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Inmitten der idyllischen Wohnsiedlung La Maravillosa wird Pedro Chazarreta mit aufgeschlitzter Kehle in seinem Lieblingssessel aufgefunden, in der Hand ein blutiges Messer, eine leere Flasche Whisky auf dem Boden. Im ersten Moment deutet alles auf Selbstmord hin, doch schon bald erwachsen Zweifel. Denn: Drei Jahre zuvor wurde im selben Haus die Ehefrau des Unternehmers ermordet. Zufall? Die Tageszeitung El Tribuno plant eine ausführliche Story und schickt die in Ungnade gefallene Schriftstellerin Nurit Iscar und einen jungen Polizeireporter an den Tatort. Dessen Vorgänger Jaime Brena wurde zwar geschasst, weil er einmal zu oft über das Ziel hinausgeschossen war, kann es sich aber ebenfalls nicht verkneifen mitzumischen – nicht zuletzt, weil er ein Auge auf Nurit geworfen hat.
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Seitenzahl: 517
Inmitten einer idyllischen Wohnsiedlung wird ein Unternehmer mit aufgeschlitzter Kehle in seinem Lieblingssessel aufgefunden. Im ersten Moment deutet alles auf Selbstmord hin, doch schon bald erwachsen Zweifel. – Claudia Piñeiro nimmt mit scharfem Blick das Verhältnis zwischen Medien und politischer Macht unter die Lupe.
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Claudia Piñeiro (*1960) ist eine der erfolgreichsten Autorinnen Argentiniens. Nach dem Wirtschaftsstudium arbeitete sie als Journalistin, Dramatikerin und Regisseurin. Sie erhielt den Premio Clarín, den LiBeraturpreis und den Premio Hammett und war für den International Booker Prize nominiert.
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Peter Kultzen (*1962) studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.
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Claudia Piñeiro
Betibú
Roman
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Betibú bei Alfaguara Argentina, Buenos Aires.
Dieses Werk wurde im Rahmen des »Sur«-Programms des Außenministeriums der Republik Argentinien zur Förderung von Übersetzungen verlegt.
Originaltitel: Betibú (2011)
© by Claudia Piñeiro 2011
Vermittelt durch die Literarische Agentur Mertin, Inh. Nicole Witt
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: nejron
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30818-3
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
BETIBÚ
1 – Montags dauert es immer am längsten, in den …2 – Während Gladys Varela in einer Sackgasse des Country …3 – Als Nurit Iscar einige Stunden später …4 – An diesem Nachmittag sitzt Nurit wieder an dem …5 – Nurit Iscar und Lorenzo Rinaldi lernten sich 2005 …6 – Während der zwei Jahre ihrer Beziehung mit Lorenzo …7 – Um halb sieben ruft Lorenzo Rinaldi wieder an …8 – Eine schwarze Hose und eine luftige Bluse …9 – Am späten Nachmittag trifft Nurit Iscars erster Bericht …10 – Wenige Tage später steht fest, dass Chazarretas Tod …11 – Nurit Iscar sagt sich, es wäre nicht schlecht …12 – Als Carmen Terrada und Paula Sibona an der …13 – Jaime Brena und der Junge vom Polizeiressort stehen …14 – Die Gäste werden einander vorgestellt, die Teigtaschen verzehrt …15 – Auf dem Rückweg zu dem Haus von Nurit …16 – Unter dem Druck der Verhältnisse löst sich die …17 – Am Sonntagmorgen regnet es. Nicht dass es aus …18 – Kurz bevor Lorenzo Rinaldi Nurit Iscar in La …19 – Während Nurit Iscar und ihre Freundinnen sich noch …20 – Als Jaime Brena, der Junge vom Polizeiressort und …21 – Jaime Brena und Nurit Iscar machen sich auf …22 – Mindestens die Hälfte der Pizza bleibt ungegessen auf …23 – Als Nurit Iscar in die Küche hinuntergeht …24 – Um drei Uhr nachmittags ruft der Junge vom …25 – Am nächsten Morgen um elf kommt der Fahrer …26 – Was zwischen dem Augenblick, in dem sie im …27 – Raus kommt man leichter als rein28 – Eine Woche später essen Jaime Brena und Nurit …DanksagungMehr über dieses Buch
Über Claudia Piñeiro
Claudia Piñeiro: Lesen als Revanche
Claudia Piñeiro: »Frauen und Männer lesen unterschiedlich«
Über Peter Kultzen
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Allen meinen Freundinnen, eben darum.
Silvina Frydman und Laura Novoa,sie und ich wissen, warum.
»… in seinen Polizeiberichten für die Zeitung erzählt er den Leuten, was und wie es geschehen ist, stets erscheint er aber erst nach dem gewaltsamen Zusammenstoß oder dem Verbrechen und muss den Vorfall dann mithilfe von Zeugen und Indizien nachbilden. Noch nie hat er das Geschehen mit eigenen Augen verfolgen können, nie ist der Schrei des Opfers unmittelbar in sein Reporter-Ohr gedrungen.«
Antonio di Benedetto, »Halbherzig« (aus dem Erzählband Cuentos claros)
»Die mikroskopisch kleinen Reste auf unserer Kleidung und unseren Körpern sind stumme, zuverlässige und treue Zeugen unserer Bewegungen und Begegnungen.«
Edmond Locard, Traité de criminalistique
»Die Geschichte wird fortgesetzt, kann fortgesetzt werden, verschiedene Ausgänge sind denkbar, sie bleibt offen, ist nur unterbrochen. Die Ermittlung ist noch lange nicht abgeschlossen, sie kann gar nicht abgeschlossen werden. Man müsste ein neues Genre der Kriminalliteratur erfinden: Paranoia-Fiktion. Alle sind verdächtig, alle fühlen sich verfolgt.«
Ricardo Piglia, Ins Weiße zielen
metro
Montags dauert es immer am längsten, in den Country Club La Maravillosa hineinzukommen. Die Schlange aus Hausangestellten, Gärtnern, Maurern, Klempnern, Zimmerleuten, Elektrikern, Gasinstallateuren und sonstigen Bauarbeitern scheint kein Ende zu nehmen. Gladys Varela weiß das genau. Deshalb schimpft sie mit sich selbst, während sie vor der Schranke mit der Aufschrift »Hausangestellte und Lieferanten« steht – das heißt, zwischen der Schranke und ihr befinden sich noch mindestens fünfzehn, zwanzig andere Personen mit demselben Ziel. Sie schimpft mit sich, weil sie die Chipkarte nicht aufgeladen hat, mit der sie, ohne sich anstellen zu müssen, hineingehen könnte. Neu aufladen muss man die Karte alle zwei Monate, genau während der Öffnungszeiten des zuständigen Büros arbeitet Gladys aber für Herrn Chazarreta. Und Herr Chazarreta gehört nicht zu den Menschen, die anderen ohne Weiteres einen Gefallen tun. Diesen Eindruck hat man jedenfalls, wenn er einen ansieht. Gladys bekommt dann jedes Mal Angst. Obwohl es auch sein kann, dass er sie nur deshalb so ansieht, weil er ein wenig feinfühliger oder sehr trockener Mensch ist oder einfach jemand, der nicht gern spricht. Gladys weiß es nicht. Jedenfalls hat sie ebendeshalb bis jetzt nicht den Mut aufgebracht, ihn zu fragen, ob sie einmal etwas früher gehen kann oder aber das mit dem Aufladen schnell zwischendurch erledigen. So wie er sie ansieht … Oder nicht ansieht – in Wirklichkeit sieht Herr Chazarreta sie nämlich fast nie an. Normalerweise starrt er bloß vor sich hin, in den Garten hinaus oder auf eine kahle Wand, aber immer mit abweisendem Gesicht, ernst, als hätte er schlechte Laune. Nach allem, was geschehen ist, ist das durchaus verständlich. Zum Glück hat Gladys wenigstens die von ihm unterschriebene Zugangsberechtigung. Deshalb muss sie sich in die Schlange stellen, so wie diesmal wieder, aber niemand wird Herrn Chazarreta extra anrufen, damit er persönlich die Zugangsberechtigung erteilt. Herr Chazarreta mag es nicht, wenn man ihn weckt, immer wieder kommt es vor, dass er morgens lange schläft. Ebenso oft geht er sehr spät ins Bett. Und er trinkt. Eine Menge. Glaubt Gladys zumindest, oder sie nimmt es stark an: Regelmäßig findet sie dort, wo Herrn Chazarreta am Abend zuvor der Schlaf überwältigt hat, ein Glas und eine Flasche Whisky vor. Manchmal ist das im Schlafzimmer. Es kann aber auch im Wohnzimmer sein, auf der Galerie oder in dem Filmvorführraum, den die Chazarretas im ersten Stock besitzen. Nicht besitzen – besitzt, seit dem Tod seiner Frau lebt Herr Chazarreta nämlich allein. Dazu, zum Tod seiner Frau, stellt Gladys keine Fragen, sie weiß nichts darüber und will auch nichts wissen. Was sie durch die Fernsehnachrichten erfahren hat, reicht ihr. Und was die anderen so erzählen, interessiert sie nicht. Seit zwei Jahren arbeitet sie für Herrn Chazarreta, seine Frau ist aber schon vor zweieinhalb oder drei Jahren gestorben. Drei, glaubt sie. Hat man ihr jedenfalls gesagt, an das genaue Datum erinnert sie sich nicht. Sie tut, was sie zu tun hat, und Herr Chazarreta zahlt gut und pünktlich und macht kein Theater, wenn mal ein Glas kaputtgeht oder ein Kleidungsstück einen Waschmittelflecken aufweist oder der Kuchen ein bisschen dunkel gerät. Nur einmal hat er sich aufgeregt – sehr aufgeregt –, weil etwas verschwunden war, ein Foto; später hat er aber begriffen, dass sie nicht schuld daran war, das hat er dann sogar zugeben müssen. Er hat sich nicht entschuldigt, aber er hat zugegeben, dass sie keine Schuld traf. Daraufhin hat Gladys Varela ihm verziehen, obwohl er sie gar nicht darum gebeten hat. Vor allem versucht sie, nicht mehr an die Sache zu denken. Denn es bringt nichts, wenn man jemandem verzeiht und dann trotzdem dauernd an die Sache denkt, findet Gladys zumindest. Herr Chazarreta gehört nun mal nicht zu den Menschen, die anderen ohne Weiteres einen Gefallen tun, aber welcher Arbeitgeber tut das schon? Dafür sind ringsum viel zu viele schlimme Dinge passiert.
