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Mit einem Nachwort von Stefan Keppler-Tasaki. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk. Alfred Döblins erster Berlin-Roman Berlin vor dem Ersten Weltkrieg. Die beiden Fabrikbesitzer Wadzek und Rommel kämpfen mit allen Mitteln der Unternehmerkunst gegeneinander. Wadzek scheitert dabei zwar ökonomisch, spannt seinem Kontrahenten aber die Geliebte aus und flüchtet mit ihr nach Amerika. Was wie ein Wirtschafts- und Spionageroman beginnt und dem Muster einer klassischen Tragödie zu folgen scheint, entpuppt sich als wagemutige Abrechnung mit sämtlichen bürgerlichen Erfolgsmodellen – von der Firma über die Ehe bis zum realistischen Roman. Nicht zufällig wird dadurch der Weg frei für einen Text, der sich mit großer Sprachgewalt erstmals auch auf das moderne Berlin einlässt.
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Seitenzahl: 562
Alfred Döblin
Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine
Roman
Fischer e-books
Mit einem Nachwort von Stefan Keppler-Tasaki
Die Verschwörung
Gabriele fuhr das Schöneberger Ufer entlang, kutschierte über die Brücke auf die andere Seite des Spreekanals. Vor einem alten Hause in der Straße am Blumeshof stieg sie aus. Wie sie in das Halbdunkel des Speisezimmers eintrat und vor der abgeblendeten Hängelampe stand, die einen runden Fleck Gaslicht auf den Tisch warf, knarrte die Tür vom Empfangszimmer; ein Blumenbukett kam ihr aus dem Halbdunkel entgegen; Wadzek sagte mit seiner gewöhnlichen Stimme: »Guten Abend, guten Abend, liebes Fräulein.« Ein altes schiefes Hausmädchen half Gabrielen ablegen.
Wadzek schlenderte im Zimmer herum. Er wippte, schnellte um alle freistehenden Möbel des Zimmers, dämpfte sein Organ, krähte. Er hatte ein kindliches langes Gesicht mit struppigem rotblonden Bart. Ging an die Stühle, Etageren heran, beschnüffelte sie, immer freundlich, verwandtschaftlich, verschwägert mit allen. Im Straßennegligee trabte er, die Hände bis zu den Ellenbogen in den Hosen, um jede Feierlichkeit zu vertreiben. Er schien sich nur im Schutze eines Gegenstandes wohl zu fühlen, trat selten in die Mitte des Zimmers. War er aus dem Kontakt getreten, schlüpfte er mit verschwiegener Bewegung wieder zurück. Als ihn Gabriele lockte sich zu setzen, drehte er sich auf dem Stuhlsitz, suchte Anschluß an die Fransen der Tischdecke. Da sie ihm zu tief hingen, zerrte er an einem kleinen Tablettdeckchen, auf dem die Blumenvase stand.
»Lassen Sie doch die Vase«, sagte Gabriele.
Er ärgerlich zog den Arm zurück: »Ich bin nervös. Das geht niemanden etwas an. Eine Vase kann mich nicht nervös machen. Eine Vase gehört an ihren Platz.«
Er blickte unsicher über den Tisch, neben die Stuhlbeine, trat über zwei Teppichmuster auf das Büfett zu; er hatte die Insel verlassen.
»Sind Sie darum hergekommen, Herr Wadzek, um mich von Ihren Nerven zu unterhalten?«
»Mißverstehen Sie mich nicht dauernd, liebes Fräulein. Eine Vase ist nicht belanglos. Es ist wie mit den Kleidern. Wenn Sie diese Vase –: Sie müssen mir schon verzeihen, wenn ich haften bleibe an diesem Gegenstand. Eine gründliche Erörterung kann nur beruhigen, kann nur allerseits, ich sage mit Bewußtsein allerseits, beruhigen.«
»Sie wollten von meiner Vase sprechen.«
»Wie mit den Kleidern. Sie sitzen nicht, sie hängen. Sie schlenkern. Mal ist die Schulter hochgerutscht, mal sieht man das Korsett, mal schleppt der Rock, und vorn ist er zu kurz. Bei Gerson hat alles gesessen.«
»Aber, Herr Wadzek, doch nicht meine Kleider.«
»Doch nicht Ihre. Wie auch das? Durchaus nicht, im Gegenteil. Es ist eine allgemein zutreffende Bemerkung, die durch Ihre Ausnahme und so weiter und so weiter. Ich habe doch selbst auf dem Wohltätigkeitsfest im Bellevuehotel gesehen –«
»Wie kommen Sie auf das Wohltätigkeitsfest?«
»Es ist eine etwas schiefe Bemerkung meinerseits. Selbst gesehen ist vorbeigesprochen, keineswegs vorbeigedacht. Ich will mich nicht falsch beschuldigen. Schneemanns Vetter hat mir sehr genau erzählt, er ist Plakatmaler, erstklassiger Dekorateur, so genau, daß ich mir alles ganz vorstellen kann mit geistigen Augen. Wie Sie an der blauen oder grünblauen Nische vorübergingen, welche den Meeresboden darstellte, hineinguckten und sagten: ›Was ist hier für ein Rauch!‹ Es war Ihnen zu rauchig auf dem Meeresgrund. Wie Sie mit Stawinski plauderten.«
Sie lachte heftig: »Von dem hat er Ihnen auch erzählt?«
Wadzek blieb entrüstet stehen: »Was beschuldigen Sie mich? Sie haben eine äußerst kränkende Art an sich, Fragen zu stellen.« Er war furchtsam und suchte durch ein beleidigtes Wesen zu entwaffnen. Sie suchte ihn aus dem Schatten zu locken; er ging unsicher weiter: »Halten Sie mich doch nicht mit Nebensachen auf. Sie bringen mich damit nicht aus dem Konzept.«
Sie schwieg. »Kindereien«, platzte er heraus, »Kindereien sind das. Ich könnte Ihnen von Ihrem Schritt, von Ihrem Gang erzählen, von –«
»Wovon noch? Und was ist mit meinem Gang?«
»Aber ich tue es nicht.«
»Aus Edelmut.«
»Nennen Sie es Edelmut. Es ist zwar Psychologie, Takt, Rücksicht, aber es tut nichts zur Sache. – Ich kann schon gar nicht mehr reden.«
Er setzte sich still an den Tisch.
»Hab’ ich Sie verletzt, Herr Wadzek?«
Er dozierte, anscheinend kalt, im Tone eines Zeitungsberichts: »Ihr Gang hat zweifellos etwas, was imstande ist, Männer aus ihrer Ruhe zu bringen. In der Lombardei, wo ich letztes Frühjahr war, ist es anders; Mailand, Turin, Umgegend. Sie setzen einen Fuß vorwärts, langsam, viel zu langsam für unsere Begriffe, ziehen den rechten nach, und dabei schwankt Ihr Oberkörper in einer Weise nach vorn, nicht geradlinig, wie etwa hier meine Hand, wenn meine Finger Ihre Beine darstellen. Wie eine reife Frucht, oder Fruchtschale. Als wenn Sie vorhätten, sich hinzuschütten. Ich könnte auch sagen: wie ein Bassin mit Wasser, wie ein Goldfischbassin, das Sie bis an den Rand schaukeln.«
»Nehmen Sie doch Ihre Hände vom Tisch. Jetzt werden Sie lächerlich.«
Er zog sie rasch weg, versteckte sie in sein Taschentuch unter dem Tisch: »Entschuldigen Sie. Freilich. Der Vergleich war etwas gewagt; sozusagen, an den Fingern herbeigezogen.«
Sie stand auf; ernst, matt: »Gott, wie abgeschmackt. Was wollen Sie eigentlich?«
Wadzek blieb beharrlich. Da er geschlagen war, wurde er frech: »Rommel hat das Bild von der Fruchtschale sicher auch empfunden. Ihr Leib schaukelt, als wenn er obenauf Äpfel trüge. Oder als wenn er mit Wasser gefüllt wäre.«
»Jetzt reden Sie glücklich von meinem Bauch.«
»Ihr Bauch ist kein Gesprächsthema, gnädiges Fräulein. Ich weiß selber, daß sich ein Gespräch um sozusagen ernstere Sachen zu drehen hat. Die Abrundung der Unterhaltung, wir wollen das festhalten, erfordert den Übergang –«
»Auf meinen Bauch.« Sie lachten zusammen.
