm eingeprägt, besonders durch den Umgang mit den reichen unterstützenden und nicht unterstützenden Onkels, daß er einer armen Familie angehöre. In dieser Schule reüssierte er. Er bekam sogar einmal eine Prämie, einen Atlas; da in diesem Atlas vorn ein Zettel eingeklebt war, daß das Buch aus der und der »Buchhandlung und Antiquariat« stamme, war er besonders stolz, denn er wußte nicht, was ein Antiquariat sei. Und seiner Tante bemerkte er, daß er ein antiquarisches Buch erhalten habe, – und wußte sich dann, belehrt, nicht genug zu schämen und wußte nicht, wie sich herausdrehen.

In dieser Schule gab es einen Turnlehrer, dessen Leidenschaft Dauerlauf war. Man turnte wenig, marschierte selten, er übte Dauerlauf. Fünf Minuten, zehn Minuten, zwanzig Minuten; immer mehr fielen ab, machten schlapp. Der Stettiner hielt meist gut mit; ihn hielt der Ehrgeiz.

Dann kam ein schönes halbes Jahr: da war der Vater in Amerika gar nicht gut vorangekommen, nichts war ihm geglückt, alles war so teuer dazu im Dollarland, – das Ganze war nur ein verlängerter Ausflug mit Begleitung gewesen. Die Mutter ließ sich bewegen, die Armut drängte ja auch die Frau, die sich von früh bis spät plackte, koch[te], wusch, ein Zimmer vermietete, den Herrn bediente für seine paar Pfennig, man zog nach Hamburg im Frühjahr. Da hatte der Vater eine Stellung gefunden in dem Geschäft, mit dem er schon früher gearbeitet hatte. Man wohnte viel schöner als in Berlin, im dritten Stock, ein Feld resp[ektive] ein umzäunter rasiger Exerzierplatz lag viereckig weit vor ihnen, drüben stand die Kaserne. Er kam in eine Volksschule. Schwer konnte er sich unter den neuen Schulverhältnissen einleben. Als es hieß, daß er und sein neben ihm sitzender Bruder Juden seien, mußten sie ein kleines jüdisches Gebet, das sie konnten, in der Stunde dem Lehrer vorsingen. Ein andermal nahm ihn auch der Lehrer mit, über die Treppen ging man, in einem Zimmer saß eine Lehrerin, da mußte er ein Frühlingslied, das er kannte, dem Fräulein darbieten; er sang frei ohne Scham. Wenig hat er von Hamburg gesehen, bisweilen half er der Mutter die Markt[t]asche vom Altonaer Markt tragen. Die Elbe hat er nie gesehen, ein[-,] zweimal die Alster. Denn man blieb nicht lange im dritten Stock dort vor dem Exerzierplatz. Rasch hatte sich der Ehehimmel wieder verdunkelt. Von anonymen Briefen war zu Haus die Rede. Es stellte sich bald heraus, daß jene infame Schneidermamsell, unseligen Stettiner und Amerikaner Angedenkens, von ihrem Herrn und Meister nach Hamburg placiert war, daß der Vater eine Art Doppelleben führte; er war ein Amphibium, aber bei der Familie saß er auf dem Trockenen. Die Mutter hatte dringenden Verdacht, daß ihr Gemahl sich in Amerika zum zweiten Mal habe trauen lassen; das Wort »Bigamie« fiel oft, aber es waren nur Besprechungen der Mutter mit den ältesten Geschwistern. Man war eine geschlossene Gruppe gegen den Vater, den man sehr wenig sah. Es hieß auch gelegentlich, der Vater und jene Mamsell hätten ein Kind; das waren solche ängstliche verwirrenden Behauptungen, die aus den anonymen Briefen stiegen.

Und als dann die Anwesenheit der jungen Dame in der Nähe durch Beobachtung erwiesen war, zog die Familie – wieder nach Berlin. Es war ein schöner Sommerausflug gewesen. Dem Jungen, dem späteren Doktor Döblin, mehrfachen Autor von Kindern, Büchern und planlosen Handlungen, gelang es nur eine und die andre Erinnerung aus dem Ort zu retten. Man sah ihn in der Schule als etwas Feineres, Vornehmes an, begleitete ihn nach Hause, drängte sich ihm auf; er war noch immer merkwürdig sanft und hörte gern zu. In dem großen Abortraum und vor Gartenzäunen bewunderten sie auch gelegentlich sein dort tätiges wasserspeiendes Organ und fanden die Weiße auffallend, was sie ihm später bei Invektiven nicht vergaßen. Einmal sollte er etwas einkaufen, hatte das Eingekaufte in die Tasche gesteckt, wollte vor dem Exerzierplatz einen Stein mit der Linken über den Zaun werfen; siehe: da verwechselte er die Begriffe, warf mit der Rechten –, in der er das Restgeld im Papier trug! Das war ein Jammer. Er kletterte über den Zaun; es dauerte lange, bis er alles beisammen hatte. Einmal kam er auch blutüberströmt nach Hause: man schoß gemeinsam mit Bogen aus Korsettstangen, ein Pfeil traf ihn; gegen den Jungen resp[ektive] seinen Vater erstattete der Vater Anzeige, ein Kriminalkommissar beguckte sich die Narbe, die Sache las er mit Stolz in der Zeitung. Er hatte nicht geschrien aus Schmerz, sondern weil es ihm schien, daß sich das so gehöre bei fließendem Blut, und weil er so Aufsehen erregte und den andern Jungen ärgerte.