Die Schlange rückt langsam vor. Eine Frau beschwert sich, weil ihre Arbeitgeberin sie nicht in die Siedlung lässt. »Was soll das?«, schimpft sie lauthals. »Für wen hält die sich, verdammt? So ein Theater, bloß wegen einem beschissenen Stück Käse?« Was der Wachmann hinter der Scheibe antwortet, bekommt Gladys aber nicht mit, denn die Frau rauscht bereits rot vor Wut in Gegenrichtung an ihr vorbei. Gladys stellt fest, dass sie die Frau kennt, vielleicht aus dem Bus, der im Inneren der Siedlung verkehrt, oder weil sie manchmal die ersten paar Querstraßen gemeinsam zurückgelegt haben, sie weiß es nicht, aber sie kennt sie, sie hat sie schon öfters gesehen. Vor Gladys stehen jetzt noch drei Männer, offenbar sind sie befreundet, zumindest kennen sie sich, oder sie arbeiten zusammen. Bei einem von ihnen dauert es länger, er ist in keiner Liste verzeichnet, weshalb er den Personalausweis vorlegen und sich fotografieren lassen muss; außerdem wird eine Registriernummer an seinem Fahrrad angebracht, um sicherzustellen, dass er die Siedlung nach der Arbeit mit demselben Fahrrad wieder verlässt. Und den Auftraggeber rufen sie auch an, damit er seine Genehmigung erteilt. Bevor sie den Mann durchlassen, schreiben sie noch die Marke, Farbe und Größe des Fahrrads auf, und Gladys fragt sich, wozu dann eigentlich die Nummer gut sein soll. Damit der Mann, falls er drinnen haargenau das gleiche Rad entdeckt, nur neuer und in besserem Zustand, es nicht einfach gegen seins austauscht? Das wäre aber ein sehr großer Zufall, sagt sie sich. Die Männer beschweren sich aber nicht wegen der Nummer, sie stellen keinerlei Fragen. So läuft das nun mal, das sind die Regeln. Sie regen sich nicht darüber auf. Eigentlich auch besser so, sagt sich Gladys, dann kann man später, beim Rausgehen, beweisen, dass man nichts von jemand anderem mitgenommen hat, dass man anständig ist. Besser sie schreiben jetzt alles auf, dann kann einem nachher niemand irgendwelche Vorwürfe machen. Das sind so ihre Gedanken, als die Frau, die vorhin so laut geschimpft hat, sich ihr plötzlich nähert: »Wenn du irgendwas von einem Job weißt, sagst dus mir, ja?« Und Gladys sagt Ja, sie gibt ihr Bescheid. Die Frau holt ihr Handy hervor und sagt: »Schreib auf!« Gladys zieht ihr Handy aus der Tasche ihres Sweaters und gibt die Zahlen ein, die die andere ihr diktiert. Die Frau sagt, sie soll sie jetzt bitte anrufen und gleich wieder auflegen, dann hat sie auch Gladys’ Nummer. Außerdem fragt sie Gladys nach ihrem Namen. »Gladys«, antwortet diese. »Anabella«, sagt die andere, »schreib auf: Anabella.« Und Gladys gibt auch den Namen in ihr Handy ein. Die Frau schreit nicht mehr, sie ist jetzt nicht mehr wütend, sondern eher verbittert und resigniert, beides zugleich. Sie tauscht auch mit anderen Frauen aus der Schlange die Handynummern aus; dann geht sie schweigend davon.
Gladys ist an der Reihe und zeigt ihre Zugangsberechtigung vor. Der Wachmann gibt die Daten in den Computer ein, gleich darauf erscheint Gladys’ Porträt auf dem Bildschirm. Sie wundert sich, auf dem Foto wirkt sie jünger, schlanker und ihr Haar heller – sie hatte es sich am Tag davor blondiert, das weiß sie noch. Aber so lang ist das gar nicht her. Der Wachmann blickt auf den Bildschirm, dann zu ihr, wiederholt das Ganze, dann sagt er: »Bitte schön!« Ein paar Meter weiter steht noch ein Wachmann und wartet, dass sie ihre Handtasche aufmacht. Dazu aufzufordern, braucht er sie nicht, Gladys weiß, wie alle in der Schlange, was zu tun ist. Sie zieht am Reißverschluss, der sich verhakt und nicht aufgehen will, sie zieht etwas fester, und der Verschluss gibt nach. Der Wachmann durchwühlt den Inhalt von Gladys’ Handtasche. Sie sagt, er soll bitte ins Eingangsformular eintragen, dass sie ihr eigenes Handy dabeihat – es steckt wieder in der Tasche ihres Sweaters –, außerdem das dazugehörige Ladegerät und eine Brille, beides befindet sich in der Handtasche. Sie zeigt dem Mann die Sachen. Er trägt alles ein. Der Rest ist nicht von Belang: Taschentücher; mehrere aneinanderklebende Bonbons; die Brieftasche mit dem Ausweis, einem Fünf-Pesos-Schein und Münzen für die Rückfahrt im Bus; ihr Hausschlüssel; zwei Feuchttücher. »Das brauchen Sie nicht einzutragen, dafür aber das Handy, das Ladegerät und die Brille, ich will beim Rausgehen keine Schwierigkeiten bekommen«, sagt Gladys. Der Wachmann händigt ihr das ausgefüllte Formular aus. Gladys steckt es zusammen mit dem Ausweis in die Brieftasche, zieht den Reißverschluss wieder zu und geht weiter.
Vor ihr gehen die drei Männer aus der Warteschlange. Sie stoßen sich in die Seite, machen Witze, lachen. Der Neue schiebt sein Fahrrad, weil er sich mit den anderen unterhalten möchte. Gladys beschleunigt ihr Tempo, an diesem Montag hat die Schlange sie länger aufgehalten als sonst. Sie überholt die Männer. Einer sagt: »Na, wie gehts?« Gladys kennt ihn nicht, und er weiß das, trotzdem erwidert sie den Gruß. Sieht nicht schlecht aus, sagt sie sich, und dass er hier drinnen unterwegs ist, bedeutet, dass er Arbeit hat. Dabei denkt sie nicht an sich, schließlich ist sie schon verheiratet, sie denkt es bloß so. »Bis dann«, sagt der Mann, als sie ihn überholt hat. »Bis dann«, antwortet Gladys, geht noch schneller, und der Abstand zwischen ihnen wird größer.