»Sie sollten mir behilflich sein, gnädiges Fräulein.«
»Ich warte, bitte.«
Er verschwand wieder an der Wand: »Es geht nicht so. Mit: ich warte, bitte, – kann ich nicht sprechen. Ich will niemanden beleidigen, aber das sind Phrasen, mit denen man mich ruiniert. Ich finde da keinen Boden, keinen Faden.«
»Ich soll Rommel um etwas bitten.«
»Totschlagmanieren«, schrie er, blieb am Bücherregal stehen, blies das Gesicht auf, streckte die Brust vor. »Um gar nichts sollen Sie ihn bitten. Nicht von mir. Ich brauche keine Bitten. Bitte hin, Bitte her. Was wagen Sie gegen mich?«
Er schüttelte den Arm gegen sie. Gabriele zischte: »Ich verbiete Ihnen zu schreien. Fluchen Sie, seien Sie gemein. Schreien Sie nicht.«
Er ging weiter, höhnte: »Sie werden mich nicht aus meiner Ruhe bringen. Die Ruhe ist ein gottvolles Geschenk meines seligen Vaters, mein einziges Erbstück. – Ich habe ein Anliegen an Ihren Freund, – Anliegen ist vielleicht zu viel gesagt. Und Sie überfallen mich umsonst mit Ihren Kraftausdrücken.«
»Also Anliegen.«
Er stöhnte, verdrehte die Augen: »Der Herr erbarme sich. In welche Höhle bin ich geraten.«
Sie raschelte auf ihn zu: »Wenn Sie sich erlauben, noch ein Wort weiter zu sprechen.«
Sie sank auf einen Schaukelstuhl: »Das schneit in meine Wohnung, hat ungeputzte Stiefel, bindet sich keinen saubern Kragen um. Zu Hause schmatzt es mit seiner Frau. Was hab’ ich mit Ihnen zu tun? Ihr mißbraucht mich. Tun Sie nicht so entgeistert. Rommel hält mich aus, Sie amüsieren mich manchmal; ich bin nichts Besseres als Rommels Mätresse. Das hab’ ich mir gewählt. Daß man mich aber anbläfft wie Sie mit Ihrem: ›der Herr erbarme sich‹, das hab’ ich mir nicht gewählt.«
Wadzek riß den Mund auf, sperrte die Arme weit: »Es ist solch grenzenloser Irrtum. Wenn Sie wüßten, wie ich Ihnen zugetan bin. Wir alle, die Ihnen den Boden geebnet haben in Berlin. Und wie wir Sie alle wirklich schätzen, verehren gelernt haben, liebes Fräulein Gabriele.«
Sie beobachtete ihn: »Wieviel Kinder haben Sie?« Er trabte, fuchtelte versunken mit den Händen: »Wirklich schätzen gelernt.«
»Wieviel Kinder Sie haben.«
»Kinder? Warum? Eins.«
»Sie haben eine Tochter?«
»Tochter, ja; eine Tochter. Herta ist neunzehn Jahre; sie ist nicht eigentlich schön. Sie ist nach ihrer Mutter.«
Gabrieles Augen funkelten: »Ich möchte Ihre Tochter kennen lernen. Oder haben Sie etwas dagegen?«
»Herta ist ein Berliner Kind. Sie wollen meine Herta kennen lernen. Das, – natürlich, es sind solche plötzlichen Einfälle. Ich will es ihr sagen; ich will es mir überlegen, natürlich, gnädiges Fräulein.«
»Ich möchte Ihre Tochter kennen lernen.«
Wadzek überschrie sie; Gabriele sollte ihn von einer gewissen Transaktion, die Rommel vorhatte, rechtzeitig, frühzeitig, vorzeitig informieren. Er wehrte hoheitsvoll Gabriele ab: »Nur kein Erbarmen. Kein Almosen. Keine Aufdringlichkeit.« Gabriele blieb kalt, besah ihre Nägel. Wadzek, mitten im Zimmer, zupfte seinen blonden Bart. Sie blickte hoch: »Freilich, wer spricht von Almosen. Wir geben uns gegenseitig Aufträge, die wir geneigtest zu effektuieren bemüht sind.«
Schon an der Tür, wand sich der kleine Mann, wühlte mit den Händen in den Hosenbeuteln: »Es handelt sich nämlich –«; er trat sich beklommen auf die Füße, zog die Stirn kraus, sah Gabriele finster von unten an.
Sie drehte ironisch den Kopf zur Seite: »Frauen haben merkwürdige Auffassungen von manchen Dingen?«
»Es ist etwas Richtiges daran. Man kann sich schwer äußern«, wütende Blicke, Hand an der Tür, »man darf sich nicht äußern, man darf nicht. Es ist das Denkvermögen der Frau, das undifferenzierte Denkvermögen, mit dem ich immer zu kämpfen habe. Geschäftsbetrieb ist eins, Familienbetrieb, Familienverkehr das andre. Aber das werde ich nicht klarmachen.« Er stand zitternd vor ihr: »Werde ich das klarmachen?« Sie sagte: »Ich weiß nicht, ob ich nicht auch um die Bekanntschaft Ihrer Frau Gemahlin bitten soll.« »Also, wie gesagt –.« Er warf die Tür.
Schneemann war ein fauler Mensch. Bei einem Besuch der Eisengießerei Rommels hatte ihn Wadzek kennen gelernt. Männer wie er gab es viele in der Stadt; als Rechtsanwälte hielten sie sich kleine Büros, suchten in Tageszeitungen, Aufsätzen, eventuell Broschüren Reichsgerichtsentscheidungen zu kritisieren; als Ärzte vermochten sie sich keine Praxis zu gründen, aber sie taten sich als Bakteriologen hervor und entdeckten einen neuen Typhusbazillus, worauf sie in einem Generalregister 2. Band, St. 617 Absatz B vermerkt wurden. Schneemann litt als Ingenieur an Ideen. Wie alle Männer seiner Art hatte er eine kluge leidende Frau, mehrere Kinder. Er suchte in Stettin frühzeitig ein bestimmtes Gas mit einem schwer aussprechbaren Namen aus der Kohle zu gewinnen. Es gelang ihm, als er zu den Versuchen das Vermögen seiner Frau aufgebraucht hatte. Damals brachte eine große Fabrik dasselbe Verfahren heraus mit denselben Gesichtspunkten; kurz vorher war bei Schneemann eingebrochen worden. Er verließ Stettin. Die schlechte Bewachung der Wohnung, die Polizei war schuld, die ganze elende Entwicklung des Heringsnestes. Auf dem Bahnhofplatz, wo die Dienstmänner herumstanden, verfluchte er die Stadt: »Verflucht soll Stettin sein und Gotzlow, Podejuch und das ganze Pommern.« Die Frau, die weinte, mußte ihn in die Bahnhofshalle ziehen; die Dienstmänner hatten einen Gesprächsstoff für den Nachmittag.
In Berlin wurde er kleiner Betriebsingenieur bei Rommel; es dauerte einige Zeit, bis sich seine Maschinerie darauf einstellte. Er überhäutete sich mit Verbissenheit. Aus seinem Grimm wurde eine Verbissenheit. Er diente, diente, diente. Er setzte sich allmählich in Opposition zur liberalen Politik, las konservative Zeitungen, pries den Handwerker, den Landmann, die sich nicht von dem großstädtischen Unternehmertum vergewaltigen ließen. Kleine Vereine, denen er angehörte, beglückte er durch improvisierte Brandreden gegen die Selbstverwaltung der Städte. Im allgemeinen war er still, plante hitzig weiter, dachte nach, konstruierte auf dem Papier. Da er keine Versuchsstätte hatte, ließ er es auf sich beruhen, beschränkte sich auf das Tüfteln. Dick war er, untersetzt, mit Glatze; hatte ein sehr breites Gesicht, ging sorgfältig angezogen, war langsam, gedankenvoll, ohne Ausdauer. Seine Zitate kamen aus der Tiefe und stammten aus Goethe: »Denn es ist das Mächtige, was man dir auch sage«, – gemeint war »das Niederträchtige«, das er nicht mitzitierte. Er entdeckte in sich in Berlin eine Leidenschaft für das Militär, zu dem er wegen seiner Korpulenz nicht gekommen war. Er träumte heftig und viel; z.B., daß er wie ein alter Römer mit dem Schild im linken Arm dastand, das kurze Schwert in der rechten Faust, so den Angriff erwartend. Seinen jungen Kindern verbot er gelegentlich mit flüsternden Worten Lärm zu machen: »Nicht zu laut trommeln, nicht zu laut! Zu hoher Mast lockt den Blitz herbei.« Mit eigentümlichem Blick sah Schneemann dabei um sich.
Mit dem Fabrikdirektor Wadzek ging er kegeln. Als Gerüchte verlauteten, daß Rommel die Maschinenfabrik Wadzeks aufsaugen wollte durch allmählichen Ankauf der Aktien, zog Wadzek seinen Freund ins Vertrauen wegen der Gegenmaßnahmen. Die Gespräche wirkten heftig auf Schneemann ein. Seine Lebendigkeit ließ nach. Wie ein Verschwörer ging er herum; seine Schritte waren auf Holzfußboden enorm schallend. In sein hohes Bauernbett vergraben, mußte er jetzt sehr lange schlafen. Bisweilen nahmen ihn die Debatten so mit, daß er in einem lähmungsartigen Zustand, völlig dumm neben dem erregten Wadzek saß, der an ihm rüttelte. Darauf grunzte er: »Laß nur gut sein, Franz, du hast mich ganz auf deiner Seite.« Sie siezten sich sonst. Der bissige, erregte Wadzek, der Feind des Unterjochers Rommel, war immer der Heros Schneemanns gewesen; jetzt folgte er Wadzek durch dick und dünn, in krampfhafter Spannung.
Sie saßen im Café Stern an der Chausseestraße; in ihren Unterredungen kamen sie zu dem Entschluß, Rommel ins Herz zu treffen. Die Wendung stammte von dem dicken Schneemann, der über den Marmortisch weg Wadzek Stöße erteilte. Sie schickten den Kellner weg. Minutenlang schwiegen sie und blähten sich auf. Wadzek flüsterte, am Tage nach dem Gespräch mit Gabriele: »Sie will meine Tochter. Das sind Menschenopfer.« Schneemann fragte: »Welche?«
»Das ist egal. Ich habe doch nur eine. Man kann nicht in sie hineinsehen. Was raten Sie?«
»Zurückhaltung, Vorsicht, große Vorsicht.«
Wadzek prahlte: »Ich gebe sie ihr. Und wissen Sie warum? Schneemann, das ist mein Geschoß. Die kleine Herta, jawohl. Mit dem Pfeil, dem Bogen. Hab’ ich mal die Türe auf, dann bin ich drin.«
»Wadzek, Sie haben den Mut, Ihre Tochter in diese Löwenhöhle zu werfen?«
»Löwenkäfig, sehr richtig. Sie halten auch diesen Ausdruck für passend.«
»Ich könnte es nicht über das Herz bringen, meine Tochter –«
»Jedenfalls sind wir über diesen höchst charakteristischen Ausdruck aneinandergeraten, Gabriele und ich. Aber ich gebe ihr meine Tochter. Wir sind Könige, gleichsam Könige, wenn wir arbeiten; alles andere unterwirft sich, muß dienen, Familie, Haus, Tochter. Ob gern oder ungern, ist gleichgültig. Wir haben jetzt andere Waffen als zu früheren Zeiten.«
»Geht sie?«
»Sie muß. Ich setze sie in ein Auto und schicke sie hin.«
»Menschenopfer«, schüttelte sich Schneemann in aufrichtiger Bewunderung, pellte sich ein Stück Goldpapier von den Lippen ab, das von der Zigarette hängen geblieben war.
