Berlin war meine Stadt - Klaus Mann - E-Book

Berlin war meine Stadt E-Book

Klaus Mann

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Beschreibung

"In Berlin zu sein bedeutete an sich schon ein erregendes Abenteuer!", schrieb Klaus Mann rückblickend über das Berlin der Zwanzigerjahre. Gerade mal im Teenager-Alter zog es den angehenden Schriftsteller 1924 aus dem beschaulichen München in die Skandalstadt. Das Abenteuer suchte und fand er hier – in wilden Ausschweifungen, Drogenkonsum und im Ausleben seiner Homosexualität. Die in diesem Band versammelten Texte zeichnen das Porträt eines ruhelosen Künstlers und einer turbulenten Stadt.

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KLAUS MANN

Herausgegeben und mit einem Vorwortvon Frank Träger

BeBra Verlag

INHALT

Vorwort

Flucht nach Berlin

Romantik der Berliner Unterwelt

Erste Bekanntschaften mit der Metropole

Berliner Theaterkritiken

Ankommen in Berlin

Beginn der literarischen Laufbahn

Berlin bei Nacht

Unzucht zwischen Männern

Reflexionen über Europa

Drogenrausch am Kurfürstendamm

Flucht aus Berlin

Erfahrungen eines Exilierten

Quellenverzeichnis

Über den Herausgeber

VORWORT

»Freiheit ausleben, Freiheit verteidigen!«

Nach diesem unerklärten Motto lebte Klaus Mann stringent. Dies macht ihn bis zum heutigen Tag zum Vorbild einer heterogenen Leserschaft, bei Weitem nicht nur der queeren. Er trägt sein schwules Sosein »als ein Adelszeichen« (Grete Weil). Einen ganz besonderen Raum zum Ausleben dieser Freiheit findet Klaus Mann im Berlin der Zwischenkriegszeit. Der älteste Sohn Thomas Manns wird am 18. November 1906 in München geboren. Da sich der Besuch des Wilhelmsgymnasiums seiner Heimatstadt problematisch gestaltet, wird Klaus auf die 1910 von Paul Geheeb gegründete reformpädagogische Odenwaldschule geschickt. Eine wichtige Erfahrung beschert ihm und seiner älteren Schwester Erika eine heimliche Reise nach Berlin im Jahr 1923. Die Eltern wähnen sie eigentlich auf einem Bildungstrip nach Weimar. Er ist berauscht von dieser Stadt, vor allem von ihrem sich rasant entwickelnden Westteil und zieht im Jahr darauf mit Erika in die Uhlandstraße 78. Ihre Vermieterin Hedwig Schmidt wird zur »intimen Freundin«, die den beiden einiges nachsehen muss.

Zwischen 1924 und 1933 verlebt er hier turbulente Jahre, die von dem ruhelosen Künstler jedoch immer wieder durch lange Auslandsaufenthalte unterbrochen werden. Klaus Manns Zeit in Berlin findet sich literarisch in seinen beiden Autobiografien, seinen Romanen und Theaterkritiken wieder, aus denen in diesem Buch Auszüge vorgestellt werden, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Besonders aufschlussreich und darüber hinaus eine mitreißende Lektüre ist seine Autobiografie »Der Wendepunkt«, die er im Exil auf Englisch schreibt (»The Turning Point«, New York 1942) und dessen deutsche Ausgabe er erst kurz vor seinem Tod im April 1949 fertigstellt. Sie gibt uns nicht nur Einblicke in Klaus Manns komplexe Gefühls- und Gedankenwelt, sondern ist vor allem ein Bericht über die politische und gesellschaftliche Lage zu jener Zeit von einem scharfen Beobachter, der sich nicht scheut, selbst aktiv zu werden – sei es mit der Schreibmaschine oder in der Uniform der US-Army. Aus diesem Verständnis seiner Autobiografie als literarisches Phänomen und Porträt seiner Zeit werden in diesem Band einige Auszüge aus »Der Wendepunkt« versammelt, die besonders seine Zeit in Berlin betreffen.