Am Golfplatz biegt sie rechts ab, und ein Stück weiter nochmals. Herr Chazarreta wohnt im fünften Haus in dieser Straße, es liegt hinten links, gleich nach der Trauerweide. Den Weg kennt sie auswendig. Und sie weiß auch, welche Tür er unverschlossen lässt, damit sie hineingehen kann, ohne zu klingeln: die Tür, die von der inneren Galerie in die Küche führt. Bevor sie das Haus betritt, steckt sie die Zeitungen ein, die in der Vorhalle liegen, La Nación und Ámbito Financiero – Chazarreta schläft also noch. Andernfalls hätte er die Zeitungen selbst geholt, als Frühstückslektüre. Gladys wirft einen Blick auf die Titelseite von La Nación: Den Artikel oben in der Mitte, der von der neuesten Einkommenssteuererklärung des Präsidenten berichtet, überspringt sie und betrachtet stattdessen ein großes Farbfoto, unter dem zu lesen steht: »Busunglück in Boedo, drei Tote und vier Schwerverletzte.« Sie bekreuzigt sich, warum, weiß sie selbst nicht so recht, wegen der Toten wahrscheinlich. Oder wegen der Verletzten, sie sollen nicht auch noch sterben. Dann legt sie die Zeitungen auf den Küchentisch. Sie geht in die Bügelkammer, hängt ihre Sachen an einen Haken und zieht die Arbeitsuniform über. Sie wird Herrn Chazarreta sagen müssen, dass er bitte eine neue kaufen soll; sie ist dicker geworden, und jetzt drücken die Knöpfe an der Brust, und die Achselnähte schnüren ihr beim Wäscheaufhängen das Blut in den Armen ab. Wenn er möchte, dass sie immer die Uniform anhat – und das hat er ihr ja an ihrem ersten Arbeitstag gesagt –, muss er sich darum kümmern. Gladys wirft einen Blick in den Bügelkorb und stellt fest, dass dort nicht viel Arbeit auf sie wartet. Chazarreta ist sehr ordentlich und legt normalerweise alle Kleidungsstücke, die sie übers Wochenende zum Trocknen aufgehängt hat, selbst in den Korb, trotzdem wird sie für alle Fälle im Hof nachsehen, ob es dort noch etwas abzuhängen gibt. Dann wird sie das Geschirr abwaschen, das sie bereits in der Spüle erspäht hat. Und danach geht es weiter mit Bad und Toilette, das macht sie am wenigsten gern, weshalb sie es lieber so schnell wie möglich hinter sich bringt.
Genau wie sie gedacht hat, hat Herr Chazarreta die gesamte Wäsche vom Hof geholt. Und abzuspülen gibt es nur wenig: Entweder hat er am Wochenende einen Teil davon selbst erledigt, oder er hat außer Haus gegessen. Zum Trocknen stapelt sie die Teller, das Glas und das Besteck in das dazugehörige Gestell, und zwar so, dass nichts auf die schwarze Marmorarbeitsplatte tropft. Sie geht in die Putzkammer und holt den Wischmopp und den Eimer mit den Reinigungsmitteln, dem Lappen und den Gummihandschuhen. Als sie den Flur durchquert und am Wohnzimmer vorbeikommt, merkt sie, dass Herr Chazarreta in dem grünen Samtsessel mit der hohen Lehne sitzt, seinem Lieblingssessel, wie sie inzwischen weiß. Von dort sieht man hinaus in den Park. An diesem Morgen sind die Vorhänge aber noch zu, Herr Chazarreta hat sich also nicht dorthin gesetzt, um den Ausblick zu genießen, sondern er befindet sich schon seit dem Vorabend dort. Obwohl wegen der hohen Lehne und der geringen Helligkeit nicht viel von ihm zu sehen ist, weiß Gladys, dass er dort sitzt, denn seine linke Hand hängt seitlich hinab, und darunter liegt ein umgekipptes Glas auf dem Parkettboden, daneben eine kleine Whiskypfütze.
Guten Morgen, sagt Gladys, als sie auf dem Weg in den ersten Stock hinter ihm vorbeigeht. Sie spricht leise, wenn er wach ist, soll er sie hören können, wenn er noch schläft, möchte sie ihn nicht wecken. Chazarreta antwortet nicht. Er schläft seinen Rausch aus, sagt sich Gladys und geht weiter. Aber kurz vor der ersten Treppenstufe überlegt sie es sich anders: Lieber wischt sie den Whisky auf, sonst zieht die Feuchtigkeit noch in den Boden ein und hinterlässt einen von diesen weißen Flecken, die nur so schwer wegzubekommen sind. Gladys hat jedenfalls keine Lust, gleich zum Wochenbeginn den Boden zu bohnern. Sie dreht also um, nimmt den Wischlappen aus dem Eimer, bückt sich und hebt das Glas auf, wischt zunächst den Whisky direkt neben dem Sessel auf und lässt den Lappen dann vorsichtig vorwärtswandern. Doch auf einmal saugt er sich mit etwas anderem voll, ein dunkler Fleck, was auch immer das sein mag. Rasch lässt sie den Lappen los, sie will mit dieser Flüssigkeit nicht in Berührung kommen. Dafür taucht sie aber gleich darauf behutsam die Fingerspitze hinein: eine klebrige Substanz. Etwa Blut? Sie will es nicht glauben. Da hebt sie den Blick und betrachtet Herrn Chazarreta: Er sitzt vor ihr im Sessel, mit aufgeschlitzter Kehle. Ein langer Schnitt zieht sich quer über den Hals, es sieht aus wie zwei geöffnete, fast vollkommene Lippen. Der Anblick des rohen Fleisches und des Durcheinanders von durchtrennten Gefäßen und blutigem Gewebe lässt sie vor Ekel die Augen schließen und die Hände vors Gesicht schlagen, als brauchte es mehr als die Lider, um ihr die Sicht zu verdecken. Ihr Mund öffnet sich zu einem erstickten Seufzer.
Der Ekel wird aber bald von der Angst abgelöst. Einer Angst, die nicht lähmt, sondern im Gegenteil zum Handeln treibt. Gladys Varela lässt die Hände also sinken und zwingt sich dazu, die Augen zu öffnen, sie richtet sich auf und sieht erneut den zerfetzten Hals an, Herrn Chazarretas blutverschmierte Kleidung, das Messer in seiner Rechten auf dem Schoß, und die leere Whiskyflasche neben ihm, an der Armlehne. Und dann überlegt sie nicht lange, sondern steht auf, rennt auf die Straße hinaus und fängt an zu schreien. Sie hört gar nicht mehr auf damit, sie wird schreien, bis jemand sie hört.
Während Gladys Varela in einer Sackgasse des Country Club La Maravillosa auf der Straße steht und schreit, versucht Nurit Iscar, ihre Wohnung aufzuräumen. Drei Zimmer hat diese Wohnung, und sie liegt in einem der ärmsten oder am meisten heruntergekommenen Viertel des nördlichen Teils der Stadt, in French y Larrea. Dass Pedro Chazarreta tot ist, weiß Nurit noch nicht. Die Nachricht wird sich bald verbreiten, aber so schnell auch wieder nicht. Wüsste Nurit davon, hätte sie längst den Fernsehapparat und das Radio angestellt, um die neuesten Meldungen zu verfolgen. Oder sie hätte sich ins Internet begeben, auf die Online-Seiten der Tageszeitungen, um Einzelheiten über den Vorfall zu erfahren. Nurit Iscar weiß aber noch nichts. In ein paar Stunden wird sich das geändert haben.