Geist und Geld

Ich lebe weder jetzt von meiner »produktiven« literarischen Arbeit, noch habe ich früher davon gelebt. Man konnte nämlich schon im Jahr 1910 nicht von einem Jahreseinkommen von 2000 Mark leben, und die großartigen 3000 Mark, die ich eine lange Anzahl Jahre später einzog, waren in Butter umgerechnet noch nicht 100 Pfund, oder gerade ein Anzug. Ich bin Arzt und habe eine große Abneigung gegen Literatur. Viele Jahre habe ich keine Zeile geschrieben. Wenn mich der »Drang« befiel, hatte ich Zettel bei mir und einen Bleistift, kritzelte im Hochbahnwagen, nachts auf der Rettungswache oder abends zu Hause. Alles Gute wächst nebenbei. Ich hatte weder eine Rente noch einen Mäzen, dagegen, was ebensoviel wert ist, eine erhebliche Gleichgültigkeit gegen meine gelegentlichen Produkte. Und so geht’s mir noch heute gut. Auch jetzt beziehe ich, bei einfacher Existenz, nur einen Bruchteil meines Bedarfs aus »produktiver« Arbeit, – voriges Jahr habe ich mir die erste Sommerreise in den Spreewald gestattet –, aber das Bruchteil macht mir Spaß, auch darum, weil es mir Gelegenheit gibt, mich kämpfend mit den Verlagsunternehmern herumzuschlagen. (Bekanntlich bedroht jeder Anspruch des Autors die Existenzbasis der Verleger und der Autor hat doch schließlich nur eine vom Verlag konzedierte Existenzbasis.) Ich tue meine Facharbeit, bin aktiv in allen möglichen Organisationen, ärgere mich, tanze (ziemlich schlecht, aber dennoch), mache Musik, beruhige einige Leute, andere rege ich auf, schreibe bald Rezepte, bald Romankapitel und Essays, lese die Reden Buddhas, sehe mir gern Bilder in der »Woche« an, das alles ist meine »Produktion«. Wenn mir eins davon oder das andere Geld bringt: herzlich willkommen. Im übrigen bin ich ein Mensch und kein Schuster.

Der Epiker, sein Stoff und die Kritik

Man liege Monate, Jahre über einem Werk, konzentriere, seine Zeit miterlebend, über einigen hundert Seiten seine Seele, Phantasie, Denkkraft, Erfahrung, gebe zuletzt sein Werk von sich: man erwarte in Deutschland keinen Widerhall! Wenn es hoch kommt, wird man – Kritiken empfangen.

Früher – sehr lange her – saßen und standen die Epiker vor ihren Zuhörern: sie sprachen, sie wirkten, sie waren lebendig. Auf Stoß erfolgte Widerstoß, man wußte, man war da: man sah, hörte, fühlte die, für die man da war. Die Städte haben alles zerstört. Jeder sitzt vor seinem Papier und malt drauf los; er kann sich an dem Kratzen der Feder laben. Die Menschenmassen sind ohne Zusammenhalt, sie berühren sich nur; es ist eine bloße Äußerlichkeit, daß sie eine gemeinsame Sprache reden. Zu ungeheuren Verbänden haben sich die Völker ausgewachsen, Verbände, in denen neben anderen Krankheiten die Industrie wütet, der entfesselte durch nichts dirigierte und alles, alles absorbierende Erfindergeist, der die ineinander gefugten europäischen Nationen zu dem Ideal der Sprungfedermatratze und der Zahnpaste geführt hat. In den riesigen Menschenverbänden verhallen nicht nur alle Einzelstimmen, auch der kleine Kreis wird von dem großen Strudel verschlungen: so sitzt, wer etwas sagen will, vor dem toten Papier, um sich tote Wände, – und geht er unter Menschen, begegnet er bestenfalls – dem und jenem, der ihn »gelesen« hat, der ihn »schätzt«, eventuell »außerordentlich schätzt«, noch mehr schätzt als den oder den –.

Das Schlimmste aber unter dem Publikum ist das Gros der Kritiker. Sie sind noch nicht einmal Publikum. So wie ein Genußmensch die Geheimnisse der Liebe entwürdigt, entwürdigen sie durch ihre Blicke und Griffe das Werk. Mir ist das, was man Kritik nennt, immer als ein Unfug erschienen. Mir scheint nur die »Kritik« berechtigt, die aus einem liebenden oder kämpfenden Herzen kommt: schlagen, vernichten oder streicheln, verehren; das ist alles. Kunstbetrachtung ist Frivolität. Ist ein Hohn auf das, was der Arbeitende geleistet hat oder leisten wollte. Das Gros der Kritiker kennt aber nicht Liebe oder Haß, sondern nur Profession, und ferner eine Schamlosigkeit: »Kunst«.

*

Und nur daraus kann ich eine Berechtigung der »Kritik« ableiten, daß auch das Gros der Arbeitenden nur Profession kennt. Kellerluft und Spinngewebe gehören zusammen.

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Es ist eine neuerliche Sitte, und kaum mehr Sitte, daß Urteile über Kunstwerke, Besprechungen als quasi Illustration und Exempel für irgendwelche Ansichten und theoretische Postulate irgendwelcher Kritiker nebenbei und anhangsweise vorgebracht werden. Ist das Opus, um das es sich dreht, belangvoll, so entspricht diese Behandlung nicht der Würde eines solchen Werkes, sondern nur der theoretisierenden Einfalt, und die Herausgeber von literaturfördernden und kunstbeschützenden Zeitschriften haben die Pflicht, diesem Brauch der Kritiker zu steuern. Die Autoren müssen sich von den Tageszeitungen schon unerhört viel gefallen lassen. Wichtige und wichtigste Bücher werden entweder totgeschwiegen oder völlig unzulänglich bei einem Allerweltsfrikassee serviert. Hinzu kommt bei zahlreichen sehr großen Zeitungen die unheilvolle Verbindung mit einem Buchverlag, dessen Propaganda einen großen, oft den Hauptteil des gesamten kritischen Raums beansprucht. Bleiben die paar großen und ernsten Zeitschriften. Ich frage die Redakteure und Herausgeber solcher Zeitschriften: was ist wichtiger, fördernder für Literatur und Leben: die Theorie, das Postulat, der ästhetische Einfall eines spekulierenden Kopfes oder das Werk von Männern, die vielleicht jahrelang ihre besten Instinkte und intensivsten Augenblicke an einige hundert Seiten gewandt haben. Sind unsere Opera Gegenstände für ästhetische Spekulationen oder hat nicht die Kritik an unseren Werken zu lernen? Wenn anders unsere Opera Stücke vom gewachsenen Leben sind, an das man nur mit Aufmerksamkeit und strenger Zurückhaltung herangehen darf.