Wadzek redete, während sie sich die Hüte aufsetzten, der Kellner mit dem Service klapperte: »Ich entschließe mich in diesem Augenblick dazu. Ernsthaft, ganz ernsthaft. Ich laß mir von meiner Frau nicht dreinreden. Der patriarchalische Gesichtspunkt ist der richtige. Das Kind wird in den Wagen gesetzt und geht hin.«
»Für die Moral bürgen Sie?«
»Bürge ich. Übrigens«, und dabei faßte Wadzek den dicken Schneemann unter den Arm und zog ihn auf die Straße, »würden Sie an der Moralität Ihrer Kinder zweifeln? Wenn solche Dinge in Frage stehen? Ich meine: noch dazu, wenn es sich um Dinge von solch überwältigender Tragweite handelt. Würden Sie an der Moral Ihrer Töchter zweifeln?«
»Meine älteste ist sieben Jahre –«
»Sagen Sie acht oder achtzehn oder achtundzwanzig. Ehrlich ans Herz gefaßt, Schneemann: würden Sie an der Moral Ihrer Töchter alles in allem zweifeln?«
Triumphierend lächelte er ihn an: »Würden wir an der Moral unserer Töchter zweifeln? Sie und ich? Schneemann, was?« –
Nachdem Wadzek seiner Frau erklärt hatte, daß er wieder Fühlung mit der Firma Jakob Rommel gewonnen habe, Fühlung im guten Sinne, und daß Herta gewissermaßen ein Unterpfand ihrer guten Beziehungen bilden solle, gab Frau Pauline nach; Herta stand an der Tür und dachte: »Ich wäre auch ohne euch hingegangen.« Sie schrieb nach dem Blumeshof schon längst verehrende Briefe, backfischhaft schwärmerisch.
Mitte Januar notierte die Börse: Lokomobil- und Dampfmaschinenfabrik Heinersdorf (Wadzek) 95½; Anfang Mai 74. In der Generalversammlung der Aktionäre hatte man gerötete Gesichter; niemand blieb sitzen; das Direktorium vermochte nicht durchzudringen. Als einer rief: »Fenster auf« – es war ein dunkler Tag, man saß in einem Hinterzimmer der Bavaria, – brüllte ein anderer: »Ja, mehr Licht in diese Machinationen.« Die Erörterungen über den Rückgang von Aufträgen waren endlos: »mangelnde Propaganda«, »die Direktion geht nicht mit der Zeit mit«, »wir sind nicht mehr auf der Höhe«. Wadzek wurde höhnisch: woher die Herren Fachkenntnisse hätten, ob es an der Börse eine Professur für Wärmekinetik gebe. Die lärmende Aufforderung, ein bestimmtes Rommelsches Modell, Expansionsmaschine, aufzunehmen, eine Abteilung für Turbinenbau anzulegen, lehnte er als schwachsinnige Zumutung ab.
Seine Ideen entwickele er fort, seine Ideen und keines anderen, erklärte er; er stehle nicht, habe dies durchaus nicht nötig. Zwei Direktoren an seinem Tisch drängten ihn, mit seinem alten sehr wirksamen Größenwahn als Fachmann dreinzuschlagen. Er zuckte mit dem Mund; zu einem Prokuristen der Fabrik beugte er sich über den leerstehenden Stuhl: »Ich garantiere, sie bewilligen neue Gelder, um samt und sonders zu verkaufen, wenn die Aktien anziehen. Es ist eine Freude mit dem Pack zu arbeiten.«
»Sagen Sie’s doch, sagen Sie’s doch laut.«
Er redete; seine klugen Äuglein liefen über die ersten Sitzreihen; er wurde immer von dem prustenden Gelächter eines Aktionärs unterbrochen, der auf zwei Stühlen saß, gemästet wie ein Schlächtermeister, den grünen Jägerhut schief auf dem ratzekahlen Kopf, hinter mächtigen Kehlwampen mit ganz hoher Stimme laut und ungeniert um sich sprach, dabei gelegentlich mit dem linken Daumen auf Wadzek zeigte. Wadzek sagte: »Die Fabrik ist gut, die Produkte sind gediegen. Die Vervollkommnung meiner Prinzipien bringt weiter als das neue Gefusche. Das Ganze ist ein Bluff von Rommel, auf den Sie nicht hereinfallen werden. Diese Geschichte, wie man sich eine lästige Konkurrenz vom Halse schafft! Er weiß, was ihm noch von mir blüht! Für Klippschüler eine Neuigkeit: Ausstreuung von modernen Ideen. Pusten werde ich Rommel und daran glauben. Schlauer Mann, versteht sich auf Tricks für das Publikum. Sieht man. Seine Turbos und Modell 65 sind heute rentabel, morgen stellen sich die Fehler heraus, die mäßige Verwendungsmöglichkeit. Die ganze Anlage ist zum Deibel. Unsere Konstruktionen sind erprobt, gut, sehr gut –«
»Gewesen«, quietschte der Schlächter.
»Über Gelächter fühlt sich ein Mann von Intelligenz erhaben. Ihr Geld, meine Herren, täuschen Sie sich nicht, ist tot ohne uns, die Konstrukteure. Mischen Sie sich nicht in unseren Streit, den Streit der Ideen. Von unserem Streit verstehen Sie nichts. Gleitet ab von mir, das Gelächter, vollkommen; es läßt mich völlig unberührt. Hier sind Dinge, an denen Sie nicht teilnehmen können. Ganz überflüssig, daß Sie mir sagen, daß ich Sie brauche. Ihr Geld hat Pech gehabt, daß es an Sie geraten ist. Ihr Geld tut mir leid; es ist ein Volk, das ohne Strategie geführt wird. Ich bekomme meine Truppe.«
Ein alter, feingekleideter Herr verfolgte den hin und her tänzelnden Wadzek mit einer Hornlorgnette: »Er ist goldig, Kinder. Goldig ist er.«
»Reden wir nicht. Die Zeit tut mir leid.«
»Mir tut mein Geld auch leid«, platzte der Schlächter heraus, drehte sich auf seinem Stuhl nach hinten, offenes Maul. Angesteckt die Nachbarschaft.
»Sie sehen doch«, sagte fiebernd und fade lächelnd Wadzek.
Wadzek schäumte. In der Wohnung warf er einen Handschuhweiter, der auf der Ofenkonsole lag, krachend auf die Diele:
»Sie zwingen mich, vergewaltigen mich.«
»Was ist los?« flehte die dicke Frau Wadzek am Fenster.
»Was los? Ich bin auf Abbruch verkauft. Ich geh’ als Monteur in die Häuser, schraube Glühbirnen an. Werde Schornsteinfeger.«
Er machte blitzartig rasche Bewegungen, strich sich mit einer Hand über die andere, als ob er die Haut abstreifte, sägte mit dem linken Arm, knixte zusammen. »Meine Zeit ist um. Rommel kommt.«
Er streckte den Hals vor.
»Du brauchst nicht die Gurgel hinzuhalten«, hob die Frau die Arme.
»Sonst packt er mich beim Schopf und dreht mir den Kragen um.«
Als sie ihn mit offenem Munde ansah, stieß er bissig hervor: »Die Ohren schneidet er mir ab«, fletschte nach ihr die Zähne. »Fränzel, ich hab’ doch nur gefragt. Man kann nicht mit dir reden.«
Wadzek saß rittlings auf dem Stuhl, die Stuhllehne fest vor der Brust, wie ein Reiter, dem das Pferd durchgehen will.
»Wie Schneemann lieg’ ich unter der Decke, die sie mir über den Kopf gezogen haben. Sie kriegen mich nicht so weit. Sie werden an mir was erleben. Einmal! Pauline!« schrie er drohender mit ganz verfinstertem Gesicht. »Sie kriegen mich nicht so weit. Ich hab’ mich ehrlich mit ihnen jahrelang herumgeschlagen. Bin ich ein ehrlicher Mann gewesen?«
»Ja doch, Fränzel.«
»Franz heiße ich. Man darf mir nicht die Arbeit aus der Hand nehmen, mich auf die Straße schicken. Wegen Geld. Wegen Geld. Mich wie eine Gans rupfen. Sie tun unmenschlich, unmenschlich an mir. Ich ertrag es nicht.«
»Aber, Franz, es ist ja noch nicht so weit. Du machst dir alles so schwer.«
Die Frau wanderte ungeheuer an ihm vorbei; er redete sonst nie Geschäftliches mit ihr, sie wußte keine Antwort. Er sprach leise in Angst, ließ das Pferd los, öffnete die Arme, seine blauen Augen gingen abwesend im Zimmer herum. »Geld brauch’ ich, Pauline. Ich muß mit Rommel sprechen, ich muß betteln bei Rommel.« – Er stöhnte, schüttelte gefoltert den Kopf. Er blickte stumpf an seiner roten Weste entlang, bemerkte, wie er auf dem Stuhl saß, stand langsam auf, schwang das linke Bein herum.
»Du bist wohl durch den Schmutz gegangen«, flüsterte sie entsetzt; der linke Lackstiefel war wie aus Lehm gezogen.
»Kann sein«, gleich darauf blickte er sie hitzig, voll Grimm an. Unsicher zappelte er am weißen Ofen, legte sich den blauen Seidenschal um, kramte unter Zeitungen, die auf dem Tisch lagen; seine Hände arbeiteten abwesend, während er lebhaft mit den Augen zwinkerte, lautlos die Lippen bewegte. Befangen sagte er, als er den leichten Sommerpaletot unter den Arm knautschte, den Schirm nahm: »Ich habe mit dem Mann eine Auseinandersetzung. Wir dürfen uns nicht ausweichen. Du wirst sehen, daß sie nötig war.«
An der Tür wollte sie ihn fragen, ob er nicht den linken Lackstiefel putzen lassen wollte. Aber sie traute sich nicht. Er blickte sich um, ob sie ihn zurückrief, nicht zu Rommel ließ. Sie legte die Zeitungen zurecht.