Klaus Manns erste Autobiografie erschien jedoch bereits 1932 unter dem Titel »Kind dieser Zeit«. Sie umspannt die Jahre 1906 bis 1924 und ist seinem Jugendfreund Ricki Hallgarten gewidmet. In den wenigen Monaten bis das Buch 1933 vom NS-Regime verboten wird, befriedigt es die Neugierde einer breiten Leserschaft, die gerne die Anekdoten eines Sohnes aus berühmter Familie lesen. Die Kombination aus beiden Autobiografien ermöglicht uns einen differenzierten Blick auf den Schriftsteller und seine Erlebnisse in der Metropole: In »Kind dieser Zeit« erzählt Klaus Mann von seiner Vorfreude auf Berlin und seinen ersten – nicht nur guten – Erfahrungen in und mit der Stadt. Jahre später beschreibt er in »Der Wendepunkt« noch einmal rückwirkend die Gefühlslage nach seinem ersten Besuch der Metropole 1923. Der damals erst 16-Jährige schwärmt: »Ich war im siebenten Himmel. In Berlin zu sein bedeutete an sich schon erregendes Abenteuer. […] Berlin war meine Stadt. Ich wollte bleiben. Aber wie?« Bruder und Schwester geben sich hier ausgiebig dem unerschöpflichen Nachtleben der Metropole hin, bis es wieder zurück nach München geht. Im Vergleich schneidet seine Heimatstadt nicht gut ab: »Ich hielt München für die dümmste, langweiligste und provinziellste Stadt der Welt, wahrscheinlich, weil es die einzige war, die ich kannte. […] Die Münchener ihrerseits waren davon überzeugt, dass Berlin von einer Bande jüdischer Schieber und bolschewistischer Agitatoren regiert werde.«

Der eigentliche Beginn seiner Berliner Zeit lässt nicht lange auf sich warten. Im Herbst 1924 – mit gerade mal 18 Jahren – erhält er dort eine erste feste Anstellung als Theaterkritiker beim »12 Uhr Blatt«, wovon einige Kostproben in diesem Band versammelt sind. Sein Verriss der Aufführung »Der lustige Thoma-Abend« von 1924 am Steglitzer Schlosspark-Theater gipfelt in der Behauptung, dass die Aufführung an seinem Münchener Gymnasium allemal die bessere gewesen sei. Fortan lebt er als freier Schriftsteller und zeitlebens ohne festen Wohnort.

Noch ist er bemüht zu verschweigen, dass er der Sohn Thomas Manns ist. Seine »lyrisch-analytischen Skizzen«, die er der Berliner »Weltbühne« sendet, kommen an. Doch der gleichermaßen berühmte wie umstrittene Herausgeber Siegfried Jacobsohn kommt Klaus Mann auf die Schliche: Er findet heraus, dass Klaus – der eigentlich anonym bleiben will – der Sohn von Thomas Mann, eines der bedeutendsten Literaten des Reiches, ist. Von nun an ist er vor allem »der Sohn von …«. Dies erweist sich als eine sehr ambivalente Lage: Einerseits setzt ihn diese Situation dem Vorurteil aus, den »Vorteil der Geburt« schamlos auszunutzen. Andererseits öffnet ihm diese prominente Sohnschaft Türen, die anderen versperrt bleiben.

Eine wichtige Rolle spielt auch Klaus Manns Jugendfreundin Pamela Wedekind, die Tochter des Dramatikers Frank Wedekind, die ebenso in engem Verhältnis zu seiner Schwester Erika steht und mit der sich Klaus im Juni 1924 verlobt. Die Verlobung wird im Januar 1928 jedoch wieder aufgelöst.