Im Haus herrscht ein ziemliches Durcheinander. Gläser mit Weinresten, Zeitungen vom Vortag, Krümel auf dem Boden, Zigarettenstummel. Nurit Iscar raucht nicht, sie hat nie geraucht, sie hasst Zigarettengeruch und hofft, dass die anderen die Tatsache, dass sie sie in ihrer Wohnung rauchen lässt, als Freundschaftsbeweis und nicht als Akt der Unterwerfung ansehen. Manchmal ist sie sich da aber nicht so sicher: Ist es Freundschaft oder nicht doch Unterwerfung? Und das bezieht sich nicht bloß aufs Rauchen. Am Tag davor sind ihre Freundinnen Paula Sibona und Carmen Terrada – beides Raucherinnen – bei ihr gewesen; wie an jedem dritten Sonntag im Monat haben sie ihr Treffen abgehalten, das seit einigen Jahren zu einem unverzichtbaren Ritual geworden ist. Nicht dass sie sich sonst nicht auch treffen würden, zum Kaffeetrinken, um gemeinsam ins Kino oder essen zu gehen oder für eins ihrer anderen Rituale, hinter denen sich immer derselbe Zweck verbirgt: die Zeit verstreichen lassen, wie sie es nun einmal unweigerlich macht, aber eben gemeinsam. Der dritte Sonntag im Monat ist allerdings etwas Besonderes. Manchmal gesellt sich auch Viviana Mansini zu ihnen, aber nicht immer, was ihnen auch lieber ist, denn obwohl Viviana Mansini sich für eine ihrer engsten Freundinnen hält, geht das den anderen drei nicht automatisch genauso. Wenn Viviana dabei ist, dreht sich das Gespräch vor allem um sie, um Viviana; und jedes Mal macht sie irgendwann eine scheinbar naive Äußerung, die eine der anderen drei als Tritt in die Eierstöcke empfindet. Einmal hatte Carmen zum Beispiel erzählt, eine kleine Verhärtung an einer ihrer Brüste habe sie schier verrückt gemacht, bis der Arzt ihr schließlich versichern konnte, dass es sich bloß um eine harmlose Dysplasie handelte, worauf Viviana Mansini zuckersüß ergänzte: »Das kann ich gut verstehen, vor ein paar Monaten habe ich mich genauso gefühlt, da haben sie bei mir doch diese Biopsie gemacht, ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst – ach nein, kannst du gar nicht, du hast damals ja als Einzige nicht angerufen, um zu fragen, wie die Sache ausgegangen ist.« In der daraufhin eintretenden Stille hatte Carmen sie angesehen, und der Gedanke, der ihr durch den Kopf ging – schon wieder eine von diesen ekelhaften Sticheleien, du Miststück –, war ihrem Gesicht deutlich anzusehen, ausgesprochen hatte sie ihn allerdings nicht. Dafür war ihr Paula Sibona zur Seite gesprungen und hatte ebenso zuckersüß verkündet: »Dass alles in Ordnung war, sieht man ja, Vivi, deiner Brust fehlt jedenfalls offensichtlich nicht das Geringste.« Um die Aussage zu verdeutlichen, hatte Paula sich dabei mit einer großzügigen Handbewegung über die Brüste gestrichen, in gebührendem Abstand, damit klar war, über was für üppige Exemplare Viviana verfügt. Wenn »Vivi« nicht dabei ist, ersparen sie sich aber nicht bloß die Gefahr ihrer giftigen Kommentare, sondern können ihrerseits nach Herzenslust über sie herziehen. In Paulas Worten: »Über Vivi lästern finde ich in meinem Alter fast so geil wie vögeln.« Und an dem Sonntag vor dem Montag, an dem Pedro Chazarreta mit aufgeschlitzter Kehle aufgefunden wird, hat die monatliche Zusammenkunft der Freundinnen wieder einmal ohne Viviana Mansini stattgefunden, also nur im Kreis der engsten Vertrauten, und zwar bei Nurit Iscar: Der Ort ihrer Treffen wechselt von Monat zu Monat, der Ablauf aber bleibt immer gleich. Sie treffen sich noch vor dem Mittagessen, die Gastgeberin sorgt dafür, dass alle Tageszeitungen vorliegen – und alle heißt alle –, und während sie selbst in der Küche darangeht, ihr Spezialgericht anzufertigen – im Fall von Nurit geht das nicht über Steak mit Salat oder Pasta mit Sahnesoße hinaus –, machen die anderen sich über die Zeitungen her und suchen Artikel aus, die sie ihren Freundinnen später vorlesen wollen. Dieser Austausch beginnt dann beim Espresso. Es kommen aber nur bestimmte Artikel infrage. Genau wie bei der Wahl des Essens hat jede von ihnen ihre Vorlieben. Im Fall von Nurit sind es Polizeiberichte, nicht umsonst galt Nurit Iscar bis vor einigen Jahren als »die große Dame der argentinischen littérature noire«. Eigentlich hat sie mit diesem Thema abgeschlossen und möchte nichts mehr davon wissen, wenn ihre Freundinnen aber trotzdem »Mord & Totschlag«-Artikel von ihr verlangen, erfüllt sie ihnen eben diesen Wunsch, auch wenn sie ihnen lieber etwas Selbstverfasstes vorlesen würde. Wenn Sex mit im Spiel ist, umso besser, sagt Paula Sibona jedes Mal. Carmens Spezialität ist die Inlandsberichterstattung, es gibt nichts Schöneres für sie, als Äußerungen von Politikern auf Unstimmigkeiten, fehlerhaften Satzbau oder schlichtweg krasse Missgriffe hin abzusuchen. Am meisten amüsiert sie sich über den Gouverneur. Wer sich nicht richtig ausdrücken kann, darf einfach keine Stadt regieren, sagt sie immer wieder. Das ist aber kein elitärer Dünkel, es zielt vielmehr auf die offenkundige Missachtung, die eine bestimmte, wohlsituierte Gesellschaftsschicht – zu der auch der Gouverneur gehört – der Sprache gegenüber an den Tag legt. Carmen, die seit über dreißig Jahren an der Sekundarschule Sprache und Literatur unterrichtet, ist nicht bereit, derlei widerspruchslos hinzunehmen. Paula Sibonas Auswahlkriterium wiederum gründet sich – wovon ihre Freundinnen nichts wissen – weniger auf persönliche Vorlieben als auf Paulas große Zuneigung zu Nurit Iscar: Theater-, Film- und sonstige Kritiken, dafür fühlt sie sich zuständig. Paula ist zwar Schauspielerin – sofern noch als Schauspieler bezeichnet werden kann, wer seit bald zwei Jahren keine Rolle mehr angeboten bekommen hat –, allerdings musste sie, die einst regelmäßig Hauptrollen in erfolgreichen Telenovelas übernahm, sich im Lauf der Jahre damit abfinden, bloß noch »die Mutter von xy« darzustellen, bis sie zuletzt einem unverdienten Vergessen anheimfiel. Wenn es etwas gibt, wofür Paula Sibona sich nicht interessiert, dann sind das Tageszeitungen. »Zeitunglesen finde ich total abturnend«, wie sie selbst es ausdrückt. Trotzdem beteiligt sie sich mit großer Begeisterung an den Sitzungen, weil sie insgeheim die Hoffnung hegt, dass das Anhören der von ihr ausgewählten Artikel ihrer Freundin Nurit helfen könnte, mit einer Verletzung fertigzuwerden, die man ihr vor einiger Zeit zugefügt hat. Eine Verletzung, die immer noch schmerzt, so scheint es Paula jedenfalls. Weshalb sie nicht nachlässt, auch auf die Gefahr hin, dass ihre Bemühungen erfolglos bleiben. Denn Nurit Iscar, »die große Dame der argentinischen littérature noire«, die bis vor fünf Jahren verheiratet war und zwei Söhne hat, die damals kurz vor dem Abitur beziehungsweise vor der Aufnahme eines Universitätsstudiums standen, verliebte sich in einen anderen Mann und ließ sich daraufhin nicht nur scheiden, sondern schrieb auch zum ersten Mal einen Liebesroman. Der zu allem Überfluss schlecht ausging. Soll heißen, nicht nur die Handlung ging schlecht aus, auch die Kritiker waren nicht eben begeistert, und ebenso wenig die Leser, die bis dahin jedem neuen Roman von Nurit Iscar entgegengefiebert hatten. Und Nurits eigene Liebesgeschichte nahm ebenfalls ein schlechtes Ende, woran sie sich nur ungern erinnert. Einige wenige Leser blieben ihr treu, die meisten waren jedoch enttäuscht, weil dieser Roman so anders war als seine Vorgänger, vor allem, weil fehlte, worauf sie es auch diesmal wieder abgesehen hatten: ein Mord. Woraufhin die Literaturkritiker, die Nurit Iscar bis dahin zumeist einfach ignoriert hatten, grausam über sie herfielen: »Auf einmal will die Autorin Literatur produzieren, und das kann sie nun wirklich nicht.« – »Sie hätte weiter auf eine spannende Handlung setzen sollen, angeblich eine ihrer Stärken. Stattdessen will sie mit kühnen Metaphern und Sprachspielen glänzen. Das ist vielleicht etwas für eingefleischte Literaten, aber zu denen zählt sie wohl kaum.« – »Ein Roman, der hoffentlich schnell dem gnädigen Vergessen anheimfallen wird.« – »Wie kommt jemand, der offensichtlich über die Zauberformel verfügt, mit der man Bestseller produziert, auf die Idee, plötzlich ernst zu nehmende Literatur schreiben zu wollen?