Im Norden lag die Turbinenfabrik Rommels. Die Elektrische fuhr durch lange Straßenzüge aus dem Zentrum Berlins, über wimmelnde Plätze, auf breiten Dämmen. Das Leben der Stadt nahm kein Ende; hinter leeren Baustellen stiegen neue Buden, Restaurationen auf, Ablegestellen für Kohlen, Eisen; wie ein Korallenstock vergrößerte sich die Stadt. Die verdrängten Bäume stellten sich in Gruppen, Reihen hin. Und dann gab es plötzlich ein feines Surren. Surren, Summen von der Art, daß die Menschen sich zuerst die Ohren rieben, die Stirn kraus zogen, weil es nicht wich. Staubförmig lag es in der Luft verteilt.
Wie man weiterfuhr, stellte sich ein ruckförmiges Schüttern alle fünf Sekunden ein, als wenn entfernt ein Block auf die Erde geworfen würde. Bei einer Biegung um die Ecke verschwanden Bauzäune, Baracken; vor einer roten, langen Mauer qualmte eine Lokomotive mit Güterwaggons. Fronten aus Glas mit Stahlrippen, rote, unabsehbare Fronten, zahllose schwarze Dächer, Schornsteine. Schmalspurschienen unter einer voluminösen Einfahrt.
In der schallenden kühlen Torhalle Schlüsselkästen, Tafeln mit Anschlägen.
Rechts hinter dem gitterversperrten Torweg in den Gartenanlagen ein niedriges Gebäude, grau, für sich: Rommels Wohnung.
Parterre: Niedrige, gebräunte Räume; zuerst ein langer Kontorraum mit abgegrenztem Ladentisch; Bänke an der Wand. Mächtige Schreibtische, an denen vier Männer sich zu zweien gegenübersaßen.
Dahinter ein kleines Zimmer; sehr eingewohnt; nicht sauber, abgerissene Tapeten. Ein niedriger Geldschrank im Hintergrund, Plan von Berlin zur rechten Wand, Plan von Deutschland; ein kleiner Tisch seitlich mit Globus. Am Fenster links der Tisch. In Augenhöhe darauf eine weiße Tafel mit fünfstelligen Logarithmen, armhoch, mit Zahlen für einen Weitsichtigen.
Rommel saß auf seinem Polsterstuhl, sah Wadzek über seine Brillengläser an. Dem riesengroßen, breitschultrigen Mann hingen die unordentlichen Haarsträhnen in die Stirn. Er schmatzte mit den Lippen, pappelte wie eine alte Frau mit den Kiefern. Vor ihm stand auf dem Tisch ein kleines blaues Glas mit einem abgebrochenen Zahnbürstenstiel, damit rieb er von Zeit zu Zeit seine Zähne. »Es reißt wieder drin«, sagte er zu Wadzek, nachdem er ihn mit einem »Ah, große Ehre« begrüßt hatte. »Sie sind obenauf«, und er drückte die Zähne gegeneinander, daß es knirschte. Dann ließ er ihn ruhig sitzen. Stille. Klappern, Flüstern von nebenan.
»Was macht die Frau, was machen die Kinder, aber bitte, setzen Sie sich. Der Stuhl ist wacklig, warten Sie.«
Und er stampfte mit seinem Krückstock nach hinten an die Bureauwand; ein älterer Mann in blauer, verschossener Livree auf gebogenen Beinen kam aus dem Kontor.
»Einen anderen Stuhl.«
Der rotnasige Mann stellte den Stuhl hin, lächelte vertraulich den Gast an: »Der Herr Wadzek selber.« Als Rommel dann die Brille von der dicken, pickligen Nase hochschob auf die Stirn und den Gast mit seinen wasserblauen Augen dicht beglotzte und polterte: »Sie wollten sonst etwas«, war das Gespräch entschieden; es konnte nur mit Lärm oder Gefasel ausgehen.
Wadzek sprach hinter der Stuhllehne mit zittriger Stimme von der Geschichte der Industrie, des Geistes. Gebrauchte öfter den Ausdruck: »Wir unter uns.« Es sei eigentlich lächerlich, darüber zu reden.
Rommel brummte: »Sie sind in Not, die Konjunktur ist schlecht für Ihre Artikel, ja ja.« Da er undurchdringlich dasaß, sich die Zähne des Unterkiefers betastete, fuhr Wadzek erregt heraus, angreifend. Die Moden wechseln, Karussell, heute oben, morgen unten, Tradition, keine Tradition, einer hätte Verantwortung für den andern »von uns«. Erzählte von dem Kirchhof auf dem Potsdamer Platz, der schon seit hundert Jahren dastände, mitten auf dem Potsdamer Platz vor dem Bahnhof, trotz des Verkehrs. Der Alte knurrte, den Stuhl rückend, mit den Nüstern vibrierend; er konnte nichts von Krankheit und Kirchhof hören.
Wadzek nach diesem Trumpf lehnte den Rumpf zufrieden gegen seinen Stuhl, spreizte die Finger. Rommel rückte energisch seinen Stuhl gegen das Fenster, seine unrasierten Bartstoppeln krauend:
»Schon ganz recht, nur müssen Sie sich nicht an mich wenden, sondern mehr an einen Menageriebesitzer. Oder einen, der eine Bude hat, und der ausschreit: zehn Pfennig der kleinste Zwerg der Mark Brandenburg. So reich bin ich nicht, daß ich mir ein Museum mit Kuriositäten zulegen kann.«
Als Rommel zum Fenster hinausblickend murmelte: »Ihre Zeit wird später kommen, halten Sie sich, suchen Sie durchzuhalten«, stieg Wadzek die Galle ins Blut, er wetterte, während seine Augen flimmerten: »Es sind Schurken an der Arbeit, Herr Rommel, die mich vernichten wollen. Sie sitzen überall, man kann nicht heran an sie, weil sie sich einhüllen. Man kann sie rechts und links finden.«
»Was kommen Sie mir mit Schurken, Kirchhöfen, Menageriescherzen? Sprechen Sie deutlich, wenn Sie was wollen. Wer hat Ihnen etwas getan, was wollen Sie?«
Gehässig lehnte Wadzek ab: »Mir hat niemand etwas getan. An mich kommt keiner heran. Aber man möchte gern.«
Rommel trieb ihn mit stahlharten Blicken weiter zu sprechen; er hielt ihn fest. Wadzek quasselte ironisch, tat nonchalant, von oben her. Er amüsierte sich, lachte, dabei wandten sich seine Augen haßerfüllt auf Rommel und wichen von ihm zurück. Das Geschrei wurde größer. Als er zu Börsenwitzen überging, gähnte der alte Mann neben ihm, zwang ihn zu einer überfließenden Unterhaltung über Herta, die sich mit Fräulein Gabriele angefreundet habe. Wadzek war völlig aus der Balance; hatte seine Gewohnheit, im Schatten zu gehen, aufgegeben. Er legte ungeniert seinen Arm um die Stuhllehne, hing halb über dem Stuhl. Er griff auf den Schreibtisch nach einer Schachtel: »Ich darf mir eine Zigarre nehmen.« Überhörte, völlig beschäftigt mit dem Abknipsen und Anzünden, wie Rommel fragte, ob er nicht eine schwächere Nummer nehmen wolle. Der Diener stellte eine Flasche Fachinger vor den Alten. »Geben Sie mir die Hand, Herr Wadzek. Seien Sie vernünftig.« Wadzek nahm die Glückwünsche Rommels entgegen, der ihn beneidete, daß er die starke Marke rauchen könne. Der Gast seufzte in sich: »Ich bin für ihn tot, er drückt mir sein Beileid aus.« Laut sagte er, während er stolz grimassierte: »Wenn mir vielleicht Wilhelm ein Handtuch geben will. Ich schwitze ordentlich.«
»Es ist die Zigarre, Herr Wadzek; zu stark für Sie, verlassen Sie sich drauf. Man darf sich mit Zigarren nicht vergreifen. Sie nehmen das Herz mit.« Er hinkte ohne Stock um ihn, lachte: »Ordentlich schwitzen Sie. Auch im Nacken. Der Kragen ist ganz weich.«
Wadzek fuhr bis zur Rosenthaler Straße in der Elektrischen. Unterwegs machte er mehrfach Bewegungen zum Schaffner, daß er halten solle; aus der Ecke, in der Wadzek saß, verstand der Mann auf dem Perron aber nicht; schließlich stürmte Wadzek hinaus, sprang im Fahren ab: »So halten Sie doch!« rief er hinterher, während oben die Leute den Kopf schüttelten. Er suchte an der ihm unbekannten Häuserfront entlang; unklar flüsterte er fünfmal vor sich: »Hier ist es ja gar nicht!« Er stellte sich wieder an der Haltestelle der Elektrischen auf, schielte dabei mit einem Auge nach den Häusern, ob nicht doch etwas kommen wollte; bevor ein Wagen kam, lief er quer über den Damm in ein Zigarrengeschäft. Er telephonierte mit Schneemann: »Wo sind Sie jetzt eigentlich?« »Ich bin doch in der Fabrik, wo denn?« »Na ja. Schneemann, gewiß, in der Fabrik. Hören Sie mal, Schneemann, ich werde Ihnen ein paar Zigarren mitbringen. Wir müssen einmal etwas besprechen. Sie sollen sich selbst einmal überzeugen, daß keineswegs die Sache von mir eine bloße Einbildung, Vorstellung –« Von der andern Seite: »Bis sechs habe ich Dienst.« Im Zigarrenladen: »Beeilen Sie sich nicht, Schneemann! Wir haben Zeit, wir können mit aller Ruhe abwarten. Ich werde Sie abholen. Sie werden alles sehen, es ist mir vollkommen klar.«
Wadzek fuhr in einer Droschke sogleich auf das Patentamt, stürzte die Treppe hinauf in die Bibliothek. Als er die Zettel ausgeschrieben hatte für die beiden Bücher und der Diener die Titel laut las, sah ihn Wadzek triumphierend mit glühenden Augen an.