Klaus Manns erster Roman »Der fromme Tanz« aus dem Jahr 1926 gilt als einer der ersten Romane, die das Schwulsein thematisieren. Kritiker bemängeln die Offenheit, mit der die gleichgeschlechtliche Liebe geschildert wird. So heißt es im Roman: »Andreas gab sich dieser Liebe ganz hin, die er nicht als Verirrung empfand. Ihm kam es nicht in den Sinn, sie vor sich zu leugnen, sie zu bekämpfen als ›Entartung‹ oder als ›Krankheit‹. Diese Worte berührten die Wahrheit so wenig, sie kamen aus anderer Welt. Gut hieß er diese Liebe vielmehr ganz und gar, er lobte sie, wie alles, was Gott gab und verhängte.« Mit seinem Statement »Unzucht zwischen Männern« von 1929, in der Spätzeit der Weimarer Republik, manifestiert der Autor seine Einstellung.

Wie sein Romanheld Andreas reist Klaus Mann im Frühjahr 1925 nach Paris. Berlin scheint mehr und mehr eine Zwischenstation auf dem Weg in die Metropole an der Seine zu sein. Doch auch hier hält er es nicht lange aus: Anfang 1927 begibt er sich mit seiner Schwester Erika auf eine Weltreise. Vor allem in den USA werden sie als die »Literary Mann Twins« gefeiert und genießen den Bonus, die Kinder Thomas Manns zu sein.

Zurück in Berlin quartiert sich Klaus in der Pension Fasaneneck, unmittelbar an der Kreuzung Kurfürstendamm / Fasanenstraße ein. Das Lebensgefühl der Ruhelosigkeit und seine Zeit in Hotels und Pensionen fließen in den Roman »Treffpunkt im Unendlichen« aus dem Jahr 1932 ein. Auch hier trägt der schreibende Protagonist autobiografische Züge und befasst sich mit den Themen Drogen, Todessehnsucht und Liebe, von denen das Leben Klaus Manns ebenso geprägt ist. Das hindert den Autoren jedoch nicht an einer wachen Projektion der Entwicklung in Deutschland und dessen Hauptstadt kurz vor der Machtübernahme Hitlers.

Dieses Ereignis ist für Klaus Mann und die Seinen eine existenzielle Zäsur. Die Deportation in das München nahegelegene KZ Dachau wäre ihm aus gleich mehreren Gründen sicher gewesen: aufgrund seiner sexuellen Orientierung, seiner liberalen politischen Einstellung und als Nachkomme einer Familie jüdischer Herkunft mütterlicherseits. Gerade rechtzeitig emigriert er: »Am Morgen des 30. Januar 1933 verließ ich Berlin früh am Morgen, wie von böser Ahnung fortgetrieben. […] Ich verließ Berlin, ohne Abschied genommen zu haben.« Klaus Manns Mutter Katia bringt ihre Erleichterung darüber zum Ausdruck: »Im Grunde wollte ich recht froh sein, euch alle außerhalb dieses durchaus gottverlassenen und unseligen Landes zu wissen, und zumal Berlin muss doch ein recht grausiger und vielfach gefährlicher Aufenthalt sein – male es mir ungern aus.« Auch Klaus Bruder Golo formuliert später: »Nie lebte Klaus intensiver, angespannter, tätiger, als in den ersten Jahren der Emigration; darum wohl auch: nie glücklicher«.

Aus dem Dandy wird ein umtriebiger politischer Aktivist. Mit der Zuspitzung der politischen Lage lässt sich auch in Klaus Manns Texten eine starke Politisierung erkennen und es wird deutlich, wie sich der Schriftsteller vom zarten Abenteurer zum antifaschistischen Kämpfer entwickelt. Neben seinem literarischen Schaffen versucht Klaus Mann die antinazistischen Kräfte des Exils zu bündeln, u. a. mit der literarischen Monatsschrift »Die Sammlung«. Als ihm die Aussichtslosigkeit des Widerstandes mit literarischen Mitteln bewusst wird, greift er zur Ultima Ratio: Er wird von Dezember 1942 bis September 1945 Teil der US-Army und kämpft gegen die NS-Diktatur.