« Und so weiter und so fort. Nurit hat einen ganzen Ordner voll mit derartigen Rezensionen zu diesem ihrem letzten Roman mit dem unsäglichen Titel: Nur wenn du mich liebst. Für Nurit sind diese gesammelten Kritiken geradezu der Beweis, dass sie sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Worin genau diese Schuld bestehen soll, kann sie selbst nicht sagen: Ist es die Tatsache, dass sie überhaupt so etwas geschrieben hat, oder dass sie all diese Kritiken gelesen hat, oder dass sie sich dermaßen davon hat beeindrucken lassen? Die Kritiken und das Scheitern der Liebesbeziehung, das sie in ihrem Roman verarbeiten wollte, sowie die Ermordung von Pedro Chazarretas Ehefrau Gloria Echagüe – den Auftrag der Tageszeitung El Tribuno, darüber zu berichten, lehnte sie ab, weil sie zu sehr mit der Arbeit an ihrem Liebesroman beschäftigt war –, all das zusammen brachte sie dazu, sich in eine Art Dritte-Welt-Salinger zu verwandeln: Sie, die erfolgreiche Krimiautorin, verabschiedete sich von einem Tag auf den anderen aus den Kreisen, in denen sie sich bis dahin bewegt hatte. Anders als der große Salinger war Nurit aber weder berühmt noch begütert genug, um künftig allein von den Einkünften aus ihren Autorenrechten leben zu können. Sie musste sich einen Job suchen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, also die Strom- und die Gasrechnung, die Einkäufe im Supermarkt und wofür man sonst noch das nötige Geld in der Brieftasche haben muss. Und da sie nichts anderes kann als schreiben, schreibt sie eben. Allerdings unter anderem Namen beziehungsweise im Auftrag anderer: Sie arbeitet als Ghostwriter. Und wegen alldem versucht ihre Freundin Paula Sibona weiterhin hartnäckig, ihr vor Augen zu führen, wie kleinkariert manche Kritiken sind und wie oft sie nichts anderes im Sinn haben, als ihren Verfasser, also sich selbst, zu feiern und bekannt zu machen. Carmen Terrada wiederum verweist auf das Beispiel Jean Genets: Der habe seinerzeit fünf Jahre keine Zeile geschrieben, nur weil sein Freund Jean-Paul Sartre ihn im Vorwort zu einem Buch »bloßgestellt« habe, wie Genet es nannte. »Allerdings sind deine Kritiker natürlich nicht Jean-Paul Sartre, und du bist nicht Genet, meine Liebe.«
Nachdem die Aschenbecher geleert und die Fenster geöffnet sind, um den Zigarettenmief zu vertreiben, fegt Nurit Iscar die Wohnung aus. Dann spült sie ab, steckt die Tischdecke in die Waschmaschine, die sie aber erst anstellen wird, wenn genug schmutzige Kleidung zusammengekommen ist. Sie sammelt die ringsum verstreuten Sonntagszeitungen ein und stopft sie in einen schwarzen Plastiksack, den sie später in den Hausgang stellen wird, zu dem übrigen Müll. Im Grunde macht sie also genau, was Gladys Varela bis gerade eben für ihren Arbeitgeber Pedro Chazarreta gemacht hat. Doch während Nurit Iscar jetzt die Tüte mit den Zeitungen zuschnürt, macht Gladys Varela nichts mehr. Soll heißen, sie sitzt heulend auf dem Elektrowägelchen, mit dem kurz davor ein Wachmann angefahren kam, der seinerseits von einem Nachbarn angerufen worden war, welcher ihn darüber informierte, dass eine Frau – »eine Hausangestellte«, hatte der Mann gesagt – laut schreiend bei ihnen auf der Straße stehe. Das Angebot, den Kleintransporter zu besteigen, der bald darauf eintraf – an Bord der Sicherheitsbeauftragte der Siedlung und weitere drei Wachleute –, und sich zur Ambulanz bringen zu lassen, hat Gladys abgelehnt. Sie rührt sich nicht vom Fleck, hat sie gesagt, keinen Zentimeter, erst wenn »richtige Polizisten« da sind, aus Buenos Aires. Die Wachleute wirken ein wenig eingeschüchtert. »Das gebrannte Kind scheut das Feuer«, antwortet der Sicherheitsbeauftragte auf die Frage eines Nachbarn, warum niemand in der Wohnung bei dem Toten ist: Keiner von ihnen wäre so dumm, die Fehler der Wachleute zu wiederholen, die an dem Tag vor drei Jahren, als Gloria Echagüe starb, in der Wohnung Stellung bezogen. Weder werden sie sich dem Tatort nähern noch jemand anderen dorthin gehen lassen, sie werden nichts anrühren, auch wenn es viele Meter von dem Mann mit der aufgeschlitzten Kehle entfernt ist, und erst recht werden sie niemandem erlauben, das Blut aufzuwischen und die Leiche auf ein Bett zu legen, wie sie es sich auch von niemandem ausreden lassen werden, die Polizei zu rufen, nur weil alles angeblich »bloß ein Unfall« war. Bis der erste Streifenwagen eintrifft, werden sie all das unterbinden, wenns sein muss, sogar das Atmen, so dumm wie damals werden sie sich nicht noch einmal anstellen. Und obwohl keiner ein Wort sagt, während sie auf das Eintreffen des Staatsanwalts und der Polizisten aus Buenos Aires warten, weder die Wachleute noch die Nachbarn noch der Gärtner, der irgendwann erschienen ist, noch die Angestellte aus dem Haus gegenüber, und auch Gladys Varela nicht, haben sie alle, während sie sich schweigend ansehen, das seltsame Gefühl, dass irgendjemand ihnen die Möglichkeit bietet, diesmal alles richtig zu machen.
Als Nurit Iscar einige Stunden später – da ist es schon nach zwölf – den Sack mit den Sonntagszeitungen auf den Gang hinausstellt, von wo ihn der Hausmeister zusammen mit dem übrigen Müll wegbringen wird, weiß sie immer noch nichts von Pedro Chazarretas Tod. Das wird aber nicht mehr lange so bleiben. Wenn sie nochmals zwei Stunden später eine Pause einlegt, um einen Imbiss zu sich zu nehmen, wird sie es erfahren. Denn die Nachricht macht inzwischen die Runde: Kurz nachdem Nurit ihre Putzaktion für beendet erklärt hat und bloß noch die Blumen auf dem Balkon gießen will – durch einen sogenannten »grünen Daumen« hat sie sich nie hervorgetan, sie weiß aber, dass außer ihr die Pflanzen das einzig Lebendige in dieser Wohnung sind, weshalb es keinesfalls so weit kommen soll, dass sie vertrocknen –, kurz danach also, klingelt in der Redaktion der Tageszeitung El Tribuno das Telefon mit der Durchwahlnummer 3232. Der dazugehörige Apparat steht auf dem Schreibtisch von Jaime Brena. Oder einfach nur »Brena« – so nennen ihn jedenfalls alle, die ihn als Polizeireporter kennen, auch wenn er inzwischen nicht mehr für Polizeiberichte zuständig ist. Brena ist versetzt worden und soll künftig über »das gesellschaftliche Leben« berichten. »Ich bin nicht versetzt worden, die haben mich degradiert«, verbessert Brena die anderen sofort. »Was willst du eigentlich?«, hat sein Chef Lorenzo Rinaldi – der zugleich der Chef der ganzen Zeitung ist – einmal darauf erwidert. »In jeder anderen Zeitung würdest du sowieso beim Ressort ›Gesellschaft‹ arbeiten. Oder hast du noch nicht gemerkt, dass praktisch keine wichtige Tageszeitung heute noch über ein eigenes Ressort ›Polizeiberichte‹ verfügt? Polizeiberichte erscheinen heute unter der Rubrik ›Gesellschaft‹ oder ›Vermischtes‹.« Und weil sie ihn in ein anderes Ressort versetzt haben, ist Brena, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelt, auch nicht damit beschäftigt, einen Polizeibericht zu schreiben, sondern er studiert eine Umfrage, derzufolge 65 Prozent aller weißen Frauen auf dem Rücken schlafen, während 60 Prozent aller Männer derselben Rasse dies auf dem Bauch tun. Was Brena zunächst einmal sozusagen mathematische Bauchschmerzen bereitet: Warum steht da nicht, dass 65 Prozent der Frauen, aber nur 40 Prozent der Männer auf dem Rücken schlafen? Oder umgekehrt 60 Prozent der Männer auf dem Bauch, aber nur 35 Prozent der Frauen. Die gleiche Frage stellt er sich bei jedem Wetterbericht: Wenn von einer dreißigprozentigen Regenwahrscheinlichkeit geredet wird, sollte man da nicht lieber sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht regnen wird, 70 Prozent beträgt? Worauf soll jeweils das Augenmerk gerichtet werden? Auf den Unterschied oder auf Übereinstimmungen, darauf, dass etwas mehr oder dass es weniger ist, dass es bestimmte Erwartungen erfüllt oder eben nicht? Am schlimmsten findet Jaime Brena es aber, wenn, wie im vorliegenden Fall, sich offensichtlich niemand diese Fragen überhaupt gestellt hat. Im Gegenteil, hier hat jemand eine Meldung weitergeleitet, ohne auch nur im Geringsten über deren Inhalt nachzudenken – in den Presseagenturen nimmt man sich heutzutage bestenfalls noch die Zeit für eine Rechtschreibkorrektur. Zusätzlich zu dem Ergebnis der Umfrage enthält die Meldung Äußerungen der verantwortlichen Forscher von der University of Massachusetts, die das Ganze aus soziologischer, kultureller und sogar psychologischer Perspektive erklären wollen. Aber kann man so etwas als Meldung bezeichnen? Wen interessiert es, ob und wie viele Menschen auf dem Bauch beziehungsweise auf dem Rücken schlafen?, fragt sich Brena. Menschen anderer Hautfarbe wurden dagegen nicht befragt – weil die Forscher keine Gelegenheit oder keine Lust oder einfach kein Interesse hatten? Das wäre interessant: zu erfahren, warum man eine Rasse, nämlich die weiße, ausgewählt hat, andere dagegen nicht. Oder liegt es bloß daran, dass Menschen anderer Hautfarbe sich für derartigen Schwachsinn nicht hergeben?, fragt sich Brena abschließend, während er endlich auf das Klingeln reagiert, zum Hörer greift und »Hallo?