Mit Nachdruck sagte er: »Es sind gute Bücher, was?« Der Diener antwortete: »In zehn Minuten; setzen Sie sich so lange.« Wadzek freute sich weiter. »Wird gemacht.« Als er allein an einem der kleinen Tische saß und den Stock vor sich auf die Platte legte, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß seine Hände, ja seine Arme heftig zitterten, bis zu den Schultern herauf schüttelten. »Eine dolle Geschichte«, flüsterte er, an sich herunterblickend, legte die Arme breit auf den Tisch und vertiefte sich mit einem markierten Behagen in die Tätigkeit eines jungen Mannes, der Blatt auf Blatt voll Exzerpte schrieb. Wenn der Jüngling aufsah, prustete, stand ihm Wadzeks leeres Grinsen gegenüber. Der junge Mensch zog mit Zeitschriften, Blättern an einen Nachbartisch, Wadzek drehte, ohne etwas zu merken, seinen Stuhl, folgte mit den Augen. Sein Gegenüber schnitt ihm wütend nervöse Grimassen. Er lachte heiser auf, nickte dem Mann drüben freundschaftlich zu, wurde abgelenkt, als er merkte, daß von dem Zittern seine Stulpen rutschten. Und so stützte er den einen Arm auf das Knie, beobachtete die Politur eines benachbarten Tischbeins.
Plötzlich kam ihm in den Sinn, sich aufzurichten, den Hut in den Nacken zu stülpen, seinen Stock zu ergreifen; er wirbelte mit der Spitze des elastischen Holzes einige rhythmische Takte gegen die Tischflanke, nachdem er ein paar befehlende Schläge über die Platte gelegt hatte. Von mehreren Plätzen zischte man; der Diener rief: »Sie, Sie müssen ruhig sein.« Wadzek winkte ihm erheitert zu; »natürlich, aber natürlich, sofort, im Augenblick soll alles geschehen.« Zunächst blies er darauf vermeintlichen Staub von seiner Weste, sah plötzlich in einer grauen Stimmung um sich. Man saß ringsherum an den Tischen, man ging hin und her, nebenan wurden Zahlen und Firmen aufgerufen; alles schrieb, blätterte, flüsterte miteinander, flüsterte mit den Beamten. Es rauschte um Wadzek; er mußte versuchen, einmal hier jemanden etwas zu fragen. Er kniff eine freundliche, fast zärtliche Miene, ging auf den Jüngling zu, der ihn noch öfter fixierte. Er hatte das peinliche Gefühl, daß die Menschen und Möbel sehr weit von ihm entfernt waren, jeder etwas Verborgenes zu tun hatte. Gerade wie er sich um seinen Tisch schlängelte, brachte ihm der Diener die bestellten Bücher: »Herr Wadzek. Zwei Zettel.« Wadzek schaute ihn lächelnd, vertieft an, zog die Silben: »Das ist ja großartig. Sehr nett, sehr nett von Ihnen. Ich danke Ihnen.« Blieb allein zwischen den Stühlen mit seinen Bänden stehen. Er suchte von irgendeiner Seite einen Blick zu erhaschen. Dann legte er die Bücher auf den Tisch, las stehend. Im Beginn sah er noch öfter um sich, dann saß er, hatte das Buch zwischen den Knien. Sein Zittern ließ nach. Er las von Watt und Stephenson. Heißer und heißer las er sich. Er biß sich fest.
Erregt stürzte er an die Ausleihstelle, er wolle die Bücher mitnehmen; unterschrieb rasch die grünen Zettel. Der Diener, der ihn studierte, bemerkte kein Zeichen von Vertrautheit mehr an dem Mann; Wadzek hatte einen verkniffenen Ausdruck, war hastig, ohne Augen. Er schimpfte auf den Diener: »Verwischen Sie doch meine Unterschrift nicht. Ach was, Sie können sich vorsehen.«
Die Gitschiner Straße herunter; Belleallianceplatz. Fuhr die Friedrichstraße hinauf, Querstraßen, vor die Fabrikfiliale, in der Schneemann angestellt war. Der Dicke stand finster vor der Portierloge. Wadzek war außer sich: »Schneemann, wenn ich gewußt hätte, daß Sie schon da sind, wäre ich früher gekommen. Ich habe auf dem Patentamt warten müssen. Sie sollen einmal lesen hier, Sie sollen selbst lesen und sehen als unbeteiligter Objektiver, – wie die Sache ist.« »Wir müssen aus dem Gedränge heraus.« »Kommen Sie in einen Hausflur, kommen Sie, Sie sollen selbst sehen.« Wadzek zog Schneemann unter eine Einfahrt; an dem Prellbock stellte er sich hin, klappte ein Buch auf. Wie Wadzek einen Blick auf das Blatt getan hatte, machte er langsam wieder den Band zu; in einer fast unfreiwilligen Bewegung, während ihm ein Schluchzen in die Kehle stieg, umfaßte er Schneemann bei den Schultern, klagte: »Schneemann, meine Hände zittern. Sagen Sie, was mir dieser Mann antut, dieser Rommel, ist eine Schande vor Gott und den Menschen. Mein Kragen ist weich geschwitzt, ich werde mich erkälten. Er ist ein niedriger Mensch; er ist die Roheit und die Niedertracht in einer Person. Sie hätten den Menschen sitzen sehen müssen, in seinem Bureau; wie ein Moloch, wie ein Verderber und ein Erwürger saß er da, und ich habe mich erniedrigt und mit ihm gesprochen. Nichts, nichts, nichts.«
Schneemann sah ihm unsicher in die nassen Augen: »Sie sind bei Rommel gewesen? Ich dachte, Sie waren im Zigarrenladen.« »Nachher, es ist eine Schande. Nehmen Sie mir die Bücher ab. Meine Frau hat mich auch laufen lassen; es ist kein Verlaß auf Menschen. Schneemann, glauben Sie an keinen Menschen, vertrauen Sie mir.« Schneemann hielt den kleineren Mann, der an seiner Brust schüttelte, zog ihn tiefer in die dunkle Einfahrt; in der linken Hand hielt er Wadzeks Hut, der heruntergerutscht war. An seiner Brust knirschte und brüllte Wadzek: »An keinen Menschen glauben Sie, – hören Sie? – nicht an Weib und Kinder, und wenn es die eigenen sind. Es ist ausgemacht, daß mit ihnen nichts ist. Schaffen Sie sich Nebenweiber an, Dutzende, führen Sie ein Leben wie ein König, in Saus und Braus, und hören Sie nicht darauf, was Ihr Weib flucht. Peitschen Sie sie, zermalmen Sie sie. Wahrhaftig, Schneemann« – und dabei hob Wadzek sein stark gerötetes, zuckendes Gesicht vor das seines Freundes –, »zermalmen, das ist der richtige Ausdruck. Geben Sie mir meinen Hut. Ich hätte es nicht nötig gehabt, zu Rommel zu gehen.« »Er ist ein Parvenü«, sagte trauervoll Schneemann, »wir wollen ein Glas Wein trinken gehen.« Während Wadzek erst hitzig mit dem Kopf ruckte und sie gemächlich am Rand des Bürgersteiges trotteten, wurde er kleiner und kleiner; er jammerte: »Warum wollen wir denn Wein trinken gehen? Wir können doch auch Bier trinken. Kommen Sie hier rein. Ich kann Ihnen sagen, Schneemann, – geben Sie mir die Bücher her. Hier werden Sie alles lesen. Wissen Sie, was mit Stephenson passiert ist, als er seine Geschichte machte? Wissen Sie?«
Sie saßen in der Kutscherkneipe am gescheuerten Weißbiertisch. »Das wissen Sie nicht. Ich trinke ohne Himbeer, ich trinke einen Kognak, einen Danziger. Wissen Sie, was mit Nobel passiert ist, dem Dynamitnobel, dem Schweden. Der ist in – Stücke beinah zerrissen worden, als er die Sache mit dem Kieselgur heraus hatte. Die Sache fällt herunter, explodiert, daran hat er’s gemerkt. Aber einem andern, Sie werden’s hier lesen, ist es dann später wirklich so gegangen, zerrissen, in die Luft gegangen mit der ganzen Fabrik; sämtliche Anlagen. Und doch war die Zukunft mit ihnen.«
Wadzek beugte sich flüsternd über den Tisch: »Sie sind selbst ein Mann, dem man das Leben hat verpfuschen wollen. Sie verstehen, was ich sage mit: der Zukunft. Die große lockende Zukunft, lockend, lockend, wissen Sie. Wem die Zukunft gehört, Rommel oder mir oder uns, Schneemann, das soll sich jetzt entscheiden.«
»Er hat wie ein Moloch dagesessen und wollte Sie verschlingen.« »Wie ein Moloch. Sie fürchten sich, Mensch, Mensch, Sie fürchten sich.« Schneemann warf sich zurück, seine Augen funkelten böse: »Lächerlicher Vorwurf. Ein Mann von meiner Art fürchtet sich vor der Sorte nicht. Weil er mein Chef ist? Hä!«
Wadzek drängte heiser: »Sind Sie mein Mitkämpfer? Ohne Barrikaden, wenn der Sturm losbricht, mit offener Brust stehen wir da.« »Ich stehe auf Ihrer Seite«, sagte gedrückt Schneemann und ließ sich nicht ins Gesicht sehen.
Wadzek mit glühenden Backen: »Auf meiner Seite. Und wenn wir explodieren, – wir explodieren vielleicht, – auf welcher Seite –?«
Schneemann schlug mit der Faust auf den Tisch, brüllte: »In die Luft flieg’ ich, den Hals schneid’ ich mir ab. Sie, Sie sind feige und wollen mich triezen. Ich habe Ihnen nichts getan, Sie dürfen es nicht zu weit treiben.« »Sie stehen nicht auf meiner Seite«, zischte Wadzek, »gestehen Sie.« »Ich trink’ einen Kognak. Nehmen Sie Ihre Bücher. Ich geh’ meiner Wege.« »Junge, Junge«, schüttelte Wadzek zornstrotzend seinen Arm über den Tisch.