Nach dem Krieg kommt Klaus Mann noch dreimal nach Berlin – als US-Soldat im September 1945 und ein letztes Mal im Frühjahr 1948, nur ein Jahr vor seinem Tod. Während seines zweiten Aufenthalts in Berlin im Mai 1946 besucht Klaus Mann am Deutschen Theater Berlin eine Aufführung von Carl Sternheims »Der Snob«. Einer der Schauspieler ist der frühere Freund und Schwager, der ehemalige »Generalintendant der Preußischen Staatstheater« und Staatsrat während der NS-Zeit Gustaf Gründgens. Klaus Mann muss erleben, wie die Zuschauer »ihren« Gründgens mit Ovationen feiern. Das Publikum applaudiert einem Mann, der einerseits keine NS-Propaganda-Stücke aufgenommen und Schauspieler jüdischer Herkunft oder deren Ehepartner durch seinen Einfluss gerettet hat und sich andererseits dem NS-Regime ohne wirkliche Not als kulturellen Repräsentanten zur Verfügung gestellt hatte. Für Klaus Mann stellt das eines von vielen ernüchternden Erlebnissen seiner Besuche im Berlin der Nachkriegszeit dar. Politische und persönliche Enttäuschungen wie diese in Kombination mit seinem Drogenmissbrauch und dem schon früh vorhandenen Todeswunsch führen schließlich zu seinem tragischen Tod nach Einnahme einer Überdosis an Schlaftabletten am 21. Mai 1949 in Cannes. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki führt dies auf persönliche Umstände zurück, denn »[Klaus Mann] war homosexuell. Er war süchtig. Er war der Sohn Thomas Manns. Also war er dreifach geschlagen.«

Der Klaus Mann Initiative Berlin e. V. ist es ein Anliegen, die Leistungen des Autors auch heute noch am Leben zu erhalten: Seit dem 20. Juli 2012 ziert ein Denkzeichen das Grab von Klaus Mann auf dem Cimetière du Grand Jas in Cannes. Die Inschrift »Freiheit ausleben, Freiheit verteidigen!« nimmt das unerklärte Lebensmotto des Schriftstellers auf: Klaus Mann lebte als junger Mann seine Freiheit – vielen Konventionen zum Trotz – ganz bewusst aus. Als dieses Gut in Deutschland existentiell bedroht war, stellte er sein Leben ganz in den Dienst des Kampfes um die Freiheit: zuerst als Schriftsteller, später als Soldat in der US-Armee. Der behauene Naturstein nimmt das Motiv vieler Besucher auf, die nach einem jüdischen Brauch Steine auf das Grab legen. Der Schriftzug »Klaus Mann Initiative Berlin 2012« soll zeigen: Das Werk und die Botschaft des Autors sind weiterhin lebendig und werden auch in der Zukunft gepflegt. Und ganz besonders in Deutschlands Hauptstadt Berlin.

Frank Träger

FLUCHT NACH BERLIN

ROMANTIK DER BERLINER UNTERWELT

In diesem Auszug aus seiner Autobiografie »Der Wendepunkt«, deren deutsche Ausgabe er 1949 fertigstellte, beschreibt Klaus Mann zunächst seinen Aufenthalt in der Odenwaldschule in Hessen, die er von September 1922 bis Juni 1923 besuchte und in der er seine ersten homoerotischen Begegnungen hatte. Ein weiteres Thema sind seine heimlichen Ausflüge in das Münchner Nachtleben mit seiner Schwester Erika und seine komplizierte Vater-Sohn-Beziehung. Den »Zauberer« nennt der Schriftsteller seinen übermächtigen Vater, während seine Mutter liebevoll »Mielein« gerufen wird. Die »Romantik der Unterwelt« erfährt er schließlich während seines ersten Berlin-Besuches 1923, der mit einem (katastrophalen) Bühnenauftritt endet.

Es ist immer dieselbe Unordnung: seit Menschengedenken, das gleiche Leid, die gleiche Lustbarkeit…

Die Tiefen des organischen Lebens sind unordentlich – ein Labyrinth, ein Sumpf der tödlichen Begierde und schöpferischen Kraft. Die Wurzeln unseres Seins reichen hinab ins Trübe, Schlammige, in den Morast von Samen, Blut und Tränen, wo die Orgie der Wollust und Verwesung sich ewig wiederholt, unendliche Qual, unendliche Entzückung.