« sagt. Am anderen Ende der Leitung ist aber niemand mehr, nur noch das Besetztzeichen. Brena nutzt die Unterbrechung, um die Arme über den Kopf zu heben, die verschränkten Hände nach außen zu kehren, als wollte er die Zimmerdecke berühren, die Gelenke knacken zu lassen und nebenbei das Becken zu entspannen. Mit über sechzig fällt es ihm nicht mehr so leicht, stundenlang auf dem Stuhl zu sitzen. Also gut: »Warum schlafen 65 Prozent aller Frauen auf dem Rücken und 60 Prozent der Männer auf dem Bauch?«, fragt Brena jetzt Karina Vives, die Kollegin vom Kulturressort am Schreibtisch links neben ihm beziehungsweise an einem der wenigen Fenster des Redaktionsbüros. Woraufhin Karina, die seit acht Jahren bei derselben Zeitung arbeitet und weiß, was es für Brena bedeutet, keine Polizeiberichte mehr verfassen zu dürfen, sondern sich mit derartigen Meldungen beschäftigen zu müssen, ihn mit Unschuldsmiene ansieht und zögernd antwortet: »Weil die Brüste noch empfindlicher sind als der Pimmel?« – »Der Schwanz, liebe Kollegin, der Schwanz«, erwidert Brena und tippt nach der Überschrift missmutig die dazugehörige Unterzeile in die Computertastatur: »Frauen auf dem Rücken, Männer auf dem Bauch.« Das ist natürlich eine ziemlich zweideutige Formulierung, aber den Spaß zumindest gönnt sich Jaime Brena, sollen die Leser doch denken, was sie wollen. Wie lang ist seine Versetzung jetzt her? Schreibt er inzwischen seit drei oder doch erst seit zwei Wochen über »gesellschaftliche Themen«?, fragt er sich und kratzt sich mit einem Bleistift am Kopf, obwohl er gar kein Jucken verspürt. Er weiß es nicht. Jedenfalls schon viel zu lang. Und alles bloß, weil er einmal in einer Talkshow verkündet hat: »Ich schreibe für den Tribuno, aber normalerweise lese ich die Konkurrenzblätter, denen glaube ich mehr.« Wieso hat er das nur getan? Das war nicht richtig, Jaime Brena gibt es ja zu. Er hatte eben kurz davor mit einem Kollegen zu Mittag gegessen und dabei reichlich Wein getrunken. Andererseits stimmte, was er gesagt hat. Niemand bestreitet das. Mehrere befreundete Kollegen waren in den Monaten davor zu anderen Zeitungen gegangen. Keiner aber war so dumm, die Wahrheit offen auszusprechen. Schon gar nicht vor einer Fernsehkamera. Aber Brena hatte es einfach satt: »Wie viel besitzt unser Präsident?« »Welchen Ausrutscher hat er sich wieder geleistet?« »Wie steht es um sein Gebiss?« »Was ist mit seinen Geschäften?« »Welche Schuhe hatte er an?« Gibt es wirklich nichts Wichtigeres, worüber man berichten kann? Beziehungsweise, ist derlei überhaupt berichtenswert? Früher, als alles noch in Ordnung war, war die Titelseite des Tribuno für internationale Ereignisse da. Oder für Sportmeldungen. Oder Polizeiberichte, natürlich, die er, Jaime Brena, verfasst hatte. Aber das ist lang her, und Brena fürchtet, dass diese Zeiten so schnell nicht wiederkehren werden. Er wird das jedenfalls kaum mehr mitbekommen.
Er zieht die Schreibtischschublade auf und holt den Antrag auf Frühverrentung heraus. Vielleicht ist es jetzt ja so weit. Vielleicht sollte er es endlich angehen: die Kohle einstecken und verschwinden. Wenn ich schlau wäre, würde ich das tun, sagt er sich, aber ich war eben immer schon ziemlich bescheuert. Oder total bescheuert. Brena arbeitet beim Tribuno, seit er achtzehn war. Hier hat er gelernt, was arbeiten heißt. Er kann sich zwar vorstellen, morgens eine andere Zeitung zu lesen – inzwischen macht er das ja –, aber für eine andere Zeitung arbeiten, das übersteigt seine Vorstellungskraft. Auch wenn es ihn krank macht, Tag für Tag den Anblick von Lorenzo Rinaldi ertragen zu müssen. Wie lang er sich noch zusammenreißen kann, um Rinaldi nicht zum Teufel zu jagen, weiß er nicht. Irgendwann wird es aber passieren, es ist bloß eine Frage der Zeit. Und des richtigen Ortes. Schließlich kann man nicht über jemanden herfallen, wenn ringsum lauter Leute sind. In einem voll besetzten Aufzug, zum Beispiel, geht das nicht. »Brena, in Puerto Madryn werden jetzt wieder diese Tage der patagonischen Schafzüchter gefeiert. Ich möchte, dass du hinfährst und darüber berichtest. Zwei, drei Tage sind genug. So kommst du auch mal aus der Stadt raus. Warst du schon mal Wale beobachten? Das ist großartig, du wirst schon sehen.« Aber Jaime Brena – Rinaldi weiß das genau – hasst es, anderswo als in Buenos Aires zu sein, und für Wale hat er nichts übrig, und erst recht nicht für Schafe. Deshalb hätte er auch am liebsten geantwortet: »Leck mich doch am Arsch, Rinaldi!« Aber es war einfach nicht der passende Ort. Auch, weil man sich nach so einer Bemerkung auf einen Boxkampf einstellen muss. Außerdem hätte das das Ende bedeutet, da hätte er auch gleich seinen Schreibtisch ausräumen und verschwinden können. Wenn er aber irgendwann geht, dann nicht bloß mit den paar Sachen, die sich noch in den Schreibtischschubladen befinden. Gustavo Quiroz, von der Politik-Redaktion, hat eine fette Abfindung bekommen, und Ana Horozki von der Reise-Redaktion auch. Selbst Chela Guerti, die schon vor drei Jahren auf die »Letzte Seite« verbannt worden war, soll angeblich eine stattliche Summe kassiert haben. Kollegen, die nach jahrelanger Betriebszugehörigkeit einigermaßen anständige Gehälter beziehen, werden rausgedrängt und durch junge Schreiberlinge ersetzt, die frisch von der Journalistenschule kommen und für die Hälfte des Geldes arbeiten. Ebendeshalb gibt man Leuten wie ihm Geld, damit sie verschwinden. Dass die Neulinge nicht mal die Verben richtig beugen können, lauter Rechtschreibfehler machen und Tracy Austin mit Jane Austen verwechseln, spielt keine Rolle. Das darf der Korrektor dann noch schnell zurechtbiegen. Und falls nicht – dumm gelaufen, was solls. Hauptsache, sie, die altgedienten, teuren Mitarbeiter machen sich vom Acker, wenn nicht heute, dann morgen. Brena ist sich allerdings todsicher, dass Rinaldi ihm keine so hohe Abfindung zugestehen wird, er bekommt bestimmt nicht mal halb so viel Kohle wie die anderen. Seine Abfindung erhält er, keine Frage, aber nicht einen Peso mehr als gesetzlich vorgeschrieben. Er greift zum Hörer und ruft in der Personalabteilung an. »Sag mal, bis wann kann man eigentlich das mit dieser Frühverrentung beantragen?« »Bis zum Jahresende, Brena«, antwortet die Kollegin. »Danke, dann ist ja noch ein bisschen Zeit. Außerdem bin ich eigentlich viel zu jung dafür«, sagt Brena. Die Kollegin lacht: »Stimmt, du bist wirklich unverwüstlich, Brena.