Während sie nicht sprachen, drückte sich Schneemann giftig auf seinen Stuhl, in Wadzeks Gesicht vibrierte jedes einzelne Muskelbündel; Wadzek bestellte mit weinerlicher, höhnisch aufgeschraubter Stimme ein Glas Kognak nach dem andern und stürzte es herunter. Er las eine Seite seiner Bücher mit verdunkelten Blicken; seine Hände wurden schwer und heiß; sie pulsierten.
Er gröhlte, während ihm der große Kopf auf dem Hals schwankte: »Herr Wirt, wer mein Feind ist, braucht nicht an meinem Tisch zu sitzen.« Die Frau sagte: »Der Wirt ist eben nicht hier. Soll ich was bestellen solange?« Er drehte sich empört um, fixierte sie lange, wandte ihr wortlos den Rücken. Er schrie Schneemann an: »Was soll ich hier? Sie kenn’ ich nicht, Mann; Sie werden mir Rechenschaft geben, wie es sich für einen Mann von Ehre gehört. Wer die Fahne verläßt, wo schon der Kanonendonner tönt, ist nicht nur ein Deserteur im gewöhnlichen Sinn, sondern mein Feind; sehen Sie mich an, Sie sind mein Feind.« Schneemann blickte melancholisch herüber zu seinem Begleiter, der unsicher schwabbelte und stark zu fuchteln anfing: »Ich werde bezahlen.« »Tun Sie das, da steht der Wirt – wo ist der Wirt?« »Er ist einen Moment rausgegangen, Herr. Soll ich was bestellen?« Wadzek stand auf, sah sie lange mit leeren Augen an; er wandte sich gegen Schneemann, bemerkte langsam: »Diese Frau spricht wie ein Kind.« Schneemann zahlte. Wadzek beobachtete dicht neben der Frau jede der Bewegungen, mit der sie das Geld nahm, Nickel herausgab, mit der Schürze die Tischplatte abwischte; er fragte Schneemann: »Hab’ ich recht? Sie ist wie ein Kind. Sie bückt sich, sie bewegt sich, wir werden das nie verstehen. Im Volk lebt noch etwas, was –; merken Sie sich einmal den Namen dieser Straße.« »Kommen Sie, Ihre Bücher.«
Draußen, wo ein leiser Sprühregen niederging, stellte sich Wadzek nach ein paar Schritt mit dem Rücken gegen eine Laterne; er lächelte seinen dicken Begleiter verschämt an: »Schneemann, wir haben da eben nette Sachen gemacht; es bleibt unter uns.« Der drängte verstockt weiter, sie sollten zu einer Haltestelle gehen; außerdem sei ihm etwas klar geworden. Wadzek schlug freudig die Bücher gegeneinander: »Lesen Sie die Bücher, diese herrlichen Dokumente. Sie werden nicht mehr irren; Sie werden wissen, worauf es ankommt. Ohne Religion, ohne Überzeugung.« Seinen Kragen klappte sich Schneemann hoch; er spekulierte trotzig von innen heraus: »Ich muß mir mein eignes Urteil bilden. Ihre Fabrik muß mir zugängig gemacht werden.« »Tag und Nacht steht sie Ihnen offen.« »Jeder Winkel?« »Meine Hand, König Schneemann.« »Ich will in Ihre Konstruktionen eingeweiht sein.« »Treten Sie ein in meine Fabrik; ich nehme Sie auf als meinen Bruder. Kommen Sie zu mir, Weißmann, Sie wissen nicht, was mir dieser Rommel heute angetan hat, kommen Sie an meine Brust.« Wadzek weinte: »Ein Moloch, ein Drache, ein Ungetüm. Aber wir treten ihm entgegen. Morgen werden wir den Kampf einleiten, wir zwei Menschen, die noch wissen, wo die Sonne aufgeht.« Wadzek schäumte: »Umbringen muß ich Rommel, ich schwör’ es Ihnen zu, Schneemann. Es ist mein voller Ernst. Ich muß ihn unter mir sehen, leidend, ohne Herz, mit herausgerissener Kehle.« Schneemann setzte ihn in eine Droschke: »Ich komme morgen früh in Ihre Fabrik.« Hitzig stampfte er allein durch den Regen.
Wieder war Schneemann am nächsten Morgen früher da als Wadzek. Sie trafen sich vor der Lokomobil- und Dampfmaschinenfabrik Wadzeks in der Malchower Straße. Wadzek war heiter, lobte den erquickenden Morgen. Sie schlüpften durch die ausgeschnittene Eisentür in die mittlere Fabrikhalle, über die seitliche Galerie in Wadzeks Konstruktionsraum. Schneemann lehnte es ab, seinen nassen Sommerpaletot auszuziehen; er hätte schon lange genug Zeit vertrödelt; er wollte offenbar widersprechen. Auf Zeichenbrettern, langen Holzplatten über Böcken, die er aufstellte, breitete Wadzek behaglich, mit stiller Feierlichkeit die Pläne einiger wichtigen Maschinen auf. Er bat Schneemann, nur Platz zu nehmen; er brauche keine Hilfe. Aus seinem Schreibtisch zog er fünf Schreibmaschinenhefte, denen er Konstruktionsschemata entnahm; er heftete sie mit Reißnägeln an die Wand. Als er für das letzte keinen Platz fand, hob Schneemann ein Bild in rundem Rahmen von der Tapete ab; sein Partner zog die Stirn hoch, stellte sich hinter Schneemann, betrachtete andächtig das Bild: »Es ist Reuleaux, Schneemann. Nun, Sie können meinetwegen das Bild so lange halten.« Der stellte das Bild in eine Ecke; Wadzek bat Papier unterzulegen.
Als alle Pläne ausgebreitet waren, machte der Hausherr eine einladende Handbewegung. Sie beugten sich über einen Tisch, Schneemann zog Papier und Bleistift hervor, sie fingen an zu rechnen. Hitzig stürzte sich Schneemann hinein. Er hatte die Nacht nicht schlafen können; war wütend auf Wadzek, der ihn kujonierte; es erbitterte ihn, daß der ihn beim Wort nahm, zum Bekenntnis zwang, auf welcher Seite er stand. Sie stritten über den schädlichen Raum eines Kolbens, über den Reibungsverbrauch. Schneemann kauzte auf einem Schemel, examinierte seinen Freund wie einen Verbrecher; er genoß seine Rolle, er schwang sich auf in dem lebendigen Kampf der Meinungen; erkämpfte sich seinen Platz. Wadzek focht grimmig; es waren schlimme Tage für ihn; in der Not lernt man seine Freunde kennen; Schneemann wollte ihm den berechneten Drosselungsabfall nicht zugeben. Sie gingen hin und her mit ihren Papieren; das Surren der Fräsmaschinen tönte herauf; die Stimme des kleinen Wadzek wurde in dem Kampf gell; er lud Schneemann ein, an Ort und Stelle nachzuprüfen, sie wollten heruntergehen. Die Augen des Dicken flackerten: »Kein Streit vor dem Personal.« Wadzek dozierte sicherer, sprach die einfachen Rechenzahlen überzeugt wie ein Bekenntnis aus, ließ sich mit keinem Vibrieren der Stimme ein Schwanken abmerken, es handelte sich um Sein und Nichtsein. Er setzte neben Rommels Schiffsturbine und das Modell 65 seine vierzylindrige Expansionsmaschine mit dem geteilten Hoch- und Niederdruckzylinder R4; ein kritischer Punkt kam; Schneemann bemerkte nichts; Wadzek fiel das Papier aus der Hand; er war halb ohnmächtig. Schneemann zog den Strich unter eine Rechnung; die Sache stimmte.
Ein Junge kam mit dem Frühstück herein; er setzte das Tablett auf das Pult, zog sich rasch zurück, als er seinen Herrn verstört an der Wand hinrutschen sah. Schneemann strich sich befriedigt den Schnurrbart; er hatte Hunger. Ihm war Genüge getan. Wadzek sah zu ihm mit einem verschleierten Blick herüber. »Man muß kämpfen«, schmetterte Schneemann, hieb ein: »geschenkt wird einem nichts.« Wadzek lud ihn ein, von der Gurke zu essen; der Gast fand, daß nur ein Besteck mitgekommen sei. Wadzek klingelte. »Geschunden wird man«, flüsterte er schlotternd am Tisch; keinen Bissen rührte er an. Schneemann grinste geschmeichelt und machte eine Bierflasche auf; ob sie nicht anstoßen wollten. Ihm öffneten sich Perspektiven; er sah sich als Fahnenträger im Streit gegen Rommel, vorn in der ersten Reihe, Ritter Georg. Wadzek winkte ab, saß vor den Kopf gestoßen da. Schließlich wurde Schneemann animierter, rückte schmausend mit dem Vorschlag einer gewissen Ventilverbesserung heraus; er hätte einen jungen genialen Menschen kennen gelernt, der sich vergeblich bemühe, sein Patent unterzubringen. Wadzek folgte lahm; eine Bemerkung Schneemanns packte ihn; er befeuchtete sich die Lippen mit Bier; in rasch wachsender Erregung, die seinen ganzen Körper gefangennahm, ließ er sich von seinem Partner das Prinzip der Verbesserung aufzeichnen. Fast mit Erschütterung brach er aus: »Und damit kommen Sie jetzt?«
Schneemann erlebte eine feierliche Renaissance. Mit umständlichem Pomp transportierte er eines Tages jenen Knirps von Erfinder in Wadzeks Fabrik, der eine wichtige Verbesserung eines Ventilverschlusses sich hatte patentieren lassen. Kein Wort ließ der stolze Schneemann über seine Lippen bei der folgenden Besprechung Wadzeks mit dem Mann. Er wollte die große Offensive einleiten, R4 gegen Modell 65.
Rommel ging die eiserne Wendeltreppe hinauf, die aus dem Bureau in seine Stadtwohnung führte. Das dicke Dienstmädchen wischte an einem unförmigen Polsterstuhl, der auf einer Erhöhung in der Fensternische stand. Rommel sah über die Brille weg: »Was machen Sie da?« »Fräulein Gabriele kommt gleich; sie hat angeklingelt, kommt gleich.« Er verfolgte sie mit dem Blick wie einen Hund, nach dem man mit einem Stein zielt; sie drückte sich.