Es ist in den letzten Jahrzehnten ein sonderbarer Zug unter die Kritiker gekommen, wie mir scheint parallel mit einem Darniederliegen gewisser Arten von Kunst: die Herren verlieren oft gänzlich den Sinn für ihren Aufgabenkreis, spielen sich auf oder fühlen sich als Schaffende, kaum als etwas anderes als der über den sie schreiben. Und schreiben auch gar nicht »über« den Künstler, sondern tichten munter auf eigene Faust, und das künstlerische Werk ist ihnen Denkmaterial, Anregungsmaterial wie irgend etwas anderes. Diese neue Art der Schriftstellerei ist, wenn sie gekonnt wird, sehr interessant und rechtfertigt sich selbst. Sie wird aber in der Regel nicht gekonnt, zu schweigen davon, daß die eigentliche Kritik daneben als selbständiges Fach bestehen bleibt und – verwaist! Es soll niemand, der sich in dieser Art produktiv fühlt, behindert werden seine Art spielen zu lassen; aber gegenüber solcher dionysischen Kritik werden die Autoren sich das Recht wahren, die Achsel zu zucken und zu sagen: was geht das mich an.

Mir ist der und jener X, Y etwa als ein feiner Kopf bekannt; mir scheint, er gehört vielleicht in die Gruppe derjenigen, die kritisch in der geschilderten Art gelegentlich produktiv sind. Aber wenn ich jahrelang über einem Opus gelegen habe und die Bände stehen da: was geht mich X, Y an? Und wen geht dann X, Y an?

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Vor einem Buch von mir, einem Roman »Wallenstein«, haben einige gesagt: man lasse doch die alten historischen Kamellen; besonders jetzt, wo ein viel blutigerer Krieg abgelaufen ist und ungeheure Konsequenzen ganz in unserer Nähe gezogen werden, was soll der dreißigjährige Krieg vor drei Jahrhunderten. Als Flaubert seine »Salambo« veröffentlichte, haben die Pariser, die Verehrer der »Madame Bovary« die Nase gerümpft über die tobsüchtige Sammlung von Archäologie. Ich stehe zu dem Wallenstein-»Stoff« anders als Flaubert zu dem der Salambo. Sainte-Beuve hat drei ausführliche Artikel über die »Salambo« verfaßt (drei, drei Artikel, ausführliche; wir sind in Frankreich und nicht in Deutschland der dionysischen Oberflächlichkeit); Flaubert in einer Antikritik verwahrt sich dagegen, unecht in Bezug etwa auf den Tanittempel gewesen zu sein: »Ich bin überzeugt, ihn so, wie er war, rekonstruiert zu haben.« »Aller Wahrscheinlichkeit und meinen Eindrücken nach glaube ich etwas gemacht zu haben, was Karthago ähnlich sieht.« Aber dies sagt er und sagt weiter: »Ich lache über die Archäologie[!] Wenn die Farbe nicht einheitlich ist, wenn die Details dissonieren, wenn die Sitten nicht aus der Religion, wenn die Tatsachen nicht aus den Leidenschaften folgen, angepaßt an die Gebräuche und die Architektur an das Kl[ima], wenn, mit einem Wort, keine Harmonie vorhanden ist, so bin ich im Unrecht. Sonst nicht.« Dies liegt mir mehr und ist mir noch nicht genug.

Als ich einen »chinesischen« Roman schrieb, ging ich einige Male in das Berliner Völkerkundemuseum, las eine Anzahl chinesischer Reisebeschreibungen und Sittenschilderungen: aber wie verkehrt sind schon die Ausdrücke, die ich hier gebrauche: »lesen«: ich habe niemals daran gedacht, mich mit China zu befassen, der Gedanke etwa, nach China zu fahren, ist mir nicht im Traum eingefallen: ich hatte ein seelisches Grunderlebnis oder eine Grundeinstellung, diese ließ ich mit höchster Schonung gewähren und legte ihr vor, unterbreitete ihr, wessen sie zu ihrer Auswirkung bedurfte. Burlesk kam es mir vor, daß einer der ersten ausführlichen Hinweise auf das Buch von einem Sinologen von Fach stammte, der – sogar meine Hauptfigur echt fand. So wenig habe ich mich aufnehmend, beobachtend mit dem wirklichen China befaßt, daß man nach Niederschrift des Buches vergeblich in meinem »Gedächtnis« nach den wichtigsten Daten Chinas, ja nach den Realien meines Romans gesucht hätte: diese Realien – historischen, ethnologischen, geographischen – waren von mir ja gar nicht als Tatsachen angenommen, überhaupt gesehen werden, sondern im Rahmen eines ganzen flutenden psychischen Prozesses, als seine weiteren Vehikel, Beförderungsmittel, Anregungsmittel, – so daß nach Erlöschen des Gesamtablaufs nur eine düstere Erinnerung an die einzelnen Wegsteine verblieb, an denen die Erregung vorbeifloß. So zahlreiche Bücher bin ich in jener Zeit über China durchgegangen, aber man hätte mich schon eine Stunde nach der »Lektüre« vergeblich gefragt, was nun eigentlich in dem Buch stand: ich hatte doch damals mehr zu tun als mich mit chinesischen Porzellanen, mit der Rolle des Lamaismus, mit der Frauenfrage in China zu beschäftigen. Wenn ich mit meinem Buch fertig wäre, nahm ich mir öfter vor, wollte ich mich einmal mit dieser oder jener Sache beschäftigen, die mir ganz interessant schien; habs nachher nicht getan, was ging mich, der nicht einmal Europa kennt, China an, von Lao-tse abgesehen. Mögen sich Psychologen mit dem merkwürdigen Befund befassen –, der in der Literatur nicht neu ist –, daß die so gewonnene Landschaft, Atmosphäre, die Städte- und Menschenbilder oft überraschende Ähnlichkeit mit nachweisbaren Realien, haben – gibt uns die Natur einen Finger, so haben wir sie bei der ganzen Hand –: der Autor hat die Pflicht, sich gegen jedes – lobende oder tadelnde – Konfrontieren mit den Realien zu verwahren. Man kann einen Menschen nicht konstruieren aus den Nahrungsmitteln, die er zu sich nimmt, obwohl die Nahrungsmittel ihn erhalten, ja beeinflussen.

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Man fragt: wen kümmert der dreißigjährige Krieg?