« Schön wärs, sagt Brena zu sich selbst. Er spürt nämlich schon seit Längerem, dass er allmählich alt wird. Und so tun – wie noch bis vor Kurzem –, als wäre er zehn Jahre jünger, kann er erst recht nicht mehr. Beziehungsweise so tun, als spielte die Frage des Alters für ihn keine Rolle. Denn, so seltsam es ist, seit einiger Zeit hat er wirklich das Gefühl, dass er alt wird. In jeder Hinsicht: was die Arbeit angeht, das Reisen, sogar die Mädchen. Und das ist mehr als ein Gefühl. Sein Körper ist im letzten Jahr unbestreitbar gealtert. Sein Bauch zum Beispiel springt auf einmal gleich unterhalb der Brust vor und hängt am unteren Ende gefährlich über den Gürtel – warum eigentlich, er war doch nie dick? Und das Haar fällt ihm zwar nicht gerade büschelweise aus, trotzdem lichtet es sich an manchen Stellen bedenklich – dass diese Stellen irgendwann kahl sein werden, scheint offensichtlich. Und auch wenn er für gewöhnlich der Versuchung widersteht: Beim Blick über die Schulter in den Spiegel präsentieren sich ihm seine Pobacken wie zwei weiche Birnen. Oder zwei riesige Tränen. Was willst du, so ist das eben, wenn man die sechzig hinter sich gelassen hat, sagt er sich zum Trost, nur um sich gleich darauf einzugestehen, dass diese Einsicht überhaupt nichts Tröstliches hat. Er will ja gar nicht älter als sechzig sein. Er legt den Antrag in die Schublade zurück und blickt über die Trennwand hinweg, die seinen Schreibtisch von dem Tisch vor ihm abschirmt. Dort arbeitet der junge Mann, der seit Brenas Versetzung für die Nachrichten zuständig ist, die bis dahin stets Brenas Domäne waren: Verbrechen und Gewalttaten aller Art. Ein netter Junge, aber trotzdem ein völliger Grünschnabel, sagt sich Brena. Ohne jede Erfahrung. Ein typisches Kind des Google-Zeitalters: Nie auf der Straße unterwegs gewesen, alles, was er kennt, sind Tastatur, Bildschirm und Internet. Benutzt noch nicht mal einen Kugelschreiber. Mühe gibt er sich, das lässt sich nicht bestreiten, morgens ist er der Erste, abends der Letzte im Büro. Außerdem unterstützt Rinaldi ihn nach Kräften, schließlich will er beweisen, dass die Polizeiberichterstattung auch ohne Brena bestens funktioniert. So was kommt öfter vor, sagt sich Brena, du wirst irgendwo eingesetzt, aber die Aufgabe, die du erfüllen sollst, besteht eigentlich in etwas ganz anderem, wovon du keine Ahnung hast – genau genommen bist du bloß eine Marionette, so wie der Junge da. Lorenzo Rinaldi benützt ihn vor allem, um ihm, Brena, eins auszuwischen. Aber trotz des Vertrauensvorschusses seines Chefs wirkt der Junge irgendwie verschüchtert und gehemmt, viele wichtige Dinge bekommt er nicht mit, und auch wenn ihm die typischen groben Anfängerfehler nicht unterlaufen, merkt man – Brena zumindest – seinen Beiträgen an, wie unsicher er noch ist. Zum ersten Mal melden die Blätter der Konkurrenz wichtige Verbrechen früher als der Tribuno. »Da habe ich lieber die Finger davon gelassen«, hat der Junge angeblich dazu gesagt, »die Quellen fand ich nicht zuverlässig.« Oder: »Das fand ich nicht wichtig genug.« Oder: »Der Platz war knapp, da musste ich was anderes vorziehen.« Jaime Brena nimmt ihm das nicht ab, er vermutet, dass der Junge nicht genug Kontakte hat. Ein guter Polizeireporter braucht aber unbedingt Kontaktpersonen, Leute, die ihm Informationen zukommen lassen, die über kurz oder lang Nachrichten sein werden. Und wenn es sich um heiße Informationen handelt, umso besser. Wenn man nämlich erst abwarten muss, bis der Untersuchungsrichter in einem Fall die Geheimhaltung aufgehoben hat, steht man ganz schön blöd da. Ob es sich bei diesen Kontaktpersonen um Polizisten, Leute von der Staatsanwaltschaft, Gauner, Richter oder Häftlinge handelt, spielt keine Rolle; was zählt, ist die Information selbst. Manchmal hat Brena das Gefühl, er müsse dem Jungen helfen. Doch dann fragt er sich, warum eigentlich, schließlich hat keiner ihn damit beauftragt. Soll Rinaldi doch den Lehrer machen, schließlich spielt er sich als Leiter dieses idiotischen Ressorts auf, das eigentlich nicht seines ist. Aber statt dem Jungen etwas beizubringen, wird Rinaldi – Brena weiß das genau – diesen, sobald er ihn nicht mehr braucht, mit einem Fußtritt vor die Tür setzen. Und das wird dem Kleinen ganz schön wehtun. So ungern Jaime Brena es zugibt, der Junge, und das ist vielleicht das Schlimmste an der Sache, weckt ziemlich widersprüchliche Gefühle in ihm. Es ist ja nicht so, dass er ihn nicht mögen würde. Bei seinem Anblick muss Brena an sich selbst denken, wie er vor mehr als vierzig Jahren in der Redaktion seine ersten Gehversuche machte. Vierundvierzig Jahre, eine halbe Ewigkeit. Natürlich ist Brena ein »teurer« Angestellter, natürlich bieten sie ihm die Frühverrentung an. Aber er hatte damals sehr wohl Leute, die ihm etwas beibrachten, in der Redaktion genau wie draußen auf der Straße. Außerdem hatte er nicht mehr vorzuweisen als sein Abitur, die Gefahr, als Besserwisser von der Universität aufzutreten, bestand deshalb in seinem Fall nicht. Google und Uni, davon hat der Junge mehr als genug intus, was ihm fehlt, ist wirkliche Erfahrung, er weiß nicht, wie es draußen auf der Straße zugeht. Er hat zwar schon bei einer anderen Zeitung Polizeiberichterstattung gemacht, aber da stand er unter der Fuchtel von Zippo, einem alten Kollegen und Intimfeind Jaime Brenas. Unter Zippo arbeiten heißt dessen Sekretär sein, Brena weiß Bescheid, viel mehr ist da nicht drin, Zippo traut nicht mal der eigenen Mutter über den Weg. In diesem Augenblick sieht der Junge auf und merkt, dass Brena ihn beobachtet. Er grüßt mit einem leichten Nicken, und Brena zieht als Antwort einen imaginären Hut, um gleich darauf zu fragen: »Hast du schon was für morgen?« »Nichts Besonderes«, erwidert der Junge. »Nichts Besonderes«, wiederholt Brena und fährt fort: »Dann frag doch mal in der Redaktion rum, was die anderen so haben. Weißt du, wovon es abhängt, ob ein Polizeibericht was Besonderes ist?« Der Junge sieht ihn überrascht an. Doch bevor er antworten kann, warnt Brena: »Wir sind hier nicht an der Uni, komm mir jetzt also nicht mit ›Tatort, beteiligte Personen, Schwere des Verbrechens‹ und so weiter.« Brena schweigt und sieht den Jungen erwartungsvoll an. Der denkt offensichtlich nach. Wenn er jetzt trotzdem so doof ist, sagt sich Brena, und, nur um zu zeigen, dass er fleißig gelernt hat, mit den brühmten fünf Ws daherkommt – who?, what?, when?, where?, how?, wobei im letzten Fall das W ja am Ende steht –, werde ich mich zusammenreißen müssen, um ihn nicht zur Schnecke zu machen, nicht nur, weil er es auf Englisch gesagt hat, sondern vor allem, weil er das Wichtigste vergessen hat: das sechste W – why? Warum wird es von manchen genannt und von anderen nicht? Vielleicht weil es am schwierigsten zu beantworten ist, weil es eine persönliche Entscheidung verlangt, weil man sich dafür in den Verbrecher hineinversetzen muss: Warum? »Also? …«, sagt er dann zu dem Jungen. »Keine Ahnung, mir fällt nichts anderes ein«, erwidert der und gibt sich geschlagen. Brena lächelt und verkündet: »Es hängt von den anderen Meldungen ab, die zur gleichen Zeit in der Redaktion unterwegs sind. Gerade wenn scheinbar nichts Besonderes los ist, kann kurz vor Redaktionsschluss irgendein Idiot auftauchen und etwas für die Titelseite von dir verlangen, und du musst dann liefern, was auch immer.« »Also für die Titelseite von morgen habe ich was«, sagt der Junge, »es geht um die eidesstattlichen Erklärungen von so einem hohen Tier aus dem Finanzministerium, dessen Privatvermögen ist in den letzten Jahren auffällig angewachsen …« Brena unterbricht ihn: »Ist ja toll! Hatten wir das nicht schon letzte Woche?« »Doch, aber inzwischen sind noch ein paar Sachen dazugekommen.« »Na so was – und da wundert ihr euch, wenn uns die Leser davonlaufen. Nachher heißt es wieder, das Internet ist schuld und die Online-Zeitungen.« Brena schüttelt den Kopf, sagt aber nichts mehr. Er hat das Thema so satt; außerdem versteht er selbst nicht, wieso er jedes Mal wieder damit anfängt, über den Zustand des Journalismus zu lamentieren. Ist er nicht dafür mitverantwortlich, und sei es, weil er nichts unternimmt? Auch hierauf hat er keine klare Antwort. Er versucht, ein anderes Thema aufzugreifen, ihm fällt aber nichts ein. Eine Zeit lang betrachtet er noch den Jungen, als wollte er ihm etwas sagen, ihm vielleicht einen Rat geben. Dann aber ist sein Anfall von Nächstenliebe verflogen, und er wendet sich wieder der spannenden Frage zu, in welcher Position die Männer beziehungsweise Frauen weißer Hautfarbe am liebsten schlafen.