Gabriele im schwarzseidenen Nachmittagskostüm, Spitzenweste mit Hermelin, einen riesigen Muff schwingend, lief durch die Küche herein, warf Hut, Muff und Ledertasche auf das verblichene Plüschsofa, schwatzte vor dem hohen Spiegel: »Es ging nicht früher, hat dir Minna nicht bestellt. Alterchen, wie siehst du unrasiert aus.« Ihre Augen schmal, schwarz, wie lackiert, erinnerten an Japan; Backenknochen massiv in dem schmalen Gesicht hervortretend; leichte rote Tönung auf der straffen Wangenhaut. »Also Franz hat sich wieder ein Hauptstück geleistet. Ich sage ihm, er soll für dich Lachsschinken besorgen, Steinplatz, Nummer so und so. Läuft er ohne zu Ende zu hören davon, vor lauter Ehrerbietung, saust dreimal um den Steinplatz herum, kommt zurück und fragt mich: welche Nummer. Welche Nummer? Ich meine Telephon Steinplatz, Amt.« »Er trinkt viel, nur Bier.« Sie ging zu ihm; er las die Vossische Zeitung auf dem hohen Polsterstuhl. Sie drückte ihr schwarzes parfümiertes Haar an sein Gesicht: »Alterchen, du verdirbst dir deine schönen braunen Augen. Komm, nimm die Brille ab.« Sie dachte: »Wie entsetzlich alt sieht er heute aus um den Mund. Ich werde ihn bald pflegen müssen.« Rommel brummte eitel: »Früher konnte ich frischer blicken; man kannte mich dafür.« Sie sprach beklommen; seine Hosen waren ausgebeutelt in den Knien: »Ich will dich gar nicht anders haben. Nicht jünger, nicht älter. Immer könnte ich mich an dir festhalten. Der Zigarrengeruch, der Polsterstuhl, deine Vossische Zeitung.« Sie fuhr beängstigt fort, langsamer, gesangvoller: »Ach laß mich doch sprechen, Jakob. Jakob heißt du. Das ist die Geschichte von dem Erzengel, der mit Jakob rang; ich hab’s im Museum auf einem Bild von Rembrandt gesehen. Es ist ein wundervolles Bild. Es hat mich so ergriffen. Jetzt bin ich bei Jakob Rommel.«
»Man hat dich wieder betrübt?« Seine Nase war rot geworden; Rommel weinte leicht.
»Laß mich erzählen. Ich muß es mir genau vorstellen, wer du bist. Was gehört dir alles, was hast du alles gemacht. Was sind die anderen gegen dich.« Sie setzte sich auf seine Knie, ohne ihn anzusehen, den Blick zum Fenster hinaus: »Leg’ dich zurück; drücke ich dich? Ich bin gar nicht unruhig; ich kann dich auch ganz und gar ansehen. Jeden Pickel, jeden Pickel kann ich ansehen. Stoppeln hast du. Hauch mich mal an; ach bitte, hauch doch. Ja. Es ist nicht bloß so im Traum gesagt. Du hast mich in der Tasche, du hast mich so bei dir wie diesen Knopf.«
»Du bist so erregt, Gaby, ach Gott, bist du erregt. Komm, bleib nur sitzen.«
»Ich bin dir zu schwer. Ich kann auch alles hören, was du sagst. Da, küß’ mich, wenn du willst. Ich will dir grade ins Gesicht sehen, hier am hellen Fenster.«
»Ich küss’ dich ja, Gaby. Ach Gott, was du für Zustände hast. Was steckt nur dahinter. Man läßt dir keine Ruhe.«
Sie sprang auf, schüttelte ihre Kleider zurecht, rieb sich das Gesicht: »Entschuldige; ich rufe Minna. Ich muß mich noch waschen. Wir essen gleich.«
Sie saßen an dem runden Tisch, Gabriele legte ihm vor. Das Mädchen brachte Salat. Gabriele ließ die Gabel auf den Teppich fallen: »Was sind eigentlich Aktien?« Er lachte.
»Willst du welche kaufen?«
»Ja. Wo kauft man welche?«
»Aktien? Bei Wertheim in der Papierabteilung kriegst du alle Sorten. Jedenfalls nicht in der Abteilung für Lebensmittel.«
»Herta versteht all diese Sachen. Sie ist ein süßes, ein süßes Mädchen. Du glaubst übrigens nicht, wie unsauber, innerlich unsauber Mädchen in diesem Alter sind, diese Mädchen der anständigen Gesellschaft.«
»Ihr Vater ist ein Faselhans. Er war bei mir. Unbeschadet, was er um dich getan hat.«
Gaby blickte auf das Salzfäßchen: »Doch. Er hat sich viel Mühe mit mir gegeben, als ich nach Berlin kam. Ich hätte dich nicht gefunden ohne ihn. Er ist ein Menschenfreund von Hause aus.«
Rommel aß eine Semmel. »Wer wird sowas halten. Ein Kaufmann, der seine Positionen nicht ausnützt, versteht sein Geschäft nicht.«
»Aber Wadzek hilft so vielen. Jetzt hat er Pech.«
»Weil er ein Ochse ist, und darum wird er es auch zu nichts bringen. Er ist nicht wert, daß man von ihm zwei Worte spricht.«
Sie betrachtete Rommel: »Wie du von Menschen redest.« Sie legte ihre Serviette auf dem Schoß zurecht: »Du weißt noch, wie wir das letztemal in Freiburg waren. Wir sind das Hölltal hinaufgefahren, bis zum Titisee, an all den sonderbar benannten Stationen vorbei, Hirschsprung, Kirchzarten, wie heißen sie noch. Ich habe mich nur gewundert über dieses Ganze: wie dies Zerreißen der Berge möglich war, daß die Eisenbahn hindurchfuhr. Und die Berge stehen eisern da, so eisern mit ihren Serpentinen im Schnee. So fahre ich an dir entlang und wundere mich, daß ich eine Furche zurücklassen konnte. Wie ich mich eingraben konnte. Du Koloß. – Deine Frau hat mir wohl den Weg gebahnt.«
Er lachte grimmig: »Du hast recht. Sie konnte das. Sie war mehr als Dynamit. Ich wundere mich nicht, daß sie sich eingegraben hat, sondern daß ich noch lebe. Diese tote Frau, Gaby, zerriß, zerriß mich wie einen Leinwandfetzen. Und meine lieben Verwandten, Söhne und Töchter halfen ihr. Wie lange bist du bei mir? Vier Jahre, fünf Jahre. Sie werden dich bald mürbe gemacht haben. Ich bin nicht hart, Gaby, ich war früher härter, eisern. Dir tut dieser Hampelmann, der Wadzek, leid; es sind mir noch andere in die Quere gekommen – und es soll noch besser werden. – Ißt du nicht Bananen?«
»Ich werde dir eine zurecht machen, – laß nur; ich mache schon.«
»Man hat noch etwas vor im Leben; ich sitze in Westfalen fest, und es soll von der Stelle gehen. Aber zu Hause hat man Nagetiere, Beißgesindel, das einem zusetzt, daß man bröcklig wird. Lahm soll man werden.«
»Ja, Minna«, sagte Gaby zu dem Mädchen, »Sie können abräumen. Machen Sie das Fenster auf, das obere. Bringen Sie Fachinger für den Herrn und für mich etwas Bordeaux.« »Wadzek tut mir leid«, meinte sie weich zu Rommel. »Ich bin ihm verpflichtet.«
Der Alte machte eine unwirsche Handbewegung. Hinter dem Mädchen knallte er die Tür zu, die Serviette riß er sich von der Jacke und warf sie auf den Teppich: »Warum wollen wir nicht heiraten? Ich will es der Welt zeigen. Die schlechten eigennützigen Menschen warten auf meinen Tod.«
Gaby auf dem Stuhl hinter ihrem Glas blinzelte stumm vor sich; leise sagte sie: »Ich will nicht, Rommel. Du darfst damit nicht kommen.«
Er brauste am Spiegel auf: »Du bist die Tochter eines Seeoffiziers. Deine Familie ist nicht schlechter als meine. Leutnant Wessel war so gut wie Jakob Rommel. Was soll ich dir bieten? Du kannst von mir haben, was du willst.«
»Ich weiß.«
»Ich weiß! Du spottest mit mir.«
»Du bist alles, was ich habe. Ich spotte nicht. Ich bleibe schon, wie ich bin und was ich bin.«
Er fuhr dröhnend heraus. »Was bist du? Was?«
Sie antwortete nach einer Pause zärtlich: »Deine Mätresse. Und will es bleiben.«
Ein doppelter Schlag erfolgte gegen Wadzeks Fabrik. Die große Elberfelder Firma, welche in Holland Filialen besaß, in Java, Mittelamerika und Nordafrika elektrische Kraftstationen installierte, teilte Wadzek mit, in einem gewöhnlichen Geschäftsbrief, daß sich seine neue B. T.-Maschine, Katalog Nr. 278, zwar im Elberfelder Werk vorzüglich bewährt hätte. Aber die Jahresabrechnung hätte ein bemerkenswertes Resultat ergeben; es sei Herrn Wadzek wohl nicht unbekannt, daß ihre Firma versuchsweise zwei Dynamomaschinen mit Turbinenantrieb auf der Barmener Unterstation eingestellt habe; der entsandte Vertreter R. von Wadzek habe ja mit Interesse persönlich davon Kenntnis genommen. Diese Unterstation nun habe mit einer ganz auffälligen Gewinndifferenz gegenüber den Stationen alten Systems gearbeitet. Es beliefe sich diese Differenz auf so und so viel, und zwar verteile sich diese Summe, wie folgt. Die Chefingenieure seien von der Betriebssicherheit und Leistungsfähigkeit des neuen Turbosystems völlig überrascht; man würde vorderhand jedenfalls keine neue Maschine mit Kolbenstoß einstellen, wofern nicht die weitere Prüfung im Versuchsfelde anders belehre. Sie fragen bei der Gelegenheit an, ob die Gerüchte über Fusionierung seines Betriebes mit den Rommelschen Werken begründet wären und ob sie ihren ernstgemeinten Glückwunsch zu dieser Transaktion aussprechen könnten.