Siehe, aus wallendem Dunkel hebt sich der Flussgott, der Satyr und Stier, bedeckt mit Schlamm und Schaum, strotzend von Manneskraft, lechzend vor Verlangen, auflachend, schluchzend, bebend in ekstatischer Brunst, unwiderstehlich, unberechenbar, zerstörerisches Element, foppender Dämon, zugleich Cherub und Bestie, höchst grauenvoll.

Er ist nicht Amor, der neckisch mit den Spielzeugpfeilen, dem koketten Bogen tändelt. Dieser ist furchtbar, listig und wild, ein reißendes Tier, ein gnadenloser Jäger. Freilich, er ist auch ein Schalksnarr und Komödiant, stets geneigt zu Maskeraden und Gaukeleien. Ja, ich habe ihn in mancherlei Gestalt gesehen: lockend geputzt und in wüster Entstellung. Er hat die stolze Pracht des Pfauenrades – seht, wie es sich schüttelt! wie es geil vibriert!, die schillernde Majestät des Regenbogens, den jungfräulichen Schmelz der Frühlingsblume; er hat den Schlangenblick, das Grinsen der Paranoia, die obszöne Raserei des Epileptikers. Manchmal ziert er sich, erscheint sanft und züchtig, bis aus seinem Flüstern plötzlich der Brunstschrei wird und das holde Lächeln zur Grimasse entartet.

Er ist groß, der Flussgott, der Herr des frühesten Leids, der kreativen Unordnung. Hinter Meisterwerken und Morden, Possen und Tragödien ist er die treibende Kraft. Er befruchtet und er verwüstet, er bringt Glück und Entsetzen, Jauchzen und Zähneklappern. Sein Hauch begeistert das Herz: rhapsodische Worte strömen von den Lippen, die er berührt. Er verwirrt den Sinn: sein Pfad ist bedeckt mit den Spuren von Selbstmord und Verbrechen. Die Satzungen der Logik, Ethik und Ästhetik gelten nicht vor seiner trunkenen Macht. Wer wagt es, sich auf fromme Tradition, sittliche Norm zu berufen, wo die phallische Gottheit autonom regiert? Die Antwort ist ein Gelächter. Der Flussgott spottet unserer Kritik, schert sich um keine Mahnung.

Er ist weder gut noch böse. Er ist die unendliche Energie, die mit selbstherrlich-irrationaler Blindheit unterschiedslos das Böse und das Gute begehrt, umarmt, vernichtet und erzeugt.

Es ist immer die gleiche Unordnung, immer das gleiche lustvoll trübe Leid. Seit Anbeginn der Welt.

War meine Generation – die europäische Generation, die während des Ersten Weltkrieges heranwuchs – unordentlicher und frivoler, als Jugend es im Allgemeinen ist? Trieben wir es besonders liederlich und zügellos?

Die moralisch-soziale Krise, in deren Mitte wir stehen und deren Ende noch nicht abzusehen scheint, sie war doch damals schon in vollem Gange. Unser bewusstes Leben begann in einer Zeit beklemmender Ungewissheit. Da um uns herum alles barst und schwankte, woran hätten wir uns halten, nach welchem Gesetz uns orientieren sollen? Die Zivilisation, deren Bekanntschaft wir in den zwanziger Jahren machten, schien ohne Balance, ohne Ziel, ohne Lebenswillen, reif zum Ruin, bereit zum Untergang.

Ja, wir waren früh vertraut mit apokalyptischen Stimmungen, erfahren in mancherlei Exzessen und Abenteuern. Indessen bin ich mir nicht bewusst, jemals »das Laster« kennengelernt zu haben. Ich weiß gar nicht, was das ist, »das Laster«. Einsamkeit und Lust, Hunger, Langeweile, Eifersucht, das sind Realitäten. Aber was ist »das Laster«? Wer definiert mir den Begriff der »Sünde«? Was mich betrifft, so bin ich nie imstande gewesen, diesen hochtrabend-hohlen Abstraktionen irgendeinen Sinn abzugewinnen.