Ganz meine Meinung. Ich habe mich bisher auch nicht um ihn gekümmert. Ich erinnere mich dunkel aus der Schulzeit, vom dreißigjährigen Krieg gehört zu haben, es war einige Zeit nach Luther, Genaueres habe ich nicht behalten; er soll mit dem westfälischen Frieden geendigt haben; eine trostlos öde Sache mit vielen Schlachten, vielen Gegnern: ich wußte niemals, welche Gegner immer an einer Schlacht beteiligt waren. Im Jahre 1916 aber kam mir, als ich in Kissingen war, plötzlich angesichts einer Zeitungsnotiz, – ich glaube die Anzeige eines Gustav-Adolf-Festspiels – das Bild: Gustav Adolf mit zahllosen Schiffen von Schweden über die Ostsee setzend. Es wogte um mich, über das große grasgrüne Wasser kamen Schiffe; durch die Bäume sah ich sie aus Glas fahren, die Luft war Wasser. Dies bezwingende völlig zusammenhanglose Bild verließ mich nicht. Es nötigte mich, trotz meiner Abneigung gegen das Wirrsal dieser Zeit, einige historische Bücher der Periode zu lesen. Nein, wieder nicht zu lesen, und dies ist das Wesentliche, vielmehr festzustellen, was ich eigentlich von ihnen wollte und warum mich diese Vorstellung, diese blendende Vision von meerüberfahrenden Koggen und Korvetten nicht verließ. Ich wollte dieses Wogen, das um mich ging, dieses unablässige Fahren, Sprache werden lassen; Gestalten drängten heraus. Ich »las« die Bücher und später zahllose andere, so, – wie die Flamme das Holz »liest«. Es ist mir niemals ein »Faktum« zu Gesicht gekommen; wie ein Magnet tippte mein Gefühl über die Seiten und zog heraus, was zu ihm gehörte. Neigung, einer unbelebten toten Masse Atem einzuflößen? Keine Rede. Mir ist keine tote Masse vor Augen gekommen, der dreißigjährige Krieg ist mir noch heute ein versiegeltes Buch wie vor 20 Jahren. Einfühlung? Ich weiß davon nichts, aber genau das Gegenteil habe ich noch jetzt im Gefühl: Ausfühlung. Zur Einfühlung gehört ein liebendes Hinknieen, sich Bemühen und der Drang gerecht sein zu wollen (es ist also etwas, was die Kritiker von heute haben – müßten.) Da ich vom dreißigjährigen Krieg aber keine Kenntnis nahm, durch innere Blendung und Okkupation an jeder Teilnahme mit diesen zweifellos interessanten Ereignissen behindert war, wie soll ich zu einer Einfühlung gekommen sein. Dumpf verschlossen wie ich damals war, hatte ich nicht das geringste Vermögen zu lesen. Ich suchte Reize, Reize, mich zu erlösen. Ich suchte, rang nach der Hebamme, die mich entbinden sollte, nach der Geburtshelferzange. Das waren die Akten, die Bücher. Sie waren nicht mein Stoff.

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Ja, ich muß folgendes feststellen: manches was mir in den Büchern und Akten vor Augen kam, schien mir ohne weiteres geeignet – mein Eigentum zu sein. Man meint: ich hätte beschlossen abzuschreiben? Nein, es war für mich zurechtgestellt, ich hatte Glück, daß ich es fand, darauf stieß. Manchmal saß ich ganz verblüfft da und sagte mir: das ist ja schon alles da, so stimmt es ja, diese Ereignisse, dieser »historische« Zusammenhang. Bis ich einfach konstatierte: es ist nur schön, daß sich die Natur schon in meinen Gedankengängen bewegt hat; so brauche ich mich nicht zu bemühen. Ich hatte das Zentrum in mir, hier war die Peripherie, ich hatte nur nötig, die Radien zu ziehen: das Rad war fertig zum Laufen.

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Über das Zentrum aber läßt sich nicht viel sagen, weil es bekannt ist, daß man nicht in die Sonne sehen kann. Und nimmt man grünes Glas zum Sehen, so ist es doch nicht mehr die Sonne, sondern eine Vermutung über die Sonne. Das Rad lief, getrieben von dem laut pulsenden Motor, der in mir saß. Von Drehung zu Drehung stieß es der Motor weiter, fraß es den Weg. Bei einem Werk so großen Umfangs, wie ein episches es in der Regel ist, kommt sich der Autor wie ein Schwimmer vor, der hineinspringt und sagt: es heißt schwimmen oder untergehen. Wer groß plant, sich Ziele setzt, oder zu dicht beieinander Ziele setzt, geht eher unter, als wer ruhig hineingeht mit Vertrauen auf die Sicherheit seiner Arme und Beine und die Taktfestigkeit seines Herzens. Dieses: Schwimmen und Sehen, wie weit man kommt, ist überhaupt etwas, was die lebendige Produktion, nicht bloß die literarische oder allgemein künstlerische verlangt. Man kann es bei Rednern beobachten; sie stehen auf, haben zwei drei Notizen und nun entwickelt sich alles; aus dieser Wendung folgt jene, die Zwischenbemerkung führt zu einer weitauslassenden Betrachtung, die Rede wird vor uns, mit uns, an uns. Man muß sich immer wieder an die Dinge heranschleppen und sehen, was dabei aus uns herausspringt; man braucht weiter nichts, man darf weiter nichts. Ein Produkt entsteht bei der Produktion: dieser Satz klingt komisch, aber es ist sicher, daß das Produkt vor der Produktion höchstens geahnt wurde. Beim Produzieren treten die Kräfte des Materials, des Wortes, Klanges, der Begriffe, Assoziationen, die seelischen des Menschen erst in Erscheinung; ohne sie ist alles vage, kann die Schlacht nicht geschlagen werden, gibt es kein Resultat. Beim Produzieren tritt der Stier erst hervor, den man bei den Hörnern fassen will; man sieht dann erst, ob man ihn fassen kann. Man lebt im Augenblick, stirbt gelegentlich auf Grund irgendwelcher Banalitäten: aber so, in dem Hin und Her des Moments, entwickelt sich eben alles und ist. Vergangene Produktion, Vergangenes hinterläßt Spuren und mit ihnen, bereichert, verengt, verknöchert, meßbar tritt man an Neues heran, verläuft man weiter. Weiß man von seinen Spuren, so kann man sogar planen, als Mensch disponieren und quasi verfügen. Jedoch ist alle Verfügung in der Regel nie sehr genau, nur mutmaßlich und vor allem –.