Wadzek tobte. Schneemann mußte kommen.
Der Kleine schrie ihm entgegen: »Ernstgemeinter Glückwunsch!«
Schneemann zitterte, suchte es zu verbergen: »Und was wird aus Java?«
»Da wandern wir aus, als Landarbeiter. Wir sammeln Kaffeebohnen. Da brauchen wir keine Stiefel zu tragen, man geht barfuß. Wir sparen Geld.«
Schneemann wiederholte betäubt: »Was wird aus Java?« Wadzek steckte ihm den Kopf entgegen: »Eine Ferienkolonie für uns beide. Das Fahrgeld werden wir ja nicht haben; aber man transportiert uns vielleicht aus Gnade in einer Bücklingskiste. Javaner essen leidenschaftlich Bückling. Warum nicht.« Schneemann lächelte elegisch zum Fenster hin: »Da haben wir nun den Knirps, der ein großartiger Ingenieur ist; er sitzt Tag und Nacht, und ist gleich dicht dran, die Sache unserem Typ anzupassen. Da kommt der Rommel her und sagt: Nee, das machen wir nicht; erlaub’ ich nicht.« Wadzek fragte: »Soll ich Ihnen ein gebrochenes Veilchen schenken, damit Sie weinen können? He? Sie haben ja schon eine rote Nase. Und wir fangen eben erst an. Warum sind Sie gestern nicht hier gewesen; wir haben auf Sie gewartet.« »Ich konnte nicht, ich konnte nicht. Ich bin mit meiner Frau und der Ältesten in einen Garten gegangen, und nachher waren wir im Kino.«
Empört blieb Wadzek stehen: »Sie machen sich lächerlich, Sie mit Ihrem Kino. Der Knirps und ich warten auf Sie; Sie haben die Tabelle 5 mitgenommen. Und statt dessen schleppen Sie sich mit einem kleinen Kind durch die Kinos! Durch die Kinos!« »Wanda ist schon neun Jahre; sie versteht alles. Außerdem: ich muß mich erholen. Ich mußte wieder zu mir kommen. Es war ein schlimmer Tag für mich.« »Sie sind wohl gekündigt worden, wegen Hochverrats?« Der Dicke warf ihm einen kläglichen Blick zu: »Das möchten Sie wohl auch. Ich sage jetzt gar nichts mehr.« »Sagen Sie nichts, sagen Sie etwas. Mir helfen Sie damit nicht. Den Posten kriegen wir nicht wieder rein.« Während er herumraste, fing Schneemann, der sich alles sagen ließ, leise am Fenster wieder an: »Wenn ich mit dem Kind gestern ins Kino gegangen bin, so hab’ ich kein Unrecht begangen. Es hat seine besonderen Gründe gehabt.« »Sie wollten mir die Tabelle nicht bringen.« »Ich war nachmittags auf der Bank und unterhielt mich mit dem Filialleiter, dem roten Blumenthal. Er hat mir allerlei erzählt, was eben nicht –« »Was denn: eben nicht?«
Auf den Blick Wadzeks antwortete er mit drohender Geste: »Ihnen steht bevor, was mich gestern mitgenommen hat, so daß ich in der Tat die Tabelle vergessen habe. Sie können mir nicht vorwerfen, daß ich, ich Schneemann, Versprechen nicht innehalte. Sie können –« Mit gehobenem Zeigefinger kam Wadzek auf ihn zu, auf den Zehen: »Aber von dem sie neulich redeten –« Schneemann nahm ihm beinah triumphierend das Wort ab: »Sehen Sie, ja dieser Abegg. Da haben wir den springenden Punkt. Der vorgeschobene Mann, der Strohmann, von ihm war die Rede.« »Wieviel?« flüsterte Wadzek, der ganz still dastand, die Augen zusammenkniff, den Kopf senkte, als wenn er einen Stoß erwarte. »Ich weiß es nicht. Man kauft Ihre Wechsel auf. Allesamt; beinah alle. Weiter nichts. Blumenthal wußte es auch nicht; die Sache stammt von dem roten Blumenthal.« Prahlend fuhr Schneemann fort: »Was ist nun mehr: das, was in dem Brief steht oder was ich bringe?« Mit Genugtuung sah er Wadzek dastehen, verdonnert, mit dem Zeigefinger der linken Hand immer um einen Knopf herumspielend.
Leise fragte der Kleine, ohne den Kopf zu bewegen, immer den Finger drehend: »Wo wohnt er?« Schneemann lachte heraus: »Das ist ja alles Finte. Der Name ist unrichtig, alles ist unrichtig. Der Mann hat ja nicht einmal eine Wohnung, wahrscheinlich wenigstens. Es wird ein Kommis sein, ein stellungsloser Mensch, oder ein älterer Mann, der sich so sein Geld verdient.« »Seine Wohnung könnten Sie herauskriegen?« Lächelnd besah ihn Schneemann: »Na, wie geht’s Ihnen also. Wir besuchen vielleicht heute zusammen ein Kino; Sie werden Ihre Zuflucht zu Asta Nielsen nehmen. Es beruhigt; an das Flimmern gewöhnt man sich.« Wadzek wiederholte: »Die Wohnung können Sie schon herauskriegen. Buchstabieren Sie mal Abegg.« »Zwei g, weiter nichts. Wie der 1848er Polizeipräsident.«
Der Kleine schrieb. Plötzlich ließ er den Bleistift fallen, flüsterte, während sein schlaffes Gesicht tief erblaßte, als ob er erst jetzt alles verstünde: »Schneemann, was soll aus uns werden? Wir werden vor die Türe gesetzt. Wer tut mir das an! Die Leute wollen mich morden! Die Leute nehmen mir mein Lebenswerk aus den Händen. Ich bin ein gelieferter Mann.« Schneemann trat grimmig neben ihn: »Mir ist es nicht anders gegangen. Und ich? Sind Sie mehr als ich?« Wadzek wimmerte: »Man erwürgt mich.« Schneemann traten vor Wut die Augen hervor; er packte seinen Freund, der auf einen Schemel gesunken war, bei der Schulter. »Sie müssen mir einen Eid leisten, Mann, wenn Sie wollen, daß ich bei Ihnen bleibe. Das kann ich nicht mitansehen. Das ist unwürdig. Das laß ich mir nicht bieten. Daß Sie nicht zu Rommel gehen werden, daß Sie keinen Kompromiß schließen. Geben Sie mir die Hand.« Er drückte die Hand Wadzeks, warf sie zurück, trompetete: »Schlappiés wollen wir sein. Das hätte noch gefehlt. Jetzt nicht mehr.« Er redete die Arme streckend mehr. Wadzek stöberte blaß und verstört vor dem Schrank herum, wiederholte seine Frage, für wieviel Abegg gekauft hätte, welche Wechsel es wären. Schneemann forderte barsch den Kleinen auf, mit ihm zu gehen. »Ich lade Sie ein. Hier ist Ihr Hut.« Wadzek flüsterte irr, fast entsetzt: »Ich werde mein Billett allein bezahlen.« Schneemann blieb entschlossen dabei, daß er ihn einlade. Unterwegs fragte der Dicke zweimal, ob Wadzek zugebe, ihm unrecht getan zu haben. Wadzek nickte willenlos. Als ihn Schneemann vor das Aushängeplakat eines Kinos führte und sie davor stehenblieben, fuhr Wadzek aus seiner Verwirrung auf. Was sie hier ständen. Der andere ersuchte ihn pfiffig, sich einmal das Plakat anzusehen, diese originelle ergreifende Situation.
»Sie sind verrückt«, schrie Wadzek begreifend, schüttelte aufglühend die Fäuste, »verrückt sind Sie. Wagen Sie es! Kommen Sie mir unter die Finger!« Damit stürzte er fort von Schneemann, der verständnisvoll hinterherblickte, seine Krawatte mit Genugtuung höher schob.
Wadzek lief in seine Fabrik, schrieb einen stürmischen Brief an Gabriele über ihre unerhörte Nachlässigkeit, Lieblosigkeit; Herta habe er ihr überantwortet, aber wo bliebe das Sprichwort: eine Hand wäscht die andere. Wer sei Abegg? Diesen Namen solle sie einmal Rommel vor Augen halten, dann würde sie wissen, was an ihm verbrochen würde.
Gabriele, die den Brief im Bett las, geriet in ein sentimentales Hinundher. Sie überlas das häßliche: »Herta habe ich Ihnen überantwortet.« Sie zog sich rasch an. »Ach Gott, ach Gott«, seufzte sie fortwährend, dazu regnete es draußen, was würde das für ein Tag werden. Das schiefe alte Hausmädchen in der Küche mahlte gerade Kaffee; Gaby rauschte verängstigt vor ihr auf und ab; mit Geld hätte sie sich nie ausgekannt. Das Mädchen mußte den Brief lesen; sie klatschten zusammen, das Knarren der Mühle beruhigte das Fräulein; sie waren beide einer Meinung, daß Wadzek ein guter zerstreuter Mann wäre, dem man helfen müßte. »Diese häßlichen Geschäftssachen«, seufzte Gaby gequält, »ich versteh doch nichts davon.« Aber plötzlich nach dem Kaffee war sie gar nicht mehr gequält; es fiel ihr, während sie am Sahnenlöffel leckte, ein, daß es das einfachste wäre, ins Bureau zu gehen und zu besorgen, was Wadzek wollte, diese Nummern der Wechsel und so weiter. Und schon knöpfte ihr das Mädchen die Stiefel zu.
Nach einer Stunde hielt sie eine Liste in der Hand, die ein blonder Prokurist lächelnd der Freundin seines Chefs in einer Kopie geliehen hatte.
Abends kam Herta.