Wir konnten nicht von einer sittlichen Norm abweichen: es gab keine solche Norm. Die moralischen Clichés der bourgeoisen Ära, diese atavistischen Tabus einer zugleich selbstgefällig satten und neurotisch inhibierten Gesellschaft, hatten in den Kriegs- und Revolutionsjahren ihre Autorität und Überzeugungskraft verloren, endgültig, wie wir damals glauben wollten. So gründlich erledigt, so durchaus »passé« erschien uns diese puritanisch-bürgerliche Sittlichkeit, dass es uns nicht einmal der Mühe wert erschien, uns polemisch mit ihr abzugeben.

Was gab es noch zu »demaskieren« an einer Ethik, deren Falschheit und Schädlichkeit längst durchschaut und angeprangert war? Der wütende Kampf gegen die überalterte Pseudomoral, den die ikonoklastischen Genies des späten neunzehnten Jahrhunderts begonnen hatten, war von der Generation unserer Väter fortgesetzt und vollendet worden: die asketischen Ideale – arg zerzaust von Nietzsche, Whitman, Zola, Strindberg, Ibsen, Wilde – hauchten unter den formidablen Hieben der D. H. Lawrence und Frank Wedekind ihr bedenklich reduziertes Leben aus. Von unseren Dichtern übernahmen wir die Geringschätzung des Intellekts, die Akzentuierung der biologisch-irrationalen Werte auf Kosten der moralisch-rationalen, die Überbetonung des Somatischen, den Kult des Eros. Inmitten allgemeiner Öde und Zersetzung schien nichts von wirklichem Belang, es sei denn das lustvolle Mysterium der eigenen physischen Existenz, das libidinöse Mirakel unseres irdischen Daseins. Angesichts einer Götzendämmerung, die das Erbe von zwei Jahrtausenden in Frage stellte, suchten wir nach einem neuen zentralen Begriff für unser Denken, einem neuen Leitmotiv für unsere Gesänge und fanden den »Leib, den elektrischen«.

Diese Präokkupation mit dem Physiologischen war bei uns nicht einfach Sache des Instinktes oder der Stimmung, sondern hatte programmatisch-prinzipiellen Charakter, was kaum wundernehmen kann, in Anbetracht der alten deutschen Neigung zum Systematischen: hier wird selbst aus Chaos und Wahnsinn ein System gemacht.

Damals freilich, in den Tagen politischer Unschuld und erotischer Exaltation, fehlte uns jede Vorstellung von den gefährlichen Aspekten und Potentialitäten unserer puerilen Sexualmystik. Immerhin konnte ich nicht umhin zu vermerken, dass unsere »Körpersinn«-Philosophie zuweilen von recht unerfreulichen Elementen vorgespannt und ausgebeutet wurde. Die Glorifizierung physischer Tugenden verlor für mich jeden Reiz und jede Überzeugungskraft, wenn sie sich mit einem militant-heroischen Pathos verband, was leider häufig der Fall war. Übrigens hatte ich auch durchaus kein Verständnis für den Sportfanatismus, den wir als ein weiteres Symptom – vielleicht das wichtigste! – der damaligen anti-spirituellen Stimmung betrachten müssen. Was fanden die Leute nur so aufregend und wundervoll an Boxkämpfen und Fußball-Matches? Ich begriff es nicht … Glücklicherweise spielten diese Dinge nur eine geringe Rolle im pädagogischen System der Odenwaldschule.