Vor allem, wer über sich planend verfügt, ist bereits verarmt und erschöpft. Oder verschüchtert. Wer sich nicht diese Willkür und Freiheit bewahrt, überschätzt seinen planenden Verstand, legt sich auf das Tote fest. Es ist das letzte Refugium die Zuversicht auf diesen Quell, – wenn die Balken, auf denen man gelaufen ist, brechen. Wenn eine Schnecke noch jung ist, kann man ihr das Gehäuse zerbrechen; was drin ist, braucht nicht zu Grunde gehen, produziert ein neues Gehäuse.

Was ist es letzten Endes, das man – im Leben und in der ästhetischen Produktion – dauernd tut als: Vorkämpfen gegen den klar und hart gewordenen Ablauf des Toten, Vergangenen – zu Gunsten des Dunklen, Weichen, sich erst Enthüllenden, dauernd an der Enthüllung Verhinderten, – zu Gunsten des Momentanen. Man kämpft um das Recht der Minute. Der Moment: das bin ich. Ich kann mir ein Ziel stecken, werde immer wieder überrumpelt von Dingen, die ich nicht geahnt habe. Zuletzt aber sage ich nicht: ich werde abgelenkt. Zuletzt bekenne ich mich zu der – Ablenkung.

Eine schwere Aufgabe, und dies ist keine Ästhetik für jedermann und keine Volksreligion.

***

Das Zentrum meiner innerlichen Arbeit an diesem Buche »Wallenstein« aber war – um noch anhangsweise dies zu berühren – im Augenblick, wo ich dieser innerlichen Arbeit Spielraum ließ, Ferdinand. Um dessen Seele geht es. Hier kann ich nichts unklar gelassen haben, habe ihn und von ihm aus die ganze Umwelt mit intensivster Deutlichkeit gefühlt, und nur seinetwegen habe ich die lange lange Zeit über dem Buch gehangen. Ist es mir nicht gelungen, dies Zentrum darstellend deutlich zu machen, leuchtet diese Sonne nicht, so ist mein Buch Kunstgewerbe und ich kann Tassen malen gehen. Eine Sonne wird erst zur Sonne dadurch, daß etwas da ist, worüber sie leuchtet, daß sie Blumen erzeugt, Höhlen in Finsternis wirft, daß Menschen unter ihr sich freuen und verderben.

Dies ist die Grundkonzeption des Buches, ein Kaiser, ein latenter Kaiser, von anderen irdischen Gewalten, Maximilian von Bayern, niedergehalten, leidet in dieser irdischen Schicht, wird von einem andern tellurischen Gesellen, aber der Potenz aller Potenzen, Wallenstein, mit dem Ultramaximum der Kraft gefüllt und über das Tellurische hinausgeschoben. So weit der erste Band: Ferdinand kann durch irdische Mittel nicht höher, das Reich der Erde und seine Herrlichkeit ist nicht nur in seinem Besitz, sondern er ist gesättigt vom Besitz. Es gibt extensiv kein Mittel. In ihm vollziehen sich dann alle Konsequenzen einer solchen Lage. Das Gefühl, allen Reichtum in sich und also unter sich zu haben, verläßt ihn nicht mehr. So verstärkt es sich in ihm, daß er zum Schluß ohne Bewegung – alles von sich abtut. Dies will durchfühlt sein. Die Absetzung Friedlands auf der Regensburger Tagung ist ein nur so faßbares Ereignis; wer den Ferdinand dieser Tage nicht im Griff hat, braucht nicht weiter zu lesen; es gibt dann nur noch bunte Tassen. Ferdinand gesteht: er könne sich wenden wohin er will, er tue recht. Von dem Augenblick an gibt es in ihm keine eigentliche Entwicklung mehr, sondern nur ein Ausbreiten, ein Deutlicherwerden, sich Differenzieren. Die Dinge treten von jetzt ab unter einer kaum durchdringbaren Luftschicht an ihn heran; einen letzten Stoß erleidet er durch die Umstände beim Abfall Wallensteins; danach kommt er zur völligen Sicherheit seines Gefühls, und die längst vollzogene Lösung vom Kaisertum, vom Reich der Welt und ihrer Herrlichkeit, wird nun auch für die Augen sichtbar.

***

Nein, dies ist schlecht gesagt: Lösung vom Reich der Welt und ihrer Herrlichkeit. Dies sieht nach Heiligenleben, Entsagung, Flucht in unirdische Regionen aus. Es ist keine asketische Flucht zu irgendeinem Gott und vor irgendeine Göttlichkeit. Zum Schluß, schon lange vor dem Schluß ist Ferdinand ein Mann, der nicht mehr weiß, was gut und böse ist, der »Sünde« nicht mehr fühlen kann. Ferdinands Weg ist eben dieser: rein zu diesem Ziel kommen, – immer wieder gestört, aber zuletzt maßlos sicher – keine zwingenden Einflüsse von dieser unterworfenen »Welt« zu erfahren.

Wie schlecht, wie oberflächlich deutsche Kritiker lesen, kann man aus der Tatsache ersehen, daß einer berichtete, der Kaiser verzweifle zuletzt. Tolstoi sagte einmal von den Kritikern: »Sie sind meistens geschulte, unterrichtete und gebildete Schriftsteller, bei denen die Fähigkeit, von der Kunst gerührt zu werden, vollständig verkrüppelt oder ganz verloren gegangen ist.« Eine andere Rolle als das Fruchtbare und Schöne zu erfassen und an andere weiter zu tragen, kann ich der Kritik nicht zusprechen. Aber was, wenn die Träger der Kritik gar keine Aufnahmeorgane besitzen? In diesem Buch, von dem ich redete, verzweifelt der Mann Ferdinand gar nicht. Seine Seligkeit kommt zum Durchbruch. Er hat nicht dem Thron entsagt, sondern ihn sich selbst überlassen. Der Thron ging ihn nichts mehr an. Der Kaiser endet in Schauer und Freudigkeit da, wo er enden muß.