Da läutet sein Telefon wieder, und diesmal nimmt Brena rechtzeitig ab. »Ja bitte?«, sagt er, und vom anderen Ende der Leitung kommt die Antwort: »Kommissar Venturini.« »Venturini«, wiederholt Brena. »Wie gehts, mein Lieber?«, fragt der Kommissar. »Wie immer, arm, aber zufrieden, Herr Kommissar. Und Sie?« »Dito.« Brena freut sich, Kommissar Venturinis Stimme zu hören. Sie löst eine Art pawlowschen Reflex in ihm aus, er nimmt gewissermaßen Haltung an, ist plötzlich hellwach und aufmerksam und zugleich fast glücklich. Etwas – Adrenalin? – schießt ihm ins Blut. »Ich hab was für dich, Brena«, sagt der Kommissar. »Das kostet mich mindestens ein anständiges Stück Fleisch und eine Flasche guten Wein, stimmts?« »Champagner, keinen Wein.« »Und …?«, sagt Brena, dem klar ist, dass Kommissar Venturinis Information nichts mit den Gesellschaftsseiten der Zeitung zu tun haben kann. Noch hat er Venturini und den anderen Informanten seine Versetzung nicht gestanden, er bringt den Mut nicht auf, schließlich hat er ein halbes Leben gebraucht, um dieses Netz zu knüpfen. Und seine Beiträge für das Gesellschaftsressort unterzeichnet er nicht mit eigenem Namen. Außer für die Kollegen von der Redaktion ist er deshalb immer noch der wichtigste Ansprechpartner für alles, was mit Verbrechen zu tun hat. »Dann erzählen Sie mal, Herr Kommissar«, sagt Brena und legt sich einen seiner kleinen rosa Notizzettel zurecht. »Es geht um jemanden, den du gut kennst. Er ist tot aufgefunden worden. Keine Sorge, du magst ihn nicht, kein bisschen, Brena.« »Wer ist es denn?« »Chazarreta.« »Chazarreta?« »Sie haben ihm den Hals aufgeschlitzt.« »Na so was. Kommt mir bekannt vor.« »So ist es.« »Kann ich mich auf die Quelle verlassen?« »Ich steh vor der Leiche und schau mir den aufgeschlitzten Hals an, bis die Spurensicherung da ist.« »Und wo ist das?« »Bei ihm zu Haus, in La Maravillosa.« »Das ist aber doch gar nicht Ihr Zuständigkeitsbereich.« »Wie das Leben so spielt, mein Lieber. Ich erklärs dir später. Das Haus kennst du doch, oder? Schließlich hast du ihn beim letzten Mal dort interviewt.« »Klar kenn ich das Haus.« »Die Hausangestellte hat ihn gefunden. Sie hat zwanzig Minuten lang wie verrückt vor sich hingebrabbelt, viel verstanden haben wir nicht davon. Sie steht unter Schock.« »Und, schon eine Idee, worum es gehen könnte?« »Jede Menge, aber wirklich zu gebrauchen ist keine. Der Typ hatte nicht bloß eine Leiche im Keller. Ich hab gehofft, du könntest mir weiterhelfen, Brena.« »Das muss ich erst mal verdauen, Herr Kommissar. Ich ruf Sie aber bald zurück.« »Okay, mein Lieber, ich bin noch ein Weilchen hier, am Tatort. Ruf an, wenn dir was einfällt. Ich würde ja gern sagen, komm selbst her, aber der Staatsanwalt muss jeden Augenblick hier sein. Diesmal lassen sie absolut niemanden durch, nach dem, was letztes Mal passiert ist …« »Verstehe.« »Vergiss nicht, du bist der Erste und Einzige, dem ichs erzählt hab.« »Schönen Dank, Herr Kommissar.« »Und ruf mich an.« »Mach ich. Sonst noch was?« »Ja, Dom Pérignon, Brena. Bries, Brust, Rippe, und Dom Pérignon.« »Ganz wie Sie wünschen.«
Jaime Brena legt auf und starrt den Notizzettel an. Was soll er jetzt machen? Er weiß, dass er da eine Wahnsinnsneuigkeit in den Fingern hat. In ein paar Stunden wird sie in sämtlichen Zeitungsredaktionen die Runde machen. Trotzdem gilt hier, wie immer: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Auch wenn manche behaupten – Rinaldi zum Beispiel, bei einer der letzten Redaktionskonferenzen –, dass die Tatsache, der Erste zu sein, der eine Meldung bringt, ihre Bedeutung nahezu verloren habe, seit im Internet an zig Stellen ununterbrochen Nachrichten online geliefert werden. Eine Meldung sei heutzutage gerade einmal so lang »die erste«, wie es dauere, einen Text zu kopieren, in einen anderen »eigenen« Text einzufügen und weiterzuschicken – copy and paste … Für einen von der alten Schule wie Brena spielt es dagegen immer noch eine große Rolle, vor den anderen mit einer Neuigkeit rauszukommen. Der Tod von Chazarretas Frau vor drei Jahren war ein Thema, das das ganze Land in seinen Bann schlug. Und obwohl sich die Sache letztlich nicht beweisen ließ, sind bis heute 99,99 Prozent der Leute überzeugt, dass der Witwer Pedro Chazarreta selbst der Mörder war. Zu diesen 99,99 Prozent gehört Jaime Brena, der damals nicht nur für den Tribuno über den Fall berichtete, sondern sich im Verlauf der Ermittlungen auch zu einem bei vielen anderen Medien gefragten Spezialisten in dieser Sache entwickelte. Wenn die Zeitungen morgen die Meldung von Chazarretas Ermordung bringen, werden die Leute sagen: »Recht so, das hat er verdient«, da ist sich Brena sicher, obwohl man normalerweise nie genau sagen kann, was einer verdient hat und was nicht. Die Ermordete hätte in jedem Fall mehr davon, wenn sie wieder zum Leben erweckt würde, statt dass man ihren Mörder ermordet. Aber so viel Gerechtigkeit ist wohl noch niemandem widerfahren, sagt sich Brena, nicht einmal Jesus Christus. Er geht zum Schreibtisch des Jungen, in der Hand den rosa Notizzettel. »Hast du mal einen Moment Zeit?«, fragt er. Im selben Augenblick klickt der Junge den Text weg, an dem er gerade arbeitet – offensichtlich soll Brena nicht sehen, worum es darin geht. »Ja«, sagt der Junge dann, »was gibts?« Brena dagegen sagt sich: Nee, Kleiner, so nicht, zerknüllt den rosa Zettel, wirft ihn in den Papierkorb zu den Füßen des Polizeireporters in spe und antwortet: »Egal, nicht so wichtig.« Dann macht er kehrt und geht zu Karina, zeigt ihr die Packung Marlboro, die er gerade aus der Brusttasche gefischt hat, und fragt: »Kommst du mit, eine rauchen?« Und die Frau steht auf und geht mit Brena hinaus.