Indessen hatten einige der jüngeren Knaben doch athletische Ambitionen und vergnügten sich mit Ballspielen, Diskuswerfen und anderen Leibesübungen. Ich sah ihnen gerne zu, wenn sie miteinander rangen oder um die Wette liefen. Vor allem einer war es, dem meine Aufmerksamkeit galt. Sein Name war Uto. Er war kräftig und gewandt, aber bei weitem nicht der Stärkste und Geschickteste unter den Kameraden. Auch besonders hübsch war er wohl eigentlich nicht, keine Lichtgestalt, kein Adonis. Aber ich liebte sein Gesicht. Er hatte das Gesicht, das ich liebe. Man mag für mancherlei Gesichter Zärtlichkeit empfinden, wenn man lange genug lebt und ein empfindendes Herz hat. Aber es gibt nur ein Gesicht, das man liebt. Es ist immer dasselbe, man erkennt es unter Tausenden. Uto hatte dies Gesicht.

Er hätte slawischer Abkunft sein können, mit seinen hochsitzenden, stark hervortretenden Backenknochen und schmalen Augen. Oder vielleicht sah er eher wie ein kleiner Schwede aus, der irgendwie einen Tropfen mongolischen Blutes mitbekommen hat. Sein helles Haar wirkte zuweilen fast strohig, wie gebleicht und ausgedörrt von zu viel Sonne; aber manchmal erschien es von sehr reicher, weicher Substanz und goldener Tönung. Auch seine Lippen waren oft trocken und aufgesprungen, um dann (es hatte nichts mit der Witterung zu tun, sondern hing wohl eher von Utos Stimmung ab) überraschend aufzublühen und dunkel zu leuchten. Seine Augen hatten die Farbe von Eis – Eis, das im Fluss treibt, schimmernd im Glanz eines Wintermorgens. Sie waren nicht blau, seine Augen, sondern von einem strahlenden Grau, in das sich silbergrüne Lichter mischten. Die Unschuld dieses hellen Blickes war mir süß und erschreckend. Es gibt eine stählerne Helligkeit, eine matinale Transparenz, die tiefer, unergründlicher ist als der purpurne Abgrund der Mitternacht.

Utos Knie waren meist mit Narben bedeckt, was ihm ein kriegerisch verwegenes Aussehen gab. Seine Hände waren rau, mit schön geformten, schmutzigen Fingernägeln. Er trug den Kopf sehr aufrecht.

Ich schrieb Gedichte auf ihn, die er nie zu lesen bekam. Ich redete ihn mit Namen an, die er komisch fand: Ganymed, Narziss, Phaidros, Antinous … Indessen schmeichelte ihm meine Ergebenheit. Er hielt mich für gelehrt, was ihm Eindruck machte, und für ein bisschen närrisch, was ihn nicht weiter störte. Er war ein guter Junge, bescheiden und sanft, ohne Bosheit; eitel genug, um sich meiner Huldigung zu freuen, doch zu naiv, um den wahren Charakter meiner Leidenschaft zu erkennen.

Er sagte zu mir: »Ich hab noch nie einen richtigen Freund gehabt. Du bist mein erster. Es ist fein, einen Freund zu haben.«

Seine Stirne war glatt und kühl. Er war einsam und ahnungslos, wie die Tiere es sind und die Engel.

Ich schrieb auf einen Fetzen Papier: »Ich liebe dich.«

Er las es, wurde ein bisschen rot (er hatte eine besondere Art, flüchtig, aber intensiv zu erröten und sich dabei das Haar mit einer verlegenen Gebärde aus der Stirn zu schütteln); dann lachte er und steckte das Stück Papier in die Hosentasche. »Donnerwetter«, sagte er, ohne mich anzuschauen. »Das ist gut.« Und plötzlich ganz ernst, mit verständig gedämpfter Stimme: »Natürlich liebst du mich. Freunde sollen einander liebhaben.«

Ich erzählte ihm, dass ich vielleicht bald die Schule verlassen müsse. Meine Eltern hätten mir geschrieben. »Sie wollen, dass ich nach Hause komme. Sie bestehen darauf.«

Er glaubte mir nicht. »Das tust du mir doch nicht an«, sagte er. (Unergründlich diese lichte Nacht seines Blickes!) »Du kannst mich doch nicht einfach hier alleine lassen. Du bist doch mein Freund. Deine Eltern werden das schon verstehen, wenn du’s ihnen richtig erklärst.«