Die Welt um ihn, die sich nicht erschöpft, geht weiter. Ich hatte kein Recht, den Kaiser der Welt gegenüber zu stellen wie Dante sich seiner Hölle. Der Kaiser ist Fleisch vom Fleisch der anderen; wir sind unter Menschen. Ich konnte sie verschieden geben, ihnen wechselnde Namen und Masken umhängen: ich möchte aber nie das – Kaiserliche, ich meine das Ferdinandische, in ihnen vergessen haben. Und wenn es nur von fern leuchtet. So ist Ferdinand nichts Vereinzeltes unter den tausend Personen: er ist kein Held, er ist unter ihnen wie sie mit ihm sind. Ich sagte: er ist die Sonne; aber die Pflanzen und Steine und chemischen Elemente sind auch von Sonnenart. Man wird mir nicht vorwerfen, ich hätte mich nicht bestimmt für den »Helden« entschieden. So bestimmt habe ich mich für ihn entschieden, daß das Buch von A bis Z nur das Lied des »Helden« singt.

Autobiographische Skizze

In Stettin 1878 geboren, als Knabe nach Berlin gekommen, bis auf ein paar Studienjahre dauernd in Berlin ansässig und an dieser Stadt hängend. Gymnasialbildung, Medizinstudium, eine Anzahl Jahre Irrenarzt, dann zur inneren Medizin; jetzt im [B]erliner Osten spezialärztlich praktizierend.

Als Pennäler schon literarisierend; der erste Roman, lyrisch, Ich-[R]oman, in der Prima. Als Student der Roman »Der schwarze Vorhang«, der vor zwei, drei Jahren gedruckt wurde. Mir war aber die ganze Literatur zuwider; ich hatte keine Lust, mich mit den Verlegern herumzuschlagen; Medizin und Naturwissenschaft fesselten mich außerordentlich. Ich habe in einer verbissenen Wut, doch nicht durchzudringen, nicht einmal in meiner Umgebung, dazu auch in Hochmut und Gewißheit: »ich weiß schon was ich kann, ich habe Zeit«, ein ganzes Jahrzehnt nichts Rechtes vorgenommen. Sondern mich in Psychiatrie und Klinik herumgetrieben, bis in die Nächte bei Laboratoriumsarbeit biologischer Art; es gibt eine Handvoll Publikationen von mir dieser Art. 1911 wurde ich aus dieser Tätigkeit gerissen, mußte in die mich erst fürchterlich abstoßende Tagespraxis. Von da ab Durchbruch oder Ausbruch literarischer Produktivität. Es war fast ein Dammbruch; der im Original erst fast zweibändige »Wang-lun« wurde samt Vorarbeiten in acht Monaten geschrieben, überall geschrieben, geströmt, auf der Hochbahn, in der Unfallstation bei Nachtwachen, zwischen zwei Konsultationen, auf der Treppe beim Krankenbesuch; fertig Mai 1913. Vorher hatte ich die tröpfelnden Novellen des verflossenen Jahrzehnts zum Bande »Ermordung einer Butterblume« zusammengefaßt; erschien bei Müller-München. 1913/14 schrieb ich den Novellenband »Lobensteiner« als Erholung von der »Wang-lun«-Arbeit. August bis Dezember 1914 der Roman »Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine«. Dann kam der Krieg; ich flottierte in Lothringen und im Elsaß herum. Mitte 1916 warf ich mich an den »Wallenstein«; ich schrieb in großer Ruhe; monatelange Krankheitspausen; fertig Ende 1918. Rückkehr in die Praxis. Seit da Kleineres: die Szenenreihe »Lusitania« (Genossenschaftsverlag Wien), Essays und politische Satire (Linke Poot: »Der deutsche Maskenball«), ein Schauspiel: »Die Nonnen von Kemnade« (erscheint nächstens). Seit zwei, drei Monaten über einer neuen großen epischen Arbeit: Nichthistorie, aber zukünftige, aus der Epoche um 2500 – Höhegewalt der Technik und ihre Begrenzung durch die Natur. – Von meiner seelischen Entwicklung kann ich nichts sagen; da ich selbst Psychoanalyse treibe, weiß ich, wie falsch jede Selbstäußerung ist. Bin mir außerdem psychisch ein Rühr-mich-nicht-an und nähere mich mir nur in der Entfernung der epischen Erzählung. Also via China und Heiliges Römisches Reich 1630.

Berlin und die Künstler

Hemmt oder beeinträchtigt Berlin wirklich das künstlerische Schaffen?

Ich beantworte getrennt: Hemmt die Stadt das künstlerische Schaffen? und dann: Hemmt Berlin das künstlerische Schaffen? Beide Fragen nur von mir für mich beantwortet. Im Krieg machte ich ein Experiment zur ersten Frage: monatelang, monatelang eingepfercht in ein winziges Landstädtchen, ein schauderhaft idyllisches Großdörfchen, fuhr ich öfter zu bestimmten Zwecken dienstlicher und nichtdienstlicher Art nach Straßburg im Elsaß. Das war wie ein elektrischer Schlag, wenn ich vom Bahnhof auf die Häuser blickte, nun eine Straßenbahn bestieg, ein Warenhaus betrat. Am Kleberplatz der Strom der flanierenden Menschen, die hundert Gesichter, hundert Beschäftigungen, Anschlagsäulen, Stiefelputzer, Aufrufe der Behörden, die kerzengerade ausgerichteten neuen Straßenteile, die pompöse und sachliche Post: das war mein Element. Das war mehr als der einsame Schornstein der Fabrik in meinem Großdorf und der Rangierbahnhof, mein Labsal. Ich pfiff zu allen Zeiten auf die grünen Wiesen der Ausflügler, auf die sentimentale Stille der Natur, – ich kenne auch eine Natur, sie ist aber anders als die der Sonntagsausflügler um Erkner mit der Mittagspause auf grüngestrichenen, wackligen Klappstühlen, so in Woltersdorfer Schleuse mit anschließender himmlischer Fahrt auf richtigem Wasser. In so einem Warenhaus ist mir nichts unsympathischer als die Bücherabteilung; die Abteilung zwischen Nachttöpfen und Brennscheren ist mir ein zu gewaltiger Zynismus der Handelsherren. Sie ist eine Unverschämtheit, aber eine famose, ich könnte es nicht besser machen. Das Ganze hat mächtig inspiratorisch belebende Kraft. Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Ich schwindle nicht: diese Erregung der Straßen, Läden, Wagen ist die Hitze, die ich in mich schlagen lassen muß, wenn ich arbeite, das heißt: eigentlich immer. Das ist d[as] Benzin, mit dem mein Motor läuft.

Und nun Berlin. Das Chaos von Städten. Im Begriff, ein London von Internationalität zu werden; Volksgemisch erst, jetzt ein Völkergemisch. Vierunddreißig Jahre laufe ich hier herum, immer neugierig, beobachtend, wie sich das bewegt und wie es sich ruckartig entwickelte. Das zuckte durch alle, man konnte nicht still dabei bleiben, man mußte daran teilnehmen. Die Kunst, die Bilder, Plastiken, Bücher, Romane, Theater, Gedichte waren mir nie interessant, dieses Schmachtende, Zahme, Preziöse, auch Aufgedonnerte, das farbige papierne Zeug zum Ansehen, zum Delektieren. Ich bin nicht für Genuß. »Genießen macht gemein«: das ist beinah richtig, besser: Genießen ist Sache der Damen und Schlafmützen. Auch den »Geist« schenkte ich hin; bezaubert stand ich nur vor Häuserbauten, an Fabriktoren. Nichts verstehe ich von Mathematik und Maschinen, aber eine surrende Dynamomaschine in einem Keller, an dem ich vorbeigehe, wühlt mich auf; ich gehe beschenkt »wie im Traum«, es ist ein Anruf, meine Kraft ist wieder da.

Berlin ist wundervoll. Die Pferdebahnen gingen ein, über die Straßen wurden elektrische Drähte gezogen, die Stadt lag unter einem schwingenden, geladenen Netz. Dann bohrte man sich in die Erde ein; am Spittelmarkt versoff eine Grube; unter die Spree ging man durch bei Treptow, der Alexanderplatz veränderte sich, der Wittenbergplatz wurde anders: das wuchs, wuchs! Am Leipziger Platz der zauberhafte Wertheimbau, eine Straßenfront, wie belanglos ihr gegenüber das Herrenhaus, das Haus der ertrunkenen, schon längst begrabenen Herren. Am Schiffbauerdamm, in der Brunnenstraße, die A.E.G.: eine Lust! Und weiter draußen in Tegel Borsig, und in Oberschöneweide noch einmal die A.E.G. Und das rebelliert, konspiriert, brütet rechts, brütet links, demonstriert, Mieter, Hausbesitzer, Juden, Antisemiten, Arme, Proletarier, Klassenkämpfer, Schieber, abgerissene Intellektuelle, kleine Mädchen, Demimonde, Oberlehrer, Elternbeiräte, Gewerkschaften, zweitausend Organisationen, zehntausend Zeitungen, zwanzigtausend Berichte, fünf Wahrheiten. Es glänzt und spritzt. Ich müßte ein Lügner sein, wenn ich verhehlte: öfter möchte ich auskneifen, das Geld fehlt; aber ebenso oft würde ich zurückkehren, Simson, der nach seinen Haaren verlangt.

Erlebnis zweier Kräfte

Als ich noch Schüler war, fiel Dostojewski zuerst auf mich. Die Besuche in der kleinen Lesehalle eines Berliner Vereins für ethische Kultur sind mir fest in Erinnerung. Raskolnikow las ich Abend für Abend in der Schönhauser Straße, bei Tag wurde Goethe und Schiller gepaukt. Der Widerwille gegen die disziplinscharfe versklavende Schule war außerordentlich. Es gab tägliche aussichtslose erbitternde Kämpfe. In die Athmosphäre der Abneigung wurde Goethe mit eingeschoben. Dunkel erinnere ich mich noch eines gelegentlichen Entzückens am Tasso. Das war Entzücken ästhetischer Art, wie zugleich an Sophokles und Homer: dies hielt nicht lange stand. Es versank geräuschlos in den mächtigen aufrührenden Erregungen, die Dostojewski ausströmte. Nichts kam gegen die Stärke dieser Erregungen auf. Hier war Widerstreben, Energie, Revolution. Gegenüber Wedekind war Dostojewski ganz unliterarisch.

Ich kann mich aus einer noch weiter zurückliegenden Jugend, besser Kindheit, der ersten Kolportageromane erinnern, die uns wöchentlich einmal ins Haus geliefert wurden. In ebensolche beinah entsetzliche, ganz unerlaubte Spannung und Unruhe wurde ich durch die abendliche Lektüre in der Schönhauser Straße versetzt. Sie hebelte mich endgültig aus Schule und Ästhetik heraus. In eine undeutlich, aber heftig gefühlte Offensive gegen den ästhetischen Klüngel wurde ich getrieben. Es war garnicht der ganze Roman Raskolnikow, der diese Wirkung hatte, sondern eigentlich nur eine Anzahl Seiten. Die Handlung im einzelnen überschaute ich gar nicht, es waren mir zuviel Figuren. Aber unter einzelnen Seiten konnte ich mich, als wären sie zentnerbeladen, gar nicht halten. Ich nahm nur die Musik des Buches an, scheute mich, zu Details herabzugehen. Genau so, wie ich als Quartaner vom Prinzen vom Homburg von Heinrich Kleist mitgenommen wurde bei einer Aufführung, ohne unter der Massivität des Eindrucks die Sache eigentlich zu verstehen, auch ohne ihr näher treten zu wollen. Ich ließ dann jahrelang nichts an diesen Eindruck heran, vermied es, das Buch zu lesen, sprach mit niemandem über das Stück. Den Raskolnikow war ich damals nicht imstande ganz zu lesen, das heißt, den Romanablauf weiter und zu Ende zu verfolgen. Ich schlug irgendwo auf, wobei ich sorgfältig vermied, etwas, das ich schon gelesen hatte, nochmal zu lesen. Das Ende des Buches und viele Stücke aus der Mitte las ich erst viele Jahre später.

Das zahme klassische Ensemble kam sehr lange Zeit völlig aus meinem Gesichtskreis. Es wurde mir fremd. Ich erinnerte mich Goethes garnicht. Langsam stellte sich eine Verbindung her zwischen dem klassischen Ensemble einschließlich Schule und Lehrerschaft mit dem stumpfen Bürgertum. Mit denjenigen Elementen, die mir jetzt in der Nähe und von weitem begegneten, die den Staat politisch betreiben, Zeitungen herausgeben, Bilder sammeln, Museen bauen, in Konzerte und Theater laufen, Schauspielerphotographieen ansehen, – langweilige, oft verächtliche Elemente, die nur Widerstand repräsentieren. Dieselben bürgerlichen Schichten, sah ich, sind es, die das klassische Ensemble verehrten.

Zur selben Zeit lief die amoralistische Woge Nietzsches über mich. Diesen las ich mit physischem Zittern. Es war nicht ein Ideal, das er aufstellte, was an mich schlug, sondern die Begegnung mit einem tiefen aufgewühlten Menschen. Sein beispielloser Lebensernst. Damals lernte ich auch den [»]Idiot[«] von Dostojewski kennen. Es war jahrelang mein liebstes Buch, das ich nie zu Ende las. Es erfreute mich schon, wenn ich es in der Hand hatte. Ich nahm es überall mit, las immer wieder, irgendein viertel Kapitel, ohne es zu verstehen, da ich mich ja um die sogenannten Zusammenhänge garnicht kümmerte. Den Schluß habe ich sicher einige hundertmal gelesen, Wort für Wort. Aber fast die Hälfte des Buches kenne ich möglicherweise heute noch nicht. Die übliche Methode der Lektüre, dieses profane Abtuen, vermochte ich auf dies Buch nicht anzuwenden. Bedeutend größer wurde meine sachliche Kenntnis von den [»]Karamasows[«].

Hierfür den Grund anzugeben, bin ich nicht imstande. Neu, unbuchmäßig lebendig erschienen mir viele Teile auch dieses Werkes. Jedoch muß ich Dostojewski wohl damals schon leicht von mir entfernt haben; jedenfalls vermochte ich die [»]Karamasows[«] fast ungestört, wenn auch hier und da geblendet und noch wochenlang fixiert, ordnungsmäßig durch und zu Ende zu lesen. Ich weiß und wußte, wer der reale Mörder war: etwas ähnliches wäre mir bei den früheren Büchern nicht vorgekommen.

Noch vom Beginn des Krieges ist mir in Erinnerung eine gesprächsweise heftige Gegenüberstellung des lebendigen, aktiv antreibenden Dostojewski und Goethes, des muffigen Gottes der Gebildeten, der Vertrockneten, vom Volk Abgefallenen. Tolstoi war mir zu sanft, christlich elegisch. Dann dachte ich eine lange Zeit auch nicht viel mehr an Dostojewski.

Ich wurde älter, beobachtete, schrieb. Bisweilen erinnerte ich mich Dostojewskis als eines enormen historischen Phänomens, als einer Seelenkraft, die mir aber jetzt nicht helfen konnte. Den [»]Idiot[«] hielt ich noch immer gelegentlich in den Händen, las die und die Seite und kehrte zu meinen Dingen zurück: er konnte mir nicht helfen. Eine merkwürdige Vorliebe stellte sich für Stendhals Buch »Rot und Schwarz« ein, für das Nüchterne, Skeptische, Beobachtende, Sachliche darin; sein romantisches Brimborium fand ich überlebt. Die Natur, die Sachlichkeit lockte mich auf Schritt und Tritt. Es hatte sich allerlei mit mir verändert. Mehr Material war eingedrungen, die Übersicht war höher, die Durchdringung aktiver, weniger hingerissen geworden. Ich konnte dem Material schon etwas gegenüberstellen, was selbst Sprödigkeit und Entschiedenheit war. Daraus folgte größere Entfernung vom Material, Zurückhaltung und Skepsis. Während ich bisher länger eingeatmet hatte, wurde jetzt die Ausatmung tiefer und länger.

Nach Kriegsende, als ich meine Bücher zu Hause wieder auspackte, fielen mir die Gespräche mit Eckermann in die Hände.

***

Rührend bei Goethe:

Er verseufzt Jahr um Jahr im Winter die trübe Zeit vor dem kürzesten Tag. Er sitzt seinen Freunden gegenüber, schenkt ihnen, während er selber nichts nimmt, Wein ein. Er unterhält sie von alten und neuen Dingen.

Seine Marienbader leidenschaftliche Liebe im hohen Alter.

Er nimmt überall seinen Geologenhammer mit, prüft das Gestein.

Bei dem Lissabonner Erdbeben fand ihn, als er noch jung war, sein Diener nachts am Fenster, den Himmel beobachtend, von dem Gefühl eines entsetzlichen Vorganges tellurischer Art heimgesucht.

Am Strand hebt er einen Knochen auf: es ist der Zwischenkiefer. Die Herleitung der Farbe aus dem trüben Medium und der Helle.

Er lebt so lange. Seine schweren Alterskrankheiten, die er immer überwindet. Sein spielendes Sterben.

Seine Launenhaftigkeit. Der Wechsel seiner seelischen Färbung.

Seine Freude am Denken, an guten Gedanken.

Die Weite seiner Interessen. Das Gefühl, daß man an alles heran muß. Hinter allem, in allem steckt etwas.

Das Nebeneinander von heftigen Begierden und größter Ruhe und Sachlichkeit.

Seine Ungeniertheit, Natürlichkeit im Verhältnis zu seinen Trieben. Er fordert die Gesellschaft heraus, aber will es nicht.

Wie rasch er über den Tod anderer hinwegkommt, etwa über den seines Sohnes. Der Tod ist etwas Wertloses, es läßt sich nichts damit anfangen, daß einer tot ist.

Er trinkt gern. Er ißt gut. Er hält viel von Kenntnissen, aber nichts von Gelehrsamkeit.

Er hat schon zu Mozarts Zeiten gelebt.

An Lord Byron kaut er viel herum. Der gefällt ihm und, er sagt es nicht, der wurmt ihn. Diabolisch, Mädchenverführer, Parlamentsredner, Abenteurer, Griechenlandfahrer: das ist größerer Stil als Goethesches Privatleben, Ministerschaft in Weimar. Er hält das aber anderen vor.

Ein Mensch, der Gedanken hat, viele, wechselnde. Er schüttelt sie von sich ab und stellt sich wieder neu hin.

***

Voltaire zieht sich nach der Schweiz zurück und fängt an, von da die Welt mit Aktualitäten zu bombardieren. Er greift ein.

Goethe geht in und um Weimar herum, spaziert in seinem Garten. Zeitungen, Bücher, Bilder, Steine kommen in sein Haus; er liest, diktiert. Er wächst und stirbt. Über sein Haus greift er sichtbar nicht hinaus. Er betrachtet sich als ein Ding an sich.